Predigt über Markus 10, 46- 52: Die Heilung eines Blinden bei Jericho
4.8.2016, 9.30 Uhr, Lutherkirche Kiel
Es ging heute um den blinden Bartimäus aus dem Markusevangelium. Es wurde Jesus nicht „zu bunt“ mit ihm, wie man so sagt. Unter dieser Überschrift stehen in diesem Sommer fünf Gottesdienste in der Luther- und Jakobikirche. Heute war es der vierte.
Markus 10, 46- 52
46 Und sie kamen nach Jericho. Und als er aus Jericho wegging, er und seine Jünger und eine große Menge, da saß ein blinder Bettler am Wege, Bartimäus, der Sohn des Timäus.
47 Und als er hörte, dass es Jesus von Nazareth war, fing er an, zu schreien und zu sagen: Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!
48 Und viele fuhren ihn an, er solle stillschweigen. Er aber schrie noch viel mehr: Du Sohn Davids, erbarme dich meiner!
49 Und Jesus blieb stehen und sprach: Ruft ihn her! Und sie riefen den Blinden und sprachen zu ihm: Sei getrost, steh auf! Er ruft dich!
50 Da warf er seinen Mantel von sich, sprang auf und kam zu Jesus.
51 Und Jesus antwortete und sprach zu ihm: Was willst du, dass ich für dich tun soll? Der Blinde sprach zu ihm: Rabbuni, dass ich sehend werde.
52 Jesus aber sprach zu ihm: Geh hin, dein Glaube hat dir geholfen. Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm nach auf dem Wege.
Liebe Gemeinde
„Resignation“ – mit diesem Wort bezeichnen wir eine bestimmte menschliche Haltung. Sie entsteht, wenn eine Situation sich aussichtlos anfühlt. Dann fügt man sich und findet sich mit seinem Schicksal ab, denn es scheint unausweichlich zu sein. Man sieht ein, dass man ein Ziel nicht mehr erreichen kann, und gibt auf. Es fehlen die Mittel und die Wege, es zu verwirklichen.
Resignation kann außerdem verursacht werden, weil man erkennt, dass das, was man angestrebt hat, zu viel Einsatz kostet. Man fühlt sich den Folgen nicht gewachsen und verzichtet lieber auf die Umsetzung.
Spontan finden wir Resignation eher negativ, denn meistens dämpft sie die Gefühle. Entmutigung und Antriebsschwäche sind die Folgen. Aktivitäten werden gemindert oder ganz eingestellt.
Bei einer Überforderung ist das so, wenn man z.B. weiß, dass die Prüfungen für ein Studium zu schwer sind. Ebenso kann man in der Erziehung resignieren, wenn Kinder sich einfach nicht so verhalten, wie wir es gut für sie finden. Auch im Beruf, in der Politik oder in einer persönlichen Leidsituation ist Resignation manchmal das einzige, was zu bleiben scheint.
In unserem Evangelium von heute kommt ein Mensch vor, der dazu ebenfalls viele Gründe gehabt hätte, Bartimäus. Er war blind, und das bedeutete in der damaligen Gesellschaft, dass er keinerlei Chance auf ein normales Leben hatte. Er konnte keine Arbeit verrichten und war für die anderen Menschen nur eine Last. Ihm blieb nichts anderes übrig, als zu betteln und darauf zu hoffen, dass sich ab und zu jemand über ihn erbarmte. Doch das taten nur die wenigsten, die meisten wären ihn am liebsten los geworden. Das wird in unserer Geschichte zwar nicht direkt erzählt, das Verhalten der Umstehenden macht es aber deutlich.
Die Begebenheit spielte in Jericho, einer Stadt, durch die Jesus auf seinem Weg nach Jerusalem kam. Seine Jünger waren bei ihm und zusätzlich viele andere Menschen, die bereits von ihm gehört hatten und ihn nun begleiteten. Sie kamen an der Stelle vorbei, an der Bartimäus saß. Und nun geschah das, woran deutlich wird, dass er ihnen peinlich war:
Als er nämlich hörte, dass Jesus vorbei kam – und das war wohl nicht zu überhören – rief er laut, er schrie sogar, und bat Jesus um Hilfe. Die anderen wollten ihn daran hindern, mit Jesus in Kontakt zu kommen. Er sollte sich in sein Schicksal fügen. Doch er ließ sich nicht beirren. Er wurde stattdessen nur noch lauter. Er resignierte nicht, sondern wurde sehr aktiv.
Er muss von Jesus gehört haben, und nun hoffte er, dass Jesus die Kraft hatte, ihn zu heilen. Er nannte ihn auch mit einem Titel: „Jesus, du Sohn Davids“, sagte er. Er glaubte also daran, dass Jesus der Königssohn war, auf dem die göttliche Verheißung lag, denn das beinhaltete diese Anrede. Das wusste er offensichtlich, und er war davon überzeugt, dass Jesus der göttliche Heilsbringer war, den die Propheten angekündigt hatten.
Das alles gehörte zu dem Handeln des Blinden, und das ist auffällig und wichtig für die Geschichte, denn Jesus ging darauf ein. Er reagierte auf sein Rufen und wollte, dass die Menschen ihn zu ihm brachten, d.h. er wollte sich um ihn kümmern. Am meisten interessierte ihn sein Glaube. Den lobte er ausdrücklich, indem er sagte: „Dein Glaube hat dir geholfen.“ Das Vertrauen, das Bartimäus zu Jesus hatte, war also ausschlaggebend für die Heilung. Ihm wurden die Augen aufgetan, er konnte wieder sehen.
Das Ende der Geschichte besteht dann darin, dass er Jesus nachfolgte. Er wollte nicht einfach ein Leben führen wie alle anderen, sondern mit Jesus zusammen bleiben, ganz gleich, was das hieß. Die Folgen waren ihm nicht zu groß oder unübersehbar, er ließ sich darauf ein.
Und mit all dem ist Bartimäus ein wunderbares Beispiel für einen Menschen, der nicht resigniert hat, obwohl er dafür viele Gründe gehabt hätte. Lassen Sie uns die Geschichte unter diesem Gesichtspunkt betrachten, dann verstehen wir sie am ehesten.
Denn mit den Wundern Jesu haben wir ja oft ein Problem. Wir glauben nicht daran, dass sie auch heute noch geschehen. Kaum ein Blinder erwartet, dass er auf wunderbare Weise eines Tages wieder sehend wird.
Doch das ist hier auch nicht die Hauptbotschaft. Neben dem Wunder kommen viele weitere Einzelheiten vor, die im Glauben an Jesus wichtig sind. Die Geschichte ist – wie gesagt –ein Manifest gegen die Resignation: Niemand muss sich willenlos in sein Schicksal fügen, es gibt immer einen Ausweg. Mit Jesus ist die Hilfe ist da, wir müssen damit nur rechnen, auf ihn vertrauen und zu ihm rufen. Das ist hier die Botschaft. Lassen Sie uns die also einmal bedenken.
Dabei müssen wir zunächst ein Missverständnis klären, das auftauchen kann, und dem die Umstehenden in der Geschichte möglicherweise erlagen. Sie waren empört über das Verhalten von Bartimäus, weil sie wohl fanden, dass er sich einfach nur gegen sein Schicksal aufbäumte. Er sollte es annehmen. Sie wollten seine Schreie nicht hören. Und das könnte man verstehen, wenn es Schreie ins Leere gewesen wären, wenn Bartimäus vor sich hin gestöhnt und geklagt hätte. Doch so war es nicht. Bartimäus wollte nicht einfach nur Aufmerksamkeit oder Mitleid. Wenn wir ihn so sehen, würden wir ihn missverstehen.
Möglicherweise hatte er sich sogar in positiver Weise in sein Schicksal gefügt. Das gibt es ja genauso, und es wäre das Gegenstück zu einem sinnlosen sich Aufbäumen: ein weises Resignieren, das hilft. Denn es kann auch klug sein, sich zu bescheiden und zu verzichten. Das führt nicht zwangsläufig in die Passivität und Mutlosigkeit, sondern unter Umständen in eine gesunde Gelassenheit. Man meidet Zorn und Eifer und empfängt eine heitere Ruhe, die sogar mit einem Gefühl der Überlegenheit einhergeht. Philosophen, Lebenskünstler und spirituelle Menschen pflegen diese Art der Resignation, zu der Demut und Leidensbreitschaft gehören. Und das sind ja durchaus positive Eigenschaften.
Ob Bartimäus sie sich angewöhnt hatte, wissen wir nicht, aber sie wären eine gute Vorbereitung für das, was er in unserer Geschichte praktiziert, denn sie machen den Menschen offen und wach. Und das ist eine wichtige Voraussetzung für den Glauben an die Kraft Jesu und das Gebet zu ihm. Darum geht es hier, das wird uns vorgestellt. Bartimäus wurde lebendig und aktiv, als Jesus vorbei kam, d.h. er schrie nicht vor sich hin. Er hatte vielmehr eine Ahnung, dass Hilfe nahe war, und eine ganz klare Adresse. Es handelt sich hier also nicht um ein unbeherrschtes oder unkontrolliertes Aufbegehren, sondern um den Glauben und das Gebet zu Jesus. Das sollen wir lernen und selber vollziehen. Lassen Sie uns also fragen, wie das geht.
Dabei ist es gut, wenn wir uns vorstellen, dass Jesus auch bei uns vorbei kommt. Er lebt und kreuzt häufig unseren Weg, und zwar immer dann, wenn wir von ihm hören, über ihn lesen oder sprechen oder an ihn denken. Dann ist er da. Denn Jesus ist nicht nur ein Gedanke oder eine historische Person, er ist unter uns gegenwärtig und will auch heute noch Menschen anrühren und ihnen helfen. Das dürfen wir glauben, darauf können wir vertrauen. Jesus ist der Herr, der Kyrios, der Macht hat und etwas kann. Wir sehen ihn zwar nicht, genauso wie Bartimäus ihn nicht sehen konnte, aber wir können ihm blind vertrauen.
Das ist ja ein sehr schöner Ausdruck. Er besagt, dass man einfach einmal etwas voraussetzt und danach handelt, selbst wenn man die Folgen nicht genau kennt. Blindes Vertrauen läuft nicht über den Verstand und ist vielleicht auch unvernünftig, aber das Herz und der Bauch sind darin involviert, und die sind manchmal viel bessere Ratgeber.
Wenn es um den Glauben an Jesus geht, ist das auf jeden Fall so, denn er reagiert auf unser Rufen, und das merken wir. Schleier fallen von unseren Augen, wir sehen die Dinge plötzlich anders. Wir werden von innen her verändert und die negative Grundstimmung verschwindet. Eine positive Kraft zieht in uns ein, und das hat weitreichende Folgen
Wenn wir uns z.B. von einem Studium überfordert fühlen, halten wir nach anderen Möglichkeiten Ausschau und fangen noch einmal von vorne an. Warum nicht? So tragisch ist das nicht. In der Erziehung haben wir die Freiheit, unsere Kinder loszulassen und sie eventuell anderen Menschen anzuvertrauen. Im Beruf sprechen wir mit den Vorgesetzten oder den Kollegen und suchen nach konstruktiven Wegen, um Konflikte zu lösen. Die gibt es ja in Hülle und Fülle, wir müssen uns nur darauf einlassen. In der Politik sehen wir die Dinge gelassener. Und in einer persönlichen Leidsituation werden wir fähig, das Schwere zu tragen.
Auf jeden Fall lassen wir alte Muster und Verhaltensweisen hinter uns. So wie Bartimäus „seinen Mantel von sich warf“, streifen wir sie ab. Das ist eine weitere sehr schöne Einzelheit in unserer Geschichte. Bartimäus brauchte seine alten Kleider nicht mehr, als Jesus ihn zu sich rief. Und so geht es auch uns: Wir stehen auf wie er, werfen das Alte ab und gehen neue Wege. Wir lassen uns führen, denn wir haben einen neuen Meister, Jesus. An seiner Hand gewinnen wir Mut und Hoffnung, wir werden zuversichtlich und stark.
Das Gebet des Bartimäus war nicht lang. Es bestand nur aus dem einen Satz: „Kyrie eleison“, auf Deutsch: „Herr, erbarme dich.“ Doch nicht umsonst ist genau dieser Satz zum populärsten Gebet der Christenheit geworden. In knapper Form beinhaltet es das ganze Evangelium, denn es ist eine Huldigung und ein Hilferuf zugleich. Die Macht und Gegenwart Jesu wird damit bekannt, seine Göttlichkeit und Überlegenheit. Und gleichzeitig werden sein Erbarmen und seine Liebe herbeigerufen, so dass sie in Geist und Seele Eingang finden.
Im Gottesdienst spielt es deshalb eine entscheidende Rolle. Zur Zeit der frühen Christenheit wurde damit die Feier eröffnet, es war das erste, was der Priester sprach. An den vertonten Messen von Bach oder Mozart können wir das noch erkennen. Sie beginnen alle mit dem Kyrie, das manchmal eindringlich und ergreifend ist, wie z.B. in der h-moll-Messe. Später fand es auch als kurzer Ruf zwischen den Fürbitten einen Platz. Bis heute ist das in unseren Gottesdiensten und Andachten so geblieben, in jeder Konfession. Außerdem ist es die traditionelle Formel für das sogenannte Herzensgebet. Bei dieser Gebetsweise aus der Ostkirche wird der Satz „Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner“ mit jedem Atemzug oder Herzschlag wiederholt.
Und er reicht wirklich. Gerade dann, wenn man droht zu resignieren, fehlen einem ja oft die Worte. Dann hilft es, dieses Gebet innerlich unaufhörlich zu „schreien“. Jesus bleibt daraufhin stehen und ruft uns zu sich. Er spricht mit uns und geht auf unser Vertrauen ein. Er öffnet unsere Augen für seine Gegenwart, und etwas Neues kann beginnen: Wir stehen auf, werfen unsere alten Kleider ab und „folgen ihm auf dem Weg“.
Amen.