Ich will euer Gott sein, spricht Gott der HERR.

Predigt über Hesekiel 34, 1- 16. 31: Die schlechten Hirten und der rechte Hirte

2. Sonntag nach Ostern, Misericordias Domini, 18.4.2021

9.30 und 11 Uhr Luther- und Jakobikirche Kiel

Liebe Gemeinde.

Wir reden zurzeit viel über Vertrauen. So gab es dazu am Sonnabend vor zwei Wochen auch in der Zeitung einen langen Artikel. Und darunter war eine Statistik abgedruckt, „wem die Deutschen vertrauen“. Die Polizei stand mit 84% ganz oben, private Rundfunksender mit 19% ganz unten. Die Bundesregierung lag mit 61% im mittleren Feld. Das Vertrauen in die Politik sei mit Beginn der Pandemie stetig gesunken, hieß es. Dabei sind wir gerade jetzt darauf angewiesen. Doch wem können wir noch vertrauen? Den Zeitungen, der Wirtschaft oder den Gewerkschaften? Sie kommen in der Statistik noch schlechter weg als die Regierung.

Und was ist mit den Kirchen? Sie stehen erschreckender Weise an vorletzter Stelle! Das kann natürlich damit zusammenhängen, dass sowieso nur noch ungefähr die Hälfte aller Bürger und Bürgerinnen zur Kirche gehören, aktiv beteiligen sich sogar noch weniger. Die Mehrheit der Bevölkerung kann schlicht und ergreifend nichts mit uns anfangen. Vielleicht hätte man deshalb eher fragen sollen, wieviel Gottvertrauen die Menschen haben.

Aber das passt wohl nicht in so eine Umfrage, denn es gibt „einen entscheidenden Unterschied zwischen Gottvertrauen und politischem Vertrauen. Gottvertrauen ist bedingungslos. Es ist an keine Erwartungen geknüpft. Politisches Vertrauen dagegen muss man erwerben, rechtfertigen, zurückgeben.“ So stand es in dem Artikel. („Verlass dich darauf!“ von Thorsten Fuchs, Wochenendjournal von Kieler Nachrichten und Segeberger Zeitung, Sonnabend/Sonntag, 3./4. April 2021, S. 1)

Diese Einsicht hatte auch schon der Prophet Hesekiel. Er lebte in einer Zeit, in der es ebenfalls schwer war, den Politikern zu vertrauen, sie hatten es verspielt, und er lädt deshalb dazu ein, sich ganz auf Gott zu verlassen. Das kommt in einem Abschnitt aus Kapitel 34 zum Ausdruck, in dem es um „schlechte Hirten und den rechten Hirten“ geht. Das ist heute unser Predigttext, der folgendermaßen lautet:

Hesekiel 34, 1- 16. 31:

1 Und des HERRN Wort geschah zu mir:
2 Du Menschenkind, weissage gegen die Hirten Israels, weissage und sprich zu ihnen: So spricht Gott der HERR: Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! Sollen die Hirten nicht die Herde weiden?
3 Aber ihr esst das Fett und kleidet euch mit der Wolle und schlachtet das Gemästete, aber die Schafe wollt ihr nicht weiden.
4 Das Schwache stärkt ihr nicht und das Kranke heilt ihr nicht, das Verwundete verbindet ihr nicht, das Verirrte holt ihr nicht zurück und das Verlorene sucht ihr nicht; das Starke aber tretet ihr nieder mit Gewalt.
5 Und meine Schafe sind zerstreut, weil sie keinen Hirten ha
ben, und sind allen wilden Tieren zum Fraß geworden und zerstreut.
6 Sie irren umher auf allen Bergen und auf allen hohen Hügeln und sind über das ganze Land zerstreut und niemand ist da, der nach ihnen fragt oder auf sie achtet.
7 Darum hört, ihr Hirten, des HERRN Wort!
8 So wahr ich lebe, spricht Gott der HERR: Weil meine Schafe zum Raub geworden sind und meine Herde zum Fraß für alle wilden Tiere, weil sie keinen Hirten hatten und meine Hirten nach meiner Herde nicht fragten, sondern die Hirten sich selbst weideten, aber meine Schafe nicht weideten,
9 darum, ihr Hirten, hört des HERRN Wort!
10 So spricht Gott der HERR: Siehe, ich will an die Hirten und will meine Herde von ihren Händen fordern; ich will ein Ende damit machen, dass sie Hirten sind, und sie sollen sich nicht mehr selbst weiden. Ich will meine Schafe erretten aus ihrem Rachen, dass sie sie nicht mehr fressen sollen.
11 Denn so spricht Gott der HERR: Siehe, ich will mich meiner Herde selbst annehmen und sie suchen.
12 Wie ein Hirte seine Schafe sucht, wenn sie von seiner Herde verirrt sind, so will ich meine Schafe suchen und will sie erretten von allen Orten, wohin sie zerstreut waren zur Zeit, als es trüb und finster war.
13 Ich will sie au
s allen Völkern herausführen und aus allen Ländern sammeln und will sie in ihr Land bringen und will sie weiden auf den Bergen Israels, in den Tälern und an allen Plätzen des Landes.
14 Ich will sie auf die beste Weide führen, und auf den hohen Bergen in Israel sollen ihre Auen sein; da werden sie auf guten Auen lagern und fette Weide haben auf den Bergen Israels.
15 Ich selbst will meine Schafe weiden, und ich will sie lagern lassen, spricht Gott der HERR.
16 Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken und, was fett und stark ist, behüten; ich will sie weiden, wie es recht ist.
31 Ja, ihr sollt meine Herde sein, die Herde meiner Weide, und ich will euer Gott sein, spricht Gott der HERR.

Das ist ein Teil aus der sogenannten „Hirtenrede“ des Propheten Hesekiel. Sie beginnt mit dem Versagen der „Hirten Israels“. Der Prophet hatte viel an den Verantwortlichen für das Volk auszusetzen. Er meint damit die politischen und religiösen Führer, also den König und die Priester, die damals ganz ähnliche Aufgaben und Verantwortungsbereiche mit viel Macht und Einfluss hatten. Heutzutage sind Staat und Kirche getrennt, das kannte das Alte Testament aber noch nicht.

Was Hesekiel nun den „Hirten“ vorwirft, ist ihr Egoismus und ihre Genusssucht, die Vernachlässigung der Schwachen und die Unterdrückung der Starken. Sie führten das Volk nicht, sondern bereicherten sich selber. Anstatt die Menschen zu sammeln und zu vereinen, überließen sie sie der Verwahrlosung.  

Mit all dem spielt der Prophet auf die Katastrophe von 587 vor Christus an, als der König von Babel das Land erobert und den Tempel zerstört hatte. Israel hatte damit seine Eigenstaatlichkeit verloren, und die Menschen waren zerstreut. Hesekiel lebte mit dem Volk Israel bereits im Exil. Sie litten natürlich unter dieser Situation und waren traurig. Deshalb denkt der Prophet darüber nach, und er deutet das Geschehene als ein Versagen der politischen und religiösen Führer. Die „Hirten“ haben in der langen Geschichte Israels versäumt, was eigentlich ihr Amt gewesen wäre. Das ist sein Vorwurf.

Und so enthält seine Rede zuerst ein Scheltwort. Daran schließt sich die Ankündigung des Gerichtes über die treulosen Hirten an. Aber dann folgt das eigentliche Ziel des Textes, die Zusage, dass Gott selbst sich seines Volkes annehmen wird. Damit möchte der Prophet seine Mitmenschen trösten und ihnen eine Perspektive geben: Gott wird eingreifen, und sein Verhalten wird ganz anders sein, als das der menschlichen Führer.

Er wird ihr Leid beenden. Es soll ihnen allen gut gehen, er verspricht ihnen Reichtum und Fülle. „Verlorene wird er finden, Verirrte zurückbringen, Verwundete verbinden und Schwache stärken.“ Er wird immer bei ihnen bleiben und sich um sein Volk kümmern, sie beschützen und bewahren und ihnen den rechten Weg zeigen. Das ist die Verheißung des Propheten Hesekiel an sein Volk, die mit dem Satz zusammengefasst wird: „Ja, ihr sollt meine Herde sein, die Herde meiner Weide, und ich will euer Gott sein, spricht Gott der HERR.“

Für uns Christen hat sich diese Verheißung erfüllt. Denn wir glauben, dass Gott durch Jesus Christus in dieser Weise bei uns ist. Er ist der „gute Hirte“ , und wir sind seine Herde. (Johannes 10,11.14) Auch die Kirche dürfen wir so verstehen. Eigentlich ist sie der Ort und die Gemeinschaft, an dem das erlebbar wird.

Doch offensichtlich ist das nicht der Fall, sonst würden viel mehr Menschen Vertrauen in die Kirche haben. Und das wäre auch gut, denn das brauchen wir dringend, gerade in dieser Zeit. Was können wir also dazu tun, damit die Kirche ein Ort ist, an dem die Menschen in Berührung mit Gott kommen, sich an seiner Gegenwart erfreuen und neuen Mut schöpfen?

Das müssen wir uns fragen, und dafür gibt uns der Text auch einen Hinweis, indem er nämlich den Kontrast zwischen den menschlichen Hirten und dem „wahren Hirten“ hervorhebt. Das können wir gut auf uns anwenden. Unsere „Hirten“ sind zwar nicht so egoistisch und rücksichtslos, wie Hesekiel es beschreibt, aber mit dem Gottvertrauen hapert es ebenfalls oft. Auch wenn sie die Schwachen nicht vernachlässigen und es nicht böse meinen, vertrauen sie oft doch eher auf ihre eigene Kraft. Die unbegrenzten Möglichkeiten Gottes werden gerne ignoriert. Und dadurch ist alles sehr menschlich und eigenwillig geworden. Pastorinnen und Mitarbeiter, Oberkirchenräte und Theologinnen, sie alle trauen sich selber am ehesten zu, die Menschen zu versammeln und ihnen Gutes zu tun. Professionelle Methoden, Ideen und Strategien stehen im Mittelpunkt unseres Denkens und Handelns.

Aber nicht umsonst hat Luther für ein Priestertum aller Gläubigen plädiert, d.h. es kommt auf alle an, jeden und jede Einzelne. Und sie müssen nicht besonders gut ausgebildet sein, sondern hauptsächlich auf Gott vertrauen. Entscheidend ist der lebendige Glaube, das Wissen um Gottes Gegenwart und sein Handeln. Dem müssen wir Raum geben.

Und das kommt nicht einfach nur so, dafür müssen wir uns Zeit nehmen und es auch einüben. Denn es ist eine andere Art des Vertrauens als das rein menschliche oder politische, es ist „bedingungslos und ohne Erwartungen“. Und das heißt, wir müssen alle Erwartungen an andere oder an das Leben zunächst einmal loslassen, nichts mehr wollen oder selber machen.

Das ist nicht so ganz leicht, weil wir uns eigentlich immer etwas wünschen und uns dafür dann einsetzen. Das Leben ist nie ganz so, wie wir es gern hätten, und das macht uns zu schaffen. Wir wollen etwas dagegen tun, denn wir leiden unter unserer Kümmerlichkeit und Schwäche, an unseren Grenzen, unserer Sehnsucht und vielem mehr. Doch anstatt das unbedingt abschaffen zu wollen, wäre es gut, wenn wir es zunächst einmal aushalten, unsere Unzufriedenheit, die Ängste, die Traurigkeit usw. Das wäre der erste Schritt zu einem lebendigen Gottvertrauen, dass wir all das Schwere im Leben einfach nur wahrnehmen, es anschauen und ertragen.

In einem zweiten Schritt können wir es vor Gott bringen und uns vorstellen, dass er uns auf eine „fette Weide“ führen möchte. Er ist da, und seine Gegenwart ist wie das schöne Land von dem der Prophet spricht. In unserer Phantasie können wir uns die Wirklichkeit Gottes als hohe Berge und lichte Täler vor Augen führen, blühende Wiesen und üppige Felder. Wir können dort verweilen und es uns gut gehen lassen, im Geiste spazieren gehen, uns versorgen lassen und „schmecken und sehen, wie freundlich der Herr ist.“

Dann verschwinden ganz von selber alle „trüben und finsteren“ Gedanken und Gefühle. Wir werden gestärkt und aufgerichtet, „das Verwundete wird verbunden und das Verirrte wird zurückgeführt.“

Und wenn das alle tun, die zur Kirche gehören, dann werden Menschen ganz von alleine Vertrauen in unsere Gemeinschaft fassen. Denn dann können sie bei uns erleben, dass sie gehalten und behütet sind, beschützt und geliebt. Und wer weiß, vielleicht rücken wir dadurch in der Statistik „wem die Deutschen vertrauen“ auch wieder weiter nach oben.

Möge Gott selber uns dazu verhelfen. Amen.

Das Ja zum Kreuz Christi

Predigt über Jesaja 52, 13- 15; 53, 1- 12: Das stellvertretende Leiden und die Herrlichkeit des Gottesknechtes

Karfreitag, 2.4.2021, 9.30 Uhr, Lutherkirche

Liebe Gemeinde.

„Wer weiß, wofür das gut ist.“ Das sagen Eltern gerne zu ihren heranwachsenden Kindern, wenn diese bereits Pläne haben und eigene Wege gehen. Sie wünschen sich vieles, haben Träume und malen sich in der Phantasie aus, wie ihr Leben verlaufen soll. Doch das klappt nicht immer so, wie sie es erhoffen: Beziehungen zerbrechen oder kommen gar nicht erst zu Stande, Bewerbungen werden abgelehnt, die Fähigkeiten reichen nicht aus, um die Ziele zu erreichen, Ideen erweisen sich als nicht tragbar usw. Als Erwachsene kennen wir das bereits, haben aber oft auch die Erfahrung gemacht, dass ein Scheitern noch lange nicht das Ende des Lebens bedeutet. Im Gegenteil, es war gut, denn dadurch haben sich andere, bessere Wege eröffnet. Rückblickend stellt sich jedenfalls vieles ganz anders dar, so dass wir manchmal sogar dankbar dafür sind, dass unsere ursprünglichen Vorhaben nicht Wirklichkeit wurden. Oft legen wir uns die Dinge im Nachhinein auch so zurecht, dass alles zusammenpasst und einen Sinn ergibt.

Die ersten Christen taten das ebenso, denn sie mussten ein tragisches Ereignis verarbeiten, das sie tief erschüttert hatte: Es war der Kreuzestod Jesu. Warum musste der, dem sie vertraut und den sie verehrt hatten, der ihnen so viel Gutes gebracht hatte, der sie geliebt und befreit hatte, so schändlich sterben? Warum hat er sich nicht gewehrt, warum hat die Gemeinheit gesiegt, die Bosheit und Ungerechtigkeit? Was war der Sinn für diese katastrophale Niederlage? Das fragten sie sich, und dabei stießen sie auf Texte im Alten Testament. Das hatte Jesus ja selber oft zitiert. Er hatte sich auf die Verheißungen der Propheten berufen, um seine Sendung zu erklären und zu rechtfertigen. So lag es nahe, auch nach seinem Tod die Schrift zu Rate zu ziehen. Und die Apostel fanden etwas, das passte haargenau auf sein Schicksal. Es sind die sogenannten Gottesknechtslieder im Buch des Propheten Jesaja. Es gibt davon vier, und sie handeln alle von einem Mann, der von Gott für einen besonderen Auftrag auserwählt wurde. Seine Aufgabe war es, die Müden aufzurichten, die Gefangenen zu befreien, Israel zu sammeln und den Heiden das Licht zu bringen. Gott gab ihm dafür seinen Geist und verlieh ihm eine besondere innere Kraft. Die brauchte er auch, denn er wurde nicht von allen geliebt. Anfeindungen kamen auf ihn zu, er wurde verfolgt und gedemütigt. Er geriet in schweres Leid. Und weil all das genau das Schicksal Jesu beschreibt, wurden diese Texte als eine Vorhersage verstanden. In dem vierten Lied ergeht es dem Gottesknecht am schlimmsten, denn es beschreibt seinen Tod. Es ist deshalb die alttestamentliche Lesung für Karfreitag und heute unser Predigttext. David liest ihn uns jetzt vor.

Jesaja 52, 13- 15; 53, 1- 12

5213 Siehe, meinem Knecht wird’s gelingen, er wird erhöht und sehr hoch erhaben sein.
14 Wie sich viele über ihn entsetzten, weil seine Gestalt hässlicher war als die anderer Leute und sein Aussehen als das der Menschenkinder,
15 so wird er viele Heiden besprengen, dass auch Könige werden ihren Mund vor ihm zuhalten. Denn denen nichts davon verkündet ist, die werden es nun sehen, und die nichts davon gehört haben, die werden es merken.
53 1 Aber wer glaubt dem, was uns verkündet wurde, und wem ist der Arm des HERRN offenbart?
2 Er schoss auf vor ihm wie ein Reis und wie eine Wurzel aus dürrem Erdreich. Er hatte keine Gestalt und Hoheit. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte.
3 Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet.
4 Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre.
5 Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.
6 Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen Weg. Aber der HERR warf unser aller Sünde auf ihn.
7 Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird; und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf.
8 Er ist aus Angst und Gericht hinweggenommen. Wer aber kann sein Geschick ermessen? Denn er ist aus dem Lande der Lebendigen weggerissen, da er für die Missetat meines Volks geplagt war.
9 Und man gab ihm sein Grab bei Gottlosen und bei Übeltätern, als er gestorben war, wiewohl er niemand Unrecht getan hat und kein Betrug in seinem Munde gewesen ist.
10 So wollte ihn der HERR zerschlagen mit Krankheit. Wenn er sein Leben zum Schuldopfer gegeben hat, wird er Nachkommen haben und in die Länge leben, und des HERRN Plan wird durch seine Hand gelingen.

11 Weil seine Seele sich abgemüht hat, wird er das Licht schauen und die Fülle haben. Und durch seine Erkenntnis wird er, mein Knecht, der Gerechte, den Vielen Gerechtigkeit schaffen; denn er trägt ihre Sünden.
12 Darum will ich ihm die Vielen zur Beute geben und er soll die Starken zum Raube haben, dafür dass er sein Leben in den Tod gegeben hat und den Übeltätern gleichgerechnet ist und er die Sünde der Vielen getragen hat und für die Übeltäter gebeten.“

Das ist der Abschnitt aus dem AltenTestament für den heutigen Tag. Hier ist von einem Menschen die Rede, der vollkommen aus dem Rahmen fällt, der als Gegenbild zu jeglicher Menschengröße und Menschenehre erscheint. Er war keine interessante Figur, keine eindrucksvolle Persönlichkeit, sondern ein Außenseiter, der von seiner Umgebung verachtet und gemieden wurde, weil er Krankheit und Schmerzen erlitt, gebrandmarkt durch Qualen, ausgestoßen aus der menschlichen Gemeinschaft, zerschlagen, gestorben und ehrlos begraben. Doch ausgerechnet er wird von Gott erwählt, erhöht und zum Sieger erklärt. Denn alles Übel, alle Schuld zieht er auf sich, so dass die wirklich Schuldigen wegen seiner Leiden Gesundheit und eine unangefochtene soziale Stellung behalten. 

Das erfahren wir hier. Doch von wem redet der Prophet eigentlich? Das ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Es kann sein, dass er sich selber meint, vieles lässt darauf schließen. Seine Worte beschreiben jedenfalls genau das Prophetenamt, denn oft gehörten Anfeindungen und Schmähungen dazu. Das erfuhren die Propheten in Israel nicht selten. Sie erlitten Schläge und Beschimpfungen, Spott und Hohn, wurden gefangen, gefoltert und gelegentlich sogar hingerichtet. Darunter litten sie natürlich und beklagten sich auch oft.

Doch hier liegt nun erstaunlicher Weise keine Klage vor, sondern ein Bekenntnis der Gemeinde. Es wird betont, dass der Prophet trotz allem an Gott festhielt und das Leid annahm. Auch die Wirkung seines Todes wird beschrieben: Sie weist weit über das Geschehen hinaus, in eine andere Zeit, in die Zukunft oder sogar in eine andere Wirklichkeit. „Er wird das Licht Gottes schauen und die Fülle haben.“ So ist das formuliert. Und sein Leiden hat einen Sinn für die Vielen: Er tut es stellvertretend für sie, er nimmt die Sünden der Menschheit auf sich, um ihnen Gerechtigkeit zu verschaffen. 

Das sind die Worte Jesajas, und es liegt nahe, dass die ersten Christen in dem Geschick dieses Mannes eine Vorhersage für das Leben und Sterben Jesu sahen, denn genauso ist es ihm ergangen.

Aber können wir damit noch etwas anfangen? Jesu Tod als Sühne für unsere Sünden zu verstehen, stößt heutzutage bei vielen Menschen auf Ablehnung. Wir haben keine Opferreligion mehr, wie im alten Israel. Und die Vorstellung, dass Gott seinen Sohn absichtlich hinrichten ließ, ist uns viel zu grausam und zu brutal. Das wollen wir nicht mehr hören, und es fällt uns schwer, das zu glauben.

Doch was machen wir dann mit dem Kreuzestod Jesu? Wir kommen um diese Tatsache, dass er so schmählich gestorben ist, nicht herum. Wir müssen also bedenken, welchen Sinn das ergeben soll. Und wir können in dem Vorgehen der ersten Christen auch eine Möglichkeit der Annäherung entdecken, selbst wenn uns die Vorstellung vom Sühnetod nicht behagt. Denn sie haben „Ja“ zu seinem Sterben gesagt. Sie haben das Kreuz Jesu angenommen und versucht, einen verborgenen Sinn darin zu entdecken. Rückblickend haben sie erkannt, wofür er gut war, und waren dafür dankbar. Und dabei haben sie nicht einfach nur von außen darauf geblickt und eine Theorie entwickelt, sondern sie haben sich in das Geschehen hineinbegeben und ihre eigenen Nöte mitgebracht. Sie haben geglaubt, dass der Tod Jesu ihnen das Heil bringt, und dem Gekreuzigten „ihre Herzen geschenkt“.

So hat Friedrich von Bodelschwingh es 1938 in dem Lied zum Ausdruck gebracht: „Nun gehören unsere Herzen ganz dem Mann von Golgatha“. (EG 93) Er ist davon ausgegangen, dass es das „Geheimnis des Gerichtes über aller Menschen Schuld“ gibt, und dass Jesus darin eingeweiht war. Und das ist auch nicht schwer, denn dass wir Gott nicht gerecht werden, wissen wir alle. Wir haben unzählige Fehler, sind schwache, unvollkommene Menschen und sterben eines Tages. Vieles von dem, was wir im Leben verkehrt machen, bleibt ungeklärt und ungesühnt, wir nehmen es mit ins Grab. Doch wir müssen deshalb nicht verzweifeln. Es ist vielmehr wichtig, dass wir das zugeben und uns gleichzeitig vor dem Kreuz Christi „verneigen“. Dann kann seine geheime Kraft wirken. Wir müssen „mit Jesus sterben“, dann haben wir auch an seinem Sieg Anteil. (Römer 6,5-11)

Denn den hat er auf Golgatha errungen. Er hat nicht nur „das Gericht“ und den Tod gesehen, sondern auch „das Geheimnis des neuen Lichtes“, das ewige Erbarmen Gottes, das bei seinem Sterben bereits aufstrahlte. Und er hat damit die „Hölle“ und die „Lügenmächte“ überwunden: Ihr Triumph ist nur eine Illusion, denn Christus ist durch das „Tor des Sterbens“ hindurch gedrungen, „und die sonst des Todes Kinder, führt zum Leben er empor.“ Mit seinem Sterben bietet Jesus uns die Gnade Gottes an, das Heil und das ewige Lebe, und es tut gut, wenn wir es entgegennehmen. Das will unser Text uns sagen, und auch Bodelschwingh mit seinem Lied.

Er hat auch noch weitere hilfreiche Worte gefunden, die uns zum Kreuz Christi einen Zugang eröffnen. Denn er spricht vom „heilgem Stilleschweigen“ und lädt dazu ein. Wir sollen uns „tief und tiefer vor dem Wunder verneigen, das geschah.“ Und das ist ein guter Ratschlag, denn dann hören wir auf, über all das, was uns zu schaffen macht, zu grübeln. Gerade in einer Krise, wie wir sie z.Zt. erleben, ist das hilfreich. Wir wissen jetzt nicht, wofür sie gut ist. Es ist ein riesengroßes Desaster, und wir sind mit unserem Latein langsam am Ende. Das erleben wir auch in anderen Situationen, denn wir kennen das Scheitern und die Niederlage, das Zerplatzen von Träumen und die Unerfüllbarkeit von Wünschen. Aber gerade dann, wenn es uns so geht, ist es gut, einfach beim Kreuz Christi zu „stehen“, um den „Anblick seiner Gnad“ zu bitten und ihn zu umarmen, wie Paul Gerhard sagt. (EG 85,4.6)

Sein Tod war noch viel unbegreiflicher und ungerechter als alles, was wir erfahren. Trotzdem – oder gerade deshalb – sind wir eingeladen, dazu ja zu sagen und mit Bodelschwingh zu beten: „Ja, wir danken deinen Schmerzen; ja, wir preisen deine Treu; ja, wir dienen dir von Herzen; ja, du machst einst alles neu.“ (EG 93,4)

Dann merken wir selber, „wozu das Kreuz gut war“. Es war kein Scheitern, sondern hat neue Wege eröffnet. So lasst uns rückblickend dafür dankbar sein und uns der geheimen Wirkung des Kreuzestodes Jesu überlassen. Amen.

Nun gehören unsre Herzen
ganz dem Mann von Golgatha,
der in bittern Todesschmerzen
das Geheimnis Gottes sah,
das Geheimnis des Gerichtes
über aller Menschen Schuld,
das Geheimnis neuen Lichtes
aus des Vaters ewger Huld.

Nun in heilgem Stilleschweigen
stehen wir auf Golgatha.
Tief und tiefer wir uns neigen
vor dem Wunder, das geschah,
als der Freie ward zum Knechte
und der Größte ganz gering,
als für Sünder der Gerechte
in des Todes Rachen ging.

Doch ob tausend Todesnächte
liegen über Golgatha,
ob der Hölle Lügenmächte
triumphieren fern und nah,
dennoch dringt als Überwinder
Christus durch des Sterbens Tor;
und die sonst des Todes Kinder,
führt zum Leben er empor.

Schweigen müssen nun die Feinde
vor dem Sieg von Golgatha.
Die begnadigte Gemeinde
sagt zu Christi Wegen: Ja!
Ja, wir danken deinen Schmerzen;
ja, wir preisen deine Treu;
ja, wir dienen dir von Herzen;
ja, du machst einst alles neu.

Friedrich von Bodelschwingh 1938