Das Erkennungszeichen der Christen

Betrachtungsgottesdienst Fisch

3. Sonntag der Passionszeit, 28.2.2016, 9.30 Uhr
Lutherkirche Kiel

Der 3. Sonntag der Passionszeit handelt vom „Ernst der Nachfolge“. Der Wochenspruch  lautet: „Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes.“ (Lk. 9, 62)
Jesus macht damit deutlich, dass Jüngerschaft und Nachfolge eine Lebensentscheidung fordern. In der Urchristenheit war das ein wichtiges Thema, denn da wurden Christen verfolgt.
In unserer Kirche erinnert eins der Buntglasfenster an diese Zeit, es ist das mit dem Fisch. Der galt von alters her als ein Erkennungszeichen für diejenigen, die es mit der Nachfolge ernst meinten. Wir haben es betrachtet, um uns für Christus zu öffnen.  Der Gottesdienst sollte uns neu zur Nachfolge anspornen.

Betrachtung des Buntglasfensters Fisch
von Binia Kempe

Heute wollen wir das letzte der fünf Buntglasfenster genauer betrachten. Die vier übrigen stellen ja Szenen bzw. Texte aus der Bibel dar:
Da ist das Fenster mit den 10 Gesetzestafeln,
dann das Fenster mit der Krippe und dem Stern,
das Fenster mit dem Kelch und dem Brot,
das Fenster mit den züngelnden Flammen
und schließlich das Fenster mit dem Kreuz und den Buchstaben Alpha und Omega.
Dazu haben wir, denke ich, alle eine Geschichte aus der Bibel vor Augen und könnten sie erzählen.
Mit dem Fisch ist das nicht ganz so einfach.
Wir kennen schon Geschichten aus der Bibel, die von einem Fisch handeln und die wichtig für unseren Glauben sind, aber mit diesen Geschichte ist es doch anders als mit den übrigen vier Darstellungen in unseren Fenstern.
Und ich traue mich, etwas zu gestehen, und das traue ich mich nur, weil ich von anderen weiß, dass es ihnen genauso ergangen ist:
Bevor ich mich intensiver mit den Fenstern beschäftigt hFischabe und mehr oder weniger nur die Farben habe auf mich wirken lassen, da sah ich eine Glocke und fand das gar nicht so unpassend in der Kirche. Den Schriftzug in dieser vermeintlichen Glocke nahm ich gar nicht wahr, denn ich kann ja nicht griechisch lesen…..

Aber gucken wir doch erst einmal genauer hin, was der Künstler, das war Gerhard Hurte aus Eutin im Jahre 1963, dargestellt hat.

Wir sehen einen kapitalen Fisch, auffallend hell und deshalb ins Auge stechend, senkrecht im Bild stehend, so als wäre er aus dem Wasser geschnellt, dem Himmel entgegen. Blaue Wellen umspielen ihn, aber er ist nicht in die Wellen eingetaucht. Durch sein offenes Maul, so scheint es mir, lässt er einen goldenen Lichtstrahl in seinen Körper hinein. Der Himmel, dem er entgegenstrebt, ist wie aus feurigem Licht und sendet seine Strahlen von links oben nach rechts unten.
Auf dem Körper des Fisches steht das griechische Wort ICHTYS, auf deutsch FISCH. Was es damit auf sich hat und wie das Wort und das Bild des Fisches zum Symbol der Christen geworden ist, das hören wir gleich.

 

Der Fisch als Erkennungzeichen der Christen
von Christa Lehmann

Alle haben Sie einen Aufkleber bekommen, auf dem ein stilisierter Fisch zu sehen ist. Sie kennen ihn fisch bunt– man sieht dieses Zeichen heute häufig auf den Straßen, denn es klebt am Heck so mancher Autos. Was signalisieren die Inhaber der Autos mit diesem Zeichen?
Sie wollen sich zu erkennen geben: ICH BIN EIN CHRIST, d.h. ich bekenne mich zu Jesus als dem Inhalt aller christlicher Hoffnungen.
Seit der Urchristenheit ist der Fisch das Erkennungszeichen der Christen. Vor allem unter der römischen Verfolgung, so nimmt man an, wurde er zu so etwas wie einem geheimen Erkennungszeichen für die verfolgten Christen. Denn ein offenes Bekenntnis zum christlichen Glauben war lebensgefährlich! Fischdarstellungen findet man z. B. in den römischen Katakomben des 2. und 3. Jhdts.
Heute bekennen sich Christen mit dem stilisierten Fisch freiwillig zu Jesus Christus, eben, indem sie entsprechende Aufkleber auf ihren fahrbaren Untersätzen anbringen.

Warum eignete sich gerade der Fisch als so ein Erkennungszeichen?
Der Grund liegt in den einzelnen Buchstaben des griechischen Wortes „ichthys“:
I  steht für Iēsoũs (Ιησούς) = Jesus
Χ (CH)  steht für Christòs (Χριστός) = Christus
Θ (T)  steht für Theoũ (Θεού) = Gottes
Υ  steht für Hyiòs (Υιός ) = Sohn
Σ (S)  steht für Sōtér (Σωτήρ) = Erlöser, Retter

In der Bibel wird der Fisch des öfteren erwähnt. Und wir wissen: die ersten Jünger und Nachfolger Jesu von Nazareth waren Fischer vom See Genezareth. Jesus holte sie weg aus ihrem Beruf und machte sie zu „Menschenfischern“. (Lk. 5,1- 11) Das haben wir eben am Schluss des Evangeliums gehört. So steht der Fisch für den Ruf in die Nachfolge Christi zur Ausbreitung des Evangeliums.
Der Fisch ist auch Zeichen der Abendmahlsgemeinschaft. Jesus speiste fünftausend Menschen mit Brot und Fisch. (Mt. 14,13-21) Und Johannes, der Evangelist, erzählt, wie der auferstandene Christus sich seinen Jüngern am See Genezareth zu erkennen gab, indem er ihnen den Fisch brach und austeilte. (Joh. 21,1-14)
Außerdem ist der Fisch auch Zeichen der Auferstehung Christi. Wir kennen die Geschichte von Jona im Alten Testament: drei Tage und drei Nächte musste der ungehorsame Prophet im „Bauch des Fisches“ bleiben, bis dieser ihn dort ausspuckte, wo Gott ihn als Boten haben wollte. (Jona 2,11.1) Jesus selber nimmt diese Geschichte als Hinweis auf seinen Tod und seine Auferstehung nach drei Tagen. (Mt. 12,40)

Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass sich in unserer IMG_0222Lutherkirche noch ein Fisch „versteckt“ hat? Sehen Sie sich den Leuchter an, der die Oster- bzw. Taufkerze trägt: Er ist gestaltet wie ein stilisierter Fisch, steht also für das Bekenntnis der Getauften zum auferstandenen Jesus Christus.
Und so gibt also ebenso derjenige, der den Fisch an sein Auto klebt, für alle zu erkennen: Ich gehöre zu Christus!

 

Predigt über Epheser 5, 1- 8a
von Gesa Bartholomae

Epheser 5, 1- 8a

1 So folgt nun Gottes Beispiel als die geliebten Kinder
2 und lebt in der Liebe, wie auch Christus uns geliebt hat und hat sich selbst für uns gegeben als Gabe und Opfer, Gott zu einem lieblichen Geruch.

3 Von Unzucht aber und jeder Art Unreinheit oder Habsucht soll bei euch nicht einmal die Rede sein, wie es sich für die Heiligen gehört.
4 Auch schandbare und närrische oder lose Reden stehen euch nicht an, sondern vielmehr Danksagung.
5 Denn das sollt ihr wissen, dass kein Unzüchtiger oder Unreiner oder Habsüchtiger – das sind Götzendiener – ein Erbteil hat im Reich Christi und Gottes.
6 Lasst euch von niemandem verführen mit leeren Worten; denn um dieser Dinge willen kommt der Zorn Gottes über die Kinder des Ungehorsams.
7 Darum seid nicht ihre Mitgenossen.
8 Denn ihr wart früher Finsternis; nun aber seid ihr Licht in dem Herrn.

Liebe Gemeinde.
Unternehmen, Organisationen oder Privatpersonen geben sich gerne ein Logo, das ist eine kleine Grafik, ein Erkennungszeichen. Es wird aus einem Bild, einem Wort oder beidem gestaltet und hat immer etwas mit der Identität des Inhabers zu tun. Ein Gedanke, eine Idee, die Geschichte oder das Programm der jeweiligen Gruppe werden damit angedeutet. Es erscheint dann auf den Prospekten, der Homepage, den Visitenkarten, dem Briefpapier usw. Oft gibt es auch Aufkleber oder Anstecknadeln.
Manchmal ist es ein Geheimzeichen, das nur die Mitglieder kennen. Außenstehende geht ihre Organisation nichts an. Wenn sie es sehen, wissen sie, dass sie zusammengehören ohne es sagen zu müssen. Eine ähnliche Funktion können dann auch Gesten oder Passwörter haben.
Und so etwas war für die Christen schon seit alters her der Fisch. Wir haben die Geschichte und die Bedeutung dieses Zeichens eben gehört. Es besagt, dass das Merkmal der Christen Jesus Christus selber ist, der Sohn Gottes, der uns gerettet hat. Er verbindet uns, durch ihn zeichnen wir uns aus.
Aber was heißt das nun? Was bedeutet es für unser Leben, dass wir uns an der Gegenwart Jesu Christi gegenseitig erkennen können?
In der Epistel von heute wird diese Frage sehr klar beantwortet. Sie ist ein Abschnitt aus dem Epheserbrief. Der Apostel Paulus beschreibt hier das Leben der Christen, und gleich mit dem ersten Satz wird deutlich, was das Entscheidende ist. Er lautet: „So folgt nun Gottes Beispiel als die geliebten Kinder und lebt in der Liebe, wie auch Christus uns geliebt hat.“ Ein Erkennungszeichen der Christen ist also die gegenseitige Liebe.
Das klingt sehr einladend und scheint uns entgegen zu kommen, doch wichtig ist, dass damit nicht die erotische Liebe gemeint ist, durch die die Einzelnen ihre Lust und ihr Verlangen nach Aufmerksamkeit befriedigen, sondern die Liebe, die sich aufopfert und bereit zum Leiden ist. Denn das hat Christus auch getan, wie es weiter heißt: „Er hat sich selbst für uns gegeben als Gabe und Opfer, Gott zu einem lieblichen Geruch.“ Es wird sogar ausdrücklich erwähnt, dass es nicht um „Unzucht“ geht. Vor „jeder Art Unreinheit oder Habsucht“ wird vielmehr ausdrücklich gewarnt. Es fällt stattdessen das Stichwort von der „Heiligung“: „Für die Heiligen gehört es sich nicht“, sich diesen Trieben hinzugeben. „Auch schandbare und närrische oder lose Reden stehen euch nicht an“, heißt es weiter, „sondern vielmehr Danksagung.“
Das ist ein weiteres Erkennungszeichen: Christen sind dankbar. Sie wissen, das Leben wurde ihnen geschenkt. Sie haben kein Recht darauf, sondern haben es aus Gnade empfangen. Wer es eigenmächtig an sich reißen will, „hat kein Erbteil im Reich Christi und Gottes.“ Denn er dient einem Götzen.
Das sind die Ermahnungen des Paulus für einen christlichen Lebenswandel, und er weiß dabei sehr wohl, dass es nicht leicht ist, sie zu befolgen. Wir lassen uns gerne „mit leeren Worten verführen“, d.h. wir folgen lieber unseren niederen Trieben. Doch davor warnt Paulus seine Leser, indem er sagt: „Um dieser Dinge willen kommt der Zorn Gottes über die Kinder des Ungehorsams.“ Es hat Folgen, wie wir leben, und Gott ist daran nicht unbeteiligt. Deshalb ist es besser, wenn wir gar nicht erst „Mitgenossen“ derer werden, die einen ungeordneten Lebenswandel führen und den Willen Gott dabei ignorieren.
Was die Christen auszeichnet, ist also ein gelingendes Leben, das von Dank und Freiheit geprägt ist. Wir sollen wie Kinder leben, die von ihrem Vater geliebt werden. Zum Schluss wird das noch mit einem sehr schönen Bild beschrieben. Paulus sagt am Ende: „Denn ihr wart früher Finsternis; nun aber seid ihr Licht in dem Herrn.“ Christen kann man also an ihrer inneren Kraft erkennen, an einem Licht, das von ihnen ausgeht.
Auf dem Fenster mit dem Fisch ist das sehr schön dargestellt. Nicht umsonst steht der Fisch aufrecht. Er ist nach oben ausgerichtet, gen Himmel. Die Wellen halten ihn nicht fest, und er empfängt einen Lichtstrahl. Oder geht dieses Licht von ihm aus? Beides ist möglich und gehört zu einem christlichen Leben.
Doch wie kann das nun gelingen, und wollen wir das überhaupt? Wie so viele Texte von Paulus klingt auch dieser sehr radikal und streng. Wir sind zwar nicht in unbedingt für „Unzucht, Unreinheit und Habsucht“, aber so ein bisschen lustvoll und weltlich wollen wir schon bleiben, auch als Christen. Die Nachfolge, zu der auch Jesus aufruft, ist uns viel zu kompromisslos. Das passt nicht zu unserem Lebensgefühl, so meinen wir. Seine Leidensbereitschaft und sein Opfer sind keine besonders attraktiven Vorbilder. Wir wollen das gar nicht als Erkennungszeichen, sondern fühlen uns davon unter Druck gesetzt. Wir sehen hier den erhobenen Zeigefinger, und der gefällt uns nicht.
Doch so ist das, was Paulus hier sagt, nicht gemeint. Es geht nicht um eine moralische Einengung, sondern um Befreiung. Und um das zu verstehen, ist es gut, wenn wir uns einmal ehrlich klar machen, wie ein Leben nach dem Lustprinzip in Wirklichkeit aussieht. So befreiend oder hell ist das nämlich gar nicht, im Gegenteil, wir handeln uns damit oft viel mehr Elend ein, als uns lieb ist.
Es geht dabei ja um unser Ich, das ist der entscheidende Punkt. Hinter „Unzucht und Habgier“ verbirgt sich eine egoistische Lebenseinstellung, und davon sind wir alle nicht weit entfernt. Denn wir stellen gern unsere eigenen Belange in den Mittelpunkt, möchten zufrieden gestellt werden und auf unsere Kosten kommen.
Das ist an unserem Miteinander zu erkennen. Jeder und jede von uns steht in vielen Beziehungen. Durch die Familie, den Beruf, die Nachbarschaft, die Gemeinde und die Gesellschaft sind wir in einem sozialen Netz. Das ist auch gut, denn wir brauchen einander. Keiner und keine kann alleine leben. Deshalb ist es auch ganz normal, dass wir von den anderen Menschen bestimmte Dinge erwarten. Sie sollen in irgendeiner Form für uns da sein, mitspielen und funktionieren.
Doch genau dadurch entstehen die Probleme, denn der oder die andere passt oft nicht in unser Konzept. Die Menschen, mit denen wir zusammen leben oder arbeiten, mit denen wir befreundet oder auf die wir angewiesen sind, handeln nicht immer, wie wir es wollen. Sie haben andere Werte und Ideen, machen andere Erfahrungen, haben andere Wünsche und Pläne. Und das stört uns oft. Es kommt zu Konflikten und Spannungen. Überall gibt es viel Unmut und Ärger, Zorn und Streit. Wenn es schlimm wird, gehen wir aufeinander los oder wir trennen uns. Unser Leben ist gar nicht so schön, wie wir oft meinen. Es gibt in unserem Miteinander viel Dunkelheit und Not, und die haben meistens etwas damit zu tun, dass wir zu sehr auf unsere Ziele und Wünsche, unser Ich und unser eigenes Wohlbefinden fixiert sind.
Die Anleitung für unser Handeln muss deshalb noch tiefer gehen, als dass wir nur unseren Wünschen und Erwartungen folgen. Wir brauchen einen Weg, der uns davon befreit. Es kann nur dann hell werden, wenn wir von unseren Vorstellungen Abstand nehmen. Denn nur dann können wir zueinander finden. Und das hat Jesus uns vorgelebt und gezeigt. Er hat diesen Weg für uns vorbereitet und eröffnet. Denn er suchte nicht seinen eigenen Vorteil, sondern war bereit zum Leiden. Er hat sich hingegeben und ist sogar für uns gestorben.
Darauf dürfen wir vertrauen, und das ist unser Vorbild. Wir werden hier nicht zu moralischen Höchstleistungen aufgefordert, sondern zu einem Leben im Licht und in der Liebe Christi. So wie der Fisch auf dem Fenster es von oben empfängt, so kann es auch in unser Leben hineinfallen. Wir müssen uns nur selber einmal loslassen und uns dem Licht Christi aussetzen, uns ihm überlassen und ihm danken. Wenn es uns gut gehen soll, kommt es gar nicht darauf an, dass alles, was wir wollen, auch eintritt, dass alle Wünsche erfüllt werden und die Menschen in unserer Nähe total zu uns passen. Viel entscheidender ist, dass wir die Gegenwart Christi erleben und uns davon prägen lassen.
Denn dann kann er mit seiner Liebe in uns und an uns wirken. Er erfüllt uns mit seiner Kraft und dadurch kommt ganz vieles in Ordnung. Probleme verschwinden, Spannungen und Konflikte lösen sich auf, denn wir wollen und erwarten nichts mehr von den anderen Menschen. Wir können sie vielmehr annehmen, wie sie sind, ihnen vergeben, sie lieben und ihnen helfen. Der Himmel sendet seine Strahlen und taucht uns in sein Licht.
Das alles geschieht, wenn wir Christus nachfolgen und ihn zu unserem Erkennungszeichen machen. Liebe, Dankbarkeit und Freude prägen dann unser Leben.
Mit dem Fisch, der für Christus steht, haben wir also noch viel mehr als ein Logo. Er verweist uns auf eine neue Lebensweise, er symbolisiert eine Kraft und eine Wirklichkeit, die uns aus den engen Grenzen unseres Ichs hinausführt und uns ein Leben in Freiheit und Liebe schenkt.
Amen.

Den Versuchungen widerstehen

Predigt über Hebräer 4, 14- 16: Christus der wahre Hohepriester

1. Sonntag der Passionszeit, 14.2.2016, 9.30 Uhr
Lutherkirche Kiel

Hebräer 4, 14- 16

14 Weil wir denn einen großen Hohenpriester haben, Jesus, den Sohn Gottes, der die Himmel durchschritten hat, so lasst uns festhalten an dem Bekenntnis.
15 Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte mit leiden mit unserer Schwachheit, sondern der versucht worden ist in allem wie wir, doch ohne Sünde.
16 Darum lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben.

Liebe Gemeinde.
Der Tempel in Jerusalem hatte in den Tagen Jesu noch nichts von der Bedeutung verloren, die ihm in der Geschichte Israels von jeher zugekommen war. Er bot sich seinen Betrachtern eindrucksvoll dar. Wer nach Jerusalem hinaufzog, konnte schon von weitem den hochgelegenen Bau sehen.
Hatte man die Tore der Stadt durchschritten und kam zum Tempelbezirk, so gelangte man zunächst in den äußeren Vorhof. Schranken versperrten den freien Zutritt zum inneren Vorhof, in den kein Fremdstämmiger hinein durfte. Kam man in die Halle, sah man den goldenen Räucheraltar, den unablässig brennenden siebenarmigen Leuchter und den Schaubrottisch. Und dahinter lag noch ein besonderer Raum, das Allerheiligste, das durch dichte Vorhänge vom übrigen Tempel abgetrennt war. Früher befand sich da die Bundeslade mit den Gesetzestafeln, später stellte man sich vor, dass dort der Thron Gottes stand. Es durfte nur vom Hohenpriester betreten werden, wenn er am großen Versöhnungstag die Sühnehandlung für ganz Israel zu vollziehen hatte. Er empfing dort stellvertretend für das Volk die Vergebung Gottes.
Natürlich wussten die Menschen, dass ein kleiner Raum wie das Allerheiligste im Tempel Gott nicht fassen kann, aber es war ein Sinnbild. Es versicherte den Menschen: Unser Gott ist bei uns. Nur nähern durfte man sich ihm nicht. Nichts Unheiliges oder Unreines sollte Gott beleidigen. Gottes Herrlichkeit war zu furchtbar, zu groß, zu verzehrend, als dass ein normal Sterblicher sie aushalten würde. Das war der Glaube. Nur der Hohepriester vertrat die Menschen dort vor Gott.
Er war sozusagen der geistliche Spitzenmann und genoss großes Ansehen. In allen Fragen der Religion, der Priesterschaft und des Gottesdienstes hatte er die oberste Aufsicht und Weisung. Seit ca. 150 v. Chr. war er als Vorsitzender des Hohen Rates gleichzeitig der oberste politische Führer, denn der Hohe Rat war der höchste jüdische Gerichtshof und damit die wichtigste politische Institution. Selbst unter der Herrschaft der Römer verfügte er noch über erhebliche Autonomie. Für die Besatzungsmacht war der Hohepriester damit der zentrale Ansprechpartner.
Wie alle Priester musste er einen untadeligen Lebenswandel führen, ohne körperliche Fehler sein und alle Reinheitsvorschriften genau einhalten.
Er hatte sein Amt bis ans Lebensende inne.
(vgl. Edurard Lohse, Umwelt des Neuen Testamentes, Göttingen, 1980, S. 109ff)
Das alles wusste der Schreiber des Hebräerbriefes und er war damit offensichtlich vertraut. Denn er benutzt dieses Geschehen in seinem Brief an einigen Stellen als ein Bild. In dem Abschnitt, der heute unsere Epistellesung ist, stellt er sich vor, wie der Hohepriester durch die Vorhöfe und Hallen des Tempels in das Allerheiligste geht, und er sagt: So schreitet Jesus durch die Himmel und tritt für uns vor den Thron Gottes. Und auch wir dürfen in das Allerheiligste hineingehen.
Der Verfasser macht also die unglaubliche Feststellung, dass der Zutritt zu Gott nun frei für jedermann ist. Man kann Gott ohne Angst und Schrecken begegnen, uns wird nichts passieren. Er sagt deshalb: „Lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade.“ Wir dürfen damit rechnen, dass wir angenommen werden. Die Gemeinde darf sich des göttlichen Wohlwollens sicher sein und sich trösten, denn jedem wird geholfen.
Und das ist durch Jesus Christus möglich geworden, dem „neuen Hohenpriester“. Er hat ein für alle Mal Versöhnung zwischen Gott und Mensch bewirkt. Denn in ihm ist Gott selber Mensch geworden. Dabei wird hier sehr schön beschrieben, was das heißt: „Jesus leidet mit unserer Schwachheit mit und wurde versucht wie wir.“ D.h. er war ein Mensch aus Fleisch und Blut, er fühlte und kannte Angst und Not, wie sie jeder in dieser Welt schmerzlich erfahren muss. Persönliche innere Kämpfe sind ihm nicht erspart geblieben, er musste wie jeder Mensch den vielfältigen Versuchungen widerstehen.
Doch genau das ist ihm gelungen wie keinem anderen. Er blieb in all dem „ohne Sünde“ und ist Gott bis zum Tod am Kreuz gehorsam gewesen. Selbst in dieser radikalen Grenzsituation hat er dem Willen Gottes entsprochen.
Deshalb hat Gott ihn erhöht und ihn selber auf den „Thron der Gnade“ gesetzt. Wenn wir vor Jesus treten, stehen wir vor Gott und „empfangen Barmherzigkeit und finden Gnade.“ Die Einladung lautet: „Komm herein, die Tür steht offen. Du brauchst dich nicht mehr zu fürchten, Gott erwartet dich vielmehr und sieht dich freundlich an.“
Das ist eine frohe Botschaft, „darum lasst uns [wirklich] hinzutreten mit Zuversicht“. Lassen Sie uns der Einladung folgen, denn wir brauchen die Hilfe, die uns hier zugesagt wird. Wir sind ja nicht sündlos, sondern erliegen immer wieder allen möglichen Versuchungen. Diese Tatsache steht hinter der Sendung Jesu. Unsere „Schwachheit“ ist der Grund für sein Kommen und sein „Mitleiden“. Wir müssen uns das also eingestehen und bewusst machen, wenn wir seine Gnade empfangen wollen. Lassen Sie uns deshalb fragen, was unsere „Schwachheiten“ sind, welche inneren Kämpfe wir auszustehen haben, und wie Jesus uns da hindurch führen kann.
Dabei hilft es, wenn wir ins Evangelium schauen und nachlesen, womit der Teufel Jesus locken wollte. Die Situationen sind gute Beispiele für das, was uns alle in Gefahr bringt. Wir haben die Erzählung vorhin gehört. (Mt. 4, 1- 11) Der Versucher forderte Jesus zu drei Dingen auf: Er sollte aus Steinen Brot machen, von der Zinne des Tempels springen und sich von den Engeln auffangen lassen und schließlich den Teufel anbeten, um die Weltherrschaft zu erlangen.
In der ersten Versuchung steckt die Verlockung des Materialismus, und die betrifft uns alle. Wir essen und trinken gerne, nehmen, was wir bekommen können, wollen satt und reich sein.
Bei der zweiten Versuchung ging es um ein spektakuläres Eingreifen Gottes, um ein Wunder. Das wünschen wir uns auch manchmal, denn dann bräuchten wir keine Verantwortung mehr für das zu übernehmen, was in der Welt und in unserem Leben geschieht. Gott würde ja alles lenken. Wir reden uns gerne damit heraus, dass er das ja nicht tut, und drücken uns damit vor der Herausforderung des Lebens. Es ist die Versuchung zur Bequemlichkeit.
Und die dritte Situation beinhaltet die Versuchung zur Macht. Viele Menschen sind davon befallen. Sie wollen andere beherrschen und schrecken dabei vor nichts zurück.
Und das alles sehen und erleben wir überall. Ständig erliegen Menschen diesen Versuchungen. An persönlichen aber auch an gesellschaftlichen Entwicklungen ist das zu erkennen, im Kleinen wie im Großen. Möglicherweise hat sich der eine oder die andere von uns jetzt am Beginn der Fastenzeit vorgenommen, daran etwas zu ändern, den Versuchungen zu widerstehen. Wir wünschen uns oft ein besseres Leben und eine bessere Welt. Denn wir erleben immer wieder, wie zerstörerisch es ist, wenn wir den Versuchungen erliegen:
Das erste, der Materialismus führt uns in die Unzufriedenheit, weil er nicht für ein erfülltes Leben reicht. Wenn wir zu sehr auf die Dinge dieser Welt fixiert sind, brauchen wir immer mehr, und am Ende bleibt unsere Seele trotzdem leer. Das Leben fühlt sich sinnlos an, denn innere Werte bleiben dabei oft auf der Strecke. Wir vernachlässigen unsere Seele. Das zweite Beispiel, die Bequemlichkeit, macht uns träge und müde, unausgeglichen und vielleicht sogar krank. Auch die Sorge für die anderen verlieren wir aus dem Blick, und es entstehen Neid und Rücksichtslosigkeit. Und das letzte, die Machtausübung, läuft immer auf Hass und Zerstörung hinaus. Feindschaft und Krieg sind die Folgen, Ungerechtigkeit und Unterdrückung
Das alles spielt sich wie gesagt in jedem Leben und in jeder Gesellschaft ab. Vieles läuft da schief, und oft ist unsere Verstrickung in diese Gefahren wie ein Teufelskreis:
Wenn wir zu viel essen, trinken oder kaufen, schämen wir uns irgendwann und haben Schuldgefühle. Wir verurteilen uns selber, und das führt dazu, dass wir erst recht essen, trinken und einkaufen. Die Bequemlichkeit macht uns gleichgültig und müde und kann deshalb ebenso schwer aufgehoben werden. Wir leiden vielleicht unter unseren Mängeln, aber wir kommen nicht dagegen an. Und wer zu viel Macht ausübt, bringt die anderen gegen sich auf. Er wird einsam und bekommt Angst vor dem eventuellen Aufstand der Unterdrückten. Vielleicht würde er gerne einiges ungeschehen machen, aber das geht nicht, und so übt er weiter Macht aus. Die Situationen, in die wir durch unsere „Schwachheit“ geraten, sind oft verhängnisvoll. Aus eigener Kraft können wir ihnen kaum entkommen. Wir brauchen Hilfe von außen, eine Stelle, an die wir uns wenden können, einen Anstoß, der diese Teufelskreise durchbricht und uns da heraus führt.
Und genau das wird uns in unserem Abschnitt aus dem Hebräerbrief verheißen. Wir dürfen „hinzutreten dürfen mit Zuversicht zum Thron der Gnade“. Das ist die frohe Botschaft. Es gibt eine Rettung, und die liegt bei Gott selber. Er hat Jesus Christus gesandt und ihn all die inneren Kämpfe durchmachen lassen, die wir Menschen bestehen müssen. Doch im Unterschied zu uns blieb er darin „ohne Sünde“. Er hat den Willen Gottes ganz und gar erfüllt, er war ein vollkommener Mensch und er steht uns zur Seite. Wir dürfen auf ihn vertrauen, uns an ihn wenden und uns auf ihn verlassen, wenn wir gerettet werden wollen.
Dazu gehört als erstes, dass wir uns selber annehmen und unsere Scham ablegen. Wir müssen unsere Schuldgefühle nicht unterdrücken oder verstecken, wir dürfen unser Versagen zugeben und uns auch die Angst eingestehen. Gott verurteilt uns für all das nicht. Im Gegenteil, wir haben durch Jesus jemanden, der mit uns leidet, der uns kennt und sich um uns kümmert.
Er sitzt selber auf dem „Thron“ und schenkt uns seine Gnade. Wir empfangen durch ihn Barmherzigkeit und Hilfe. Wir müssen sie nur annehmen und uns dieses Geschenk gefallen lassen.
Dann werden wir frei, der Teufelskreis wird durchbrochen und wir werden erlöst: Wir können die Dinge der Welt plötzlich lassen, wir hören auf, zu viel davon zu erwarten. Wir sind in der Lage, Verantwortung zu übernehmen, und auch von der Macht können wir uns verabschieden, denn die Angst vor einer Niederlage verschwindet. Wir können getrost zurücktreten und ein neues Leben beginnen. Wenn wir Christi „Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden“, haben wir nichts mehr zu verlieren, denn es ist alles da, was wir uns wünschen.
Und dafür ist die Fastenzeit da. Oft denken wir ja, diese Zeit dient der Selbstüberwindung und dem Verzicht. Wir müssen es endlich einmal hinbekommen, diese Welt und unser Leben besser zu machen. Doch das ist gar nicht der Schwerpunkt. Viel entscheidender ist, dass es eine Zeit der besonderen Nähe Jesu wird. Wenn wir etwas verstärkt suchen, dann sollte es die Gemeinschaft mit ihm sein. Gerade in dieser Zeit geht es um seine menschlichste Seite, um sein Versucht-werden, sein Leiden und Sterben. Es geschah bei ihm „ohne Sünde“, und damit hat er uns das Heil geschenkt. Das bedenken wir in der Passionszeit, und deshalb ist sie eine besondere Heilszeit, eine Zeit der Gnade und Barmherzigkeit, der Hilfe und der Freude. Sie dient der Erneuerung und Veränderung, dem Frieden und der Gerechtigkeit.
Denn uns wird verkündet: Unser Gott ist bei uns, und wir dürfen uns ihm nähern, auch wenn wir unheilig oder unrein sind. Wir können Gott damit nicht beleidigen. Wir müssen uns vor ihm nicht fürchten. Er ist nicht zu groß für uns, kein Sterblicher wird durch seine Nähe verzehrt. Denn wir haben den wahren Hohenpriester, der alle Menschen vor Gott vertritt, „Jesus, den Sohn Gottes, der die Himmel durchschritten hat.“
Lassen Sie uns mit ihm zusammen sein.
Amen.