Das stetig um die Erde wandernde Gebet

Predigt über Lied 266 (EG):
Der Tag, mein Gott, ist nun vergangen

Erste Sommerpredigt „In fremden Zungen“, 15.7.2018
9.30 und 11 Uhr, Luther- und Jakobikirche Kiel

Sommerzeit ist Reisezeit, und so bereisen wir in den nächsten Gottesdiensten in unseren beiden Kirchen mit dem Gesangbuch europäische Länder. Es wird jeweils ein Lied aus einem ausgewählten Land vorgestellt. Auf diese Weise verbinden wir uns mit anderen Christen aus der Weite der Ökumene.
Das erste Lied, das wir heute betrachten, ist dafür programmatisch, und zwar zum einen, weil die Originalfassung Englisch ist, also in der Sprache, in der heutzutage sich fast jede mit jedem auf der Welt verständigen kann. Außerdem beinhaltet es das Bekenntnis zu der einen weltumspannenden Kirche.
Das merkt man zwar nicht gleich am ersten Satz, der mit dem Abend beginnt und der lautet: „Der Tag, mein Gott ist nun vergangen“, aber dabei bleibt der Dichter nicht stehen. Das Ende des Tages ist für ihn vielmehr ein Anlass, daran zu denken, dass die Sonne zur gleichen Zeit woanders aufgeht. Und damit steht auch das Gebet niemals still, es umspannt vielmehr auf unsichtbare Weise die ganze Welt.

EG 266

Text: Gerhard Valentin 1964 nach dem englischen »The day thou gavest, Lord, is ended« von John F. Ellerton 1870
Melodie und Satz: Clement Cotterill Scholefield 1874


Deutshe Fassung
  1. Der Tag, mein Gott, ist nun vergangen
    und wird vom Dunkel überweht.
    Am Morgen hast du Lob empfangen,
    zu dir steigt unser Nachtgebet.
  2. Die Erde rollt dem Tag entgegen;
    wir ruhen aus in dieser Nacht
    und danken dir, wenn wir uns legen,
    dass deine Kirche immer wacht.
  3. Denn unermüdlich, wie der Schimmer
    des Morgens um die Erde geht,
    ist immer ein Gebet und immer
    ein Loblied wach, das vor dir steht.
  4.  Die Sonne, die uns sinkt, bringt drüben
    den Menschen überm Meer das Licht:
    Und immer wird ein Mund sich üben,
    der Dank für deine Taten spricht.
  5.  So sei es, Herr: Die Reiche fallen,
    dein Thron allein wird nicht zerstört;
    dein Reich besteht und wächst, bis allen
    dein großer, neuer Tag gehört.
Englische Fassung
  1. The day thou gavest, Lord, is ended,
    The darkness falls at thy behest;
    To thee our morning hymns ascended,
    Thy praise shall sanctify our rest.
  2. We thank thee that thy Church unsleeping,
    While earth rolls onward into light,
    Through all the world her watch is keeping,
    And rests not now by day or night.
  3. As o’er each continent and island
    The dawn leads on another day,
    The voice of prayer is never silent,
    Nor dies the strain of praise away.
  4. The sun that bids us rest is waking
    Our brethren ’neath the western sky,
    And hour by hour fresh lips are making
    Thy wondrous doings heard on high.
  5. So be it, Lord; thy throne shall never,
    Like earth’s proud empires, pass away:
    Thy kingdom stands, and grows for ever,
    Till all thy creatures own thy sway.

Liebe Gemeinde.

Überall auf der Welt wohnen Menschen, und manchmal wundert man sich über die Orte, die sie besiedelt haben. An abgelegenen Gebirgshängen, auf einsamen Inseln, im Urwald und im ewigen Eis, in jedem Winkel auf der Erde sind Menschen zu Hause. Und in einer globalisierten Welt wissen auch fast alle voneinander. Denn heutzutage ist die ganze Menschheit vernetzt, durch den Tourismus und den Welthandel, das Internet und die Medien, Katastrophenhilfe und militärische Bündnisse usw.

Es gibt inzwischen zwar starke Bewegungen gegen die Globalisierung, weil viele davon Nachteile haben, aber es gibt auch etliche Vorteile, sonst wäre es nicht dazu gekommen.

Ein weltweites Netzwerk ist auf jeden Fall gut, und das hat es auch schon lange vor der modernen Zeit gegeben: Es ist das ständig um die Erde wanderende Gebet. Wir können davon ausgehen, dass immer irgendwo auf der Welt ein Mensch wach ist und betet, und das schon, seitdem es den Glauben gibt.

Diesen Gedanken hat John Ellerton in seinem Lied „The day Thou gavest, Lord, is ended“ wunderbar beschrieben. Es ist ein geistliches Lied, das mehrfach ins Deutsche übertragen und in die wichtigsten deutschsprachigen Gesangbücher aufgenommen wurde, so auch in unseres.

John Ellerton, der den Originaltext verfasste, lebte von 1826 bis 1893 und war anglikanischer Geistlicher und Liederdichter. Seine Strophen erschienen – ohne Melodie – erstmals 1870 im Druck. Sie enthalten einen abendlichen Dank für das weltumspannende Gebet, das im „Rollen“ des Erdballs niemals endende Gotteslob der Kirche.

Die Übertragung „Der Tag, mein Gott, ist nun vergangen“ schuf Gerhard Valentin im Jahr 1964. Valentin war Lehrer, Schauspieler und ab 1967 Musikreferent im Landesjugendpfarramt der Evangelischen Kirche im Rheinland. Sein Text folgt allen fünf Strophen des englischen Originals und war von Anfang an mit dessen Melodie verbunden. Ursprünglich war es für die Gruppen der evangelischen Jugendarbeit bestimmt. Es steht nun aber wie gesagt auch in unserem Gesangbuch und zwar in der Rubrik „Gottesdienst und Ökumene“.

Und das passt sehr gut, denn der Verfasser denkt bei „Kirche“ nicht an eine bestimmte Konfession oder Nation, er meint vielmehr die eine „heilige christliche Kirche, die Gemeinschaft der Heiligen“, wie es im Glaubensbekenntnis formuliert ist. Und er denkt über die Weltgeschichte hinaus an das überzeitliche Königreich Gottes. Es steht den stolzen Mächten der Welt entgegen.

Nachdem das Lied veröffentlicht war, wurde es schnell bekannt und sehr beliebt. So wünschte sich Königin Victoria 1897 zur Feier ihres Diamantenen Thronjubiläums neben anderen diesen Choral, und er wurde weltweit bei den Dankgottesdiensten gesungen. Genau 100 Jahre später war das Lied Teil der Zeremonie zur Übergabe der Kronkolonie Hongkong in die Souveränität der Volksrepublik China. Und 2005 erreichte es bei einer von der BBC veranstalteten Abstimmung über „The nation’s favourite hymn“, also den „Lieblingschoral der Nation“, Platz drei in der Kategorie „Loblieder.“

Und es ist in der Tat sehr schön, das merken wir schon beim Singen. Die einzelnen Aussagen sind stark und bringen eine wunderbare Sicht auf diese Welt zum Ausdruck. Wir wollen das Lied deshalb jetzt etwas genauer betrachten.

Dabei können wir drei Teile entdecken: Strophen eins und zwei handeln vom Abend des Tages und dem Lauf der Sonne um den Erdball. Die nächsten beiden Strophen thematisieren die weltumspannende Kirche und das nie endende Gebet. Und in der letzten Strophe kommen das Ende der Welt und das neue Reich Gottes in den Blick. Diese drei Teile sind drei Schritte, mit denen wir dem Gedankengang des Liedes gut folgen können.

Teil eins handelt wie gesagt vom Abend des Tages, und so denken wir im ersten Moment auch, dass es ein Abendlied ist: Am Anfang steht die Feststellung: Der Tag ist vergangen und die Dunkelheit bricht ein. Der Mensch, der hier singt, kommt also zur Ruhe und blickt noch einmal auf den Tag zurück. Dabei wird gleich deutlich, dass es ein geistliches Lied ist, denn der Dichter kleidet diese Aussagen in eine Anrede an Gott. Er lebt in dem Bewusstsein, dass Gott ihm den Tag geschenkt hat, und er auf sein Geheiß nun zu Ende geht. Gott steht also hinter allem, was geschieht. Deshalb ist es angemessen, den Tag mit einem Loblied zu beginnen und mit einem Nachtgebet abzuschließen. Es soll die Nachtruhe weihen und heiligen. Das kommt in der ersten Strophe zum Ausdruck.

In der zweiten wird nun aber deutlich, dass die Gedanken des Dichters über den Abend hinausgehen, und sein Lied eigentlich ein ganz anderes Thema hat. Er stellt sich nämlich vor, dass ja lange nicht überall auf der Welt die Menschen zum gleichen Zeitpunkt schlafen. Die Erde „rollt vielmehr dem Tag entgegen“. Wenn die Sonne auf der einen Seite des Erdballs sinkt, geht sie auf der anderen Seite gerade auf, und dort singen Menschen ihr Morgenlied. Und damit entsteht ein geheimer Zusammenhang zwischen allen Betenden. Gemeinsam bilden sie die eine weltweite Kirche, die niemals schläft. Mindestens einer wacht immer, sodass die Kirche keine Ruhe kennt, weder bei Tag noch bei Nacht.

Mit diesem Gedanken leitet der Dichter den zweiten Teil seines Liedes ein, ihm widmet er die nächsten beiden Strophen: So wie ständig über jedem Kontinent und jeder Insel die Dämmerung den nächsten Tag herbeiführt, so schweigt die Stimme des Gebetes niemals. Zu keiner Zeit stirbt die Kraft des Lobpreises. „Denn unermüdlich, wie der Schimmer des Morgens und die Erde geht, ist immer ein Gebet und immer ein Loblied wach, das vor dir steht.“ So lautet die deutsche Übertragung.

Der Dichter betrachtet dafür den Weg der Sonne. Wo sie untergeht, lädt sie uns zur Ruhe ein, auf der anderen Seite der Welt weckt sie zur gleichen Zeit die Menschen. Und auch da leben unser „Brüder“, wie der Dichter sagt, Menschen desselben Glaubens. Deshalb gibt es immer irgendwo Lippen, die sich gerade „auftun, um Gottes Ruhm zu verkündigen“. „Immer wird ein Mund sich üben, der Dank für deine Taten spricht“. Die wunderbaren Dinge, die Gott tut, werden jederzeit und allerorts vernommen. Davon handeln die Strophen drei und vier.

Und im dritten Teil, in der fünften Strophe, geht der Blick des Dichters noch weiter. Er schaut über diese Welt hinaus. In ihr gibt es Königreiche und Nationen, die stolz daher kommen und meinen, sie werden niemals untergehen. Doch das ist ein Irrtum, „die Reiche fallen“, sie vergehen, wie alles auf dieser Welt. Mit dem „Thron Gottes“ verhält es sich anders. Dieses Bild kennen wir aus der Bibel, hauptsächlich aus der Offenbarung. Es korrespondiert mit Jesu Verkündigung des „Reiches Gottes“. Das ist ein ewiges Reich, das für immer „besteht und wächst“, bis irgendwann das Ende der Welt kommt und Gottes „großer, neuer Tag“ anbricht. Dann werden alle Geschöpfe unter seiner Macht sein. Das glaubt und denkt der Dichter nicht nur, er wünscht es sich auch. Die letzte Strophe beginnt im Originaltext nicht umsonst mit dem Ausruf: „So be it, Lord. – So sei es, Herr”.

Und damit ist das Lied ein wunderbares Zeugnis für den Glauben an die universale Gegenwart Gottes, an seine Allmacht und seine immerwährende Fürsorge für die Menschen. Dazu lädt der Dichter uns ein, und es tut gut, wenn wir uns diesen Glauben zu eigen machen.

Dabei können wir den drei Schritten folgen, die das Lied beschreibt, und mit dem Abend eines Tages beginnen. Es ist die Zeit, in der in den meisten Regionen der Welt die Dunkelheit hereinbricht, die Zeit des Ruhens und Schlafens. Einerseits ist es gut, dass wir dazu die Gelegenheit haben, andererseits sind wir während der Nacht und des Schlafes aber auch ausgeliefert. Wir machen selber nichts mehr, sind hilflos und schutzlos, und das kann Ängste auslösen. Nicht umsonst ist „Dunkelheit“ ein Bild für Gefahr und Not, Leiden und Sterben. Doch gerade in solchen Zeiten ist es gut, wenn wir uns an Gott wenden, so wie der Dichter es tut. Er lebt in dem Bewusstsein, dass Gott ihm den Tag gegeben hat und dass er auch nachts noch bei ihm ist. Mit diesem Bekenntnis drückt er sein Gottvertrauen aus. Das tröstet und beruhigt ihn, es lässt ihn sicher schlafen und nimmt ihm die Angst. Und er lädt uns ein, dasselbe zu tun: In der Dunkelheit gilt es, auf den zu vertrauen, dem Tag und Nacht gehört, der immer bei uns ist, und dessen Schutz viel größer ist, als wir denken.

Außerdem ist es sehr entlastend zu wissen, dass auch andere Menschen jetzt wach sind, und das aktive Gebet weiter geht, wenn ich schlafe. Das Gotteslob wandert mit der Sonne um die Erde. Davon handeln die nächsten beiden Strophen, der zweite Teil des Liedes. Er beinhaltet die Ökumene und die Zusammengehörigkeit aller Christen und Kirchen. Und das ist ein sehr hilfreicher und entspannender Gedanke. Er besagt, dass ich nicht auf mich allein gestellt bin, auch nicht mit meinem Glauben, sondern ich bin in eine weltweite Gemeinschaft eingebettet. Mein eigenes Leben wird dadurch in wohltuender Weise relativiert.

Es ist ja auch nie vollkommen, das merkt jeder und jede von uns immer wieder. Wir wünschen uns das zwar und sind oft unzufrieden mit uns oder mit der Kirche, fühlen uns kraftlos und unbedeutend, arm an Ideen und schwach, aber das ist unnötig. Denn das, was ich bin und verwirkliche, ist von vorne herein nur ein Teil des Ganzen. Ich bin nicht allein und schon gar nicht die Mitte der Welt. Ich habe vielmehr einen kleinen Platz auf dieser Erde, und das ist auch gut so. Ich muss nicht alles können und machen, denn nur zusammen mit allen anderen Menschen und Gläubigen entsteht ein Gesamtbild.

Das ist die zweite Idee, die dieses Lied enthält. Und als drittes folgt ein Ausblick auf die Ewigkeit, auf das Ende der Welt und „Gottes großen Tag“. Das Lied enthält also ein Abendgebet, ein Bekenntnis zur Ökumene und ein Gotteslob. Denn nun kommt Gottes Größe zur Sprache, seine Überlegenheit und Schöpferkraft. Er ist der Anfang und das Ziel der Weltgeschichte, er hält den Kosmos in seiner Hand und wird ihn eines Tages neu schaffen. So wie der Morgen einen neuen Tag bringt, wird Gott sein Reich heraufführen, das jetzt schon „besteht und wächst“.

Dabei ist Gott ganz anders als die Herrscher dieser Welt. Sie können zwar Gutes tun, aber oft zerstören sie mit ihrer Machtgier auch das Leben. Leider geht von vielen Herrschern eine große Gefahr aus. Gott dagegen ist nur am Leben interessiert. Er will die Menschheit retten und erlösen. Eines Tages wird das die Wirklichkeit sein, in der die Erde neu erwacht.

Mit diesem Gedanken endet der Dichter sein Lied und damit erhebt er nicht nur Gott. Der Lobpreis zieht ihn auch selber empor und verschafft ihm Zuversicht und Freude. Er hat eine Hoffnung, die weit über diese Welt hinausgeht, und damit möchte er uns anstecken.

Wenn wir sein Lied singen, geschieht das ganz von allein, und weil es so viele Schichten hat, passt es eigentlich immer. Wir singen es deshalb jetzt noch einmal, und zwar den Originaltext, die englische Fassung.

Amen.

Gott kommt und sieht und findet uns

Predigt über Apostelgeschichte 8, 26- 39: Der Kämmerer aus Äthiopien

6. Sonntag nach Trinitatis, 8.7.2018, 9.30 und 11 Uhr
Luther- und Jakobikirche Kiel

Apostelgeschichte 8, 26- 39

26 Aber der Engel des Herrn redete zu Philippus und sprach: Steh auf und geh nach Süden auf die Straße, die von Jerusalem nach Gaza hinabführt und öde ist.
27 Und er stand auf und ging hin. Und siehe, ein Mann aus Äthiopien, ein Kämmerer und Mächtiger am Hof der Kandake, der Königin von Äthiopien, welcher ihren ganzen Schatz verwaltete, der war nach Jerusalem gekommen, um anzubeten.
28 Nun zog er wieder heim und saß auf seinem Wagen und las den Propheten Jesaja.
29 Der Geist aber sprach zu Philippus: Geh hin und halte dich zu diesem Wagen!
30 Da lief Philippus hin und hörte, dass er den Propheten Jesaja las, und fragte: Verstehst du auch, was du liest?
31 Er aber sprach: Wie kann ich, wenn mich nicht jemand anleitet? Und er bat Philippus, aufzusteigen und sich zu ihm zu setzen.
32 Der Inhalt aber der Schrift, die er las, war dieser (Jesaja 53,7-8): »Wie ein Schaf, das zur Schlachtung geführt wird, und wie ein Lamm, das vor seinem Scherer verstummt, so tut er seinen Mund nicht auf.
33 In seiner Erniedrigung wurde sein Urteil aufgehoben. Wer kann seine Nachkommen aufzählen? Denn sein Leben wird von der Erde weggenommen.«
34 Da antwortete der Kämmerer dem Philippus und sprach: Ich bitte dich, von wem redet der Prophet das, von sich selber oder von jemand anderem?
35 Philippus aber tat seinen Mund auf und fing mit diesem Wort der Schrift an und predigte ihm das Evangelium von Jesus.
36 Und als sie auf der Straße dahinfuhren, kamen sie an ein Wasser. Da sprach der Kämmerer: Siehe, da ist Wasser; was hindert’s, dass ich mich taufen lasse?
37 Philippus aber sprach: Wenn du von ganzem Herzen glaubst, so kann es geschehen. Er aber antwortete und sprach: Ich glaube, dass Jesus Christus Gottes Sohn ist.
38 Und er ließ den Wagen halten und beide stiegen in das Wasser hinab, Philippus und der Kämmerer, und er taufte ihn.
39 Als sie aber aus dem Wasser heraufstiegen, entrückte der Geist des Herrn den Philippus und der Kämmerer sah ihn nicht mehr; er zog aber seine Straße fröhlich.

Liebe Gemeinde.

Einer der weltweit größten Wirtschaftszweige ist der Tourismus. In dieser Branche werden horrende Gewinne erzielt, und mit rund 100 Millionen Beschäftigten gilt sie als einer der bedeutendsten Arbeitgeber. Die wirtschaftliche Grundlage sind im Wesentlichen die Kulturgüter und die Natur der Reiseorte. Das möchten Menschen sehen und erleben, und es werden immer mehr, die sich das Reisen leisten können.

Welche Ziele sich die Einzelnen aussuchen, ist ganz unterschiedlich. Gemeinsam ist allen Touristen allerdings, dass sie vorher bestimmte Vorstellungen haben. Jeder und jede erwartet etwas von einer Reise, und sie gilt dann als gelungen, wenn diese Erwartungen erfüllt wurden, wenn das Wetter entsprechend war, man viel Schönes gesehen hat, tolle Begegnungen hatte oder was auch immer.

Und das gab es schon sehr früh. So finden wir bereits in der Bibel viele Erzählungen über Menschen auf Reisen. Meistens führten praktische Gründe dazu, wie die Suche nach Nahrungsplätzen oder Wasser oder die Flucht vor Kriegen, Unterdrückung und Naturkatastrophen. Aber es gibt auch andere Geschichten. Eine davon haben wir vorhin gehört, es ist der Bericht über einen Reisenden aus Äthiopien, einen Beamten der Königin. Er hatte eine Wallfahrt nach Jerusalem gemacht, zum Tempel, „um dort anzubeten“. Er hatte also religiöse Gründe für seine Reise. Offensichtlich war er ein großer Freund des Judentums, d.h. er bekannte sich zu dem Glauben an den einen lebendigen Gott, der Himmel und Erde gemacht hat. Wo und wie er davon gehört hatte, erfahren wir nicht, aber er interessierte sich offensichtlich für die heilige Schrift, denn er hatte in Jerusalem eine Schriftrolle des Propheten Jesaja erworben. Unsere Erzählung setzt da ein, wo er auf der Rückfahrt war und in seinem neuen Buch las. Leider verstand er nicht viel von dem, was dort geschrieben stand. Er hatte auch gerade eine sehr schwierige Stelle zu fassen, einen Teil aus dem sogenannten Gottesknechtstlied in Kapitel 53. Es heißt: „Der Inhalt aber der Schrift, die er las, war dieser: »Wie ein Schaf, das zur Schlachtung geführt wird, und wie ein Lamm, das vor seinem Scherer verstummt, so tut er seinen Mund nicht auf. In seiner Erniedrigung wurde sein Urteil aufgehoben. Wer kann seine Nachkommen aufzählen? Denn sein Leben wird von der Erde weggenommen.«

Es ist immer noch ein Rätsel, von wem der Prophet das hier sagt, „von sich selber oder von jemand anderem?“ Die Theologen sind sich da nicht einig. Es war allerdings in der christlichen Tradition von Anfang an üblich, diese Stelle auf Jesus Christus zu beziehen, denn sie drückt erstaunlich genau aus, was er erlitten hat.

So ist es auch in unserer Geschichte, die mit einem kleinen Wunder weitergeht. Mit einem Mal war nämlich der Apostel Philippus da. Er war einer der ersten Missionare und als Wanderprediger tätig. An einen bestimmten Ort war er also nicht gebunden, sondern er verkündigte dort, wo er gerade war, das Evangelium von Jesus Christus. Dazu hatte Gott ihn berufen. Und Gott wollte, dass es nicht nur zu den Juden sondern ebenfalls zu den Heiden gelangte. Durch einen Engel ließ er Philippus deshalb nun zu genau diesem Zeitpunkt auf der Wüstenstraße erscheinen, als der Kämmerer die besagte Stelle – offensichtlich laut – las. Philippus hörte es jedenfalls und er fragte. „Verstehst du auch, was du liest? Er aber sprach: Wie kann ich, wenn mich nicht jemand anleitet? Und er bat Philippus, aufzusteigen und sich zu ihm zu setzen.“ So geht die Erzählung weiter. Und das war gut für den Äthiopier, denn nun hörte er noch viel mehr, als er vorher wusste, er empfing eine ganz neue und ungeahnte Botschaft: Philippus predigte ihm das Evangelium von Jesus Christus. Er verkündigte, dass Jesus für die ganze Menschheit gestorben und auferstanden ist und allen Heil und Vergebung schenkt. Und das war für den Reisenden umwerfend. Offensichtlich hat es ihn tief angerührt, vielleicht hatte er auf genau diese Botschaft gewartet. Er war jedenfalls offen für das Evangelium und nahm es an. „Er glaubte von ganzem Herzen, dass Jesus Christus Gottes Sohn ist.“ Er hatte keine Bedenken, und so war wie auf Befehl Wasser zur rechten Zeit da – in der Wüste sicher etwas Rares – und er ließ sich taufen. Sein Leben gehörte damit Jesus Christus.

Danach wurde Philippus „durch den Geist wieder entrückt“. Und die Geschichte endet mit dem Satz: „Der Kämmerer zog seine Straße fröhlich.“ Die Reise war also gelungen, seine Erwartungen waren sogar weit übertroffen worden. Unvorhergesehener Weise hatte sich sein Leben verändert, er fühlte sich befreit und gestärkt und kam als neuer Mensch wieder nach Hause.

Natürlich ist das Ganze eine Wundergeschichte. Das erkennen wir an vielen Einzelheiten, die göttliche Lenkung ist hier nicht zu übersehen. Es sollte zu der Bekehrung und der Taufe des Kämmerers aus Äthiopien kommen, und dafür hat Gott die Initiative ergriffen.

Das alles liest sich gut und ist spannend und faszinierend. Doch was hat das nun mit uns zu tun? Dass wir so etwas erfahren, ist ja recht unwahrscheinlich. Können wir das auf unser Leben übertragen? Das müssen wir uns fragen, und dafür ist es ratsam, wenn wir uns ein paar Dinge herausgreifen und näher betrachten.

Zunächst einmal ist es sehr schön, was der Kämmerer von dieser Reise mitnimmt. Das sind nämlich nicht die Dinge, die er gesehen und gefunden hat, entscheidend ist vielmehr, dass er gesehen und gefunden wurde, und zwar von Gott selbst.

Und das können wir gut auf uns anwenden. Unser Leben ist ja insgesamt wie eine Reise, auf der wir möglichst viel erleben möchten. Es soll gelingen, wir wollen fröhlich sein und unsere Ziele erreichen. Doch wichtiger als all das ist, dass Gott zu uns kommt, uns sieht und findet. Nicht was wir alles machen, ist entscheidend, sondern dass Gott uns begegnet, zu uns spricht, und wir die befreiende Botschaft annehmen, dass er uns liebt.

Bei dem Kämmerer ist es dazu gekommen, weil er offen und bereit dafür war. Er ließ Philippus auf den Wagen steigen und hörte zu. Außerdem war er vorbereitet und interessiert, und das alles ist auch für uns entscheidend. Wenn wir uns nach der Liebe Gottes sehnen, müssen wir uns in diese Haltung einüben. Sie entspricht nicht unbedingt unserem normalen Lebensgefühl. Das ist vielmehr meistens davon geprägt, dass wir etwas machen, dass wir selber reden, etwas wollen und erwarten. Was uns bei unseren Reisen leitet, bestimmt unser Bewusstsein auch im Alltag: Wir stellen uns das Ziel vor, planen den Weg dorthin und investieren viel Zeit und Geld. Das ist natürlich oft auch wichtig, aber zu dem, was der Kämmerer erlebt hat, führt es uns nicht. Das geschieht vielmehr dann, wenn wir mit all dem gerade einmal aufhören.

Und dabei hilft die Einsicht, dass all unsere selbstgesteckten Ziele und Erfahrungen irgendwann vergehen. Wie nach einer Reise, so haben wir auch am Ende des Lebens hauptsächlich Erinnerungen, und selbst die verblassen irgendwann. Wir können nichts festhalten und nichts mitnehmen. Alles verändert sich, das Leben ist flüchtig und nicht nur mit Freude, sondern auch mit viel Traurigkeit angefüllt.

Es ist demnach gut, wenn wir von vorne herein nach mehr fragen, nach etwas Bleibendem, das nie verloren geht. Es ist da, und Gott bietet es uns auch ständig an. Dabei ist er nicht an Ort und Zeit gebunden, er kann uns immer und überall erreichen. Eine Reise bis zum Ende der Welt oder sonst wohin ist dafür nicht nötig. Nicht wir müssen zu ihm gehen, sondern er kommt zu uns. Gott findet uns da, wo wir gerade sind, und es spielt auch keine Rolle, wie es uns geht. In Freude und Leid, in Armut oder Reichtum, in Krankheit oder Gesundheit kann er zu uns kommen. Denn Gott ist unabhängig und frei, groß und souverän.

Und die Wege, auf denen er uns erreicht, sind ebenfalls ganz unterschiedlich. Es kann in vielfältiger Weise geschehen, wenn wir allein sind oder in der Gemeinde, zu Hause oder unterwegs, in der Stille oder beim Reden und Hören. Zu dem Äthiopier kam Gott durch einen anderen Menschen, der bereits an Jesus Christus glaubte, und das ist wahrscheinlich auch bei uns am ehesten der Fall. Wir müssen solche Menschen nur zu uns „auf den Wagen steigen lassen“, d.h. sie in unser Leben hineinlassen, uns auf sie einlassen, ihnen zuhören und uns anrühren lassen.

Aber es gibt auch noch ein anderes Ereignis, das wichtig dafür ist, und das ist unsere Taufe. Da hat Gott uns ein erstes Mal aufgesucht und seine Gnade über uns ausgebreitet. Das war ein großes Geschenk, auch wenn wir davon nicht viel mitbekommen haben, weil wir noch zu klein waren. Aber das macht nichts, im Gegenteil, gerade das hat eine Bedeutung: Die Kindertaufe ist ein schönes Zeichen dafür, dass Gott ohne unser Zutun kommt, dass wir passiv bleiben dürfen, keinen Aufwand betreiben müssen, keine Anstrengung und kein Geld dafür brauchen.

Es reicht, wenn wir irgendwann reagieren. Bei einer Erwachsenentaufe ist das von vorne herein dabei, denn sie folgt auf die Bekehrung und ist dafür das Siegel und die Bestätigung. Wurden wir als Kinder getauft, können wir das später nachholen und eines Tages mit dem Glauben antworten. Dazu gibt es den Konfirmandenunterricht und die Konfirmation. Da erfahren wir, was die Taufe bedeutet und können uns bewusst für Gott entscheiden, d.h. seine Zuwendung annehmen und sein Sehen genießen, seinen liebevollen Blick auf uns ruhen lassen.

Und das ist das schönste Erlebnis der Welt. Es rührt uns auf dem Grund unserer Seele an. Die Angst, etwas zu verpassen oder zu verlieren, verschwindet, weil unsere tiefste Sehnsucht gestillt wird. Denn Gott sieht uns ganz. Er weiß, wer wir sind und lässt uns so sein. Unter seinem Blick finden wir zu uns selber, und das kann keine Reise uns bieten, ganz gleich, wie weit weg sie uns führt oder wie spannend sie ist.

Die Geschichte des Kämmerers aus Äthiopien lädt uns ein, daran zu glauben und Gott immer wieder zu uns kommen zu lassen. Dann „ziehen auch wir unsere Straße fröhlich“.

Amen.