Gott gibt uns Zukunft und Hoffnung

Predigt über Jeremia 29, 1. 4- 7. 10- 14: Jeremias Brief an die Weggeführten in Babel

21. Sonntag nach Trinitatis, 21.10. 2018, Jakobikirche Kiel

Jerermia 29, 1.4-7.10-14

1 Dies sind die Worte des Briefes, den der Prophet Jeremia von Jerusalem sandte an den Rest der Ältesten, die weggeführt waren, an die Priester und Propheten und an das ganze Volk, das Nebukadnezar von Jerusalem nach Babel weggeführt hatte
4 So spricht der HERR Zebaoth, der Gott Israels, zu den Weggeführten, die ich von Jerusalem nach Babel habe wegführen lassen:
5 Baut Häuser und wohnt darin; pflanzt Gärten und esst ihre Früchte;
6 nehmt euch Frauen und zeugt Söhne und Töchter, nehmt für eure Söhne Frauen und gebt eure Töchter Männern, dass sie Söhne und Töchter gebären; mehrt euch dort, dass ihr nicht weniger werdet.
7 Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum HERRN; denn wenn’s ihr wohlgeht, so geht’s auch euch wohl.
10 Denn so spricht der HERR: Wenn für Babel siebzig Jahre voll sind, so will ich euch heimsuchen und will mein gnädiges Wort an euch erfüllen, dass ich euch wieder an diesen Ort bringe.
11 Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der HERR: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung.
12 Und ihr werdet mich anrufen und hingehen und mich bitten und ich will euch erhören.
13 Ihr werdet mich suchen und finden; denn wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet,
14 so will ich mich von euch finden lassen, spricht der HERR, und will eure Gefangenschaft wenden und euch sammeln aus allen Völkern und von allen Orten, wohin ich euch verstoßen habe, spricht der HERR, und will euch wieder an diesen Ort bringen, von wo ich euch habe wegführen lassen.

Liebe Gemeinde.

Normalerweise möchte sich jeder Mensch gerne irgendwann niederlassen und da bleiben, wo er ist. So geht es auch denjenigen, die hierher nach Deutschland geflohen sind. Sie suchen in unserem Land eine neue Perspektive. Wenn sie noch jung sind, wollen sie gerne eine Ausbildung machen, Geld verdienen und eine eigene Wohnung mieten. Wenn sie bereits eine Familie haben, soll die am liebsten hierher kommen können, denn das gehört dazu, wenn man irgendwo langfristig bleibt.

Und das ist ganz normal. Jeder Mensch braucht ein zu Hause, eine Bleibe, die so eingerichtet ist, dass man sich darin wohl und geborgen fühlt, und aus der man nicht vertrieben wird. Es muss uns auch nicht gesagt werden, dass wir uns so etwas schaffen sollen. Das Bedürfnis ist einfach da und führt uns von selber dazu, uns niederzulassen. Entsprechend zermürbend ist es, wenn man nicht weiß, ob man bleiben darf und monatelang warten muss.

Deshalb ist so ein Brief, wie wir ihn vorhin in der alttestamentlichen Lesung gehört haben, erst einmal verwunderlich, denn darin fordert der Prophet Jeremia seine Landsleute zu etwas auf, das eigentlich selbstverständlich ist: „Baut Häuser und wohnt darin; pflanzt Gärten und esst ihre Früchte“, sagt er. Seine Aufforderung lautet also: Macht euch sesshaft. Das war offensichtlich möglich, aber sie taten das nicht von selber. Sie wollten sich dort, wo sie gerade waren, nicht niederlassen oder fest einrichten. Und das hatte auch einen Grund. Sie wollten da in Wirklichkeit nämlich gar nicht sein und rechneten damit, dass sie bald wieder weggehen würden. Es war für sie nur ein vorübergehender Aufenthaltsort, und deshalb blieben ihre Behausungen provisorisch.

Und dafür gab es Gründe. Sie waren nicht freiwillig dort, noch nicht einmal für eine Flucht hatten sie sich entschieden, sondern sie waren verschleppt worden. Jeremia schrieb den Brief an „den Rest der Ältesten, die weggeführt waren, an die Priester und Propheten und an das ganze Volk, das Nebukadnezar von Jerusalem nach Babel weggeführt hatte.“

Sie kennen die Geschichte sicherlich. Im Jahr 597 vor Christus zog der König Nebukadnezar von Babylon gegen Jerusalem, um es einzunehmen. Er hatte Erfolg, und nahm den jüdischen König Jojachin und alle anderen wichtigen Leute aus seinem Land gefangen. Ein Teil der Bevölkerung wurde also deportiert und lebte danach im Exil in Babylonien. Die Daheimgebliebenen waren Gefangene im eigenen Land. Und um den ganzen die Krone aufzusetzen, wurde die Stadt Jerusalem von Nebukadnezar zerstört. Auch der Tempel fiel seinem Raubzug zum Opfer, und damit war das Ende des Staates Juda besiegelt.

Der Prophet Jeremia hat das alles mit erlebt. Er hatte den König auch mehrfach gewarnt, dass es eintreten würde, aber keiner hatte ihn ernst genommen. Sie hatten ihn sogar ein paar Mal eingesperrt, weil er ihre Ruhe störte. Sie mochten ihn überhaupt nicht, und mit diesem Brief hat er sich sicher auch nicht gerade beliebt gemacht, denn er prophezeite ihnen darin schon wieder eine unerfreuliche Zukunft: Sie werden nicht so schnell wieder aus dem Exil zurückkehren, das sagt er ihnen hier. Die, die jetzt da sind, werden dort auch sterben, denn erst nach 70 Jahren wird für „Babel die Zeit voll sein“, wie er sich ausdrückt. Erst dann wird Gott sein Volk heimsuchen und ihm gnädig sein und es wieder nach Jerusalem zurückbringen.

Und genau das ist der Grund, warum sie sich im Exil einrichten sollten. Sie sollten nicht ständig daran denken, dass morgen vielleicht alles besser wird, sondern sich auf die Situation einstellen, sie akzeptieren und konstruktiv damit umgehen. Sie sollten sich nicht in irgendwelchen unrealistischen Hoffnungen verlieren, sondern ihr Leben dort vor Ort in die Hand nehmen und das Beste draus machen.

Das war für die Juden sehr schwer, denn das Land, aus dem sie vertrieben worden waren, war mehr als einfach nur eine Heimat. Es war ihnen ja von Gott versprochen worden, er hatte es ihnen geschenkt, und deshalb war er ihnen eigentlich auch nur dort wirklich nahe. Das glaubten sie jedenfalls. Sie fühlten sich nicht nur von ihrem zu Hause vertrieben, sondern auch von Gott getrennt und von ihm verlassen. Psychologisch gesehen waren sie traumatisiert und verbittert, und dieses Gefühl, diesen Zustand wurden sie nicht los.

Jeremia verfolgt mit seinem Brief also therapeutische und seelsorgerliche Ziele. Er fordert die Juden zu einem Umdenken und einem anderen Verhalten auf. Dazu gehört auch die Botschaft, dass Gott sie keineswegs vergessen hat. Im Gegenteil, er hat „Gedanken des Friedens und nicht des Leides“ über sie. Er wird sie befreien und zurückführen. Sie haben keinen Grund, an ihm zu zweifeln, sondern sollen ihn jetzt erst recht anrufen, denn er will sie erhören. Sie sollen sogar für die Babylonier beten, denn wenn es denen gut geht, wird es ihnen auch gut gehen.

Der Brief enthält also Anweisungen zu einem konstruktiven Umgang mit dem Leben, er lädt zum Glauben und zur Zuversicht ein. Er wendet sich gegen Ungeduld und Niedergeschlagenheit, gegen Zorn und Verbitterung. Von all dem waren die Juden nämlich befallen. Und wenn sie sich weiter von der widrigen Situation, in der sie gerade steckten, beeindrucken ließen, würden sie darin auch versinken. Davor wollte Jeremia sie bewahren. Sie sollten aus ihrer Verbitterung herausfinden, loslassen und neue Lebenswege und Alternativen suchen. Es würde sich für sie etwas öffnen, wenn sie den Blick auf ihre Situation veränderten. Gott hatte sie nicht aufgegeben, sondern hielt eine Zukunft für sie bereit, und dieser Glaube sollte die Grundlage ihres Lebens sein. An seinen Verheißungen sollten sie sich orientieren, daran, dass er bei ihnen war und sie immer noch liebte. Denn nur dann würden sie das Leben dort in der Fremde bewältigen. Das würde ihnen die Kraft geben, auch im Exil ihr Leben in die Hand zu nehmen und es bewusst zu gestalten.

Und diese Botschaft ist es, die den Brief Jeremias auch für uns interessant macht. Das kommt uns zunächst nicht so vor, denn wir wollen wie gesagt alle gerne hierbleiben. Wir sind in einer ganz anderen Situation, als die Juden damals im Jahr 597 v.Chr. Wir leben nicht im Exil, im Gegenteil, die meisten von uns sind hier in Deutschland geboren, vielleicht sogar in Kiel, und es geht uns auch ganz gut. Und wer hierher geflohen ist, versucht wie gesagt alles, um eine feste Bleibe zu bekommen.

Trotzdem enthält Jeremias Brief auch für uns eine gute Botschaft, denn das psychologische Problem, das die Juden hatten, kann auch uns heimsuchen.

Ich habe darüber kürzlich einen Zeitungsartikel gelesen (in: „Die Volksstimme“, Nachrichten aus der Altmark, Sachsen-Anhalt). Da wird der Psychotherapeut Michael Linden zitiert, der an der Berliner Charité die Forschungsgruppe Psychosomatische Rehabilitation leitet. Und er hat für eine bestimmte Diagnoseeinen neuen Begriff geprägt, und zwar den der „posttraumatischen Verbitterungsstörung“. 1989 wurde er auf das Problem aufmerksam, denn immer wieder begegnete er Patienten, die sich als „Verlierer der Wende“ betrachteten, weil sie im vereinten Deutschland beruflich nicht Fuß fassen konnten. Sie litten an chronischer Verbitterung, d.h. sie ließen sich nicht versöhnen und hielten an ihrem Zorn fest.

Und das geht vielen Menschen so. Auch auf Grund anderer Erlebnisse kann es dazu kommen, wie z.B. einer Kündigung oder einer Trennung. Enttäuschungen, Kränkungen, Ungerechtigkeiten, Vertrauensbrüche, all das sind Ursachen, die zu hilfloser Verbitterung führen können. Sie nehmen im persönlichen Leben das Ausmaß einer Katastrophe an. Dabei gibt es noch viel schlimmere Ereignisse, wie z.B. der Krieg, vor dem Menschen hierher fliehen müssen, der gewaltsame Verlust eines Angehörigen durch einen Bombenangriff, eine Vergewaltigung, ein Erdbeben usw. Wenn eins von diesen Dingen eintritt, werden die Betroffenen genauso traurig, zornig, ungeduldig und niedergeschlagen wie die Juden im Exil, denen Jeremia schreibt. Sie hoffen vielleicht, dass morgen alles besser wird, aber das bleiben ganz oft nur Vorstellungen und Wünsche. Es kann gut sein, dass sie sich vom Leben zurückziehen, Schafstörungen bekommen und sich zu nichts mehr aufraffen können. Das alles sind Symptome, unter denen Menschen leiden, die etwas Schweres und Einschneidendes erlebt haben, deren Lebenskonzept empfindlich gestört wurde. Sie sind genauso traumatisiert wie die Juden im Exil und brauchen Hilfe.

Und die sind in dem Brief Jeremias vorhanden, denn er enthält sehr schöne Anregungen, die aus der Verbitterung herausführen können.

Zum einen gibt er praktische Ratschläge. Seine Landsleute sollen lernen loszulassen und sich auf das neue Leben einlassen, das sie nun führen. Es gibt eine Alternative zu der Traurigkeit, und die sollen sie nutzen. Es geht darum, kreativ zu werden und Veränderungen zu wagen. In dem Zeitungsartikel, den ich erwähnte, ist davon die Rede, dass die Patienten in der Therapie lernen, den Blick auf das Geschehene zu verändern, und zwar so, dass sie in die Lage versetzt werden, aus der Verbitterung herauszufinden. Am Ende wird der Schriftsteller Mark Twain zitiert, der einmal gesagt hat: „Enttäuschungen sollte man verbrennen, nicht einbalsamieren.“ Und genau das ist der therapeutische Tipp, den Jeremia seinen Landsleuten gibt.

Aber dazu kommt bei ihm noch mehr, und das ist die schöne Verheißung Gottes, die am Ende seines Briefes steht. Gott sagt durch den Propheten zu den Juden: „Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der Herr, Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung.“ Und das können wir gerne auch auf uns beziehen. Es ist eine allgemeingültige Botschaft, die besagt, dass es noch mehr gibt, als dieses Leben. Es wird letzten Endes sogar brüchig bleiben, doch das muss uns nicht zornig machen. Wir können vielmehr darauf vertrauen, dass Gott das längst weiß und an uns denkt. Egal, was in unserem Leben geschieht, seine Fürsorge hört nicht auf. Er liebt uns und hat für jeden von uns einen Weg. Das gilt es zu glauben. Dann haben wir auf jeden Fall einen tragfähigen Grund, der völlig unabhängig ist von den äußeren Umständen, in denen wir gerade stecken. Wir können uns immer wieder an Gott wenden, uns sozusagen auf ihn werfen. Dann wird er uns auch tragen und festhalten. Jeremia drückt das aus, indem er sagt: „Wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen, spricht der Herr.“ Und das können wir ruhig glauben. Wir verlassen uns damit auf eine Wirklichkeit, die haltbarer ist, als alles andere. Es ist die Liebe Gottes, die niemals aufhört.

Lassen Sie uns also darauf vertrauen, denn das gibt unserem Leben eine ganz andere Qualität. Es schützt uns vor Ungeduld und Niedergeschlagenheit, vor Verbitterung und Zorn. Wir „überwinden dadurch das Böse mit Gutem“, wie es in unserem Wochenspruch heißt. (Römer 12,21) Und das gibt uns dann auch die Kraft und den Mut, unser Leben immer wieder anzunehmen und zu gestalten, es zum Positiven zu wenden und neu zu beginnen, wenn einmal etwas zusammengebrochen ist.

Zum Glück geht es vielen Menschen, die zu uns geflohen sind, genauso. Sie haben es geschafft, sich in unserem Land eine neue Existenz aufzubauen, haben die Sprache gelernt und eine Arbeit gefunden. Sie sind gut integriert. Das ist kein leichter Weg, denn es gibt viele Hindernisse. Geduld und Durchhaltevermögen gehören dazu. Und das gelingt auch unter den Geflüchteten am ehesten denjenigen, die einen starken Glauben haben. Denn sie haben einen inneren Halt, der ihnen die Kraft gibt, das Alte loszulassen und hier neu anzufangen.

Solche Beispiele können uns allen Mut machen, „Gottes Gedanken über uns“ immer wieder zuzulassen. Sie sind oft anders als unsere eigenen, denn es sind auf jeden Fall „Gedanken des Friedens und nicht des Leides.“ Wer mit Gott lebt, muss nicht verbittern, sondern kann erfahren, dass es „eine Zukunft und eine Hoffnung“ gibt, die niemals aufhören.

Amen.