Gerechtigkeit allein aus Glauben

 

Predigt über Titus 3, 4- 7: Das Bad der Wiedergeburt

1. Weihnachtsfeiertag, 25.12.2019, 9.30 und 11 Uhr, Luther- und Jakobikirche Kiel

Titus 3, 4- 7

3 Als aber erschien die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes, unseres Heilands,
5 machte er uns selig – nicht um der Werke der Gerechtigkeit willen, die wir getan hatten, sondern nach seiner Barmherzigkeit – durch das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung im Heiligen Geist,
6 den er über uns reichlich ausgegossen hat durch Jesus Christus, unsern Heiland,
7 damit wir, durch dessen Gnade gerecht geworden, Erben des ewigen Lebens würden nach unsrer Hoffnung.

Liebe Gemeinde.

Als junger Mann wurde Martin Luther Mönch, d.h. er wählte den Weg, den die Kirche empfahl, um vollkommen zu werden, denn das wollte er gerne: Er wollte das Heil erwerben, alle Sünden ablegen, innere Ruhe und Gewissensfrieden finden.

Doch das gelang ihm nicht, im Gegenteil: Sein schlechtes Gewissen quälte ihn Tag und Nacht, seine Angst vor Gott wurde immer größer. Er wurde die Furcht nicht los, dass er nie und nimmer vor Gott werde bestehen können. „Die Angst mich zu verzweifeln trieb, dass nichts denn Sterben bei mir blieb, zur Hölle musst ich sinken.“ (EG 341,3) So beschrieb er später seinen Seelenzustand.

Doch eines Tages fand er den Ausweg aus diesen Anfechtungen. Sein Ordensoberer Johann Staupitz half ihm dabei. Er gab ihm den Rat, nicht weiter darüber nachzudenken, ob Gott ihm gnädig sei, sondern einfach auf die Wunden Christi zu schauen, der für uns gestorben ist. Luther vertraute seinem Seelsorger, und langsam kam es zu einer Wende in seinem Inneren: Er spürte die Barmherzigkeit Christi und wusste plötzlich: Ich bin von Gott angenommen, auch wenn ich sündige, denn Gott ist ein gnädiger Gott. Luther war gerettet und fühlte sich frei und froh.

Dabei waren nicht nur die Ratschläge von Johann Staupitz ausschlaggebend, Luther hat auch in der Bibel Stellen gefunden, die in ihm die Heilsgewissheit gefördert haben. Eine besondere Rolle spielte dabei die Aussage des Apostels Paulus am Anfang des Römerbriefes: „Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die daran glauben, die Juden zuerst und ebenso die Griechen. Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben; wie geschrieben steht (Habakuk 2,4): »Der Gerechte wird aus Glauben leben.«“ (Römer 1, 16.17)

Für Luther wurde das zum zentralen Gedanken seiner Theologie, und so war es auch schon bei Paulus selber. Wir finden die These von der „Gerechtigkeit allein aus Glauben“ an vielen Stellen in seinen Briefen, auch in dem Abschnitt aus dem Brief an seinen Mitarbeiter Titus, den wir vorhin gehört haben.

Titus war in einer Gemeinde tätig, die Paulus gegründet hatte, und er sollte das Gemeindeleben ordnen und organisieren. In seinem Brief gibt Paulus ihm dafür viele praktische Anweisungen. Dabei war es ihm durchaus wichtig, dass die Christen sich um ihre Heiligung bemühten und ein frommes Leben voller Hoffnung und Liebe führten. Doch die Grundlage dafür war die Gnade Gottes, durch die sie zu seinen Kindern geworden waren, das sollten sie nie vergessen.

Darum geht es in dem Abschnitt, der uns heute vorliegt. Es ist ein altes Loblied, das Paulus zitiert, um die Gemeindeglieder an das zu erinnern, was sie durch Christus empfangen hatten. Die christliche Gemeinde sang es wahrscheinlich immer anlässlich einer Taufe. Am Anfang wird darin das Gotteswunder erwähnt, das mit der Geburt Jesu anbrach: „Es erschien die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes, unseres Heilands“. Das sind feierliche Worte für das Kommen Christi, das eine Wende in der Geschichte der Menschheit darstellt. Denn in ihm erschien, wie ein Licht in der Finsternis, die Güte Gottes. Sie hat die Menschen aus dem Verderben gerissen, gerettet und „selig gemacht“, wie Luther übersetzt.

Und dabei ist nun wichtig, dass sie das alles ohne ihr Zutun bekommen, „nicht um der Werke der Gerechtigkeit willen, die wir getan hatten, sondern nach seiner Barmherzigkeit.“ Das Lied enthält also den Grundgedanken des Evangeliums, dass wir „allein aus Gnade“ gerettet werden.

Dieser Vorgang wird dann als „Bad der Wiedergeburt“ bezeichnet, und damit ist die Taufe gemeint. Sie macht den Menschen zu einer neuen Kreatur, das war die Vorstellung. Er wird gereinigt, die Sünden werden abgewaschen, und der Mensch ist danach wie ein eben geborener Säugling. Der Täufling wird in die neue Welt eingegliedert, die durch das Erscheinen Christi da ist.

Das Wasser, das Schmutz abwäscht und reinigt, erfrischt und belebt, ist für diesen Vorgang ein schönes Symbol. Es kommt in unserem Text auch noch ein zweites Mal vor. Wasser gibt es ja nicht nur als Element, in das man hineinsteigen kann, es regnet auch auf uns herab oder kann ausgegossen werden. Und das geschieht ebenso bei der Taufe: Da werden wir erneuert „im Heiligen Geist, den Gott über uns reichlich ausgegossen hat.“ Gott „bewässert“ uns mit seiner Kraft und Gegenwart, und er ist dabei verschwenderisch. Vom Wasser, das über etwas geschüttet wird, geht ja meistens einiges daneben, es ist reichlich vorhanden und kann viel bewirken. So ist es mit dem Heiligen Geist, der in der Taufe das Wunder der Neugeburt vollzieht.

Und zum Schluss wird noch das Ziel genannt: Wir werden „Erben des ewigen Lebens nach unsrer Hoffnung.“ Die Taufgnade umfasst eine Verheißung: Wenn der Jüngste Tag anbricht, und Gott zum letzten Gericht erscheint, werden die Getauften freigesprochen und bekommen Anteil am ewigen Leben. Ihre Rettung geschieht für Zeit und Ewigkeit.

Das ist die Botschaft unserer Epistel, und die passt sehr schön zu Weihnachten. Wir feiern das Erscheinen Jesu Christi, und uns wird gesagt: Das war nicht nur ein geschichtliches Ereignis, es hat vielmehr erneuernde Kraft. Wir können hineingenommen werden in dieses Gotteswunder, und das ist wie ein Bad: Wir werden gereinigt und erfrischt, belebt und gestärkt.

Doch was heißt das nun konkret? Und entspricht diese Botschaft dem, was allgemein in unserer Kirche zu Weihnachten gepredigt wird?

In den Medien verbreitet die Evangelische Kirche in Deutschland andere Inhalte. Eine Weihnachtsbotschaft der EKD lautete z.B. so: „Im Geiste von Weihnachten bitten wir Sie, für eine gastfreundliche und inklusive Gemeinschaft in Europa zu arbeiten und zu beten. Wir rufen die Nationen und die Menschen Europas, die politischen Führungspersönlichkeiten und unsere Kirchen auf: Lasst es nicht zu, dass wir für das Leiden anderer gleichgültig werden. Mögen wir vielmehr die Würde der Menschen, die unsere Hilfe brauchen, wertschätzen, und anerkennen, dass die Aufnahme eines fremden Menschen zu unserem christlichen und europäischen Erbe gehört. Seien wir mutig und zuversichtlich im Sohn Gottes, dem Licht der Welt, dessen Geburt wir feiern. Christus wird uns den Weg weisen für ein zukünftiges gemeinsames Leben.“ Und dann werden Einzelheiten dazu genannt, wie viele Menschen weltweit auf der Flucht sind, und was die Vereinten Nationen dazu sagen. Europa wird für seine sogenannte „Migrationssteuerung“ angeklagt, weil sie zu hohen Verlusten von Menschenleben führt, zu Ausbeutung und Gewalt.

Ich finde das zwar alles richtig, ohne Frage, aber sagen das nicht auch ganz viele säkulare Organisationen, Menschenrechtsgruppen, Hilfswerke, Parteien und Politiker? Es klingt ein bisschen so, als wollte die Kirche auf jeden Fall mithalten, zeitgemäß sein und sich Gehör verschaffen. Deshalb sagt sie am besten das, was etliche andere auch sagen. Ein Alleinstellungsmerkmal der Kirche ist darin nicht erkennbar, etwas, das uns von allen anderen Gruppen unterscheidet. Die Botschaft enthält zwar eine biblische und theologische Begründung, aber die wird eher nachgeliefert und ist eigentlich nicht nötig.

Außerdem wird in so einer Nachricht sehr betont, wie wichtig die guten Werke sind. Wir sollen gerecht handeln, damit wir selber als gerecht da stehen. Es klingt nach einer neuen Version der Werkgerechtigkeit. Und das entsprich nicht unbedingt dem, was für Luther zentral war, und damit auch für uns als lutherische Kirche im Mittelpunkt stehen sollte.

Es fehlt die Botschaft von dem Geschenk der Gnade Gottes, die weit über die Fragen der Zeit hinaus weist. Genau die wird uns zu Weihnachten aber verkündet. Denn da geht es um ein Gotteswunder, das erneuernde Kraft hat. Wir werden in erster nicht Linie zu einem bestimmten Handeln befähigt, sondern zu einem neuen Sein. Nicht was wir anderen geben, ist entscheidend, sondern was uns geschenkt wurde. Bevor wir versuchen, gute Taten zu tun, tut Gott etwas an uns. Der erste Schritt besteht immer darin, dass wir zu Empfangenden werden. Gott möchte uns in ein Wunder hineinnehmen, er möchte uns zu sich ziehen. Auf die drängenden Fragen der Zeit gibt er uns eine ewige Antwort. Er durchbricht unsere Diesseitigkeit und ergreift selber die Initiative, um die Welt zu retten. Alle Menschen sind eingeladen, daran zu glauben und „Erben des ewigen Lebens zu werden.“

Und wenn dieser Einladung mehr Leute folgen würden, nähme das Elend ganz von selber ab. Die Ungerechtigkeiten in der Welt haben ihre Ursache nicht darin, dass zu wenig Gutes getan wird. Sie haben ihre Ursache vielmehr in der Gottlosigkeit. Es ist also entscheidend, dass wir auf diesem Weg umkehren, uns Gott wieder zuwenden und uns von ihm erneuen lassen.

Das Erscheinen Jesu ist nicht nur eine Lehre oder eine Idee, sondern durch ihn gibt es in dieser Welt eine unsichtbare, göttliche Wirklichkeit, in die wir „eintauchen“ können. Das ist das Bild in unserem Episteltext. Und das ist sehr aussagekräftig, denn das Wasser ist ein anderes Element als die Luft. Wenn wir hineinsteigen, verändert sich unser Körpergefühl, wir werden getragen und sind umgeben von einer Materie, die sich vom Gewohnten unterscheidet. So ist es auch mit der Gegenwart Christi: Sie kann uns umspülen und einhüllen, tragen und verändern.

Wir müssen dabei selber nichts mehr tun oder denken. Wir dürfen schweigen, still halten und so sein, wie wir sind. Christus vergibt uns alle Sünden, die uns belasten, er macht uns gerecht und neu. Wir müssen nur auf seine allesumfassende Gnade vertrauen. Am besten ist es, wenn wir daraus eine tägliche Übung machen. Dann kann „täglich herauskommen und auferstehen ein neuer Mensch, der in Gerechtigkeit und Reinheit vor Gott ewiglich lebe“. So sagt Martin Luther es im Kleinen Katechismus. (Das vierte Hauptstück, Das Sakrament der heiligen Taufe, zum Vierten, Was bedeutet denn solch Wassertaufen?) Er beschreibt damit, was er selber erlebt hat. Und das ist eine wunderbare Verheißung. Hinter ihr verbirgt sich eine geistliche Erfahrung, die wir machen können, wenn wir uns im Vertrauen auf Christus üben: Wir spüren seine Liebe und seine Kraft, und die kann uns verwandeln. Wir atmen auf und fühlen uns frei. Es ist wie nach einem Eintauchen ins Wasser: Wir sind erfrischt und neu belebt. Nicht umsonst gibt es den Ausdruck „sich wie neu geboren fühlen“. Das sagen wir gerne nach einem Bad. Unsere Lebensgeister erwachen dadurch und wir verspüren frischen Tatendrang. Denn der Heilige Geist wird über uns „ausgegossen“ und wir „erben das ewige Leben“. Wir bekommen Anteil an Gottes Gegenwart, an seinem Geheimnis und seiner Liebe. Unsere Seele wird geweitet und unser Geist erhebt sich über diese Zeit hinaus. Wir erwerben das Heil, die Sünden werden abgespült und innere Ruhe und Gewissensfrieden kehren in unsere Seele und unseren Geist ein.

Und dann können wir auch in dieser Welt handeln, natürlich gehört das dazu. Ein christliches Leben ohne gute Werke ist kein christliches Leben. Das hat auch Luther betont. Der Glaube muss Früchte bringen, und selbstverständlich gehören dazu die Selbstlosigkeit, Nächstenliebe, Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft. Wenn wir die „Güte und Menschenliebe Gottes, die in Jesus Christus erschienen ist“, gefunden und empfangen haben, dann können und sollen wir sie auch weitergeben.

Lasst uns deshalb so beten, wie Martin Luther es getan hat: „Nimm, Herr Jesu, unsere Geburt von uns und versenke sie in deiner Geburt. Schenke uns die deine, dass wir darin rein und neu werden, als wäre sie unser eigen, dass ein jeder von uns sich deiner Geburt nicht weniger freuen und rühmen möge, als wie wenn er auch wie du leiblich von Maria geboren wäre. Stärke uns den Glauben, dass du ganz unser bist, ein Kind – uns geboren, ein Sohn – uns gegeben.“

Amen.

Gott ist Mensch geworden

Predigt über Hesekiel 37, 24- 28: Der neue Hirte und der Bund des Friedens

Heiligabend, 24.12.2019, 17.00 Uhr, Lutherkirche Kiel

Hesekiel 37, 24- 28

24 Und mein Knecht David soll ihr König sein und der einzige Hirte für sie alle. Und sie sollen wandeln in meinen Rechten und meine Gebote halten und danach tun.
25 Und sie sollen wieder in dem Lande wohnen, das ich meinem Knecht Jakob gegeben habe, in dem eure Väter gewohnt haben. Sie und ihre Kinder und Kindeskinder sollen darin wohnen für immer, und mein Knecht David soll für immer ihr Fürst sein.
26 Und ich will mit ihnen einen Bund des Friedens schließen, der soll ein ewiger Bund mit ihnen sein. Und ich will sie erhalten und mehren, und mein Heiligtum soll unter ihnen sein für immer.
27 Ich will unter ihnen wohnen und will ihr Gott sein und sie sollen mein Volk sein,
28 damit auch die Heiden erfahren, dass ich der HERR bin, der Israel heilig macht, wenn mein Heiligtum für immer unter ihnen sein wird.

Liebe Gemeinde.

Es gibt Weihnachtsverweigerer, die sich am Heiligabend bewusst in ihre eigenen vier Wände verziehen, um vor der ganzen Gefühlsduselei sicher zu sein. Nichts erinnert so jemanden an Heiligabend, alles ist wie immer, und er verbringt ein paar ungestörte und produktive Stunden, vielleicht mit einem edlen Glas Rotwein und klassischer Musik, denn das fördert die Ausgeglichenheit. Er ist freiwillig allein und genießt das. Vielleicht arbeitet er liegengebliebene Akten auf und freut sich, dass ihm das gut von der Hand geht.

Ein anderer ist auch allein, aber es geschieht unfreiwillig, weil niemand ihn haben will, und weil er keine Wohnung hat. So jemand macht es sich am Heiligabend dann vielleicht auf einem Schiffsanleger gemütlich, mit einem Klapptisch, auf dem ein Tannenzweig liegt, eine Kerzen brennt, und ein Pappbecher mit Wein steht. Die Musik für sein Weihnachtsfest spielt er selbst auf einer Flöte. Er vermisst das Zusammensein mit einer Familie und ist wahrscheinlich traurig beim Anblick der Lichter in den Häusern, dem Duft von leckerem Essen oder dem Ertönen von Weihnachtsmusik.

Denn das ist das Normale, dass am Heiligabend die Familien zusammenkommen um zu feiern. Wir stellen dazu einen Weihnachtsbaum auf, an dem Kerzen brennen, geben einander Geschenke, genießen gutes Essen und hören Geschichten oder Musik. Wir lassen es uns gut gehen und machen es uns gemütlich. Denn Weihnachten ist das Fest der Liebe, wir erfüllen uns unsere Sehnsucht nach Frieden und Geborgenheit, Ruhe und Harmonie.

Aber gelingt uns das eigentlich? So ganz einfach ist das ja nicht, denn die Schwierigkeiten und Probleme, die wir mit uns herumtragen, verschwinden dadurch nicht einfach so. Wir versuchen zwar, sie bei Seite zu drängen und einmal nicht daran zu denken, aber sie sind da, und es gibt sie in jeder Familie. Es können Spannungen und Konflikte sein, immer wieder erlebte Enttäuschungen und Verletzungen. Sogar in der Zeitung gab es dazu am Wochenende einen langen Artikel mit Tipps von einer „Expertin für gewaltfreie Kommunikation für ein besinnliches Fest“. Denn „Weihnachten zusammenzusitzen ist eine unheimlich schwierige Aufgabe“, heißt es dort. Auch eine Krankheit kann das Fest trüben, oder noch schlimmer, ein Todesfall. Vielleicht ist der in einigen Familien noch gar nicht so lange her, und dadurch ist jetzt alles anders, als wir es erwartet haben. Es geht uns schlecht, und das Zusammensein mit den anderen hilft uns nicht. Wir fühlen uns auch in der Gemeinschaft einsam und allein. Das Kerzenlicht, die Geschenke und das Essen reichen nicht, um ruhig zu werden. Die tieferen Schichten in unserer Seele werden dadurch nicht angerührt.

Dafür brauchen wir noch mehr, und genau das wird uns heute verheißen. Denn in Wirklichkeit feiern wir nicht nur so ein bisschen menschliche Liebe und Wärme, sondern etwas viel Größeres: Gott ist zu uns gekommen und Mensch geworden, und das hat noch eine ganz andere Bedeutung.

Der Prophet Hesekiel hat das sehr schön beschrieben. Wir haben seine Verheißung vorhin gehört: Er kündigt einen König an, der alles neu macht, und er bezeichnet ihn als „Hirte und Fürst“. Hesekiel prophezeite ihn, als er mit dem Volk Israel im Exil lebte. Sie saßen als Gefangene in Babylon und auch ihnen ging es schlecht. Sie träumten von ihrem Heimatland, das der König von Babel erobert und zerstört hatte. Sie litten unter dieser Situation und waren traurig.

Aber all das wird ein Ende haben, sagt der Prophet Hesekiel. Es wird ein „Knecht“ kommen, von Gott selber gesandt, der wie ein „Hirte“ sein wird. Er wird sie heimführen und ihr Leid beenden. Und in ihrem eigenen Land wird er dann einen dauerhaften Frieden herstellen. Er wird immer bei ihnen bleiben und „unter ihnen wohnen.“ Alle Menschen werden ihn erkennen, weil seine Gegenwart sichtbar und erlebbar wird. D.h. er wird sich um sein Volk kümmern, sie beschützen und bewahren und ihnen den rechten Weg zeigen. Es wird ihnen äußerlich und innerlich wieder gut gehen. Denn er wird bewirken, dass sie das Böse meiden, die Gebote halten und friedlich miteinander umgehen.

Das ist die Verheißung des Propheten Hesekiel an sein Volk, und die ist wunderbar. Sie lässt alle Träume wahr werden.

Die Christen beziehen sie deshalb auf Jesus Christus, wie alle Ankündigungen dieser Art im Alten Testament. Sie glauben, dass er der verheißene „Hirte und Fürst“ ist, der „sein Volk weiden“ kann. Er ist dieser „Knecht“, der Gesandte von Gott, durch den das Heil in die Welt gekommen ist. Gott ist unter uns und wird in Ewigkeit bei uns bleiben. Er schafft Frieden und Gerechtigkeit, Liebe und Hoffnung, das ist die Weihnachtsbotschaft.

Aber können wir das glauben? Was hat Jesus denn bis heute getan? Wo ist er nun, und was hat sich durch ihn verändert? Es gibt nach wie vor viel Elend, Krieg, Ungerechtigkeit und Einsamkeit. Auch Krankheiten hat er nicht abgeschafft und den Tod schon gar nicht. Es fällt uns deshalb oft schwer, wirklich an sein Erscheinen zu glauben. Wir zweifeln an seiner Macht.

Die ist allerdings auch ganz anderer Art, als wir uns das zunächst vorstellen oder wünschen. Jesus ist kein Held, der mit großartigen Taten die Welt verändert. Und mit Gewalt setzt er sich schon gar nicht durch. Sein Weg und seine Mittel sind ganz anders: Er hat das Leiden und die Liebe gewählt, um den Menschen zu helfen. Mit seiner Geburt hat er sich selber so klein gemacht, wie auch wir uns oft fühlen. Und am Ende hat er gelitten und den Tod auf sich genommen. Er war geduldig und ist gestorben. Denn er wusste: Der Tod wird nicht das letzte Wort haben. Gott war bei ihm, ja in ihm, und so ist er durch den Tod hindurch gegangen und wieder lebendig geworden. Das ist die Botschaft des Evangeliums. Er ist also ganz nah bei allen, die leiden und sterben, er lässt sie nicht allein. Er geht vielmehr mit ihnen, mit den Schwachen und Traurigen, mit denen, die allein und verbittert sind, die es schwer haben und sich quälen. Und er ist voller Liebe und Zuwendung zu ihnen.

Doch um das zu erfahren, müssen wir denselben Weg gehen, und das heißt: Wir müssen unser Leid annehmen und unsere Einsamkeit bejahen. Wir müssen aufhören, alles Glück von dieser Welt oder den anderen Menschen zu erhoffen. Sie können es uns nie vollständig geben. Die Weihnachtsverweigerer haben gar nicht nur Unrecht. Sie sind wenigstens nüchtern und machen sich nichts vor. Und das tut auch uns gut, dass wir unser Leben akzeptieren, wie es ist, nichts mehr zudecken, nichts verdrängen und auch nicht zu viel von unseren Mitmenschen erwarten. Es ist viel befreiender, wenn wir all das Unvollkommene so lassen, wie es ist, und unser Herz für die Gegenwart Gottes aufschließen.

Genau das ist die Herausforderung, die er uns zumutet: Wenn wir ihn erkennen wollen, dann müssen wir an ihn glauben. Wenn wir seine Macht erleben wollen, müssen wir mit unserer Sehnsucht zu ihm gehen und ihm unsere ungelösten Probleme zeigen. Wenn wir seine Kraft spüren wollen, müssen wir ihm vertrauen – mit unserer Traurigkeit und unserer Einsamkeit. Ohne unsere eigene Bereitschaft, uns an ihn zu wenden und uns auf ihn einzulassen, bleibt die Botschaft von seinem Kommen und seiner Liebe für uns leer und im Dunkeln. Erst wenn wir uns dafür öffnen, kann sie uns erreichen und etwas in uns verändern.

Doch das kann dann wirklich geschehen. Unsere Wünsche nach Geborgenheit können erfüllt werden, denn durch den Glauben an Jesus Christus, den Sohn Gottes sind wir nie mehr allein. Unsere Sorgen fallen von uns ab und unsere Traurigkeit wird gemindert. Auch der Druck verschwindet, dass alles möglichst schön sein soll. Wir werden gelassen und frei von Erwartungen. Wir werden wirklich erlöst und getröstet. Jesus wärmt uns von innen her und macht uns froh. Er ist der „König“ und „Hirte“, der uns das Heil bringt.

Wir brauchen weder die selbstgewählte Einsamkeit noch die oberflächliche Geselligkeit. Was wir brauchen, ist dagegen die Liebe Gottes, und die wird uns heute durch Jesus Christus geschenkt. Erst durch sie wird auch unser Herz mit Liebe angefüllt, und unser Zusammenleben wird so, wie wir uns das vorstellen. Und dadurch entsteht dann die wahre und tiefe Gemeinschaft, nach der wir uns sehnen. Ruhe und Harmonie kehren ein.

Und wenn das geschieht, dann ist der Höhepunkt des Festes da, dann ist wirklich Weihnachten. Der Friede, den er in unser Herz legt, zieht in unsere Familien und Häuser ein, in unsere Stadt und unser Land.

Stellen Sie sich vor, dass plötzlich auch derjenige, der heute angeblich lieber allein ist, davon eine Ahnung bekommt. Möglicherweise stellt sich doch keine rechte Zufriedenheit ein, irgendetwas stört ihn. Vielleicht sind es die Geräusche aus den Nachbarwohnungen, eine innere Unruhe, ein Bewegungsdrang. So geht er doch noch einmal hinaus und macht einen Abendspaziergang. Und dabei hört er mit einem Mal eine zarte, zaghafte Flötenmelodie. Es scheint irgendein Weihnachtslied zu sein. Er lauscht und geht den Tönen nach. Und dann bietet sich ihm eine ungewohnte Szene: Er sieht den älteren Herrn in altmodischen Kleidern auf dem Schiffsanleger, vor ihm ein Klapptisch mit einem Tannenzweig und einer Kerze. Der einsame Spieler schaut auf, entdeckt ihn und lädt ihn höflich ein, sich doch zu ihm zu setzen und einen Becher Wein mit ihm zu trinken. Er hat ein unrasiertes aber freundliches Gesicht, und es herrscht eine eigenartige Stimmung. Die beiden sitzen nun zusammen, und alle Unruhe fällt von ihnen ab. Schweigend blicken sie auf die Wasserfläche vor sich, und der Einsiedler sagt: „Eigentlich bräuchte es gar kein Alleinsein zu geben. Man muss nur den Mut haben, aufeinander zuzugehen.“ „Aber wenn man doch seine Ruhe haben will?“ sagt der andere daraufhin. Der Mann neben ihm nickt bedächtig mit dem Kopf und antwortet: „Sicher, seine Ruhe, die braucht man wohl. Aber die Unruhe in uns, die macht uns hart und bitter. Die wird uns erst genommen, wenn wir wieder zueinander finden.“ Und der Besucher denkt: „Oder vielleicht zu Gott!“ Denn das hat er plötzlich verstanden.

Amen.

nach der Erzählung von Hinrich C.G. Westphal, „Flötenspiel über der Alster – Einen ungestörten, produktiven Abend verleben“, in: Wie schön leuchtet der Morgenstern, Erzählungen zwischen Advent und Neujahr, Hamburg, 1991, S. 8ff

Keine Gewalt!

Predigt über Lukas 3, 3-14.18: Die Predigt Johannes des Täufers

3. Sonntag im Advent, 15.12.2019

Lukas 3, 3- 14. 18

3 Und er kam in die ganze Gegend um den Jordan und predigte die Taufe der Buße zur Vergebung der Sünden,
4 wie geschrieben steht im Buch der Reden des Propheten Jesaja (Jesaja 40,3-5): »Es ist eine Stimme eines Predigers in der Wüste: Bereitet den Weg des Herrn und macht seine Steige eben!

5 Alle Täler sollen erhöht werden, und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden; und was krumm ist, soll gerade werden, und was uneben ist, soll ebener Weg werden.
6 Und alle Menschen werden den Heiland Gottes sehen.«
7 Da sprach Johannes zu der Menge, die hinausging, um sich von ihm taufen zu lassen: Ihr Schlangenbrut, wer hat denn euch gewiss gemacht, dass ihr dem künftigen Zorn entrinnen werdet?
8 Seht zu, bringt rechtschaffene Früchte der Buße; und nehmt euch nicht vor zu sagen: Wir haben Abraham zum Vater. Denn ich sage euch: Gott kann dem Abraham aus diesen Steinen Kinder erwecken.
9 Es ist schon die Axt den Bäumen an die Wurzel gelegt; jeder Baum, der nicht gute Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen.
10 Und die Menge fragte ihn und sprach: Was sollen wir denn tun?
11 Er antwortete und sprach zu ihnen: Wer zwei Hemden hat, der gebe dem, der keines hat; und wer zu essen hat, tue ebenso.
12 Es kamen auch die Zöllner, um sich taufen zu lassen, und sprachen zu ihm: Meister, was sollen denn wir tun?
13 Er sprach zu ihnen: Fordert nicht mehr, als euch vorgeschrieben ist!
14 Da fragten ihn auch die Soldaten und sprachen: Was sollen denn wir tun? Und er sprach zu ihnen: Tut niemandem Gewalt oder Unrecht und lasst euch genügen an eurem Sold!
18 Und mit vielem andern mehr ermahnte er das Volk und verkündigte ihm das Heil.

Liebe Gemeinde.

Bewaffnete Menschen flößen uns normalerweise einen gewissen Respekt ein, wenn nicht sogar Angst. Bei uns sind das Polizisten und Soldaten. Aber auch Sicherheitskräfte, Jäger und Schützen dürfen Waffen tragen. Sie benötigen dafür zum Glück eine Erlaubnis, der zivile Waffenbesitz wird in Deutschland streng kontrolliert. Seit 1970 ist es das Bestreben der Politik, „möglichst allen Bürgern in allen Regionen zu verwehren, sich zu bewehren.“ So formulierte es der damalige Hamburger Regierungsdirektor Siegfried Schiller, denn „schon der bloße Waffenbesitz könne ganz ohne Hintergedanken zu einer Gefahr für die Allgemeinheit werden.“ Er hielt eine rigorose Reglementierung für vertretbar, und so kam es dann auch. Heutzutage beruft Deutschland sich darauf, eines der strengsten Waffengesetze weltweit zu haben. Es wurde in den letzten Tagen sogar noch verschärft und regelt den Erwerb, die Lagerung, den Handel, den Besitz und die Instandsetzung von Waffen, insbesondere von Klingen- und Schusswaffen sowie Munition. Auch definiert es verbotene Waffen und verbietet deren Besitz und Inverkehrbringen. Denn eine bewaffnete Person ist derjenigen, die waffenlos ist, überlegen, sie kann gefährlich werden und großes Unheil anrichten.

Und das war schon immer so, auch zurzeit Jesu. Um die Herrschaft der Römer im Alltag zu sichern, waren z.B. die römischen Soldaten bewaffnet. Außerdem gab es jüdische Soldaten, die zur Verteidigung der Festungen am unteren Jordan zahlreich waren. Und die nutzten ihre Überlegenheit tatsächlich aus. Nicht selten schikanierten und misshandelten sie das Volk, erpressten Schutzgelder oder Geschenke und sorgten für Verunsicherung. Sie waren offensichtlich kaltherzig und gierig, übten Macht aus und nahmen keine Rücksicht auf das Wohlergehen ihrer Mitmenschen.

Doch erstaunlicher Weise waren auch sie mit vielen anderen Menschen zu Johannes dem Täufer gekommen. Der hatte lange Zeit zurückgezogen in der Wüste gelebt hatte, abseits des weltlichen Geschehens, ganz auf Gott ausgerichtet. Eines Tages trat er dann aber auf und predigte im Stil der alten Propheten. Er rief zu Buße und Umkehr auf und kündigte das Kommen des Gottesreiches an. Er stand am Ufer des Jordans gegenüber von Jericho, und unzählige Menschen gingen zu ihm, um ihn zu hören. Wer seiner Botschaft folgte und seine Sünden bekannte, ließ sich von ihm taufen. Johannes vollzog die Taufe durch Eintauchen ins fließende Wasser, und sie bedeutete eine symbolische Reinigung. Wie die großen Propheten des Alten Testamentes erregte er also die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, und die Volksscharen setzten sich in Bewegung. Auch die Soldaten folgten wie gesagt seinem Ruf.

Dabei war seine Predigt keineswegs angenehm. Er verstand sich als Wegbereiter des kommenden Messias, für den alles beseitigt werden musste, was „uneben“ und gottlos war. Er beschimpfte viele seine Hörer sogar und entlarvte jede unehrliche Gesinnung und Falschheit. Er nannte sie „Schlangenbrut“, und damit meinte er alle, die Böses oder Tödliches um sich verbreiteten. Sie sollten ihre Gesinnung ändern und mit ihren Taten beweisen, dass sie Gottes Wille verstanden hatten. Sonst würden sie beim Gericht Gottes, das nach der Meinung des Täufers nahe bevor stand, wie ein unfruchtbarer Baum „abgehauen“.

Und auf diese Drohung reagierten die Hörer. Sie fragten betroffen, was zu tun sei. Johannes beantwortete ihre Fragen und konnte sie so auf den rechten Weg bringen. Für jeden und jede hatte er einen Rat. Drei Beispiele werden hier genannt: Die Reichen sollten ihre Habe teilen. Die Zöllner – das waren Abgabenpächter, die für die Römer arbeiteten – sollten die Anweisung der Obrigkeit nicht zu ihren Gunsten übertreten. Sie sollten sich vielmehr soldarisch mit ihren Mitmenschen zeigen. Und die Soldaten sollten ihre Macht nicht missbrauchen, um sich zu bereichern, sondern sich mit ihrem Sold zufrieden geben. Diese drei Gruppen werden hier genannt, aber Johannes hatte sicher auch für alle anderen konkrete Vorschläge, wie sie Gottes Willen beherzigen konnten. Es wird zusammengefasst mit dem Satz: „Mit vielem andern mehr ermahnte er das Volk und verkündigte ihm das Heil.“

Seine Botschaft lautete: Widersteht der Versuchung, einander zu unterdrücken oder auszunutzen, achtet einander, tut Buße, kehrt um und schafft Frieden. Auch uns gilt dieser Aufruf, und es ist gut, dass wir ihn immer wieder hören. Denn obwohl wir hier in Deutschland strenge Waffengesetzte haben und so schnell niemand auf der Straße durch eine Schusswaffe umkommt, tun wir einander oft nichts Gutes und üben viel Gewalt aus. Bertold Brecht hat das einmal so gesagt: „Es gibt viele Arten zu töten. Man kann einem ein Messer in den Bauch stechen, einem das Brot entziehen, einen von einer Krankheit nicht heilen, einen in eine schlechte Wohnung stecken, einen durch Arbeit zu Tode schinden, einen zum Selbstmord treiben, einen in den Krieg führen usw. Nur wenige davon sind in unserem Staate verboten.“

Wir sollten uns also alle angesprochen fühlen und uns fragen, wann und wo wir unsere Macht missbrauchen und anderen Menschen Angst machen. Es passiert öfter als wir ahnen, und zwar immer dann, wenn wir die Schwächen unserer Mitmenschen ausnutzen. Das kann durch körperliche Überlegenheit geschehen, dadurch, dass wir ein Geheimnis über jemanden wissen, das niemand erfahren soll. Wir können den Ruf von jemand anderem ruinieren, ihn ausgrenzen und missachten. Man spricht auch von „den Waffen der Frau“, d.h. wir können andere Menschen täuschen und verführen. Verboten ist das alles nicht.

Aber es ist auch nicht das, was Gott will. Johannes der Täufer legt uns hier eine ganz eindeutige Ethik vor, und es gut, wenn wir die beachten: Er ruft uns zu einer kritischen Auseinandersetzung mit unserem eigenen Verhalten und Denken auf, und das Ziel ist ein Sinneswandel. Wir sollen unsere Sünden bekennen, Buße tun, umdenken und neu anfangen.

Die Frage ist allerdings, wie wir das hinbekommen. Natürlich bemühen wir uns immer wieder darum gut zu sein, aber viele scheinbar harmlose „Unebenheiten“ sind nicht so einfach zu begradigen. In Ehen und Familien haben sich z.B. oft bestimmte Verhaltensmuster eingeschlichen, die ein soziales Gefälle bedeuten. Es ist klar, wer der Stärkere und wer der Schwächere ist, aber wir gewöhnen uns daran, auch an das Leid, das damit einhergeht. Viele tragen es schweigend und wehren sich nicht mehr. Im Kollegen- oder Freundeskreis kann es das auch geben, und selbst wenn wir es ändern wollten, so ist das nicht so einfach. Es klingt ja auch sehr nach einem erhobenen Zeigefinger, so als ob wir durch eigene Anstrengung besser werden sollen.

Doch so ist das, was Johannes der Täufer predigte, nicht gemeint. Um es richtig zu verstehen, müssen wir noch einmal darüber nachdenken, was es mit der „Wegbereitung“ auf sich hat. Das ist ja sein Anliegen, d.h. Johannes will, dass wir das Kommen Jesus vorbereiten, das wir zu Weihnachten feiern. Und das bedeutet nicht, dass wir nun aus eigener Kraft in unserem Leben aufräumen und unser Miteinander neu ordnen. Wir sollen uns vielmehr auf Jesus ausrichten, und das heißt, unsere Blickrichtung ändern. Dabei lassen wir ganz von selber von vielem ab, das uns gefangen hält. Wir steigen aus unseren Gewohnheiten aus und lassen uns von dem Ziel, auf das wir zugehen, bereits anrühren. Wir öffnen eine Tür in unserem Geist, und dadurch empfangen wir Jesus bereits. Wir spüren seine Nähe und die kann wirken. Von der Krippe geht jetzt schon eine Kraft aus, die uns verändern kann. Johannes der Täufer fordert uns nicht dazu auf, durch unsere Werke gerecht zu werden. Er warnt uns nur vor Tatenlosigkeit. Wir können unser Heil verspielen, wenn wir nicht aufpassen. Es geht ihm nicht um das Tun, sondern um ein neues Sein. Und um das zu verwirklichen, dürfen wir jetzt schon auf die Hilfe Christi vertrauen.

Davon handelt eine kleine Geschichte von Max Bolliger, einem Kinderbuchautoren der Schweiz. Er ist 1929 geboren und trat erstmals zu Beginn der 1950er Jahre mit Gedichten und Erzählungen für Erwachsene in Erscheinung. Er wechselte dann aber zum Kinder- und Jugendbuch. Die folgende Geschichte ist allerdings für Kinder und Erwachsene gleichermaßen schön und aussagekräftig. Sie heißt:

„König, Bauer und Knecht“, (In heiliger Nacht, Weihnachtliche Worte und Weisen, Freiburg, Bassel, Wien, 2008,  S. 99f)

In der Nähe Betlehems lebten vor zweitausend Jahren ein König, ein Bauer und ein Knecht.
Wenn der König auf seinem Pferd durch die Straßen ritt, fiel der Bauer vor ihm auf die Knie und küsste den Saum seines Gewandes. Wenn der Bauer auf seinem Esel über die Felder ritt, verneigte sich der Knecht und nahm seinen Hut vom Kopf. Wenn aber der Knecht jemandem begegnete, wurde er von niemand gegrüßt. Nur ein kleiner herrenloser Hund… wollte nicht mehr von ihm weichen.
Wenn der König schlechter Laune war, ließ er den Bauern für einen Tag ins Gefängnis werfen. Wenn der Bauer zu viel getrunken hatte, rief er den Knecht und ließ ihn am Feiertag Holz hacken. Wenn der Knecht unglücklich war, pfiff er dem kleinen herrenlosen Hund und schlug ihn mit dem Stock.
So fürchtete sich der Bauer vor dem König, der Knecht vor dem Bauern und der Hund vor dem Knecht.
Aber auch der König fürchtete sich. Er fürchtete sich vor dem Tod.
Der König verbot seinen Kindern, mit den Kindern des Bauern zu spielen. Der Bauer verbot seinen Kindern, mit den Kindern des Knechtes zu spielen. Der Knecht verbot seinen Kindern, mit dem kleinen herrenlosen Hund zu spielen.
So fürchteten sich die Kinder des Königs, die Kinder des Bauern und die Kinder des Knechtes nicht vor dem Tod, nicht vor einem König, nicht vor einem Bauern und nicht vor einem Knecht. Sie fürchteten sich vor der Strafe. Die Kinder waren traurig, denn sie vermochten zwischen dem Kind eines Königs, dem Kind eines Bauern und dem Kind eines Knechtes keinen Unterschied zu erkennen.
Eines Tages aber stand über Betlehem ein leuchtender Stern. In einem Stall mitten auf dem Feld war Christus geboren …
Ohne dass einer vom andern wusste, machten sich der König, der Bauer und der Knecht auf, das Kind zu suchen.
Als sie einander vor dem Stall mitten auf dem Feld trafen, waren sie verlegen.
Aber Maria, die das Kind geboren hatte, lächelte ihnen zu und bat sie näher zu treten.
Und als sie das Kind in der Krippe erblickten, erfüllte sie plötzlich eine große Freude…
Sie knieten nieder und beteten es an.
„Nimm mir die Angst vor dem Tod“, bat der König.
„Nimm mir die Angst vor dem König“, bat der Bauer.
„Nimm mir die Angst vor dem Bauern“, bat der Knecht.
Da fing das Kind an zu weinen, weil es ahnte, dass es für den König, den Bauern und den Knecht einst am Kreuze sterben würde.
Am frühen Morgen kehrten die drei Männer gemeinsam nach Hause zurück, der König in sein Schloss, der Bauer auf seinen Hof und der Knecht in seine Hütte.
Nun wusste einer um des andern Angst, doch der Glaube an das Kind schenkte ihnen die Kraft, sie zu überwinden.
Am folgenden Tag aber spielten die Kinder des Königs, die Kinder des Bauern und die Kinder des Knechtes zusammen mit dem kleinen herrenlosen Hund. Auch er brauchte sich nicht mehr zu fürchten.

Amen.