Der Glaube „versetzt uns in den Himmel“

Predigt über Epheser 2, 4- 10: Das neue Leben als Geschenk der Gnade

11. Sonntag nach Trinitatis, 15.8.2021, 9.30 Uhr, Lutherkirche Kiel

Epheser 2, 4- 10

4 Aber Gott, der reich ist an Barmherzigkeit, hat in seiner großen Liebe, mit der er uns geliebt hat,
5 auch uns, die wir tot waren in den Sünden, mit Christus lebendig gemacht – aus Gnade seid ihr selig geworden –;
6 und er hat uns mit auferweckt und mit eingesetzt im Himmel in Christus Jesus,
7 damit er in den kommenden Zeiten erzeige den überschwänglichen Reichtum seiner Gnade durch seine Güte gegen uns in Christus Jesus.
8 Denn aus Gnade seid ihr selig geworden durch Glauben, und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es,
9 nicht aus Werken, damit sich nicht jemand rühme.
10 Denn wir sind sein Werk, geschaffen in Christus Jesus zu guten Werken, die Gott zuvor bereitet hat, dass wir darin wandeln sollen.

Liebe Gemeinde.

Zöllner waren in Israel zurzeit Jesu gefürchtet und gehasst, denn sie arbeiteten mit dem Feind zusammen, der römischen Besatzungsmacht. Von ihr pachteten sie die Zölle, die überall eingerichtet waren, auf Märkten, an Grenzen und Stadttoren. Von ihren Erlösen mussten die Zöllner einen bestimmten Betrag an die Römer abliefern. Was sie darüber hinaus einnahmen, verblieb ihnen als Gewinn. Damit hatten sie gute Möglichkeiten, sich zu bereichern.

Das alles führte dazu, dass sie verachtet und als Sünder angeprangert wurden. Die Frommen wollten nichts mit ihnen zu tun haben. Sie sonderten sich von ihnen ab und diffamierten sie in der Öffentlichkeit. Und so kam es, dass die Zöllner aus dem gesellschaftlichen Leben zum großen Teil ausgeschlossen waren. Die Mehrheit der Bevölkerung mied den Umgang mit ihnen.

Nur Jesus verhielt sich anders: Er wendete sich ihnen zu, sprach mit ihnen und ließ sich sogar gelegentlich von ihnen einladen. Bei dem Zöllner Zachäus war er z.B. einmal zu Gast und saß mit ihm an einem Tisch. Und dessen Leben änderte sich durch diese Begegnung: Er bekehrte sich zu Gott, gab die Hälfte seines Besitzes für die Armen und folgte Jesus nach. (Lukas 19, 1- 10)

Den anderen Jüngern war es ähnlich ergangen: Auch sie hatten für Jesus alles verlassen und einen neues Leben begonnen. Und als Jesus nicht mehr da war, blieb das natürlich so: Alle, die von den Aposteln angesprochen wurden und zum Glauben an Jesus Christus kamen, änderten ihr Leben und fingen neu an. Denn es gab noch keine christliche Tradition, in die man hinein geboren werden konnte. Alle, die sich Christen nannten, waren vor noch nicht allzu langer Zeit zur Gemeinde gekommen und hatten sich taufen lassen. Sie waren frisch bekehrt.

Der Apostel Paulus hatte daran viel mitgewirkt. Die Briefe, die er schrieb, waren also alle an Menschen gerichtet, die erst seit Kurzem im Glauben standen. So war es auch bei den Ephesern, d.h. den Mitgliedern aus der Gemeinde in der Stadt Ephesus, die Paulus gegründet hatte. Die Epistel von heute ist ein Abschnitt aus dem Brief, den er später an sie schrieb. Das müssen wir uns vorstellen, wenn wir hören: „Aber Gott, der reich ist an Barmherzigkeit, hat in seiner großen Liebe, mit der er uns geliebt hat, auch uns, die wir tot waren in den Sünden, mit Christus lebendig gemacht.“  

Mit diesen Worten bezieht Paulus sich auf die Bekehrung und die Taufe und er führt aus, was für ein glückliches Ereignis sie im Leben eines Menschen darstellen. Es gibt für ihn nämlich einen deutlichen Unterschied zwischen der Zeit davor und danach. Er gebraucht dafür sogar sehr drastische Ausdrücke: Das Leben vor der Taufe ist für ihn gar kein richtiges Leben, es ist im Gegenteil wie „tot sein“. Wie kommt Paulus zu dieser bedeutungsschweren Beurteilung?

Um das zu verstehen, müssen wir noch weitere Aussagen in dem Briefabschnitt beachten. Und zwar erwähnt Paulus ja die Sünden. „In ihnen waren wir tot“, bevor wir getauft wurden. Das heißt, wir waren ihrer Macht unterstellt und von Gott getrennt. So muss man das Wort „Sünde“ hier verstehen. Paulus meint damit nicht einzelne moralische oder gesetzliche Verfehlungen, sondern die Entfremdung von Gott. Aus ihr werden wir durch Christus herausgeholt. Paulus spricht hier also von zwei Lebensweisen: Die eine führt in den Tod, die andere bedeutet dagegen Heil.

Das wird an den Sätzen deutlich, mit denen er das neue Leben beschreibt. Zunächst einmal ist es nicht von Menschen gemacht, sondern Gott hat es heraufgeführt. Denn er hat seinen Sohn Jesus Christus gesandt, damit er uns rette. Durch ihn ist eine neue Wirklichkeit da, die Gott geschaffen hat, weil er „reich ist an Barmherzigkeit“. Gott meinte es gut mit den Menschen, er wollte sie erlösen und heilen.

Das geschieht nun, wenn der Mensch sich zu Christus bekehrt und sich taufen lässt. Er wird dann sozusagen „in den Himmel versetzt“. Und das ist nicht sein eigenes Verdienst. Die Rettung aus der Sünde ist ein reiner Gnadenakt Gottes. Daran erinnert Paulus die Epheser hier, obwohl sie ganz frisch bekehrt und getauft waren. Das hätten sie also eigentlich noch wissen müssen. Doch sie waren in der Gefahr, wieder in das alte Dasein zurückzufallen.

Und das kann auch uns so gehen, zumal es bei den meisten von uns lange her ist, dass wir zum Glauben gekommen sind und getauft wurden. Es besteht die Gefahr, dass unser Leben von etwas ganz anderem bestimmt wird, und das hat schwerwiegende Folgen.

So ist z.B. niemand von uns frei von Schuld, selbst wenn uns das nicht bewusst ist. Wir machen im Leben nicht alles richtig, sondern verschließen ganz oft die Augen vor dem, was eigentlich das Beste für uns und die anderen wäre. Wir erahnen es zwar häufig, sind dann aber zu bequem, es umzusetzen. Wir sehen etwas und tun es nicht. Wir spüren etwas und verdrängen es wieder. Wir ahnen die Wahrheit, aber wir sehen nicht hin. Und so wird in uns etwas gespalten. Wir fühlen uns in zwei Teile zerrissen: In den Teil, der erkennt und erahnt, was unserem Wesen entspricht; und in den Teil, der verdrängt, abgespalten, ja letztlich abgetötet wird.

So muss es den Zöllnern gegangen sein. Natürlich haben sie auch selber zu ihrer Situation beigetragen und sich durch ihr Verhalten von den anderen getrennt: Weil sie ihre Schuld vor sich selbst verbargen, mussten sie sie auch vor den Menschen verbergen. Es entstand eine Mauer zwischen ihnen und den andern, die sie selbst nicht zu übersteigen vermochten. Und was noch schlimmer ist: Durch dieses Verhalten entsteht auch eine Mauer zwischen Gott und uns. In der Schuld unterdrücken wir unsere Beziehung zu Gott, da müssen wir unsere Gottesahnung tot trampeln, um gegen unser tiefstes Gespür zu handeln. Und so laufen wir in der Schuld vor Gott davon. Am Ende erleben wir ihn nicht mehr als den barmherzigen Vater, sondern als den Richter, vor dem wir unsere Wahrheit offenbaren müssten. Doch das können wir nicht, weil wir sie vor uns selbst nicht zugeben wollen.

Und als letztes trennt uns die Schuld von uns selbst. Wir verlieren die Beziehung zu unserem innersten Kern, zu unserer eigentlichen Wahrheit, zu unserem Gewissen. Um überleben zu können, müssen wir unser Gewissen abtöten. Aber gerade so werden wir letztlich vom Leben selber abgeschnitten, wir sind wie tot. Und aus diesem Totsein können wir uns selbst nicht mehr befreien, wir sind so sehr gefangen in den Mechanismen von Verdrängung und Unterdrückung, dass wir aus eigener Kraft keinen Weg daraus finden. Das hat Paulus gemeint.

Und so ist es eine sehr gute Botschaft, wenn er weiter schreibt: „Gott, der voll Erbarmen ist, hat uns in seiner großen Liebe, mit der er uns geliebt hat, zusammen mit Christus wieder lebendig gemacht.“ Das verkündet Paulus hier: Gott hat uns mit Christus auferweckt. Bei der Bekehrung und durch die Taufe wurden wir aus dem Grab unserer Schuld und Angst herausgeführt, weil wir Anteil bekommen haben an der Auferstehung Christi. Die Schuld, aus der wir uns selbst nicht befreien konnten, haben wir hinter uns gelassen, indem Christus selbst uns an der Hand nahm und aus dem Grab zum Leben führte.

Und das tut er immer wieder: Er zieht uns empor, damit wir am Licht und an der Herrlichkeit des Auferstandenen teilhaben. Wir werden frei, indem wir uns von Christus an der Hand nehmen und Gott an uns handeln lassen. Wir erhalten dann durch Christus eine himmlische Würde und werden „in den Himmel versetzt“, wie Paulus es ausdrückt.

Doch ganz ohne unser Mitwirken geschieht das natürlich nicht, und es ist auch nicht ein für alle Mal erledigt. Es muss vielmehr immer wieder geschehen. Gottes Erbarmen wirken zu lassen ist ein lebenslanger Prozess, denn es gibt ständig neue Begegnungen, neue Einflüsse und Erfahrungen. Schicksalsschläge oder auch Erfolgserlebnisse können uns irritieren und vom Weg mit Gott abbringen, Reichtum und Armut, Glück oder Pech.

Es ist deshalb wichtig, dass wir uns immer wieder Zeit für Gott nehmen. Am besten ist es, wenn wir das regelmäßig machen, d.h. uns eine Regel geben, und auch einen besonderen Ort dafür wählen. Es kann eine Kirche sein, ein Platz in der Natur, eine Ecke in der Wohnung. Wir setzen uns hin und bringen unseren Verstand zum Schweigen, verarbeiten unsere Erlebnisse und lassen die Barmherzigkeit Christi in unser Herz fallen. Dann kann uns aufgehen: In mir ist etwas, das die Welt übersteigt.

Und wenn ich das „koste und schmecke“, kann ich mir auch meine Schuld eingestehen, und sie wird mir vergeben. Ich werde lebendig und erfahre mitten in der Unvollkommenheit meines Lebens eine tiefe innere Ruhe. Dann ist mein Herz angekommen bei Gott. Alles andere kann schweigen. Und in diesem Schweigen berühre ich die eigentliche Wirklichkeit, Gott selbst als den, der mich aus dem Grab ins Leben holt.

Doch das ist noch nicht alles, was die Bekehrung bewirkt. Denn diese Rettung und Erlösung geschieht nicht allein um unsres Heiles willen, sondern für die ganze Welt. Gott wollte den Reichtum seiner Gnade „den kommenden Zeiten“ zeigen, er wollte in der Öffentlichkeit der Weltgeschichte offenbaren, was er in Christus an den Menschen tut, die das Angebot seiner Liebe annehmen. Die von Gott „in Christus Auferweckten“ und „in den Himmel versetzten“ Menschen bilden die Kirche, die für die Welt und ihre Geschichte ein Zeichen von Gottes Gnadenhandeln ist. Im Miteinander der Christen, in ihrem Sein und in ihrem Handeln soll Gottes Gegenwart in dieser Welt sichtbar werden, da soll etwas offenbar werden von Gottes Güte und Menschenfreundlichkeit.

Und das heißt: Unser neues Sein in Christus muss sich in guten Werken zeigen. Das sagt Paulus am Ende des Abschnittes. Da heißt es: „Denn wir sind sein Werk, geschaffen in Christus Jesus zu guten Werken, die Gott zuvor bereitet hat, dass wir darin wandeln sollen.“ Das ist eine sehr schöne Formulierung, denn sie macht deutlich: Wir werden nicht durch unsere guten Werke gerettet. Wir werden vielmehr selber zu einem „guten Werk“ Gottes. Er schafft uns neu, und wir werden frei, um an dieser Welt gut zu handeln, den Menschen Gutes zu tun, gut und gütig mit ihnen zu sein.

So war es bei Zachäus und auch allen anderen Menschen, die sich zu Jesus bekehrt hatten: Sie konnten dadurch von sich selber absehen. Sie mussten nicht mehr alles für sich und den eigenen Gewinn tun, weil Gott alles an ihnen getan hatte. Sie mussten ihr Glück nicht mehr im Reichtum finden, weil Gott sie in Christus gefunden hatte, und weil sie in Christus schon „in den Himmel versetzt waren“, in das Paradies, das alle ihre Sehnsucht nach Glück erfüllte.

Amen.

Die Predigt ist in großen Teilen die Wiedergabe einer Meditation zu dem Textabschnitt aus dem Epheserbrief von Anselm Grün. Sie findet sich in:
Meditative Zugänge zu Gottesdienst und Predigt, Predigttextreihe II,2, Rogate bis Ewigkeitssonntag,

Hrg. Gerhard Ruhbach, Anselm Grün und Ulrich Wilckens, Göttingen, 1992, S. 251ff

Lobet und preiset den Herrn

Predigt über EG 514: Gottes Geschöpfe, kommt zuhauf!

Sommerpredigt IV, 1.8.2021, 9.30 und 11 Uhr, Luther- und Jakobikirche Kiel

Evangelisches Gesangbuch Nr. 514:

  1. Gottes Geschöpfe, kommt zuhauf! Halleluja,
    Lasst brausen hoch zum Himmel auf: Halleluja!
    Du Sonne hell mit goldnem Strahl, Halleluja,
    Mond leuchtend hoch vom Himmelssaal, Halleluja.
    Singt ihm Ehre! Singt ihm Ehre! Halleluja.
  2. Du Sturm, der durch die Welten zieht, Halleluja,
    du Wolke, die am Himmel flieht, Halleluja.
    Du Sommers junges Morgenrot, Halleluja,
    du Abendschein, der prächtig loht, Halleluja.
    Singt ihm Ehre! Singt ihm Ehre! Halleluja.
  3. Ihr Wasserbäche, klar und rein, Halleluja,
    singt euer Loblied ihm allein, Halleluja.
    Du Feuers Flamme auf dem Herd, Halleluja,
    daran der Mensch sich wärmt und nährt, Halleluja.
    Singt ihm Ehre! Singt ihm Ehre! Halleluja.
  4. Du, Mutter Erde, gut und mild, Halleluja,
    daraus uns lauter Segen quillt, Halleluja.
    Ihr Blumen bunt, ihr Früchte treu, Halleluja,
    die Jahr um Jahr uns reifen neu, Halleluja.
    Singt ihm Ehre! Singt ihm Ehre! Halleluja.
  5. Ihr Herzen, drin die Liebe wohnt, Halleluja,
    die ihr den Feind verzeihend schont, Halleluja.
    Ihr, die ihr traget schweres Leid, Halleluja,
    es Gott zu opfern still bereit, Halleluja.
    Singt ihm Ehre! Singt ihm Ehre! Halleluja.
  6. Du, der empfängt in letzter Not, Halleluja,
    den Odem mein, o Bruder Tod, Halleluja:
    Führ Gottes Kinder himmelan, Halleluja,
    den Weg, den Jesus ging voran, Halleluja.
    Singt ihm Ehre! Singt ihm Ehre! Halleluja.
  7. Ihr Kreaturen, singt im Chor: Halleluja!
    Hebt euer Herz zu Gott empor, Halleluja.
    Vater und Sohn und Heilgem Geist, Halleluja,
    dreieinig, heilig, hochgepreist, Halleluja,
    sei die Ehre, sei die Ehre! Halleluja.

Text: Karl Budde 1929
nach dem englischen »All creatures of our God and King« von William Henry Draper 1926
nach dem Sonnengesang des Franz von Assisi 1225
Melodie: Köln 1623

Liebe Gemeinde.

Der heilige Franz von Assisi hatte ein besonderes Verhältnis zur Kreatur. Er betrachtete die Schöpfung mit geöffneten Augen und nahm alles, was sich um ihn herum bewegte, in sein Herz auf. Berühmt geworden ist die Legende, wie er einmal den Vögeln eine Predigt hielt, als wären sie vernünftige Wesen: Sie hörten ihm aufmerksam zu, und er machte das Zeichen des Kreuzes über sie. Aber auch von seiner Liebe zu Lämmern und Wölfen wird erzählt, und sogar von den Würmlein, die er aufsammelte und in Sicherheit brachte, damit kein Wanderer sie zertrete. „Auf eine wundersame, andern verschlossene Weise fand er den Zugang in das Geheimnis der Dinge“, schrieb ein Augenzeuge.

Am prägnantesten spiegelt wohl der „Sonnengesang“ sein Verhältnis zur Kreatur wider. Es ist ein herrliches Loblied, das der Heilige selbst oft gesungen hat. Er nahm damit die Aufforderung des Psalmisten auf, „den Herrn zu loben“. Gleich im ersten Vers hat er es ausgesprochen, dass „der Preis, der Ruhm und die Ehre Gott allein zukomme, dessen Name kein Mensch würdig ist, auf die Lippen zu nehmen.“

Und im weiteren Verlauf zählt er auf, was Gott alles geschaffen hat: Er beginnt mit der Sonne und verherrlicht sie. Als „Schwester Sonne“ spricht er von ihr und betrachtet sie als ein Sinnbild des Allerhöchsten. Alle anderen Geschöpfe sieht er ebenso als seine Geschwister: den Mond und die Sterne, Wind, Wetter und Luft, Wasser und Feuer, die ganze Erde als Allmutter, samt den Früchten, Blumen und Kräutern. Auch die Menschen vergisst er nicht und lobt besonders die, die um der Liebe willen Verzeihung üben, ihr Leid ertragen und in Frieden verharren. Schließlich erhält sogar der Tod noch den Brudernamen. Und das letzte Wort ist wieder Lob, Preis und Dank „in großer Demut“.

Franziskus pries Gott also hauptsächlich durch die Energien, die diese Welt erfüllen: die Sonne, das Feuer, das Wasser, den Wind und die Erde. Auch die Liebe und die Leidensfähigkeit der Menschen sind Kräfte, die uns am Leben erhalten. Er lobte damit Gott als das Licht und den Ursprung des Lebens, und seinen Geist als die Quelle des Heils. Sogar den Tod konnte er begrüßen, weil er den Menschen und alle Lebewesen zu ihrem Schöpfer zurückführt. Dass er sich dichterisch ausdrückte, lag an seinem beschwingten Wesen. Er nannte sich einen „Spielmann Gottes“, weil die Worte und Melodien ihm eingegeben wurden.

Und so geht es vielen Menschen, die vom Glauben und von Gott erfüllt sind: Sie singen und dichten und rühmen Gott. Sie sind voller Freude und Fröhlichkeit und wollen die Botschaft, die sie erfüllt, in die Welt tragen. Dabei ist der Sonnengesang des Franz von Assisi mehrere Male eine Vorlage gewesen. Der alte italienische Text wurde übersetzt oder in anderen Sprachen nachgedichtet, damit man ihn leichter singen konnte. William Henry Draper war einer von denen, die das taten. Er lebte von 1855 bis 1933 in England und war ein Pfarrer und Liederdichter. 1926 schrieb er das Lied „All Creatures of our God and King“, das in vielen Kirchen in England bis heute gerne gesungen wird. Es ist sein berühmtestes Lied und eine gelungene Übertragung des Sonnengesangs.

Drei Jahre später übersetzte der Theologieprofessor Karl Budde, der in Straßburg und Marburg lehrte, dieses Lied dann ins Deutsche. Sein Hauptfach war zwar das Alte Testament, aber er hatte immer ein großes Interesse am Kirchenlied und am Gesangbuch. In verschiedener Hinsicht wirkte er daran mit. Auch Liedübersetzungen gehörten zu seinem Handwerk, und so entstand der Choral „Gottes Geschöpfe, kommt zuhauf!“. Seit 1995 steht es in unserem evangelischen Gesangbuch. Sowohl in Englisch als auch in Deutsch wird es nach einer Melodie aus dem 17. Jahrhundert gesungen.

Wie schon der Sonnengesang handelt es von der wahren Wirklichkeit der Schöpfung: Sie ist ein Gleichnis für die Größe und Liebe Gottes. Alles bildet ihn ab. Dabei liegt es diesem Lied fern, sich die anderen Lebewesen Untertan zu machen und über sie zu herrschen. Es geht vielmehr um eine Verbrüderung mit allem, was lebt und uns Leben gibt.

Es ist deshalb sinnvoll, den Sonnengesang oder auch dieses Lied mehrmals vor sich hin zu lesen, ihn zu meditieren. Wir spüren dann, dass sich hinter allem Geschaffenen ein himmlisches Wohlwollen verbirgt, in das wir eintauchen können. Wir werden vorsichtiger und zärtlicher gegenüber allen Lebewesen, offener und rücksichtsvoller. Und das ist dringend nötig, damit die Natur erhalten bleibt und nicht alles zerstört wird.

Zum Glück ist das schon vor langem ein wichtiges Thema in der Christenheit geworden. Wir überlassen die „Bewahrung der Schöpfung“ nicht mehr nur Politikern, Naturschützerinnen oder den Jugendlichen von „Fridays für Future“. Auch die Kirchen denken, dass sie hier einen Auftrag haben.

Doch was bedeutet das? Und ist das so einfach? Wenn wir als Christen und Christinnen zum Umweltschutz aufrufen, entstehen doch viele Fragen: Ist das nicht viel zu moralisch und ideologisch gedacht? Und wo führt es uns hin? Vielen Umweltaktivistinnen wird ja vorgeworfen, dass sie ihre Ziele am liebsten mit Macht durchsetzen würden. Sie sind dogmatisch und manchmal sogar militant. Wenn sie konsequent wären, müssten sie unsre Grundrechte genauso einschränken, wie es durch die Pandemie geschehen ist: Alles, was die Umwelt zerstört, müsste verboten werden. Ein christlicher Ansatz ist das aber nicht. Wir versuchen es sanfter und friedlicher. Doch führt uns das wirklich zu dem gewünschten Erfolg? Ist unser Einsatz nicht eher aussichtslos?

Das sind die Fragen, die wir bei diesem Thema haben. Und darauf kann uns der Sonnengesang ein paar wunderbare Antworten geben.

Zunächst einmal ist es wichtig, dass Franziskus hier seine Freude an der Schöpfung zum Ausdruck bringt. Er ist ganz und gar positiv gestimmt, heiter und beschwingt, und dazu lädt er auch uns ein. Der Ausgangspunkt unsres Denkens und Handelns sollte immer diese Freude sein. Es gilt, auf das Schöne zu blicken, und nicht auf die Zerstörung. Nicht wütend, sondern frohgemut zu sein, nicht kämpferisch, sondern begeistert und von Liebe erfüllt.

Doch wie kann das nun gelingen? Das können wir uns ja nicht einfach so vornehmen, es geht nicht auf Befehl und ist keine Sache der Willensentscheidung. Wenn wir traurig sind, können wir nicht plötzlich auf Freude umschwenken, wenn wir uns ärgern, können wir nicht schnell mal eben friedlich werden.

Deshalb ist es wichtig, dass wir zunächst gar nicht an uns selber denken, sondern genauso wie Franziskus Gott an erste Stelle setzen. Nicht umsonst beginnt er seinen Gesang mit dem Lob Gottes. Er sagt am Anfang: „Höchster, allmächtiger, guter Herr, dein sind das Lob, die Herrlichkeit und Ehre und jeglicher Segen. Dir allein, Höchster, gebühren sie, und kein Mensch ist würdig, dich zu nennen.“ In unserem Lied ist daraus der Refrain geworden: „Halleluja, singt ihm Ehre“.

Franziskus wusste immer, dass er selber nur ein Geschöpf ist. In den Strophen fünf und sechs seines Liedes kommt das ganz deutlich zum Ausdruck. Da spricht er nämlich Dinge an, die für unser Empfinden gar nicht so gut in ein Lob auf die Schöpfung passen. Denn es geht darin um Liebe und Geduld und sogar um das Sterben. Karl Budde hat sie folgendermaßen übersetzt: „Ihr Herzen, drin die Liebe wohnt, die ihr den Feind verzeihend schont, ihr, die ihr traget schweres Leid, es Gott zu opfern still bereit, singt ihm Ehre!“ Und weiter heißt es:  „Du, der empfängt in letzter Not, den Odem mein, o Bruder Tod: Führ Gottes Kinder himmelan, den Weg, den Jesus ging voran.“ Hier wird deutlich, dass es Franziskus nicht um Schwärmerei für die Natur ging und auch nicht um ein Programm, sie zu bewahren. Er lädt vielmehr zur Leidensfähigkeit und zur Demut ein. Das war sein Weg, und er folgte damit Jesus Christus nach. In unserem Lied wird das aufgenommen, und Karl Budde richtet sich damit nach der englischen Vorlage. Franziskus hat Christus im Sonnengesang nicht erwähnt, aber natürlich dachte er an ihn. Er war ihm selber auch schon längst ähnlich geworden, hatte sich ganz hingegeben und in „seinen heiligsten Willen gefügt“. So drückt er es aus.

Und das ist der letzte Schritt, der uns helfen kann, den richtigen Weg zu gehen. Die meisten Probleme, die wir mit der Umwelt haben, gründen ja darin, dass wir uns nicht einfügen, nicht „geduldig“, „leidensfähig“ und „demütig“ sind. Stattdessen wollen wir immer irgendetwas. Wir beuten die Natur aus, weil es uns um unseren Wohlstand und unser Vergnügen geht, um Mobilität und Bequemlichkeit. Wir verdrängen den Tod und wollen alles aus dem Leben herauspressen, was es uns bieten kann. Und obwohl wir längst wissen, wie schädlich dieses Verhalten ist, kommen wir da nur schwer heraus.

Doch es gibt einen Weg, den wir einschlagen können: Wir müssen uns nur Jesus Christus anvertrauen. Er kann uns helfen, das zu ändern, indem er uns seine Kraft und Liebe schenkt. Er öffnet uns eine andere, ewige Wirklichkeit. Und wenn die uns erfüllt, werden wir ganz von alleine genügsam, friedlich und ruhig. Im Glauben an Jesus Christus und in der Nachfolge verliert die Vergänglichkeit ihre Schrecken und der Tod hat keine Macht mehr über uns. Wir müssen ihm nicht ausweichen, sondern können ihm gelassen entgegengehen. Und dadurch verschwinden Angst und Wut, genauso wie das Gefühl der Aussichtslosigkeit und Resignation. Die Rücksicht gegenüber allen Lebewesen kommt ganz von selber. Sie entsteht nicht im Kopf, sondern in unseren Herzen. Der Verzicht auf das eine oder andere, das der Umwelt schaden würde, fällt nicht schwer, weil wir von etwas anderem erfüllt sind, als dem Wunsch nach einer schnellen Befriedigung. Unsere Bedürfnisse nach Luxus und Abwechslung verschwinden, es muss nicht alles immer besser und weiter und interessanter werden. Wir wissen: Wir sind selber Geschöpfe in Gottes Hand. Und das führt uns in die Ruhe des Geistes. Aus ihr heraus handeln und leben wir, bleiben heiter und fröhlich. Christus schenkt uns diesen inneren Frieden. Er ist die Frucht eines starken Glaubens und Vertrauens.

Franziskus hat das in einer Weise und Intensität gelebt, wie vielleicht kein Christ und keine Christin vor oder nach ihm. Er erriet die Geheimnisse der Schöpfung, und er dachte an eine Heiligung aller Lebewesen. Er stellte sich eine Wiederkehr des Paradieses vor und verhielt sich entsprechend. Aus der Einfalt des Glaubens an Christus heraus verbrüderte er sich auf eine einzigartige Weise mit der Umwelt. Er lebte schon halb im Himmel, und hat ihn deshalb allen, die er traf, geschenkt.

So lasst auch uns danach streben, „Gott allein die Ehre geben“ und zärtlich und rücksichtsvoll gegenüber allem sein, was um uns herum lebt und sich bewegt.

Amen.

verwendete Literatur:
– Der Mann aus Assisi, Franziskus und seine Welt, Text Walter Nigg, Bilder Toni Schneider, Freiburg, Basel, Wien 1975, S. 28ff

Wolfgang Herbst (Hrg.), Wer ist wer im Gesangbuch, Göttingen 2001, S. 56 und 77