Befreit zum Widerstehen

Predigt über Johannes 14, 27- 31a: Der Friede Christi

Bitte um Frieden und um Schutz des Lebens, 16.11.2014
9.30 und 11.00 Uhr, Luther- und Jakobikirche Kiel

Der Predigt liegen Anregungen  aus dem Material des Gesprächsforums Ökumenische FriedensDekade für 2014 zu Grunde. Die Zitate sind dem Arbeitsheft entnommen. 

Johannes 14, 27- 31a

27 Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt. Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht.
28 Ihr habt gehört, dass ich euch gesagt habe: Ich gehe hin und komme wieder zu euch. Hättet ihr mich lieb, so würdet ihr euch freuen, dass ich zum Vater gehe; denn der Vater ist größer als ich.
29 Und jetzt habe ich’s euch gesagt, ehe es geschieht, damit ihr glaubt,
wenn es nun geschehen wird.
30 Ich werde nicht mehr viel mit euch reden, denn es kommt der Fürst dieser Welt. Er hat keine Macht über mich;
31 aber die Welt soll erkennen, dass ich den Vater liebe und tue, wie mir der Vater geboten hat.

Liebe Gemeinde.
Vor ungefähr dreißig Jahren wurde in den Niederlanden die Idee einer „FriedensDekade“ geboren. Das ist ein 10-tägiger Aktionszeitraum, der das Engagement der Kirchenmitglieder für Friedensfragen stärken soll. Im damals geteilten Deutschland wurde die Idee 1980 aufgenommen, und zwar hauptsächlich in der DDR. Dort versammelten sich in den Kirchengemeinden innerhalb dieser 10 Tage zunächst die Jugendlichen zu täglichen Friedensgebeten. In der Bundesrepublik war es vor allem die Friedensbewegung, die vor Ort jährliche Friedenswochen durchführte.
Sie beginnen jeweils am drittletzten Sonntag des Kirchenjahres und dauern bis zum Buß- und Bettag. Wir sind da also gerade mitten drin. Deshalb laden die Luther- und Jakobigemeinde auch noch bis Mittwoch jeden Abend um 19 Uhr zu einem Friedensgebet ein.
Seit 1952 gibt es bereits den Volkstrauertag, an dem auch in den Kirchen an die Kriegstoten und Opfer der Gewaltherrschaft aller Nationen gedacht wird. Der ist heute.
Wir greifen damit ein Thema auf, dass wesentlich zu unserem Glauben dazu gehört: Das Wort „Frieden“ finden wir im Neuen Testament 46 mal, und zwar in allen Schriften, den Evangelien, der Apostelgeschichte, den Briefen und der Offenbarung des Johannes. Es ist ein zentrales Heilswort. So gehörte der Zuspruch des Friedens fest zum gottesdienstlichen Segen, in ihm ist Gott und Jesus Christus wirksam gegenwärtig. Auch Jesus entließ Menschen, die er geheilt hatte, mit dem Friedenswunsch. Er ist eine elementare Wirkung des Heiligen Geistes. Am Ende seiner Wirksamkeit gab Jesus ihn seinen Jüngern sozusagen als Abschiedsgeschenk. Wir haben vorhin gehört, wie er zu ihnen sagte: „Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt. Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht.“ (Johannes 14, 27)
Der Abschnitt aus dem Johannesevangelium, der damit beginnt, ist der Predigttext von heute und ein Teil der sogenannten „Abschiedsreden“. Jesus spricht hier mit seinen Jüngern und kündigt seinen Weggang an: Sie werden bald allein sein und das wird für sie nicht leicht. Jesus wusste das. Sie hatten mit ihm endlich erlebt, wie es ist, wenn Gott ganz nah ist. Jesus hatte ihnen Liebe und Barmherzigkeit gebracht. Er hat Menschen geheilt und viel Leid abgewendet. Sie hatten geglaubt, dass durch ihn nun endlich eine bessere Zeit anbrechen würde. Doch jetzt wird er sie bald wieder verlassen, und davor hatten sie Angst.
Darauf geht Jesus hier ein und er möchte, dass sie ihre Furcht vor seinem Abschied überwinden. Deshalb lässt er ihnen „seinen Frieden“ zurück, und das ist mehr als nur ein Trostwort. Er meint damit die vollendete Gemeinschaft mit Gott, in die er eingehen wird, und an der auch sie teilhaben werden.
Damit sie das verstehen, erklärt er ihnen noch einmal seinen Weg: Er weiß, dass er gefangen und gekreuzigt wird, und es wird so aussehen, als würden seine Feinde über ihn siegen. Aber das ist nur äußerlich, in Wirklichkeit haben sie keine Macht über ihn. Sie können gegen Gottes Plan nichts ausrichten, denn alles was geschieht, entspricht der Sendung Jesu und dem Willen Gottes. Jesus wird sich selber hingeben, und dadurch wird die Liebe Gottes zur Welt zu ihrem Sieg kommen. Er wird eins sein mit dem Vater, und darüber sollten sich die Jünger sogar freuen. Denn er wird die Nähe zu Gott vollenden und auch die Jünger dahinein holen. Und das wird mehr sein, als die irdische Gemeinschaft, die sie jetzt mit ihm haben, denn sie wird bleiben. Sein Friede wird größer und dauerhafter sein als die Gaben der Welt.
Und das ist auch für uns eine gute Botschaft, denn es geht uns oft ähnlich, wie den Jüngern: Wir haben Angst und sind verzagt. Wenn wir in die Welt und in die Geschichte gucken, dann hat sich seit dem Erscheinen Jesu eigentlich nichts geändert. Die Menschheit scheint verloren zu sein: Kriege werden geführt, die Umwelt wird zerstört, Menschen werden ausgebeutet und unterdrückt. Gewalt und Unrecht haben noch lange kein Ende gefunden.
Zurzeit erschrecken uns die Geschehnisse in Syrien und im Nordirak am meisten. Dort versuchen Terroristen den sogenannten „Islamischen Staat“ zu errichten, und sie scheuen dabei vor keiner Gräueltat zurück. Sie führen Krieg und vernichten nicht nur die vorhandenen sozialen Ordnungen, sondern ganze Städte und vor allem Menschen. Ohne jegliches Mitgefühl werden Andersdenkende verfolgt, gefoltert und hingerichtet. Wir kennen die Nachrichten und die Bilder und sind entsetzt. Man hält das kaum aus und fragt sich, wie so etwas möglich sein kann.
Unsere kirchliche Friedensarbeit scheint dagegen irgendwie lächerlich zu sein. Was sollen unsere Gebete, unser Nachdenken und unsere Ermahnungen? Sie verhallen doch im Winde, kommen nie bei den Kriegführenden an und wirken total sinnlos.
„Die weißen Tauben sind müde“, könnte man sagen. So hat es der Sänger Hans Hartz vor vielen Jahren gesungen. Wehmütig beklagte er die Schwäche derjenigen, die für den Frieden einstehen gegenüber der Gewalt. „Die weißen Tauben sind müde, sie fliegen lange schon nicht mehr. Sie haben viel zu schwere Flügel; und ihre Schnäbel sind längst leer, jedoch die Falken fliegen weiter, sie sind so stark wie nie vorher; und ihre Flügel werden breiter, und täglich kommen immer mehr, nur weiße Tauben fliegen nicht mehr.“ So lautet sein Lied.
Auf dem Bild zur diesjährigen Friedensdekade wurde
dieser Gegensatz dargefriedensdekade_2014stellt. Man sieht darauf eine weiße Taube, wie sie gegen acht schwarze Falken anfliegt. Doch von Ermattung und Schwere ist da nichts zu sehen, und das ist bewusst so gestaltet. Das Bild enthält eine Botschaft, die Mut machen soll. Oberkirchenrat Dr. Roger Mielke, EKD-Referent für Fragen der öffentlichen Verantwortung der Kirche und Mitglied im Gesprächsforum Ökumenische FriedensDekade hat das Bild sehr schön beschrieben und gedeutet:
Er macht darauf aufmerksam, dass die Taube eben nicht müde wirkt, sondern genau das Gegenteil ist der Fall: Sie steigt auf und strebt gen Himmel. Eigentlich müsste sie Angst haben, denn die Falken stürzen im Formationsflug schräg nach unten auf ihre Beute. Doch sie lässt sich nicht aufhalten oder erschrecken, obwohl sie allein ist. Sie bestimmt vielmehr den Vordergrund und hält mit einer tänzelnden, anmutigen, fast zärtlichen Bewegung nach oben stand. Sie widersteht dem Angriff und irritiert damit die Angreifer. Das Geheimnis ihres Widerstandes ist ihre Leichtigkeit, die sie nicht verleugnet. Die Schwere der Gewalt übernimmt sie nicht.
Die Botschaft des Plakats lautet also: Wir sind „zum Widerstehen befreit“ wie diese Taube. Das ist auch das Motto der diesjährigen Friedensdekade. Lassen Sie uns deshalb fragen, wie wir diese Freiheit und Leichtigkeit gewinnen können. Drei Schritte sind mir dazu eingefallen.
Zunächst einmal ist es wichtig, dass der Friede, den diese Taube verkörpert, etwas Inneres ist. Die kirchliche Friedensarbeit ist in erster Linie nicht eine politische, sondern eine geistliche Bewegung. Es geht um die Gabe des „Friedens Christi“, der in den Herzen der Menschen wirksam ist. Wir müssen deshalb zunächst einmal in uns gehen und uns fragen, wie es um uns selbst bestellt ist. Keiner und keine von uns ist durch und durch friedlich gesonnen. Wir wünschen uns das vielleicht und wären gerne so, aber es ist nicht die Realität. Es gibt immer Menschen oder Ereignisse, die uns aufregen, weil sie uns das Leben schwer machen. Oft führen wir so unsere ganz persönlichen Kleinkriege, ziehen gegen irgendjemanden oder irgendetwas zu Felde und wenden dabei auch Gewalt an.
In der Familie ist das z.B. leider leicht der Fall. Da kann es der Ehepartner oder die Ehepartnerin sein, die uns nicht passt. Auch Kinder und Eltern haben es häufig nicht leicht miteinander. Sie enttäuschen und verletzen sich gegenseitig und bestrafen sich deshalb. Missachtung ist dafür eine gute Möglichkeit, Beleidigungen, Ungeduld und Nörgelei. Wir wollen uns auf jeden Fall durchsetzen. Dieses Bedürfnis gehört zu unseren Urtrieben. Wir wenden zwar am ehesten seelische Gewalt an, um an unser Ziel zu gelangen, und das auch oft unbewusst, aber es ist ein Teil unsrer menschlichen Natur.
Das müssen wir uns eingestehen und anschauen. Der Blick nach innen kann also mit der Frage einhergehen: Wer sind jetzt gerade meine persönlichen Feinde, und wie gehe ich mit ihnen um? Sicher haben wir darauf alle eine Antwort.
Möglicherweise schämen wir uns, wenn uns bewusst wird, wie unfriedlich wir sind, und damit sind wir beim zweiten Schritt. Er besteht darin, dass wir unsere Natur annehmen und erkennen: allein können wir sie nicht überwinden. Es ist sinnlos, gegen uns selber anzukämpfen und alle Aggressionen zu unterdrücken. Wir müssen einen anderen Weg beschreiten. Er besteht darin, dass wir uns selber und die anderen ertragen und die Lösung dieses Problems nicht mehr von uns, sondern von Gott erwarten.
Er will uns helfen, und zwar durch seinen Sohn Jesus Christus. Er wusste, dass wir verloren sind, deshalb hat er ihn geschickt. Und Jesus hat uns „seinen Frieden“ gegeben. Wir erkennen und empfangen ihn, wenn wir uns den Weg Jesu vor Augen halten: Jesus war grausamer menschlicher Gewalt ausgesetzt. Seine Feinde führten gegen ihn einen brutalen und ungerechten Krieg. Äußerlich haben sie ihn gewonnen: Sie haben ihn gekreuzigt. Doch damit haben sie nur einen Scheinsieg davongetragen, denn wovon Christus erfüllt war, das ließ sich nicht zerstören. Seine Gemeinschaft mit dem Vater war stärker als alle menschliche Macht, und sie hat sich durch seinen Tod sogar vollendet. Das gilt es, sich vor Augen zu halten. Dann werden wir von seinem Frieden angesteckt. Wir werden in die Gemeinschaft mit ihm aufgenommen und empfangen seinen Geist.
Und das verändert uns. Der dritte Schritt besteht darin, dass der Ärger von uns abfällt. Wir sind nicht mehr wütend und müssen niemanden bestrafen. Es wird friedlich in uns und um uns herum. Wir fühlen uns so leicht und schwerelos wie die Taube auf dem Plakat.
Und dadurch haben wir plötzlich auch wieder Hoffnung für die Welt. Wir sind „befreit zum Widerstehen“ und können uns mit neuer Kraft und neuem Mut für den Frieden engagieren. Denn wir sind von etwas anderem gesteuert als den Bildern des Krieges. Unser Denken ist nicht von Entsetzen und Verzagtheit bestimmt, sondern von der Kraft des Geistes Christi, von seinem Frieden. Er ist eine Frucht der inneren Freiheit.
Wo wir die ausleben, verändern sich demnach auch die Verhältnisse. Wir unterwerfen uns der sanften Macht des Heiligen Geistes, und die ist stärker ist als Menschenmacht. Sie ist nicht von dieser Welt, aber sie durchdringt diese Welt, und dagegen kann niemand etwas ausrichten. Denn die Liebe Gottes zur Welt hat längst gesiegt, und sie ist größer und stärker als alle irdischen Gaben. Die Hoffnung, dass Gewalt und Unrecht überwunden werden, bleibt deshalb lebendig. Dieser Wind der Hoffnung ist es, der unter die Flügel der Taube greift und sie zum Himmel erhebt. Diese Kraft „befreit zum Widerstehen“ und sie wird sich gerade wegen ihrer Verletzlichkeit und Schwäche am Ende als stärker erweisen.
Das hat Christus uns verheißen und das ist der Inhalt der Friedensdekade. Es ist also in keiner Weise sinnlos, sie zu begehen. Die Andachten und Gebete sind vielmehr eine wunderbare Mitmach-Gelegenheit um sich gegen den Krieg zu versammeln. Wir können damit ein Zeichen des Widerstandes setzen und den Frieden in unserer Gesellschaft und in der Welt stärken. Dabei ist es gut zu wissen, dass wir bundesweit mit vielen anderen Christen vereint sind. Alle tun das Gleiche, und das ist bereits ein Teilsieg über Krieg und Unheil.
Er ereignet sich zum Glück auch nicht nur einmal im Jahr während der Friedensdekade, sondern täglich, stündlich oder sogar in jedem Augenblick. Denn irgendwo auf der Welt sind mit Sicherheit immer Christen dabei, für den Frieden einzustehen und dafür zu beten. Ihre Hoffnung und ihr Vertrauen umschließen den Erdball. Wir können dazu gehören, wenn wir hören und ernst nehmen, was Jesus gesagt hat, als er sich von seinen Jüngern verabschiedete:
„Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt. Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht.“
Amen.

Vorbereitung auf das zukünftige Heil

Predigt über 1. Thessalonicher 5, 1- 11:
Leben im Licht des kommenden Tages

Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres, 9.11.2014, 9.30 Uhr
Lutherkirche Kiel

1.Thessalonicher 5,1-11

1 Von den Zeiten und Stunden aber, liebe Brüder, ist es nicht nötig, euch zu schreiben;
2 denn ihr selbst wisst genau, dass der Tag des Herrn kommen wird wie ein Dieb in der Nacht.
3 Wenn sie sagen werden: Es ist Friede, es hat keine Gefahr –, dann wird sie das Verderben schnell überfallen wie die Wehen eine schwangere Frau und sie werden nicht entfliehen.
4 Ihr aber, liebe Brüder, seid nicht in der Finsternis, dass der Tag wie ein Dieb über euch komme.
5 Denn ihr alle seid Kinder des Lichtes und Kinder des Tages. Wir sind nicht von der Nacht noch von der Finsternis.
6 So lasst uns nun nicht schlafen wie die andern, sondern lasst uns wachen und nüchtern sein.
7 Denn die schlafen, die schlafen des Nachts, und die betrunken sind, die sind des Nachts betrunken.
8 Wir aber, die wir Kinder des Tages sind, wollen nüchtern sein, angetan mit dem Panzer des Glaubens und der Liebe und mit dem Helm der Hoffnung auf das Heil.
9 Denn Gott hat uns nicht bestimmt zum Zorn, sondern dazu, das Heil zu erlangen durch unsern Herrn Jesus Christus,
10 der für uns gestorben ist, damit, ob wir wachen oder schlafen, wir zugleich mit ihm leben.
11 Darum ermahnt euch untereinander und einer erbaue den andern, wie ihr auch tut.

Liebe Gemeinde.
Bald fangen die Weihnachtsvorbereitungen an. Oder sind Sie schon dabei? Das ist sicher davon abhängig, wie wichtig Ihnen das Fest ist, wie groß Sie es feiern und wie viel es zu tun gibt. Bei allen Anlässen bestimmen der Aufwand und die Größe den Zeitpunkt, an dem wir beginnen, uns darüber Gedanken zu machen. So werden etwa Hochzeiten oft schon ein Jahr vorher geplant.
Und das ist auch bei anderen Ereignissen notwendig, bei Prüfungen z.B., Wettkämpfen oder Konzerten. Im Theologiestudium halten wir uns normalerweise die letzten beiden Semester komplett frei, um nur noch zu lernen. Und wer einen Wettkampf gewinnen will, trainiert täglich und macht sich fit. In der Musik muss ebenfalls viel geübt werden, damit etwas dabei heraus kommt.
So ist unser Leben in vielen Bereichen von vorne her bestimmt, von unseren Plänen, Wünschen und Zielen. Wir beabsichtigen etwas und darauf leben wir hin. Wir bereiten uns vor.
Das Neue Testament ist von diesem Lebensgefühl ebenfalls durchzogen. Die Menschen hatten ein Ziel vor Augen, sie lebten von der Zukunft her. Dort geht es allerdings nicht um etwas Innerweltliches, wie ein Fest oder eine Prüfung, sie erwarteten vielmehr den „Tag des Herrn“. Dieses Stichwort fällt in dem Abschnitt aus dem ersten Thessalonicherbrief, den wir vorhin gehört haben. Er trägt in der Lutherbibel die Überschrift: „Leben im Licht des Kommenden Tages“. Paulus meint damit den Tag, an dem Christus wiederkommt, um die Welt zu richten und zu vollenden. Er glaubte, dass er ihn noch erleben würde und damit den Anbruch des Reiches Gottes. Die alte Welt, wie wir sie kennen, vergeht, und eine neue Welt fängt an. Das hatte er gepredigt und daran erinnert er die Thessalonicher hier. Sie sollten ihre Erwartung nicht vergessen, sie sollten nicht müde werden, sondern entsprechend dieser großartigen Zukunft leben. Paulus entfaltet deshalb, was das bedeutet. Er will sie stärken, ihnen helfen, ihnen Weisung und Rat geben.
Denn das Problem ist natürlich, dass er den genauen Anbruch des Tages des Herrn nicht berechnen kann. Er kommt „wie ein Dieb in der Nacht“. „Zeiten und Stunden“ lassen sich nicht exakt voraussagen. Das Wann ist unsicher, deshalb ist eine stete Bereitschaft notwendig. Paulus wendet sich damit gegen eine gewisse Unbekümmertheit, die sich offensichtlich in der Gemeinde in Thessalonich verbreitet hatte. Die Menschen hatten an der nahen Erwartung des Endes wohl ihre Zweifel bekommen.
Um sie wach zu rütteln, bringt Paulus das Bild von der Finsternis und dem Licht ein. Mit der Finsternis meint er die jetzige Welt. Wer nur in ihr aufgeht, ist wie ein Schlafender oder sogar Trunkener. Beides geschieht vorzugsweise in der Nacht, wenn es dunkel ist. Am Tag dagegen, wenn es hell ist und Licht scheint, wachen wir und sind nüchtern. Und diese Verhaltensweise soll für die Christen maßgeblich sein. Das Licht symbolisiert ein Leben mit Christus, das von seiner Wiederkunft her bestimmt ist. Dazu gehören die volle Einsatzbereitschaft und ein klarer Kopf.
Und dann wird Paulus noch konkreter. Er nennt als unverzichtbare Tugenden für diese Lebensführung den Glauben, die Liebe und die Hoffnung. Er sagt: „Wir aber, die wir Kinder des Tages sind, wollen nüchtern sein, angetan mit dem Panzer des Glaubens und der Liebe und mit dem Helm der Hoffnung auf das Heil.“
Paulus‘ Botschaft ist also die, dass die Lebensgemeinschaft mit Christus schon jetzt in dieser Welt beginnt und bei seinem Erscheinen ihre Vollendung findet. Darauf sollen die Christen hinleben. Sie sollen sich von der himmlischen Zukunft her bestimmen lassen, von der Ewigkeit und dem Fest, das Gott mit ihnen feiern will. Deshalb sollen sie jetzt schon üben und trainieren, sich gegenseitig helfen und fördern. Sie sollen sich vorbereiten und hier schon erlernen, was sie dereinst sein werden. „Darum ermahnt euch untereinander und einer erbaue den andern, wie ihr auch tut.“ Das sagt Paulus zum Schluss.
Und das gilt auch für uns. Der heilige Augustinus hat das einmal sinnbildlich sehr schön formuliert. Er sagte: „Oh Mensch lerne tanzen, sonst wissen die Engel im Himmel mit dir nichts anzufangen.“ Und das wäre doch schade. Es ist durchaus gut und heilsam, sich hier schon auf die Ewigkeit vorzubereiten. Die Ermahnungen des Apostels sind immer noch aktuell und stellen unser normales Lebensgefühl in Frage. Auch wir sollen darüber nachdenken, wie wir leben, was uns bestimmt und motiviert. Die Ewigkeit ist es normalerweise ja nicht. Die beziehen wir nur selten in unsere Lebensführung ein. Sie ist uns zu weit weg und auch zu unrealistisch. Wissen wir denn überhaupt, ob es sie gibt? Wir sind lieber auf diese Welt ausgerichtet, die wir vor Augen haben und kennen, verstehen und gestalten können. Wir wollen hier etwas erreichen, Erfolge sehen, Feste feiern und uns selber verwirklichen. Das ist unser Lebenskonzept.
Aber reicht das eigentlich, um ein volles, gesundes und glückliches Leben zu haben? Gelingt uns alles, was wir uns vornehmen? Erreichen wir unsere Ziele und werden wir dabei zufrieden? Das müssen wir uns fragen, und dabei kommen uns möglicher Weise schon die ersten Zweifel. Wir merken, ein rein innerweltliches Leben ist genauso fragwürdig, wie eine Ausrichtung auf das kommende Reich Gottes. Wir verpassen etwas, wenn wir das ausklammern. Lassen Sie uns einmal genau hinschauen, was bei unserer Lebensführung herauskommt. Glaube, Hoffnung und Liebe geraten nämlich in den Hintergrund, und andere Lebenskräfte treiben uns an. Beim Nachdenken darüber ist mir eingefallen, was in etwa das Gegenteil darstellt. Das sind die Leistung, unser Willen und unser Selbstvertrauen. Es ist zwar nicht schlecht und in Maßen sogar notwendig, wenn uns diese Impulse motivieren, aber sie haben auch ganz erhebliche Schattenseiten.
Das erste Beispiel ist unsere Leistung. Durch sie sind wir ständig unter Druck. Wir müssen uns anstrengen und mithalten, und dabei kann sich Erschöpfung einstellen, Müdigkeit und somit auch Erfolglosigkeit. Angst und Sorge sind unsere ständigen Begleiter, und das Scheitern ist nie weit entfernt. Wir können in einen Abgrund fallen und uns schwer verletzen.
Das Zweite, was ich genannt habe, der Wille, ist als Lebensmotor ebenso fragwürdig, denn er macht uns verspannt und verschlossen. Wir verlieren unsere innere Beweglichkeit, wenn immer geschehen soll, was wir wollen. Gefühle werden unterdrückt, und wir werden einseitig. Wir verfolgen eine bestimmte Linie, klammern andere Möglichkeiten aus und merken gar nicht, wie leicht wir dadurch in eine Sackgasse geraten können. Plötzlich stehen wir vor einer Mauer und nichts geht mehr. Unsere Perspektiven verdunkeln sich, und wir sind der Verzweiflung nahe.
Und die dritte Triebfeder, das Selbstvertrauen, ist zwar wichtig und nötig, aber es kann genauso vom Leben wegführen, wie Leistung und Wille. Denn damit geht oft eine gewisse Selbstherrlichkeit einher, Egoismus und eine gefährliche Sicherheit. Es kann uns rücksichtslos gegenüber unseren Mitmenschen machen. Wir verlieren das Interesse an ihrem Wohlergehen und werden stattdessen gewaltsam. Unterdrückung und Krieg sind die Folgen, wenn es ganz schlimm kommt, Mord und Totschlag.
Der neunte November liefert uns dafür ein Beispiel. Er ist in unserem Land ja sehr geschichtsträchtig, und zwar in guter wie in verheerender Weise. Besonders gravierend war der Beginn der Novemberpogrome 1938. Heute vor 76 Jahren brannten in Deutschland alle Synagogen. Das selbstherrliche Regime der Nazis führte zu einer beispiellosen Verfolgung und Vernichtung der Juden. Krieg und Zerstörung ließen nicht lange auf sich warten.
Es ist demnach gut und wichtig, dass wir nach anderen Handlungsanleitungen fragen, und genau davon redet Paulus in unserem Briefabschnitt. Er lädt dazu ein, unseren Geist dafür zu öffnen, dass es nicht nur diese Welt gibt, sondern noch eine ganz andere Realität. Christus hat sie heraufgeführt, sein Reich ist bereits angebrochen, und es lohnt sich, mit ihm Gemeinschaft zu haben. Dann bestimmen nicht mehr die Leistung, der Wille und das Selbstvertrauen unser Lebensgefühl, sondern Glaube, Hoffnung und Liebe. Und das hat eine ganz große Verheißung.
Lassen Sie uns also fragen, wo diese Tugenden uns hinführen. Paulus verbindet sie bewusst mit zwei Teilen aus der Rüstung eines Soldaten, dem Helm und dem Schild. Sie können uns also beschirmen, wir sind vor Abgründen und Verzweiflung, vor Krieg und Gewalt geschützt. Das wird deutlich, wenn wir uns klar machen, was es heißt, zu glauben, zu hoffen und zu lieben.
Nehmen wir als erstes den Glauben. Er führt uns dahin, dass wir nicht nur auf unsere Leistungskraft angewiesen sind, sondern auf Gott vertrauen. Nötig ist dafür lediglich die Nüchternheit, die Paulus ja auch nennt. Wir müssen ehrlich sein und uns eingestehen, dass wir nicht alles können und erreichen. Wir sind unvollkommen und unzulänglich. Aber das dürfen wir auch sein, denn Gott nimmt uns so an, wie wir sind. Wir müssen nicht immer gut und erfolgreich sein, sondern dürfen auch scheitern. Im Glauben wissen wir uns von Gott gehalten und geführt, ganz gleich, was geschieht. Er macht uns frei, der Druck verschwindet, wir können aufatmen und müssen keine Angst mehr haben. Die ständige Sorge, ob wir auch bestehen, löst sich in Luft auf, weil wir bei Gott geborgen sind. Das ist das erste.
Und so ähnlich ist es mit der Hoffnung. Auch sie schenkt uns ein ganz neues Lebensgefühl. Mit ihr sind wir zwar genauso auf ein Ziel ausgerichtet, wie durch unseren Willen, aber sie verengt nicht unseren Geist, sondern öffnet ihn. Wenn wir hoffen, ein Ziel zu erreichen, liegt es nicht in unserer Hand, sondern bei jemand anderem. Wir gehen davon aus, dass etwas bereits da und möglich ist, und wir nur darauf warten müssen. Dazu gehören zwar Beharrlichkeit und Geduld, aber keine Anspannung und kein Zwang. Dafür gibt es als Beispiel ein weiteres, positives Ereignis aus unserer Geschichte, das auch auf den 9. November fällt: der Fall der Berliner Mauer vor 25 Jahren. Ohne die Hoffnung der Menschen wäre das so nicht geschehen. Durch sie blieb es friedlich und das Gute hat gesiegt.
Und das dritte, die Liebe, ist vielleicht die stärkste Kraft, die sich aus der Gemeinschaft mit Christus ergibt. Sie wird uns von ihm geschenkt, denn Christus hat die vollkommene Liebe gelebt. Er hat sich nicht selbst verwirklicht, sondern sich hingegeben. Er war erfüllt von dem Wunsch und dem Auftrag, die Menschen zu retten, und das hat er auch getan. Er hat uns einen Weg gebahnt, der uns von uns selber frei machen und uns für die anderen öffnen kann. Wir müssen nur seine Liebe annehmen. Dann fällt der Wunsch, uns selber zu behaupten, von uns ab. Wer sich von Christus geliebt weiß, sucht keine Macht und wendet keine Gewalt an, denn die Kraft der Liebe ist stärker. Sie macht uns milde und rücksichtsvoll, aufmerksam und friedlich. Der andere Mensch rückt in unser Blickfeld, und es erwacht die Freude, ihm etwas Gutes zu tun.
All das ist mit dem „Tanz“ gemeint, den der heilige Augustinus uns ans Herz legt, den wir lernen und einüben sollen, damit „die Engel im Himmel etwas mit uns anfangen können.“ So sieht ein Leben aus, das von der Erwartung des kommenden Endes bestimmt ist. Die Ewigkeit leuchtet hinein und vertreibt die Finsternis.
Es lohnt sich also, wenn wir uns in Glaube, Hoffnung und Liebe üben und diese Tugenden trainieren. Dann sind wir gut vorbereitet auf das große und überwältigende Ereignis der Zukunft, den „Tag des Herrn“. Und der wird kommen. Denn selbst wenn das Ende der ganzen Welt vielleicht noch fern ist, unsere persönliche Zeit hier auf der Erde ist auf jeden Fall begrenzt. Wir gehen alle auf die Vollendung unseres Lebens zu. Deshalb ist es gut und ratsam, wenn wir rechtzeitig „lernen zu tanzen, damit die Engel im Himmel etwas mit uns anfangen können“.
Amen.