Wir sind Kinder Gottes

Predigt über Römer 8, 14- 17: Das Leben im Geist

14. Sonntag nach Trinitatis, 28.8.2016, 11 Uhr, Jakobikirche Kiel

Im Gottesdienst wurden Artur und Stefanie, ein zweijähriges Kind und seine Mutter getauft.

Römer 8, 14- 17

14 Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder.
15 Denn ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, dass ihr euch abermals fürchten müsstet; sondern ihr habt einen kindlichen Geist empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater!
16 Der Geist selbst gibt Zeugnis unserm Geist, dass wir Gottes Kinder sind.
17 Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi, wenn wir denn mit ihm leiden,
damit wir auch mit zur Herrlichkeit erhoben werden.

 

Liebe Gemeinde.
Ein Kind wird normalerweise von seinen Eltern angenommen und geliebt. Bei Artur ist das auf jeden Fall so, er ist ja auch ein Wunschkind und Sie freuen sich jeden Tag an ihm. Er ist das Wertvollste, was Sie haben, aber er muss das nicht beweisen. Sie haben ihn einfach sehr gern. Seine Daseinsberechtigung ist an keinerlei Bedingungen geknüpft, er muss nichts leisten, um von ihnen ins Herz geschlossen zu werden. Er muss noch nicht einmal besonders brav sein. Sie mögen auch seine Eigenwilligkeiten und wenn er sich mal durchsetzen möchte. Denn das zeigt, dass er gesund und munter ist und bereits jetzt eine kleine Persönlichkeit. Sie verbieten ihm nicht seine eigene Meinung, er soll sich Ihnen nicht völlig anpassen. Im Gegenteil, je selbständiger er sich verhält, umso mehr Freude bereitet er Ihnen.
So ist das mit Kindern immer, wenn das Verhältnis zu ihren Eltern ungestört und schön ist, wenn sie gewollt sind und in Frieden aufwachsen.
Das hatte auch schon Paulus vor Augen. Er benutzt die Kindschaft deshalb als ein Bild, mit dem er unser Verhältnis zu Gott beschreibt. Er sagt: „Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder.“
Mit diesem Vers beginnt unsere Epistel von heute. Sie ist ein Teil aus Römer acht, dem Kapitel, in dem Paulus das „Leben im Geist“, d.h. das Leben als Christ oder Christin beschreibt. Dabei greift er auf biblische und frühjüdische Überlieferungen zurück, und zwar denkt er an die Zusage für den Messias. Er wird „Sohn Gottes“ (2. Samuel 7, 1-14) genannt werden, d.h. Gott wird für ihn wie ein Vater sein. In Christus hat sich diese Zusage erfüllt, davon ist Paulus überzeugt. Und alle, die an ihn glauben, werden dadurch ebenfalls zu „Söhnen“, bzw. „Kindern Gottes“. Durch Tod und Auferstehung Christi hat Gott seinen Geist auf alle Christen ausgegossen. Jetzt können sie gemeinsam mit Jesus Christus Gott mit „Abba“ anreden, das heißt „lieber Vater“, oder sogar „Papa“. Jesus hat das als erster getan, so vertraut und persönlich war sein Verhältnis zu Gott. Wer an ihn glaubt, darf das ebenfalls, denn er hat Anteil an der Gottessohnschaft Jesu.
Und das heißt weiter, dass er frei ist. Er muss vor Gott keine Angst haben, wie etwa ein Sklave vor seinem Herrn. Paulus sagt das so: „Denn ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, dass ihr euch abermals fürchten müsstet; sondern ihr habt einen kindlichen Geist empfangen, durch den wir rufen: „Abba, lieber Vater!“
Uns wird hier also zugesagt, dass wir als Christen vom Geist Gottes erfüllt sind und das Erbe empfangen, das Gott den Vätern des alten Bundes versprochen hat. Allerdings heißt das nun nicht, dass wir frei von allem Leid sein werden. Es geht Paulus nicht um ein innerweltliches Heil oder ein materielles Erbe. Das wünschen wir uns zwar oft, aber so ist es leider nicht. Im Gegenteil, die „Miterben Christi“ werden auch „mit ihm leiden“. Das fügt Paulus noch an. Der Weg Christi führte durch den Tod in die Auferstehung. Denn was er uns schenkt, ist ein ewiges Erbe, d.h. eine kommende Erlösung, die wir durch die Leidensgemeinschaft mit Christus erlangen. Wir leiden und sterben mit Christus, damit „wir auch mit zur Herrlichkeit erhoben werden“.
Und das alles geschieht bei der Taufe. Da wird ein Mensch mit Christus verbunden und zu seinem Kind, er wird Erbe der ewigen Verheißung. Das gilt also auch für Sie beide, Stefanie und Artur Vullriede. Lassen Sie uns deshalb fragen, was das bedeutet und wie sich Ihr Leben dadurch gestaltet bzw. verändert. Wir können uns das gut in drei Schritten klar machen.
Zunächst betonen wir, dass wir Kinder Gottes sind, d.h. für Christen gilt dasselbe wie für alle Kinder: Wir müssen Gott nichts beweisen. Oft denken wir ja, dass wir nur dann gute Christen sind, wenn wir Gott auch entsprechend dienen. Paulus benutzt nicht umsonst das Bild vom „Knecht“ oder „Sklaven“ als Gegenbeispiel. Er kennt die Gefahr, dass sich in den Glauben immer wieder ganz leicht die Vorstellung mischt, dass Gott uns als seine Knechte sieht: Er will, dass wir seinen Willen tun, er ist streng und fordernd, wir haben Angst vor ihm und fühlen uns unter Druck. In vielen anderen Bezügen unsres Lebens ist das ja so, es ist von Leistungsdruck und Furcht durchzogen. Und so übertragen wir dieses Gefühl auch auf Gott.
Doch so ist es bei ihm nicht. Wir sind nicht seine „Sklaven“, sondern seine „Kinder“, und das heißt, dass wir sein dürfen, wie wir sind, dass wir so geliebt werden, wie wir sind, dass wir ohne Bedingungen angenommen werden. Gott möchte, dass unser Leben gelingt, so wie Eltern das ihren Kindern wünschen. Er hat ein Bild von uns, das sich entfalten soll, und dafür ist die absolute Daseinsberechtigung der Wurzelboden. Und die schenkt Gott uns durch seinen Sohn Jesus Christus und die Taufe.
Es ist also vor allen Dingen die Liebe, die Gott wichtig ist. Sie bestimmt unser Verhältnis zu ihm. Das bringt auch Ihr Taufspruch zum Ausdruck, Stefanie. Er steht im ersten Brief des Paulus an die Korinther im 13. Kapitel und lautet: „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“ (1. Kor.13,13) Das ist das erste, was in einem christlichen Leben wichtig ist: die Liebe Gottes zu uns und unsere Liebe zu ihm. Und natürlich wirkt die sich auf unser Miteinander aus: Auch unser Zusammenleben kann frei von Angst und Unterdrückung sein, wenn wir uns Christus anvertrauen.
Doch dass wir Kinder Gottes sind, bedeutet noch mehr. Das wird klar, wenn wir die Betonung auf Gott legen, denn das heißt, dass wir nicht nur Kinder von Menschen sind. Jeder von uns ist ein Traum Gottes. Gott wollte uns, wir sind seine Wunschkinder. Wir können uns vorstellen, dass wir ein Wort von ihm sind. D.h. es gibt etwas, das er nur in uns spricht, wir sind unverwechselbar und einzigartig, und unsere Aufgabe ist es, dieses unverwechselbare Wort Gottes in uns zu entdecken. Das gibt uns eine unantastbare Würde und zugleich eine große Freiheit, die Freiheit von den Erwartungen und Ansprüchen anderer Menschen, die Freiheit von Bildern, die wir und andere uns gerne überstülpen möchten. Auch der Sinn unsres Lebens ist frei von jedem Zwang. Wir müssen die Frage, wer wir sind und sein wollen, nicht immer wieder neu stellen und Antworten darauf finden. Wir haben eine bleibende Bestimmung, denn wir sind Kinder des Himmels und nicht nur Kinder dieser Erde. Wir haben in uns einen göttlichen Kern. Paulus sagt: „Der Geist Gottes treibt uns“, d.h. wir sind von Gottes Geist durchatmet, oder anders ausgedrückt: Wir atmen die Weite des Himmels trotz der Erdenschwere, die uns manchmal festzuhalten droht. Wir haben eine Bestimmung, die unser Tagesgeschäfte übersteigt. Wir lassen uns nicht einfach einspannen, denn in uns ist etwas, das keiner menschlichen Herrschaft unterliegt. Als Kinder Gottes sind wir frei wie die Vögel des Himmels. Keiner kann uns festhalten. Und das heißt, wir sind vor Traurigkeit und Angst geschützt, wir finden immer wieder den Mut und das Vertrauen zum Leben, das wir brauchen.
Paulus verbindet diese Botschaft mit der Einladung, zu Gott „Abba, lieber Vater“ zu sagen. Das hatte für ihn einen positiven Klang. Heutzutage ist das leider nicht mehr selbstverständlich. Oft entziehen sich die Väter ihrer Verantwortung oder sie sind nicht gut zu Ihren Kindern. Doch so soll es nicht sein, das wissen wir alle, und wir freuen uns, wenn ein Vater mit seinem Kind zusammenlebt und es liebt. Bei Artur ist das zum Glück so. Er hat einen Vater, der für ihn da ist, der ihm Vertrauen ins Leben schenkt, ihm Mut macht, etwas zu wagen. Artur kann sich bei ihm anlehnen und Halt finden. Das gilt natürlich genauso für eine Mutter. Wir können uns hier auch die Eltern vorstellen.
Und selbst wenn wir nicht alle die Erfahrung gemacht haben oder machen, dass sie uns lieben, so steckt doch in jedem von uns eine Ahnung von dem positiven Vater- oder Mutterbild. Es ist dem menschlichen Herzen als Urbild eingeschrieben. Jeder und jede hat eine Sehnsucht nach dem Vater und der Mutter, von der er oder sie sich verstanden fühlt, in deren Nähe er sein Leben anpacken und wagen kann. Jesus lädt uns ein, Gott so zu sehen, dieses Bild auf ihn zu übertragen und ihn „lieber Vater“ zu nennen. Vor Gott können wir unsere Sehnsucht zulassen. Sie bleibt keine Illusion, kein Wunschbild, sondern wird wahrhaftig erfüllt. Gott ist unser Vater, der uns zutiefst versteht, der uns herausfordert, der uns etwas zutraut, der uns Lust am Leben schenkt. Wir müssen ihn im Heiligen Geist nur „lieber Vater“ nennen und zu ihm beten, dann können wir etwas erahnen von der tiefen Geborgenheit, die er uns schenkt, von dem Gefühl, zu Hause zu sein. Wir finden zu einer vertrauensvollen Zustimmung zu allem, was ist. Das ist der zweite Punkt.
Und als drittes ist wichtig, dass wir mit der Gotteskindschaft „Erben“ der ewigen Verheißung werden. Unsere Bestimmung und der Sinn unseres Lebens gehen weit über diese Zeit hinaus. Sie umfangen nicht nur die Lebensspanne, die wir hier auf der Erde haben, sondern sind in eine unbegrenzte Zukunft gerichtet. Denn wir haben Teil am Tod und an der Auferstehung Christi.
Und das ist wichtig, denn wir werden – wie gesagt – nicht automatisch vor allem Leid bewahrt, wenn wir „Kinder Gottes“ sind. Auch dem leiblichen Tod kann am Ende niemand entkommen. Wir werden wie Christus leiden und sterben. Aber wenn wir es mit ihm tun, werden wir auch mit ihm auferstehen, und das heißt, wir gewinnen etwas, das durch nichts ausgelöscht werden kann: Wir gewinnen die Ewigkeit.
In dem Taufspruch, den Sie für Artur ausgesucht haben, kommt dieser letzte Gedanke sehr schön zum Ausdruck. Er steht in Psalm 23 und lautet: „Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des HERRN immerdar.“ (Psalm 23,6) Dieses Wort stammt aus dem Psalm über den guten Hirten. Mit ihm bekennt ein Beter sein Vertrauen zu Gott. Er weiß, dass er das braucht, denn sein Weg führt ihn nicht nur durch helle Landschaften. Es wird auch dunkle Täler geben, Feinde, die ihm das Leben schwer machen. Doch selbst wenn das passiert, wird das „Gute ihm folgen“. Die „Barmherzigkeit“ Gottes wird nie weit entfernt sein, denn Gott geht ihm nach und verliert ihn nicht aus den Augen. Das Leid wiegt deshalb nie so schwer, dass es ihn erdrückt oder auslöscht. Er geht da hindurch wie durch „ein finsteres Tal“ (Psalm 23,4), an dessen Ausgang wieder das Licht steht. Und am Ende des Lebens wird er für alle Zeiten bei Gott sein. Das „Bleiben im Haus Gottes“ ist ein schönes Bild für die Ewigkeit, die den Gläubigen und Getauften versprochen wird.
Und das ist eine großartige Perspektive. Selbst der Tod kann den Christen nichts anhaben, wir sind „Kinder Gottes“ in Ewigkeit. Durch den Tod und Auferstehung Christi haben wir den Geist empfangen, der uns lebendig macht. Wir müssen nur immer wieder zu Gott rufen und dürfen ihn dabei ihn „lieber Vater“ nennen.
Amen.

Bei der Vorbereitung habe ich mich von Anselm Grün inspirieren lassen und ihn teilweise sogar zitiert. Er hat eine wunderbare Predigtmeditation zu dem Text geschrieben, zu finden in: Meditative Zugänge zu Gottesdienst und Predigt, Predigtreihe II,2, Rogate bis Ewigkeitssonntag, Göttingen, 1992, S. 264ff

 

Nicht resignieren!

Predigt über Markus 10, 46- 52: Die Heilung eines Blinden bei Jericho

4.8.2016, 9.30 Uhr, Lutherkirche Kiel

Es ging heute um den blinden Bartimäus aus dem Markusevangelium. Es wurde Jesus nicht „zu bunt“ mit ihm, wie man so sagt. Unter dieser Überschrift stehen in diesem Sommer  fünf Gottesdienste in der Luther- und Jakobikirche. Heute war es der vierte.

Markus 10, 46- 52

46 Und sie kamen nach Jericho. Und als er aus Jericho wegging, er und seine Jünger und eine große Menge, da saß ein blinder Bettler am Wege, Bartimäus, der Sohn des Timäus.
47 Und als er hörte, dass es Jesus von Nazareth war, fing er an, zu schreien und zu sagen: Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!
48 Und viele fuhren ihn an, er solle stillschweigen. Er aber schrie noch viel mehr: Du Sohn Davids, erbarme dich meiner!
49 Und Jesus blieb stehen und sprach: Ruft ihn her! Und sie riefen den Blinden und sprachen zu ihm: Sei getrost, steh auf! Er ruft dich!
50 Da warf er seinen Mantel von sich, sprang auf und kam zu Jesus.
51 Und Jesus antwortete und sprach zu ihm: Was willst du, dass ich für dich tun soll? Der Blinde sprach zu ihm: Rabbuni, dass ich sehend werde.
52 Jesus aber sprach zu ihm: Geh hin, dein Glaube hat dir geholfen. Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm nach auf dem Wege.

Liebe Gemeinde
„Resignation“ – mit diesem Wort bezeichnen wir eine bestimmte menschliche Haltung. Sie entsteht, wenn eine Situation sich aussichtlos anfühlt. Dann fügt man sich und findet sich mit seinem Schicksal ab, denn es scheint unausweichlich zu sein. Man sieht ein, dass man ein Ziel nicht mehr erreichen kann, und gibt auf. Es fehlen die Mittel und die Wege, es zu verwirklichen.
Resignation kann außerdem verursacht werden, weil man erkennt, dass das, was man angestrebt hat, zu viel Einsatz kostet. Man fühlt sich den Folgen nicht gewachsen und verzichtet lieber auf die Umsetzung.
Spontan finden wir Resignation eher negativ, denn meistens dämpft sie die Gefühle. Entmutigung und Antriebsschwäche sind die Folgen. Aktivitäten werden gemindert oder ganz eingestellt.
Bei einer Überforderung ist das so, wenn man z.B. weiß, dass die Prüfungen für ein Studium zu schwer sind. Ebenso kann man in der Erziehung resignieren, wenn Kinder sich einfach nicht so verhalten, wie wir es gut für sie finden. Auch im Beruf, in der Politik oder in einer persönlichen Leidsituation ist Resignation manchmal das einzige, was zu bleiben scheint.
In unserem Evangelium von heute kommt ein Mensch vor, der dazu ebenfalls viele Gründe gehabt hätte, Bartimäus. Er war blind, und das bedeutete in der damaligen Gesellschaft, dass er keinerlei Chance auf ein normales Leben hatte. Er konnte keine Arbeit verrichten und war für die anderen Menschen nur eine Last. Ihm blieb nichts anderes übrig, als zu betteln und darauf zu hoffen, dass sich ab und zu jemand über ihn erbarmte. Doch das taten nur die wenigsten, die meisten wären ihn am liebsten los geworden. Das wird in unserer Geschichte zwar nicht direkt erzählt, das Verhalten der Umstehenden macht es aber deutlich.
Die Begebenheit spielte in Jericho, einer Stadt, durch die Jesus auf seinem Weg nach Jerusalem kam. Seine Jünger waren bei ihm und zusätzlich viele andere Menschen, die bereits von ihm gehört hatten und ihn nun begleiteten. Sie kamen an der Stelle vorbei, an der Bartimäus saß. Und nun geschah das, woran deutlich wird, dass er ihnen peinlich war:
Als er nämlich hörte, dass Jesus vorbei kam – und das war wohl nicht zu überhören – rief er laut, er schrie sogar, und bat Jesus um Hilfe. Die anderen wollten ihn daran hindern, mit Jesus in Kontakt zu kommen. Er sollte sich in sein Schicksal fügen. Doch er ließ sich nicht beirren. Er wurde stattdessen nur noch lauter. Er resignierte nicht, sondern wurde sehr aktiv.
Er muss von Jesus gehört haben, und nun hoffte er, dass Jesus die Kraft hatte, ihn zu heilen. Er nannte ihn auch mit einem Titel: „Jesus, du Sohn Davids“, sagte er. Er glaubte also daran, dass Jesus der Königssohn war, auf dem die göttliche Verheißung lag, denn das beinhaltete diese Anrede. Das wusste er offensichtlich, und er war davon überzeugt, dass Jesus der göttliche Heilsbringer war, den die Propheten angekündigt hatten.
Das alles gehörte zu dem Handeln des Blinden, und das ist auffällig und wichtig für die Geschichte, denn Jesus ging darauf ein. Er reagierte auf sein Rufen und wollte, dass die Menschen ihn zu ihm brachten, d.h. er wollte sich um ihn kümmern. Am meisten interessierte ihn sein Glaube. Den lobte er ausdrücklich, indem er sagte: „Dein Glaube hat dir geholfen.“ Das Vertrauen, das Bartimäus zu Jesus hatte, war also ausschlaggebend für die Heilung. Ihm wurden die Augen aufgetan, er konnte wieder sehen.
Das Ende der Geschichte besteht dann darin, dass er Jesus nachfolgte. Er wollte nicht einfach ein Leben führen wie alle anderen, sondern mit Jesus zusammen bleiben, ganz gleich, was das hieß. Die Folgen waren ihm nicht zu groß oder unübersehbar, er ließ sich darauf ein.
Und mit all dem ist Bartimäus ein wunderbares Beispiel für einen Menschen, der nicht resigniert hat, obwohl er dafür viele Gründe gehabt hätte. Lassen Sie uns die Geschichte unter diesem Gesichtspunkt betrachten, dann verstehen wir sie am ehesten.
Denn mit den Wundern Jesu haben wir ja oft ein Problem. Wir glauben nicht daran, dass sie auch heute noch geschehen. Kaum ein Blinder erwartet, dass er auf wunderbare Weise eines Tages wieder sehend wird.
Doch das ist hier auch nicht die Hauptbotschaft. Neben dem Wunder kommen viele weitere Einzelheiten vor, die im Glauben an Jesus wichtig sind. Die Geschichte ist – wie gesagt –ein Manifest gegen die Resignation: Niemand muss sich willenlos in sein Schicksal fügen, es gibt immer einen Ausweg. Mit Jesus ist die Hilfe ist da, wir müssen damit nur rechnen, auf ihn vertrauen und zu ihm rufen. Das ist hier die Botschaft. Lassen Sie uns die also einmal bedenken.
Dabei müssen wir zunächst ein Missverständnis klären, das auftauchen kann, und dem die Umstehenden in der Geschichte möglicherweise erlagen. Sie waren empört über das Verhalten von Bartimäus, weil sie wohl fanden, dass er sich einfach nur gegen sein Schicksal aufbäumte. Er sollte es annehmen. Sie wollten seine Schreie nicht hören. Und das könnte man verstehen, wenn es Schreie ins Leere gewesen wären, wenn Bartimäus vor sich hin gestöhnt und geklagt hätte. Doch so war es nicht. Bartimäus wollte nicht einfach nur Aufmerksamkeit oder Mitleid. Wenn wir ihn so sehen, würden wir ihn missverstehen.
Möglicherweise hatte er sich sogar in positiver Weise in sein Schicksal gefügt. Das gibt es ja genauso, und es wäre das Gegenstück zu einem sinnlosen sich Aufbäumen: ein weises Resignieren, das hilft. Denn es kann auch klug sein, sich zu bescheiden und zu verzichten. Das führt nicht zwangsläufig in die Passivität und Mutlosigkeit, sondern unter Umständen in eine gesunde Gelassenheit. Man meidet Zorn und Eifer und empfängt eine heitere Ruhe, die sogar mit einem Gefühl der Überlegenheit einhergeht. Philosophen, Lebenskünstler und spirituelle Menschen pflegen diese Art der Resignation, zu der Demut und Leidensbreitschaft gehören. Und das sind ja durchaus positive Eigenschaften.
Ob Bartimäus sie sich angewöhnt hatte, wissen wir nicht, aber sie wären eine gute Vorbereitung für das, was er in unserer Geschichte praktiziert, denn sie machen den Menschen offen und wach. Und das ist eine wichtige Voraussetzung für den Glauben an die Kraft Jesu und das Gebet zu ihm. Darum geht es hier, das wird uns vorgestellt. Bartimäus wurde lebendig und aktiv, als Jesus vorbei kam, d.h. er schrie nicht vor sich hin. Er hatte vielmehr eine Ahnung, dass Hilfe nahe war, und eine ganz klare Adresse. Es handelt sich hier also nicht um ein unbeherrschtes oder unkontrolliertes Aufbegehren, sondern um den Glauben und das Gebet zu Jesus. Das sollen wir lernen und selber vollziehen. Lassen Sie uns also fragen, wie das geht.
Dabei ist es gut, wenn wir uns vorstellen, dass Jesus auch bei uns vorbei kommt. Er lebt und kreuzt häufig unseren Weg, und zwar immer dann, wenn wir von ihm hören, über ihn lesen oder sprechen oder an ihn denken. Dann ist er da. Denn Jesus ist nicht nur ein Gedanke oder eine historische Person, er ist unter uns gegenwärtig und will auch heute noch Menschen anrühren und ihnen helfen. Das dürfen wir glauben, darauf können wir vertrauen. Jesus ist der Herr, der Kyrios, der Macht hat und etwas kann. Wir sehen ihn zwar nicht, genauso wie Bartimäus ihn nicht sehen konnte, aber wir können ihm blind vertrauen.
Das ist ja ein sehr schöner Ausdruck. Er besagt, dass man einfach einmal etwas voraussetzt und danach handelt, selbst wenn man die Folgen nicht genau kennt. Blindes Vertrauen läuft nicht über den Verstand und ist vielleicht auch unvernünftig, aber das Herz und der Bauch sind darin involviert, und die sind manchmal viel bessere Ratgeber.
Wenn es um den Glauben an Jesus geht, ist das auf jeden Fall so, denn er reagiert auf unser Rufen, und das merken wir. Schleier fallen von unseren Augen, wir sehen die Dinge plötzlich anders. Wir werden von innen her verändert und die negative Grundstimmung verschwindet. Eine positive Kraft zieht in uns ein, und das hat weitreichende Folgen
Wenn wir uns z.B. von einem Studium überfordert fühlen, halten wir nach anderen Möglichkeiten Ausschau und fangen noch einmal von vorne an. Warum nicht? So tragisch ist das nicht. In der Erziehung haben wir die Freiheit, unsere Kinder loszulassen und sie eventuell anderen Menschen anzuvertrauen. Im Beruf sprechen wir mit den Vorgesetzten oder den Kollegen und suchen nach konstruktiven Wegen, um Konflikte zu lösen. Die gibt es ja in Hülle und Fülle, wir müssen uns nur darauf einlassen. In der Politik sehen wir die Dinge gelassener. Und in einer persönlichen Leidsituation werden wir fähig, das Schwere zu tragen.
Auf jeden Fall lassen wir alte Muster und Verhaltensweisen hinter uns. So wie Bartimäus „seinen Mantel von sich warf“, streifen wir sie ab. Das ist eine weitere sehr schöne Einzelheit in unserer Geschichte. Bartimäus brauchte seine alten Kleider nicht mehr, als Jesus ihn zu sich rief. Und so geht es auch uns: Wir stehen auf wie er, werfen das Alte ab und gehen neue Wege. Wir lassen uns führen, denn wir haben einen neuen Meister, Jesus. An seiner Hand gewinnen wir Mut und Hoffnung, wir werden zuversichtlich und stark.
Das Gebet des Bartimäus war nicht lang. Es bestand nur aus dem einen Satz: „Kyrie eleison“, auf Deutsch: „Herr, erbarme dich.“ Doch nicht umsonst ist genau dieser Satz zum populärsten Gebet der Christenheit geworden. In knapper Form beinhaltet es das ganze Evangelium, denn es ist eine Huldigung und ein Hilferuf zugleich. Die Macht und Gegenwart Jesu wird damit bekannt, seine Göttlichkeit und Überlegenheit. Und gleichzeitig werden sein Erbarmen und seine Liebe herbeigerufen, so dass sie in Geist und Seele Eingang finden.
Im Gottesdienst spielt es deshalb eine entscheidende Rolle. Zur Zeit der frühen Christenheit wurde damit die Feier eröffnet, es war das erste, was der Priester sprach. An den vertonten Messen von Bach oder Mozart können wir das noch erkennen. Sie beginnen alle mit dem Kyrie, das manchmal eindringlich und ergreifend ist, wie z.B. in der h-moll-Messe. Später fand es auch als kurzer Ruf zwischen den Fürbitten einen Platz. Bis heute ist das in unseren Gottesdiensten und Andachten so geblieben, in jeder Konfession. Außerdem ist es die traditionelle Formel für das sogenannte Herzensgebet. Bei dieser Gebetsweise aus der Ostkirche wird der Satz „Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner“ mit jedem Atemzug oder Herzschlag wiederholt.
Und er reicht wirklich. Gerade dann, wenn man droht zu resignieren, fehlen einem ja oft die Worte. Dann hilft es, dieses Gebet innerlich unaufhörlich zu „schreien“. Jesus bleibt daraufhin stehen und ruft uns zu sich. Er spricht mit uns und geht auf unser Vertrauen ein. Er öffnet unsere Augen für seine Gegenwart, und etwas Neues kann beginnen: Wir stehen auf, werfen unsere alten Kleider ab und „folgen ihm auf dem Weg“.
Amen.