Gute Gründe, in der Kirche zu sein

Predigt über Johannes 15, 1- 8: Der wahre Weinstock

3. Sonntag nach Ostern, Jubilate, 26.4.2015, 9.30 Uhr
Lutherkirche Kiel

Johannes 15, 1- 8

1 Ich bin der wahre Weinstock und mein Vater der Weingärtner.
2 Eine jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, wird er wegnehmen; und eine jede, die Frucht bringt, wird er reinigen, dass sie mehr Frucht bringe.
3 Ihr seid schon rein um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe.
4 Bleibt in mir und ich in euch. Wie die Rebe keine Frucht bringen kann aus sich selbst, wenn sie nicht am Weinstock bleibt, so auch ihr nicht, wenn ihr nicht in mir bleibt.
5 Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun.
6 Wer nicht in mir bleibt, der wird weggeworfen wie eine Rebe und verdorrt, und man sammelt sie und wirft sie ins Feuer und sie müssen brennen.
7 Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch widerfahren.
8 Darin wird mein Vater verherrlicht, dass ihr viel Frucht bringt und werdet meine Jünger.

Liebe Gemeinde.
„Ich bete regelmäßig, tue dies aber nicht in der Kirche. Ich gehe dafür lieber in die Natur. Bei einem Spaziergang im Wald oder durch die Wiesen fühle ich mich Gott ganz nah. Ich brauch den Gottesdienst nicht, deshalb bin ich aus der Kirche ausgetreten.“
Solche Erklärungen haben Sie sicher schon gehört. Viele Menschen erzählen uns das. Sie sind religiös und glauben an Gott, mit der Kirche wollen sie aber nichts zu tun haben. Sie sehen darin keinen Nutzen, und so ist die Zahl der Kirchenaustritte tatsächlich beunruhigend.
Dafür gibt es ja viele Gründe. Den einen ist die Kirche zu links, den anderen zu rechts, einige finden sie zu einseitig, andere zu tolerant, sie tut zu viel, sie tut zu wenig, usw. Außerdem ist es teuer, in der Kirche zu sein, und niemand weiß genau, was mit dem Geld geschieht. Das ist meistens der Hauptgrund für einen Kirchenaustritt.
Auch wir, die wir dazu gehören, haben sicher einiges an der Kirche auszusetzen: Der wahre Glaube fehlt, es gibt zu viel Streit in den Gemeinden, die Verwaltung ist zu umfangreich usw. Das Leiden an der Kirche ist manchmal groß.
Möglicher Weise haben wir deshalb auch nicht sofort die passenden Argumente parat, wenn es einmal zu einem Gespräch über die Kirche kommt. Das Amt für Öffentlichkeitsarbeit der Nordkirche hat deshalb vor einiger Zeit einen Prospekt herausgegeben, in dem „zwölf gute Gründe“ aufgezählt werden, in der Kirche zu sein. Den können wir Menschen mit der oben zitierten Meinung geben. Dort steht, dass die Kirche eine Wahrheit bewahrt, die Menschen sich nicht selber sagen können. Sie stillt die Sehnsucht nach Segen, begleitet Menschen bis zum Tod, bietet Ruhe und Besinnung an, verkündet Hoffnung auf die Ewigkeit, hält Fürbitte, prägt das gesellschaftliche Leben mit Feiertagen und kulturellen Veranstaltungen, nimmt Menschen ernst, sorgt in sozialen Einrichtungen für ein menschenfreundliches Klima, übt Solidarität mit den Schwachen und bildet eine weltweite Gemeinschaft.
Das ist eine beachtliche Aufzählung, die überzeugend und einladend wirkt. Der Ursprung und der Kern des Ganzen liegen allerdings noch auf einer anderen Ebene. Er steht im Evangelium und wurde von Jesus Christus selber formuliert. In der heutigen Lesung benennt Jesus deutlich, warum es die Kirche gibt, und zwar mit dem Satz „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun.“
Das ist ein Bild, mit dem Jesus kurz und klar beschreibt, was die Kirche ist, und warum wir dazugehören: Sie lebt, weil er da ist, weil er die Grundlage ist, und wir alle von ihm unsere Kraft bekommen. Wir hängen an ihm wie die Reben am Weinstock, und ohne ihn sind wir nichts. Das sollten wir als erstes bedenken, wenn wir nach Gründen für eine Zugehörigkeit zur Kirche fragen.
Jesus sagt es zu seinen Jüngern innerhalb der sogenannten „Abschiedsreden“. Die stehen zwischen dem Ende seiner öffentlichen Wirksamkeit und dem Beginn seines Leidens. Und er will damit seine Jünger auf die Zeit vorbereiten, in der er nicht mehr da sein wird. Er erklärt ihnen, wie sie dann leben werden, was er ihnen hinterlässt. Er sagt ihnen, in welcher Gestalt er weiter bei ihnen ist, und wie sie mit ihm verbunden bleiben können.
Und dafür ist das Bild von dem Weinstock und den Reben sehr anschaulich. Jesus sagt: So wie das mit dem Weinstock ist, so ist es mit mir und mit euch, die ihr an mich glaubt: Ich bin der Weinstock, d.h. von mir und aus mir kommt die Kraft und das Leben. Und ihr seid die Reben. Nur wenn ihr an mir bleibt, werdet ihr leben und Kraft haben und „Frucht bringen“.
Und das sagt Jesus als Warnung und als Aufforderung: Seine Jünger sollen auch an ihm bleiben, sie sollen treu durchhalten, ihren Glauben an ihn nicht aufgeben. Wer sich einmal für ihn entschieden hat, soll darauf achten, dass die Verbindung zu Christus auch lebendig bleibt. Denn nur dann wird sein Leben „Frucht bringen“. Das klingt schön und vielversprechend, aber damit ist auch eine Drohung verbunden. Wer nämlich nicht an ihm bleibt, geht unter. Er wird wie eine verdorrte Rebe weggeworfen und verbrannt.
Das ist das Bild, mit dem Jesus unser Leben als Christen beschreibt, und darin steckt der zentrale Grund, in der Kirche zu bleiben: Christus ist ihre Mitte, und wer an ihn glaubt, gehört zu einem lebendigen Ganzen. Christsein erschöpft sich nicht in einem individuellen Glauben, nicht in schönen Gefühlen und privaten Gebeten. Wir gehören als Christen vielmehr zu etwas Größerem, als wir selbst. Durch die Auferstehung Jesu Christi gibt es eine neue Wirklichkeit. Seine Gegenwart hat eine weltweite Dimension. Es gibt mitten in dieser alten Welt des Sterbens und Vergehens eine neue Schöpfung. Als Christen gehören wir dazu, und das heißt, wir gehören zu einer großen Gemeinschaft. Alle Gläubigen bilden zusammen eine wesenhafte Einheit, ein lebendiges Gefüge.
So wird es uns mit dem Bild vom Weinstock hier vorgestellt, und das heißt, ohne den Kontakt zu anderen Christen sind wir verlorene Einzelwesen ohne große Bedeutung. Auf jeden Fall haben wir nicht Teil an der Wirklichkeit, die Christus geschaffen hat, und „bringen keine Frucht.“ Ein Mensch, der nur auf einsamen Spaziergängen seine Religiosität praktiziert, ist kein ganzer Christ im Sinne des Neuen Testamentes. Denn dazu gehört noch mehr.
Es gehört das Erleben dazu, dass wir ganz und gar von Christus abhängen und ohne ihn nichts sind. Wir müssen von Christus überzeugt sein, uns für ihn entscheiden und uns ganz ihm hingeben. Denn er ist die Mitte und der Ursprung. Und um das zu erfahren, brauchen wir die anderen. Ohne sie kann es zu diesem Bewusstsein nicht kommen. Denn ein wesentlicher Schritt im Glauben besteht darin, dass jeder und jede Einzelne ihr Ich zurücknimmt, sich unter Christus stellt und sich einfügt. Und das geht nur im Miteinander. Nur durch andere Menschen kann unser normales Lebensgefühl sich ändern.
Und das ist notwendig, denn natürlicher Weise erleben wir uns selber als Mittelpunkt: Die Welt und die Menschen drehen sich um uns und unsere Belange, alles kreist um unser Wollen und Trachten. Wir sind von Natur aus egozentrisch, d.h. unser Ich steht im Zentrum. Bei einer bloß individuellen Religiosität wird dieses Lebensgefühl nie durchbrochen, im Gegenteil, wir pflegen unsere Egozentrik damit sogar. Wir gehen Konflikten aus dem Weg, ziehen uns zurück und suchen unsre private Ruhe. Natürlich brauchen wir die auch immer mal wieder, aber das allein reicht nicht. Es besteht vielmehr die Gefahr, dass wir irgendwann im eigenen Saft schmoren und nicht wirklich frei werden. Unser Glaube stagniert, unsere Seele verkümmert. Wir werden zu „verdorrten Reben“. Es kann auch zu Selbstüberschätzung kommen, zu einer völlig verzerrten Selbstwahrnehmung. Es entsteht religiöser Wildwuchs, Aberglaube und Esoterik sind nicht fern. Demnach gibt es genauso viele gute Gründe, eine nur private Frömmigkeit aufzugeben.
Natürlich ist die bequemer, wir werden dabei nicht gestört und müssen uns mit niemandem auseinandersetzen. In jeder Gemeinschaft gibt es ja Konflikte und Unstimmigkeiten. Andere Menschen bereiten uns Schwierigkeiten und behindern unser Handeln. Das vermeiden wir am liebsten, weil wir meinen, dadurch am ehesten frei zu bleiben.
Doch genau da liegt der Irrtum. Auch wenn es ungemütlich ist, sich mit anderen Menschen abgeben zu müssen, gerade darin liegt die große Chance. Denn für ein ausgewogenes Seelenleben und einen gesunden Glauben brauchen wir immer die Korrektur von Seiten anderer Menschen, Inspiration, Stärkung und Hilfe. Wir brauchen die Worte der anderen, das Gespräch und die Herausforderung. Christus soll groß werden in unserem Leben, er soll die Mitte sein, und dafür muss unser Ich kleiner werden. Das jedoch geschieht nicht ohne die Reibungen mit anderen. Wir brauchen sie, um lebendig zu bleiben und zu reifen. Auch die wahre Freiheit tritt erst dann ein, wenn wir fei von uns selber werden.
Und das können wir nur im Miteinander üben, denn da lernen wir, uns auch einmal zurückzunehmen, Vorstellungen loszulassen und uns zu öffnen. In der Auseinandersetzung mit anderen können wir demütig werden und uns einfügen. Das ist die Grundübung im Glauben an Jesus Christus, und die wird gerade durch das Leiden an der Kirche gefördert. Wenn wir die lebendige Kraft und Gegenwart Christi spüren wollen, müssen wir selber kleiner werden und uns ganz an ihn hängen, so wie die Rebe am Weinstock hängt. Und dazu brauchen wir die Gemeinschaft.
Das ist der Hauptgrund für die Mitgliedschaft in der Kirche, und darin liegt auch der Sinn der Taufe. Das Kind, Fiete Baumbach wird durch sie heute in die Kirche aufgenommen. Er wird zu einer Rebe am Weinstock, der Christus ist. Wir bringen ihn mit ihm zusammen und mit allen anderen Christen. Er wird eingegliedert, um an der neuen Schöpfung teilzuhaben.
Und das hat Folgen, er und wir „bringen dadurch Frucht“, wie es im Evangelium heißt. Mit den „zwölf guten Gründen, in der Kirche zu sein“, die in unserem Prospekt stehen, werden die Früchte auch ganz schön benannt. Denn wenn wir uns auf Christus gründen und die Gemeinschaft mit anderen suchen, empfangen wir Segen. Unsere Sehnsucht nach gelingendem Leben wird beantwortet. Wir werden auf unserem Lebensweg begleitet und auf geheimnisvolle Weise immer wieder gestärkt. Wir haben teil an der Hoffnung, die über den Tod hinausweist. Wir finden Ruhe und Besinnung. Andere beten für uns und wir beten für sie. Wir werden ernst genommen, und es kehrt mehr Menschlichkeit in unser Leben ein. Die Schwachen werden nicht ausgestoßen, sondern solidarisch behandelt. Und das gibt es überall, auf der ganzen Welt. Wo wir auch hinkommen, finden wir Christen, die so leben. Wenn wir in der Kirche sind, können wir uns dadurch geborgen fühlen. Sie bietet uns Heimat, wo immer wir sind.
Es ist deshalb gut, dass wir zu ihr gehören. Wir „bleiben dadurch in Christus und er in uns. Wir bringen Frucht und werden Jünger Jesu, damit der Vater verherrlicht, wird.“
Amen.

Der gute Hirte

Predigt über Psalm 23: Der gute Hirte

2. Sonntag nach Ostern, 19.4.2015, 9.30 und 11.00 Uhr
Luther- und Jakobikirche Kiel

Psalm 23

1 Der HERR ist mein Hirte,
mir wird nichts mangeln.
2 Er weidet mich auf einer grünen Aue
und führet mich zum frischen Wasser.
3 Er erquicket meine Seele.
Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen.
4 Und ob ich schon wanderte im finstern Tal,
fürchte ich kein Unglück;
denn du bist bei mir,
dein Stecken und Stab trösten mich.
5 Du bereitest vor mir einen Tisch
im Angesicht meiner Feinde.
Du salbest mein Haupt mit Öl
und schenkest mir voll ein.
6 Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang,
und ich werde bleiben im Hause des HERRN immerdar.

Liebe Gemeinde.
Vertrieben werden – aufbrechen – fliehen – ausgesetzt sein – sich aus Lebensgefahr retten – einen Hort der Sicherheit suchen: So beginnt jede Flucht. Zurzeit erleben wir das in großem Umfang: Die Menschen kommen aus Afrika in Booten über das Mittelmeer; aus Afghanistan über die Berge, durch den Iran und die Türkei; aus Syrien über den Libanon und Jordanien, von Algerien nach Marokko und von dort nach Europa; usw. Alle haben lange und beschwerliche Wege hinter sich, und viele sind traumatisiert. Abreißen wird der Flüchtlingsstrom nach Deutschland auch in diesem Jahr nicht.
Einige von uns Sesshaften beobachten das mit Angst und Sorge, andere mit Offenheit und Zuwendung. Viele versuchen zu helfen, viele wehren sich.
Dabei war es schon immer so, dass Menschen fliehen mussten: Es gab die Flüchtlinge des Zweiten Weltkrieges, Juden, die Nazi-Deutschland entkamen, die Iren, die vor Hunger nach Amerika auswanderten, die Israeliten auf der Flucht aus Ägypten, usw. Sie alle versuchten zu überleben.
Und für all diese Situationen, die die Menschheitsgeschichte in unzähligen Varianten durchziehen, haben die Psalmen des Alten Testaments Worte. Sie drücken Not und Bedrängnis, aber auch Sicherheit und Vertrauen aus: „Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.“
Das ist ein Vers aus Psalm 23, dem wohl bekanntesten Psalm überhaupt. Der Mensch, der ihn betet, Mann oder Frau, ist unterwegs. Er oder sie könnte auf der Flucht sein. Auf jeden Fall bietet der Psalm all denjenigen ein Gebet, die es nicht leicht haben, die aufbrechen mussten, in Ungewissheit leben, und in einer neuen, unbekannten Umgebung zu recht kommen müssen. Denn er spricht von dem Schutz und dem Beistand Gottes in allen Situationen. Dafür malt er anschauliche und aussagekräftige Bilder. Das erste ist das vom „guten Hirten“. Es bringt zum Ausdruck, dass wir immer jemanden haben, der uns behütet, der bei uns ist und uns aufrichtet, wenn wir darnieder liegen, und das ist Gott. Wir gehen nicht ohne seine Begleitung durch das Leben, er hilft und rettet uns.
Gleichzeitig wird mit diesem Bild gesagt, dass unser Leben ein Weg ist, dass wir durch das Leben gehen, bildlich gesprochen von einem Weideplatz zum anderen, d.h. von einer Station zur nächsten. Es gibt keinen Stillstand und es gibt letzten Endes auch kein Bleiben. Wir sind unterwegs und müssen immer weiter. Doch für den Beter ist das kein Grund zur Klage. Die Bewegung ist vielmehr mit Hoffnung verbunden: Es gibt den guten Hirten, der uns zu „grünen Auen und frischem Wasser“ führt. Wir können uns ganz auf ihn verlassen. Er verändert sich nicht. In allem Wandel bleibt er treu und fest.
Das heißt allerdings nicht, dass unser Leben immer glatt und glücklich verläuft. Der Psalm klammert das Leid und das Schwere nicht aus, sondern erwähnt es, und zwar mit dem Bild vom „finstern Tal“. Es kann tiefe Dunkelheit geben, Elend und Not. Das Leben ist keine Idylle, es gibt unzählige Widrigkeiten. Der Beter hat den Psalm möglicherweise sogar aus dem Leid heraus formuliert. Und damit zeigt er uns einen Weg, wie wir damit leben können: Wir dürfen davon ausgehen, dass Gott uns trotz allem an seinen Tisch lädt. Auch bei Verfolgung, Verachtung und Misshandlung von Seiten anderer Menschen bereitet Gott uns ein Festmahl. Davon ist der Beter überzeugt und fasziniert. Dabei ist Gott großzügig. Er spart weder an wohlriechenden Ölen noch an Wein. Alles, was ein Gastgeber damals seinen Gästen an Wohltaten reichte, ist in Hülle und Fülle vorhanden. Gott macht die Verfolgten, Angefochtenen und Armen zu seinen Tischgenossen und lässt die Verfolger leer ausgehen.
So kann der Beter getrost seinen Weg gehen. Er findet bei Gott immer wieder Zuflucht, Ruhe und Stärkung. Gott schenkt ihm das Glück, von ihm anerkannt und geliebt zu sein. Er macht die Erfahrung, dass Gott in seiner unendlichen Güte alles teilt: „Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.“ Das sind die tröstlichen Worte, mit denen das Gebet der Zuversicht und des Vertrauens dieses Menschen endet.
Er lädt uns ein, dasselbe zu tun. Aber ist es wirklich sinnvoll, so etwas zu glauben und zu beten? Machen wir uns damit nicht etwas vor? Es klingt ja etwas realitätsfern, nach einer Idylle, die es so gar nicht gibt. Wer wirklich leidet, auf der Flucht ist und nichts mehr hat, den kann das doch nicht wirklich trösten. Er fügt sich vielleicht in sein Schicksal, wenn er an den guten Hirten glaubt, aber wird es dadurch besser? Ist es nicht eine Scheinlösung, wenn wir auf Gott vertrauen? Es kann zynisch wirken, Flüchtlingen zu sagen, dass sie von Gott begleitet werden. Außerdem besteht dann die Gefahr, dass wir nichts für sie tun. Sie haben ja Gott, und das reicht doch. Marx sagte einmal: „Die Religion ist Opium für das Volk.“ D.h., sie berauscht nur, benebelt den Geist und macht die Menschen unfähig, ihr Schicksal in die Hand zu nehmen, zu handeln und zu überleben.
Das könnte ein Einwand gegen den Psalm und alle tröstlichen Worte sein, die wir in der Bibel finden. Sie bewegen und verändern nichts, sie leiten zur Passivität an und lähmen Geist und Seele.
Eine Gefahr kann das durchaus sein, doch wenn solches geschieht, ist etwas schief gelaufen im Glauben. Natürlich müssen wir den Flüchtlingen und anderen leidenden Menschen helfen, sie aufnehmen und in Sicherheit bringen, ihnen Zuflucht gewähren und für sie da sein. Das stellt der Psalm an keiner Stelle in Frage. Er dreht nur den Spieß um und fragt: Reicht die menschliche Hilfe denn? Machst du dir nicht etwas vor, wenn du auf den Glauben verzichtest, wenn du nur handelst und versuchst, so gut wie möglich zu sein?
Es gibt Menschen, die sind aus ihrer Heimat z.B. in Afrika geflohen und leben seit vielen Jahren in Deutschland. Sie haben inzwischen alles, was wir ihnen bieten können, ein Zuhause, eine Arbeit und ein soziales Umfeld. Trotzdem sind sie nicht glücklich und fragen sich oft, wozu sie überhaupt gekommen sind. Die schrecklichen Bilder der Flucht lassen sie auch nach Jahren nicht los, und sie denken: „Was habe ich hier denn?“
Und das tun unzählige andere Menschen auch. Ein sicheres Zuhause ist nicht die Lösung aller Probleme. So einfach ist unser Leben nun mal nicht. Auch in einer Wohlstandsgesellschaft gibt es viel Leid, Menschen, die nicht weiter wissen und verzweifeln. Im Laufe unseres Lebens erleiden wir alle irgendwelche Verluste. Angehörige verlassen uns oder sterben, Familien brechen auseinander, Ideale entpuppen sich als irreal und zerschellen an der Wirklichkeit, Pläne zerplatzen, Träume lösen sich in nichts auf, Wünsche bleiben ein Leben lang unerfüllt. Oft wissen Menschen deshalb nicht, wofür sie leben, sie haben kein Ziel mehr. Depressionen, Krankheit und Burnout, all das sind Symptome, die zeigen, dass unsere moderne Gesellschaft lange nicht auf alle Fragen eine Antwort hat. Im Gegenteil, sie kann uns in eine große innere Leere und Sinnlosigkeit führen.
Wir brauchen noch mehr, als den Wohlstand, mehr als ein sicheres Zuhause, mehr als uns selbst und unser Können. Unser Leben geht ohne die Dimension des Glaubens nicht auf. Wir brauchen den Bezug zur Ewigkeit, zu Gott und seinem Beistand. Wir irren uns, wenn wir meinen, die Religion sei unrealistisch und wirkt wie ein Gift. Es ist genau anders herum: Wenn wir Gottes Gegenwart verleugnen, leben wir an der Wirklichkeit vorbei und gehen langsam zu Grunde.
Und es ist auch ein Irrtum zu glauben, dass wir jemals irgendwo ankommen, wo wir für immer bleiben können. Selbst wenn wir ein festes Haus haben, sind wir weiter unterwegs. Unser ganzes Leben ist eine Wanderung. Unser Schicksal bewegt sich immer zwischen Aufbruch, Ungewissheit und Ankunft, selbst in einem vermeintlich sicheren Alltag
Deshalb sind Flüchtlinge nicht nur diejenigen, denen wir helfen müssen. Wir können von ihren Erfahrungen auch lernen. Sie haben viel zu erzählen, und es ist gut, wenn wir ihnen zuhören. Auch über den Glauben können sie uns etwas sagen, denn er hat vielen von ihnen geholfen.
In der Sendung „Glaubenssachen“ am letzten Sonntag berichtete die Autorin Irene Dänzer-Vanotti, „was Flüchtlinge stützt und bedroht“. Sie erzählte an einer Stelle von Sajed Al Matroud: „Sie ist 30 Jahre alt, war Englischlehrerin in Qamishli im Nordosten Syriens. Eine fromme Muslimin. Ihr Mann, der Schriftsteller Mohammad Al Matroud, musste vor den Truppen des Präsidenten Assad aus seiner Heimat fliehen – aber das ist eigentlich unerheblich, denn hätte er nicht vor Assads Leuten fliehen müssen, hätten ihn dessen Gegner verjagt. Ein Land im Ausnahmezustand. Mohammad hatte Glück: er konnte nach Deutschland ausreisen, ins Heinrich Böll Haus in der Eifel. Seit dem Tod des Schriftstellers Heinrich Böll bietet dessen Ferienhaus verfolgten Künstlern eine Zeitlang Sicherheit und Arbeitsruhe. Seine Frau Sajed sitzt zu diesem Zeitpunkt aber noch fest in Qamishli. Ihre Tochter ist zwei Jahre alt, ihr Sohn gerade erst geboren. Auch sie fühlt sich bedroht. Allein weggehen, ohne Begleitung eines Mannes? Das ist eigentlich unmöglich für eine muslimische Frau. Aber ihre Brüder und der Schwager können nicht mit, sie würden auf dem Weg in die Türkei vom Militär aufgegriffen, von der einen oder der anderen Seite im Bürgerkrieg. Sajed wagt es also. Vier Tage lang geht sie mit ihren beiden kleinen Kindern durch Nordsyrien, bis sie sich in der Türkei in Sicherheit bringen kann. Sie fühlt sich, erzählt sie später in Deutschland, von Gottes Schutz eingehüllt. Ganz und gar glaube sie an ihn, unabhängig davon, welche Herausforderungen er für sie bereithalte. Oder für ihr Land. Dass Syrien im Bürgerkrieg zerstört wird, dass 200.000 Syrer gestorben, weit mehr auf der Flucht sind, das ist für die Muslimin der manchmal brutalen Unzulänglichkeit des Lebens geschuldet. ,Wir sind nicht im Paradies‘, sagt sie. Auf Erden herrsche Ungerechtigkeit und jedes Land habe im Lauf seiner Geschichte Kriege und Zerstörung, von Menschen geschaffen, erlebt. Jetzt eben Syrien. Von ihrem Glauben könne diese Katastrophe sie nicht abbringen.“
Das ist ein wunderbares Bekenntnis von innerer Freiheit. Durch ihren Glauben kann diese Frau das Leid annehmen und es dadurch überwinden. Und mit dieser Fähigkeit ist sie nicht allein. Mascha Kaléko, eine Dichterin, die als Jüdin von den Nationalsozialisten aus Deutschland vertrieben wurde, hat dieselbe Einstellung einmal so ausgedrückt:
„Ausgesetzt in einer Barke von Nacht
Trieb ich und trieb an ein Ufer.
An Wolken lehnte ich gegen den Regen,
An Sandhügeln gegen den wütenden Wind.
Auf nichts war Verlass.
Nur auf Wunder.“
Solche unübertrefflichen Zeugnisse können uns ermutigen, ebenfalls ganz auf Gott und seine Wunder zu vertrauen. Als Christen haben wir dazu alle Mal einen Grund, denn wir haben nicht nur die Psalmen und das Alte Testament. Wir glauben daran, dass der „gute Hirte“ Mensch geworden ist. Denn Jesus Christus sagt, „ich bin der gute Hirte“ (Joh.10, 11), und Jesus Christus lebt, das ist unser Glaube. Er hat den Tod besiegt und ist da. Er ist jetzt mitten unter uns und schenkt uns seine Gegenwart.
Daran dürfen und sollen wir uns gewöhnen, und das geht am besten, indem wir seine Worte bei uns tragen, sie zu unsrem geistigen Eigentum machen und uns in allen Lebenslagen daran erinnern.
So haben Menschen es immer getan. Es ist kein Wunder, dass der Psalm 23 so oft in Lied- bzw. Gedichtform gebracht wurde. Auf diese Weise konnten die Verfasser und Verfasserinnen ihn besser behalten. Und genau das ist eine gute Methode, wie wir den Trost der Bibel immer abrufen können: Indem wir Teile daraus auswendig lernen. Ihre Worte haben sich tausendfach bewährt, denn sie transportieren die Wahrheit. Viele sind in der Not entstanden, und entfalten deshalb gerade in der Not ihre Wirkung.
Wenn ich im Altenzentrum St. Nikolai Gottesdienst halte, dann beten wir immer zusammen den Psalm 23. Das hat meine Vorgängerin Monika Kiethe so eingeführt, und ich habe es beibehalten. Manchmal fände ich es schön, auch einmal einen anderen Psalm zu nehmen, aber dann bleibe ich doch bei dieser Tradition, denn es können ihn wirklich alle mit beten. Er ist wie eine eiserne Ration, die die Menschen auch im hohen Alter noch parat haben. Viele sind von Krankheit, Einsamkeit oder geistigen Verfall betroffen. Sie haben nicht mehr viel vom Leben, alles hat sich auf ein Minimum reduziert, und das ist traurig. Aber gerade dann ist es gut, wenn sich Gebete wie der Psalm 23 ins Gedächtnis eingegraben haben. Sie können bis zum Lebensende Trost spenden. Denn das ist das Entscheidende daran: Sie weisen über das Leben hinaus. Gott ist auch im Tod noch für uns da und führt uns hindurch. Er wird uns ganz zu sich holen, und dann wird es uns tatsächlich für immer gut gehen. Wir müssen nie mehr dürsten, sondern finden ewige Ruhe und Frieden. Denn wir „werden bleiben im Hause des Herrn immerdar.“
Amen.

Zu der Predigt wurde ich von der Radiosendung von Irene Dänzer-Vanotti, „Was Flüchtlinge stützt und bedroht“ in der Reihe Glaubenssachen am 12.4.2015 auf NDR-Kultur inspiriert. Die Geschichten und auch einige Formulierungen sind dem Manuskript entnommen.

Was die Kirche braucht

Predigt über Johannes 20, 19- 29: Die Vollmacht der Jünger

1. Sonntag nach Ostern, Quasimodogeniti, 12.4.2015
9.30 Uhr, Lutherkirche Kiel

Johannes 20, 19- 29

19 Am Abend aber dieses ersten Tages der Woche, als die Jünger versammelt und die Türen verschlossen waren aus Furcht vor den Juden, kam Jesus und trat mitten unter sie und spricht zu ihnen: Friede sei mit euch!
20 Und als er das gesagt hatte, zeigte er ihnen die Hände und seine Seite. Da wurden die Jünger froh, dass sie den Herrn sahen.
21 Da sprach Jesus abermals zu ihnen: Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch.
22 Und als er das gesagt hatte, blies er sie an und spricht zu ihnen: Nehmt hin den Heiligen Geist!
23 Welchen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen; und welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten.
24 Thomas aber, der Zwilling genannt wird, einer der Zwölf, war nicht bei ihnen, als Jesus kam.
25 Da sagten die andern Jünger zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er aber sprach zu ihnen: Wenn ich nicht in seinen Händen die Nägelmale sehe und meinen Finger in die Nägelmale lege und meine Hand in seine Seite lege, kann ich’s nicht glauben.
26 Und nach acht Tagen waren seine Jünger abermals drinnen versammelt und Thomas war bei ihnen. Kommt Jesus, als die Türen verschlossen waren, und tritt mitten unter sie und spricht: Friede sei mit euch!
27 Danach spricht er zu Thomas: Reiche deinen Finger her und sieh meine Hände, und reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig!
28 Thomas antwortete und sprach zu ihm: Mein Herr und amein Gott!
29 Spricht Jesus zu ihm: Weil du mich gesehen hast, Thomas, darum glaubst du. Selig sind, adie nicht sehen und doch glauben!

Liebe Gemeinde.
„Wie viele Leute waren denn da?“ Das werde ich fast immer als erstes gefragt, wenn ich von einer kirchlichen Veranstaltung erzähle. Sei es der Gottesdienst, eine Andacht, eine Gesprächsrunde, die „Zeit der Stille“ oder sonst etwas, am meisten interessiert es andere, die nicht da waren, wie hoch die Teilnehmerzahl war. Ich muss zugeben, dass ich diese Frage auch ganz oft stelle, obwohl ich das eigentlich nicht will. Denn was sagt das schon? Natürlich denken wir, dass eine Veranstaltung gut war, wenn viele Menschen mitgemacht haben. Aber ist die Anzahl der Teilnehmenden wirklich ein Qualitätsmerkmal? Können wir daran ablesen, ob etwas gut oder schlecht ist?
Es gibt Massenveranstaltungen, die sind fürchterlich, laut und oberflächlich, vielleicht sogar gefährlich und zerstörerisch. Wir müssen nur an das dritte Reich denken. Dagegen können kleine Zusammenkünfte manchmal wunderbar erfüllend sein, weil sie persönlich sind, dicht und intensiv. Es kommt zu echten Begegnungen und neuen Erkenntnissen.
Die Menge der Anwesenden sagt also nichts darüber aus, ob eine Zusammenkunft segensreich oder jämmerlich ist.
Auch für Jesus spielte das keine Rolle. Die Menschen sind ihm zu seinen Lebzeiten zwar in Scharen nachgefolgt, aber das hatte nicht viel zu bedeuten. Am Ende war er doch allein. Was blieb, war der kleine Kreis der zwölf Jünger, und das waren noch nicht einmal besonders großartige Menschen. Bei seiner Kreuzigung war ihr Verhalten kein bisschen glorreich und danach glänzten sie noch weniger: Sie versteckten sich hinter verschlossenen Türen aus „Furcht vor den Juden“, wie es im Evangelium von heute heißt.
Doch das reichte für Jesus, das war ihm gut genug. Er wählte genau diese kleine, verängstigte Schar, um sich als Auferstandener zu zeigen und durch sie das Evangelium in die Welt zu befördern. „Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch.“ Das war sein Auftrag. Und dann tat er das Entscheidende: Er „blies sie an und sprach zu ihnen: Nehmt hin den Heiligen Geist!“ Er schenkte ihnen Kraft und Zuversicht, erfüllte sie mit seiner Gegenwart, blieb innerlich bei ihnen und setzte sie in Bewegung. Er gab ihnen Vollmacht, anderen Menschen Sünden zu „erlassen“ und zu „behalten“.
Selbst Thomas, der gerade nicht da war, als dies geschah, wurde von ihm noch überzeugt. Er konnte nicht glauben, was die anderen ihm erzählten, reagierte ganz menschlich und zweifelte. Aber Jesus war es wichtig, dass er ihn genauso wie die anderen als Auferstandenen erlebte, und deshalb kam er nach acht Tagen noch einmal. Er erlaubte Thomas, ihn zu berühren und seine Wunden zu fühlen, und so ermöglichte er auch ihm den Glauben.
Fünfzig Tage später wurden sie dann aktiv. Beim Pfingstfest traten sie in Jerusalem auf die Straße und predigten das Evangelium. Die erste Gemeinde entstand, aus der dann die Kirche erwuchs. Ihr Fundament ist Jesus Christus selber, der Gekreuzigte und Auferstandene. Er hat sie ins Leben gerufen, er hat seinen Geist geschickt und dafür gesorgt, dass bis heute Menschen an ihn glauben und sein Heil empfangen.
Und das ist wichtig, daran sollten wir uns immer wieder erinnern. Uns, die wir hier sitzen, bedeuten die Kirche und der Glaube ja etwas, und sicher freuen wir uns alle, wenn möglichst viele Menschen mitmachen. Wir sind oft traurig über die geringe Zahl der Gottesdienstbesucher, zweifeln an unserer Bedeutung und verzagen. Die Kirche ist uns zu leblos, und wenn wir nichts tun, stirbt sie bald ganz. Das ist unsere Sorge. In vielen Gesprächen und Überlegungen ist es deshalb Thema, wie wir das ändern können.
Über Öffentlichkeitsarbeit wird dann nachgedacht und geredet. Wie können wir unser Image aufpolieren? Es müssen gute Prospekte her, bunte Internetseiten, Präsenz in den Medien. Auch mit unseren Angeboten richten wir uns oft nach den Bedürfnissen der Menschen. Wir gestalten Gottesdienste und unsere Zusammenkünfte modern und abwechslungsreich, bieten gute Unterhaltung und ansprechende Themen. Psychologische Erkenntnisse werden umgesetzt, soziologische Untersuchungen und Umfragen berücksichtigt. Wir werten aus, was wir über die Gesellschaft und die Menschen wissen, und entwickeln Konzepte und Methoden, wie das Evangelium heutzutage da hinein wirken kann. Im Studium gibt es dafür das Fach „praktische Theologie“. Im Vikariat werden die zukünftigen Pastoren und Pastorinnen weiter geschult, und auch Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, sowohl haupt- als auch ehrenamtlichen, wird ein reichhaltiges Fortbildungsprogramm angeboten. Auf allen Ebenen wird daran gearbeitet, dass wir als Kirche besser werden und mehr Menschen gewinnen und binden.
Und möglicher Weise gelingt es der einen oder anderen Gemeinde dadurch tatsächlich, viele Menschen zu erreichen und zu begeistern. Vielleicht haben sie ein völlig neues Gottesdienstkonzept entwickelt, ihre Kirche modernisiert, ein Projekt zum Gemeindeaufbau erfolgreich durchgeführt usw. Das ist dann wunderbar und natürlich auch nicht verkehrt. Wir müssen schon mit der Zeit gehen, innovativ bleiben und uns auf die Menschen und die Gesellschaft einstellen. Aber liegt darin wirklich die Antwort auf all unsere Probleme? Helfen diese Überlegungen, dass sich die Lage grundlegend verbessert?
Ich finde das viele Nachdenken über die richtigen Aktivitäten manchmal ermüdend, denn sie hängen so sehr von unseren Ideen und unserer Kraft ab. Wir setzen uns selber unter einen starken Druck, brauchen viele Menschen und am besten mehr Geld. Wir strengen uns an und sind irgendwann erschöpft und ausgelaugt. Wir können nicht mehr. Daran liegt es wohl auch, dass trotz aller Bemühungen noch kein allgemeiner Aufwärtstrend zu erkennen ist. Und so kommen zu der Anspannung oft noch Enttäuschung und Frustration dazu.
Richtig gut scheint es nur den sogenannten charismatischen oder Pfingstgemeinden zu gehen. In Amerika ist dieser Glaubensstil sehr verbreitet. Da gibt es inzwischen sogenannte „Gigakirchen“. Sie sehen aus wie riesige Stadien, es kommen jeden Sonntag zigtausend Menschen zusammen und feiern ausgelassen Gottesdienst. Rundherum sind Räume für alle Bedürfnisse, für jeden ist gesorgt. Man kann singen und beten, etwas über den Glauben lernen und diskutieren, seine Sünden beichten, Vergebung empfangen und geheilt werden. Es geschehen Zeichen und Wunder, der Geist Gottes ist mächtig am Werk und verteilt seine Wohltaten und seinen Segen.
So könnten wir es natürlich auch machen, wir müssten nur entsprechend glauben und predigen. Aber wollen wir das? Ich selber finde diese Art der Kirchen unattraktiv, sie sind mir viel zu laut und aufregend. Die Gottesdienste ähneln einer Show, bei der eine großartige Stimmung erzeugt wird. Die Predigten sind fundamentalistisch und oft manipulativ. Es entsteht ein Sog, dem man sich kaum entziehen kann. Das Ganze hat rauschhafte Züge. Und bestimmte Methoden stehen dahinter genauso. Es wird z.B. mit viel Druck und Angst gearbeitet: Wer sich nicht freut, glaubt noch nicht richtig, wer krank ist, versteckt irgendeine Sünde, und wer zweifelt, hat sich noch nicht ganz entschieden. Außerdem sind mir Massenbewegungen wie gesagt immer suspekt. Der oder die Einzelne muss sich anpassen und mit schwimmen, einen individuellen Weg gibt es nicht.
Das kann also auch nicht die Antwort sein. Doch wo liegt sie dann? Wie sollen wir mit der Misere denn nun umgehen?
Darauf gibt uns unser Predigttext eine Antwort, denn er zeigt uns, wie es anfing, und zwar mit Jesus Christus selber. Er ist zu den Jüngern gekommen und hat ihnen seinen Geist eingehaucht. Und das muss auch bei uns geschehen.
Es ist keine Alternative zu all den guten Methoden, die wir inzwischen entwickelt haben, aber es muss immer der Anfang von all unserem Handeln sein, der erste Schritt, der Ursprung, aus dem heraus wir reden und arbeiten. Die anderen Aktivitäten folgen dann, sie sind sekundär. Lassen Sie uns deshalb fragen, wie wir für die Gegenwart Christi wach bleiben und seinen Geist immer wieder empfangen können.
Dafür ist es zunächst einmal wichtig, dass wir aufhören, zu sehr über die Zahlen der Gottesdienstbesucher oder Kirchenmitglieder nachzudenken. Wir sollten uns die Frage „Wie viele waren denn da?“ wirklich einmal verkneifen. Stattdessen ist es gut, zu den kleinen Zahlen zu stehen. Der Erfolg lässt sich daran nämlich nicht ablesen. Denn es geht bei unseren Gottesdiensten und in unsren Gemeinden nicht um riesige Events und eine Bombenstimmung. Entscheidend ist vielmehr die Frage: Wie nahe ist Jesus Christus? Und was will er? Wo stehen wir gerade und was bewegt uns jetzt am meisten? Das ist eine ganz persönliche Frage an jeden und jede Einzelne. Wir müssen in uns gehen, um sie zu beantworten, und dazu brauchen wir keine laute Musik. Im Gegenteil, es ist gut, wenn es einmal still wird, damit wir uns selber spüren und genau in unser Leben hineinschauen können. Wir müssen es annehmen und erkennen, dass unsere Kraft oft sehr gering ist. Wir sind nicht besonders erfolgreich, wir sind keine Helden und Heldinnen und zweifeln manchmal wahrscheinlich genauso wie Thomas. Darunter leiden wir zwar, aber wir müssen daran selber nichts ändern, denn das können wir gar nicht. Diese Erkenntnis wäre der erste Schritt, um Christus nahe zu kommen.
Als zweites ist es wichtig, dass wir uns von ihm anrühren lassen. Er lebt und er will uns seinen Geist einhauchen, wir müssen dafür nur bereit sein. Und dafür ist es gut, wenn wir gerade einmal aufhören, uns zu viele Gedanken über bessere Methoden zu machen. Möglicherweise verhindern wir damit das Entscheidende, weil wir viel zu beschäftigt sind. Wir sind voll von unseren eigenen Ideen, Termine nehmen uns in Anspruch, Konzepte blockieren unseren Geist. Wir können das alles ruhig einmal loslassen, es bei Seite schieben und stattdessen empfangen, was Christus uns schenken möchte. Es ist seine lebendige Gegenwart, seine Liebe und sein Geist. Wir werden mit allem ausgerüstet, was nötig ist, damit wir leben können, und seine Gemeinde wächst. Wir müssen nur auf ihn schauen, ihn kommen lassen und ihm begegnen. Wir können ihn zwar nicht mehr leibhaftig anrühren wie Thomas das tat, aber wir können ihm trotzdem ganz nahe kommen. Denn er will in uns einziehen und von innen her alle Zweifel ausräumen. Wenn wir das zulassen, empfangen wir Kraft und Zuversicht. Das ist das Zweite.
Und als drittes entsteht daraus natürlich etwas. Zunächst einmal geschieht etwas mit uns: Der Glaube wirkt sich aus, und zwar nicht erschöpfend und auslaugend, sondern er macht uns wirklich froh. Wir entspannen uns, der Krampf löst sich auf, wir sind nicht müde und enttäuscht, sondern erfüllt und glücklich. Und das wirkt überzeugender und einladender als alles andere. Kein toller Prospekt kann das ersetzen, es muss allen abwechslungsreichen Programmen vorweggehen. Wenn wir lebendig sind, authentisch und erfüllt, dann wird wirklich etwas besser. Wir sind dann auch nicht mehr enttäuscht, wenn nur wenig Menschen zu uns kommen. Die Frustration verschwindet, und wir freuen uns an denen, die da sind. Und sie kommen ja. Wir sind nicht unbedeutend, sondern können anderen genau das geben, was sie wahrscheinlich am meisten suchen: Ein tiefes Vertrauen auch im Leid, eine Hoffnung, die nicht vergeht, und eine Liebe, die befreit.
Deshalb gibt es die Kirche auch bis heute – mit all ihren unterschiedlichen Ausrichtungen. Es liegt nicht an daran, dass sie immer so toll war, im Gegenteil, im Laufe der Geschichte hat es unzählig viele Verirrungen und Irrtümer gegeben, falsche Wege und Sackgassen. Aber das hat Jesus Christus nicht davon abgehalten, in ihr gegenwärtig zu sein. Keine Konfession hat ein Patentrezept, aber in allen ist Christus am Werk, natürlich auch in den Pfingstgemeinden. Und es ist gut, wenn wir uns daran einfach freuen. Wie viele Menschen mitmachen, ist nicht entscheidend, wichtig ist, dass sie überhaupt da sind, dass die Sache Christi weitergeht, und dass wir alle immer wieder Vertrauen, Hoffnung und Liebe empfangen und in die Welt tragen.
Amen.