Predigt über Johannes 3, 1- 6. 16: Jesus und Nikodemus
1. Weihnachtsfeiertag. 25.12.2017, 9.30 und 11 Uhr, Luther- und Jakobikirche Kiel
Johannes 3, 1-6. 16
1 Es war aber ein Mensch unter den Pharisäern mit Namen Nikodemus, einer von den Oberen der Juden.
2 Der kam zu Jesus bei Nacht und sprach zu ihm: Meister, wir wissen, du bist ein Lehrer, von Gott gekommen; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, es sei denn Gott mit ihm.
3 Jesus antwortete und sprach zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, dass jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen.
4 Nikodemus spricht zu ihm: Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er denn wieder in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden?
5 Jesus antwortete: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, dass jemand geboren werde aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen.
6 Was vom Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; und was vom Geist geboren ist, das ist Geist.
16 Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.
Liebe Gemeinde.
Nach dem Sündenfall sprach Gott zur Frau: „Ich will dir viel Mühsal schaffen, wenn du schwanger wirst; unter Mühen sollst du Kinder gebären.“ (1. Mose 3, 16) Diese düstere Vorhersage ist wahr geworden. Jede Frau, die ein Kind geboren hat, kann das bestätigen. Es beginnt mit den Wehen, die nicht umsonst so heißen, und geht weiter mit den vielen Risiken, die eine Geburt mit sich führt, sowohl für die Mutter als auch für das Kind. Es ist gefährlich, zu gebären und geboren zu werden. Deshalb müssen gut ausgebildete Fachkräfte dabei helfen. Und die finden ihre Aufgabe mitnichten süß oder romantisch, sondern anspruchsvoll und anstrengend. Sie haben viel Verantwortung, denn alles Mögliche kann bei einer Geburt schief gehen.
Trotzdem ist sie natürlich wunderbar und beglückend. Meine Mutter hat immer wieder erzählt, dass es keine schöneren Momente in ihrem Leben gab als die, bei denen sie uns Neugeborene dann im Arm hatte. Heutzutage kommen auch gleich am nächsten Tag ungefragt professionelle Fotografen oder Fotografinnen in die Klinik und machen schöne Bilder vom Baby und den Eltern. Denn eine Geburt ist auf jeden Fall ein bedeutendes Ereignis.
Und diesen Vorgang benutzt Jesus in unserem Evangelium als Bild für etwas, das auch auf geistlicher Ebene stattfindet. Er spricht von der „Geburt von oben her“.
Das Stichwort fällt in einem Gespräch mit einem Mann namens Nikodemus. Der war ein Mitglied der Pharisäergemeinschaft und gehörte dem Hohen Rat an, d.h. dem obersten Entscheidungsgremium der Juden. Als solcher müsste er eigentlich alles über den Glauben und die Religion wissen, aber dem ist nicht so. In dem Gespräch mit Jesus ist er der Fragende, der nur langsam versteht, was Jesus ihm sagt. Er kommt in der Nacht, und das hat der Erzähler wahrscheinlich bewusst so gewählt: Der Zeitpunkt symbolisiert das Dunkel des Unglaubens, in dem auch Nikodemus sich noch befindet. Er möchte wissen, wer Jesus ist und was er kann, und er möchte daran teilhaben.
Jesus sagt es ihm und offenbart sich zunächst mit der bekannten Formel „Wahrlich, wahrlich, ich sage dir.“ So hat Luther das zweifache „Amen“ übersetzt, das im Urtext steht. Es bedeutet: „Es steht fest“. Was Jesus ihm jetzt sagt, ist also von vorne herein göttliche Wahrheit, es ist Gottes Wort,und es lautet: „Es sei denn, dass jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen.“
Darum geht es also: Um das „Reich Gottes“. Diesen Ausdruck finden wir oft in den Reden Jesu. Er meint damit die vollendete Heilswirklichkeit, das was Gott eines Tages heraufführen wird, am Ende der Zeiten, am Ender der Welt. Jesus verkündete, dass es durch ihn nahe war, dass es durch sein Kommen bereits angebrochen ist. Doch das kann nicht jeder „sehen“, d.h. begreifen, geschweige denn da hineinkommen. Er muss dafür „von oben herab geboren werden“, wie es wörtlich in dem Gespräch mit Nikodemus heißt. Und damit will Jesus sagen, dass er vom Himmel her neu geschaffen werden muss. Gott muss an ihm handeln, ihn neu hervorbringen und wachsen und werden lassen.
Nikodemus versteht darunter eine „zweite Geburt“, eine „Wiedergeburt“, wie wir es aus vielen Übersetzungen kennen. Und er fragt mit Recht, wie das denn geht. „Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er denn wieder in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden?“ Das ist seine Frage, die deutlich macht, dass er über Jesus wirklich noch nichts weiß. Er missversteht ihn vollkommen, und seine Frage klingt fast so, als ober er sich über Jesus lustig macht.
Deshalb verdeutlicht Jesus das, was er gesagt hat: Er meint keine leibliche Geburt, sondern eine Geburt „aus Wasser und Geist“. Der Vorgang, an den er denkt, ist also so etwas wie eine Reinigung, die von innen heraus geschieht, eine Bekehrung, die große Veränderungen mit sich führt, eine Neuschöpfung des Menschen durch die Kraft Gottes.
Diese Vorstellung oder Metapher von der „Wiedergeburt“ taucht auch an anderen Stellen im Neuen Testament auf. Sie beinhaltet immer die Vergebung der Sünden, befähigt den menschlichen Verstand, die geistliche Wirklichkeit zu erkennen und befreit den Willen zur Heiligung, d.h. zum freiwilligen Gehorsam gegenüber Gott. Sie ist ein göttliches Geschenk, ein Mysterium, das die „Gotteskinder“ von der Welt unterscheidet und schon jetzt ihr Handeln bestimmt.
Am Ende des Gespräches sagt Jesus, warum und wie das möglich wird. Es liegt begründet in der großen Liebe Gottes zu den Menschen. Er hat seinen Sohn geschickt, um ihnen nahe zu sein und um sein Reich für sie zu öffnen. Wer das glaubt, wird daran teilhaben. Die, die das Geschenk Gottes annehmen, sich darüber freuen und es sich zu eigen machen, werden gehalten und gerettet, sie gewinnen „das ewige Leben“.
Das ist das Evangelium von heute und es passt in der Tat sehr gut zu Weihnachten. Das wird sehr schön an einem Gebet von Martin Luther deutlich. Es lautet:
„Nimm, Herr Jesu, unsere Geburt von uns und versenke sie in deiner Geburt. Schenke uns die deine, dass wir darin rein und neu werden, als wäre sie unser eigen, dass ein jeder von uns sich deiner Geburt nicht weniger freuen und rühmen möge, als wie wenn er auch wie du leiblich von Maria geboren wäre. Stärke uns den Glauben, dass du ganz unser bist, ein Kind – uns geboren, ein Sohn – uns gegeben.“
Doch wie kann das nun geschehen? Was bedeutet es konkret für unsere Frömmigkeit, für unsere Glaubenspraxis? Diese Fragen haben auch wir. Wir können uns gut mit Nikodemus identifizieren, denn wir sind in einer ähnlichen Situation: Er suchte Jesus auf, weil er zu ihm gehören wollte. Er wollte glauben, aber er wusste nicht wie. Was Jesus ihm sagt, gilt also auch uns: Wir müssen „von oben her geboren werden“. Lassen Sie uns darüber nachdenken, was das bedeutet.
Dabei hilft es, wenn wir es mit dem vergleichen, was bei einer leiblichen Geburt geschieht, und was ich zu Anfang erwähnte: Sie ist zugleich ein schmerzhafter und eine freudiger Vorgang, Weh und Glück liegen ganz dicht zusammen, Leben und Sterben sind nicht weit voneinander entfernt.
Um welchen Schmerz geht es also bei einer geistlichen Geburt? Das müssen wir uns als erstes fragen. Worin liegen da die Wehen?
Und dafür ist es gut, wenn wir in unser Leben schauen. Es ist ja sowieso von vielerlei Schmerz angefüllt, je älter wir werden, umso mehr. Keine Lebensgeschichte verläuft ohne Leid oder Trauer, Gewalt oder Unrecht, Angst oder Einsamkeit. Wir wollen das alles nicht und tun viel, damit es nicht die Oberhand gewinnt. Aber gelingt das auch? Bleiben nicht trotz all unserer Versuche, das Leben heil zu machen, Wunden und ungelöste Fragen zurück? Das Schwere lässt sich nicht einfach so auslöschen. Es ist da. Oft verstärkt sich das Leid sogar dadurch, dass wir es loswerden wollen.
Und das ändert sich bei einer Geburt von oben herab. Denn dazu gehört es als erstes, dass wir den Schmerz des Lebens annehmen. Eine Geburt ist ja ein passiver Vorgang, d.h. wir erleiden etwas. Übertragen heißt das, wir lassen uns selber los und lassen geschehen. Wir sagen „Ja“ und halten den Schmerz aus.
Einfach ist das nicht. Genauso wie wir bei der leiblichen Geburt durch den engen Hals der Gebärmutter hindurch müssen, ist auch dies ein schmaler Pfad, den wir nicht so gerne gehen. Wir suchen normalerweise breitere Wege. Davon gibt es ja viele. Wir können uns z.B. ablenken und zerstreuen. Gerade die Art und Weise, wie wir Weihnachten feiern, bietet uns dafür viele Möglichkeiten. Es ist in diesen Tagen immer etwas los. Ein Vergnügen folgt dem nächsten und wir sind normaler Weise von vielen Menschen umgeben. Zu ihnen gehen wir sonst auch gern, wenn wir Hilfe brauchen. Das erscheint uns heller und schöner, als die Dunkelheit auszuhalten.
Mit der Vorstellung von der Wiedergeburt wird das alles auch nicht verurteilt. Wir sollen uns nicht vom Leben abwenden. Aus eigener Kraft heraus können wir das auch gar nicht, jedenfalls nicht so, dass dabei etwas Neues eintritt. Und darum geht es ja. Wir brauchen deshalb den, der etwas Neues in uns schaffen kann, und das ist Jesus Christus.
Wir sind zum Glauben an ihn eingeladen, zum Vertrauen, dazu, auf ihn zu schauen und ihn im Geist zu „umfangen“. Das ist der nächste Schritt. Jesus Christus ist da und er ist für uns gekommen. Wir sind nicht allein in der dunklen Welt, sondern werden von Gott geliebt und gerettet. Wir müssen nur die Gegenwart Christi „genießen“, dann werden wir ins Weite geführt.
Das hat Paul Gerhardt sehr schön in einem Weihnachtslied zum Ausdruck gebracht. Er dichtete: „Süßes Heil, lass dich umfangen, lass mich dir, meine Zier, unverrückt anhangen. Du bist meines Lebens Leben; nun kann ich mich durch dich wohl zufrieden geben.“ (Evangelisches Gesangbuch Nr. 36, 10)
Mit diesen Worten deutet er an, dass die Wiedergeburt auch die andere Seite hat: die Freude über ein neues Leben, das Glück des Neuanfangs. So wie bei einer leiblichen Geburt liegt sie ganz nah und stellt sich unmittelbar ein. Wir können Altes abwerfen und bekommen neue Kraft. Wir werden mit Ruhe und Zuversicht ausgerüstet, denn vor uns liegt ein Weg voller Licht und Liebe. Unsere Lebensgeister erwachen, uns durchströmt eine neue Energie. Ungeahnte Kräfte werden mobilisiert und wir verspüren frischen Tatendrang. Und dieses Erleben ist genauso wunderbar und beglückend wie die Geburt eines Kindes. Wir bekommen Anteil an Gottes Gegenwart, an seinem Geheimnis und an seiner Liebe. Unsere Seele wird geweitet, sie öffnet sich ins Grenzenlose, und unser Geist erhebt sich über diese Zeit hinaus.
Das geschieht allerdings nicht nur einmal. Darin liegt ein Unterschied zur leiblichen Geburt. Wir werden durch den Glauben an Jesus nicht ein für alle Mal „von oben herab geboren“ und sind damit dann für den Rest unseres Lebens neue Menschen. Es ist vielmehr ein Vorgang, der sich wiederholt. Wir begeben uns auf einen Weg, der uns immer weiter führt. Die neue Geburt ist wie ein lebenslanger Prozess, ein Wachsen und Werden.
Dieser Weg hat jedoch ein endgültiges Ziel, auf das wir uns freuen können. Paul Gerhardt erwähnt es am Ende seines Liedes indem er dichtet: „Dir will ich hinfahren; mit dir will ich endlich schweben voller Freud ohne Zeit dort im andern Leben.“ (s.o. Str. 12) Wir „haben“ am Ende „das ewige Leben“.
Wahrscheinlich hat Nikodemus das alles auch erfahren. Er wurde „von oben herab geboren“. Was Jesus ihm in dem nächtlichen Gespräch erklärt hat, ist wahr geworden. Er hat sich darauf eingelassen und wurde sein Jünger. Zweimal taucht er noch im Johannesevangelium auf. Das eine Mal verteidigte er Jesus in einem Streitgespräch mit anderen Pharisäern und gab sich als sein Anhänger zu erkennen. (Joh. 7, 50f)
Das andere Mal war nach seinem Tod. (Joh. 19,39) Er half bei der Abnahme Jesu vom Kreuz und brachte zur Bestattung eine Mischung von Myrrhe und Aloe mit, ein wohlriechendes Harz und Holz. In zerstoßener und pulverisierter Form hat er die Duftstoffe – wie es üblich war – in die Leinentücher gegeben, mit denen der Leichnam eingewickelt wurde. Und er brachte davon eine sehr große Menge mit, es ist von umgerechnet 32 Kilo die Rede. Das sprengte alle normalen Maße und entsprach seiner Verehrung gegenüber Jesus. Er hatte in ihm den königlichen Gottessohnes gefunden.
Und das können auch wir, dazu feiern wir Weihnachten. Lassen Sie es uns tun, indem wir Jesus „ins Herz schließen“, ihn „mit Fleiß bewahren“ (s.o. Str.11) und ihm unser Leben übergeben.
Amen.