Die Geburt von oben her

Predigt über Johannes 3, 1- 6. 16: Jesus und Nikodemus

1. Weihnachtsfeiertag. 25.12.2017, 9.30 und 11 Uhr, Luther- und Jakobikirche Kiel

Johannes 3, 1-6. 16

1 Es war aber ein Mensch unter den Pharisäern mit Namen Nikodemus, einer von den Oberen der Juden.
2 Der kam zu Jesus bei Nacht und sprach zu ihm: Meister, wir wissen, du bist ein Lehrer, von Gott gekommen; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, es sei denn Gott mit ihm.
3 Jesus antwortete und sprach zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, dass jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen.
4 Nikodemus spricht zu ihm: Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er denn wieder in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden?
5 Jesus antwortete: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, dass jemand geboren werde aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen.
6 Was vom Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; und was vom Geist geboren ist, das ist Geist.
16 Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.

Liebe Gemeinde.

Nach dem Sündenfall sprach Gott zur Frau: „Ich will dir viel Mühsal schaffen, wenn du schwanger wirst; unter Mühen sollst du Kinder gebären.“ (1. Mose 3, 16) Diese düstere Vorhersage ist wahr geworden. Jede Frau, die ein Kind geboren hat, kann das bestätigen. Es beginnt mit den Wehen, die nicht umsonst so heißen, und geht weiter mit den vielen Risiken, die eine Geburt mit sich führt, sowohl für die Mutter als auch für das Kind. Es ist gefährlich, zu gebären und geboren zu werden. Deshalb müssen gut ausgebildete Fachkräfte dabei helfen. Und die finden ihre Aufgabe mitnichten süß oder romantisch, sondern anspruchsvoll und anstrengend. Sie haben viel Verantwortung, denn alles Mögliche kann bei einer Geburt schief gehen.
Trotzdem ist sie natürlich wunderbar und beglückend. Meine Mutter hat immer wieder erzählt, dass es keine schöneren Momente in ihrem Leben gab als die, bei denen sie uns Neugeborene dann im Arm hatte. Heutzutage kommen auch gleich am nächsten Tag ungefragt professionelle Fotografen oder Fotografinnen in die Klinik und machen schöne Bilder vom Baby und den Eltern. Denn eine Geburt ist auf jeden Fall ein bedeutendes Ereignis.
Und diesen Vorgang benutzt Jesus in unserem Evangelium als Bild für etwas, das auch auf geistlicher Ebene stattfindet. Er spricht von der „Geburt von oben her“.
Das Stichwort fällt in einem Gespräch mit einem Mann namens Nikodemus. Der war ein Mitglied der Pharisäergemeinschaft und gehörte dem Hohen Rat an, d.h. dem obersten Entscheidungsgremium der Juden. Als solcher müsste er eigentlich alles über den Glauben und die Religion wissen, aber dem ist nicht so. In dem Gespräch mit Jesus ist er der Fragende, der nur langsam versteht, was Jesus ihm sagt. Er kommt in der Nacht, und das hat der Erzähler wahrscheinlich bewusst so gewählt: Der Zeitpunkt symbolisiert das Dunkel des Unglaubens, in dem auch Nikodemus sich noch befindet. Er möchte wissen, wer Jesus ist und was er kann, und er möchte daran teilhaben.
Jesus sagt es ihm und offenbart sich zunächst mit der bekannten Formel „Wahrlich, wahrlich, ich sage dir.“ So hat Luther das zweifache „Amen“ übersetzt, das im Urtext steht. Es bedeutet: „Es steht fest“. Was Jesus ihm jetzt sagt, ist also von vorne herein göttliche Wahrheit, es ist Gottes Wort,und es lautet: „Es sei denn, dass jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen.“
Darum geht es also: Um das „Reich Gottes“. Diesen Ausdruck finden wir oft in den Reden Jesu. Er meint damit die vollendete Heilswirklichkeit, das was Gott eines Tages heraufführen wird, am Ende der Zeiten, am Ender der Welt. Jesus verkündete, dass es durch ihn nahe war, dass es durch sein Kommen bereits angebrochen ist. Doch das kann nicht jeder „sehen“, d.h. begreifen, geschweige denn da hineinkommen. Er muss dafür „von oben herab geboren werden“, wie es wörtlich in dem Gespräch mit Nikodemus heißt. Und damit will Jesus sagen, dass er vom Himmel her neu geschaffen werden muss. Gott muss an ihm handeln, ihn neu hervorbringen und wachsen und werden lassen.
Nikodemus versteht darunter eine „zweite Geburt“, eine „Wiedergeburt“, wie wir es aus vielen Übersetzungen kennen. Und er fragt mit Recht, wie das denn geht. „Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er denn wieder in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden?“ Das ist seine Frage, die deutlich macht, dass er über Jesus wirklich noch nichts weiß. Er missversteht ihn vollkommen, und seine Frage klingt fast so, als ober er sich über Jesus lustig macht.
Deshalb verdeutlicht Jesus das, was er gesagt hat: Er meint keine leibliche Geburt, sondern eine Geburt „aus Wasser und Geist“. Der Vorgang, an den er denkt, ist also so etwas wie eine Reinigung, die von innen heraus geschieht, eine Bekehrung, die große Veränderungen mit sich führt, eine Neuschöpfung des Menschen durch die Kraft Gottes.
Diese Vorstellung oder Metapher von der „Wiedergeburt“ taucht auch an anderen Stellen im Neuen Testament auf. Sie beinhaltet immer die Vergebung der Sünden, befähigt den menschlichen Verstand, die geistliche Wirklichkeit zu erkennen und befreit den Willen zur Heiligung, d.h. zum freiwilligen Gehorsam gegenüber Gott. Sie ist ein göttliches Geschenk, ein Mysterium, das die „Gotteskinder“ von der Welt unterscheidet und schon jetzt ihr Handeln bestimmt.
Am Ende des Gespräches sagt Jesus, warum und wie das möglich wird. Es liegt begründet in der großen Liebe Gottes zu den Menschen. Er hat seinen Sohn geschickt, um ihnen nahe zu sein und um sein Reich für sie zu öffnen. Wer das glaubt, wird daran teilhaben. Die, die das Geschenk Gottes annehmen, sich darüber freuen und es sich zu eigen machen, werden gehalten und gerettet, sie gewinnen „das ewige Leben“.
Das ist das Evangelium von heute und es passt in der Tat sehr gut zu Weihnachten. Das wird sehr schön an einem Gebet von Martin Luther deutlich. Es lautet:
„Nimm, Herr Jesu, unsere Geburt von uns und versenke sie in deiner Geburt. Schenke uns die deine, dass wir darin rein und neu werden, als wäre sie unser eigen, dass ein jeder von uns sich deiner Geburt nicht weniger freuen und rühmen möge, als wie wenn er auch wie du leiblich von Maria geboren wäre. Stärke uns den Glauben, dass du ganz unser bist, ein Kind – uns geboren, ein Sohn – uns gegeben.“
Doch wie kann das nun geschehen? Was bedeutet es konkret für unsere Frömmigkeit, für unsere Glaubenspraxis? Diese Fragen haben auch wir. Wir können uns gut mit Nikodemus identifizieren, denn wir sind in einer ähnlichen Situation: Er suchte Jesus auf, weil er zu ihm gehören wollte. Er wollte glauben, aber er wusste nicht wie. Was Jesus ihm sagt, gilt also auch uns: Wir müssen „von oben her geboren werden“. Lassen Sie uns darüber nachdenken, was das bedeutet.
Dabei hilft es, wenn wir es mit dem vergleichen, was bei einer leiblichen Geburt geschieht, und was ich zu Anfang erwähnte: Sie ist zugleich ein schmerzhafter und eine freudiger Vorgang, Weh und Glück liegen ganz dicht zusammen, Leben und Sterben sind nicht weit voneinander entfernt.
Um welchen Schmerz geht es also bei einer geistlichen Geburt? Das müssen wir uns als erstes fragen. Worin liegen da die Wehen?
Und dafür ist es gut, wenn wir in unser Leben schauen. Es ist ja sowieso von vielerlei Schmerz angefüllt, je älter wir werden, umso mehr. Keine Lebensgeschichte verläuft ohne Leid oder Trauer, Gewalt oder Unrecht, Angst oder Einsamkeit. Wir wollen das alles nicht und tun viel, damit es nicht die Oberhand gewinnt. Aber gelingt das auch? Bleiben nicht trotz all unserer Versuche, das Leben heil zu machen, Wunden und ungelöste Fragen zurück? Das Schwere lässt sich nicht einfach so auslöschen. Es ist da. Oft verstärkt sich das Leid sogar dadurch, dass wir es loswerden wollen.
Und das ändert sich bei einer Geburt von oben herab. Denn dazu gehört es als erstes, dass wir den Schmerz des Lebens annehmen. Eine Geburt ist ja ein passiver Vorgang, d.h. wir erleiden etwas. Übertragen heißt das, wir lassen uns selber los und lassen geschehen. Wir sagen „Ja“ und halten den Schmerz aus.
Einfach ist das nicht. Genauso wie wir bei der leiblichen Geburt durch den engen Hals der Gebärmutter hindurch müssen, ist auch dies ein schmaler Pfad, den wir nicht so gerne gehen. Wir suchen normalerweise breitere Wege. Davon gibt es ja viele. Wir können uns z.B. ablenken und zerstreuen. Gerade die Art und Weise, wie wir Weihnachten feiern, bietet uns dafür viele Möglichkeiten. Es ist in diesen Tagen immer etwas los. Ein Vergnügen folgt dem nächsten und wir sind normaler Weise von vielen Menschen umgeben. Zu ihnen gehen wir sonst auch gern, wenn wir Hilfe brauchen. Das erscheint uns heller und schöner, als die Dunkelheit auszuhalten.
Mit der Vorstellung von der Wiedergeburt wird das alles auch nicht verurteilt. Wir sollen uns nicht vom Leben abwenden. Aus eigener Kraft heraus können wir das auch gar nicht, jedenfalls nicht so, dass dabei etwas Neues eintritt. Und darum geht es ja. Wir brauchen deshalb den, der etwas Neues in uns schaffen kann, und das ist Jesus Christus.
Wir sind zum Glauben an ihn eingeladen, zum Vertrauen, dazu, auf ihn zu schauen und ihn im Geist zu „umfangen“. Das ist der nächste Schritt. Jesus Christus ist da und er ist für uns gekommen. Wir sind nicht allein in der dunklen Welt, sondern werden von Gott geliebt und gerettet. Wir müssen nur die Gegenwart Christi „genießen“, dann werden wir ins Weite geführt.
Das hat Paul Gerhardt sehr schön in einem Weihnachtslied zum Ausdruck gebracht. Er dichtete: „Süßes Heil, lass dich umfangen, lass mich dir, meine Zier, unverrückt anhangen. Du bist meines Lebens Leben; nun kann ich mich durch dich wohl zufrieden geben.“ (Evangelisches Gesangbuch Nr. 36, 10)
Mit diesen Worten deutet er an, dass die Wiedergeburt auch die andere Seite hat: die Freude über ein neues Leben, das Glück des Neuanfangs. So wie bei einer leiblichen Geburt liegt sie ganz nah und stellt sich unmittelbar ein. Wir können Altes abwerfen und bekommen neue Kraft. Wir werden mit Ruhe und Zuversicht ausgerüstet, denn vor uns liegt ein Weg voller Licht und Liebe. Unsere Lebensgeister erwachen, uns durchströmt eine neue Energie. Ungeahnte Kräfte werden mobilisiert und wir verspüren frischen Tatendrang. Und dieses Erleben ist genauso wunderbar und beglückend wie die Geburt eines Kindes. Wir bekommen Anteil an Gottes Gegenwart, an seinem Geheimnis und an seiner Liebe. Unsere Seele wird geweitet, sie öffnet sich ins Grenzenlose, und unser Geist erhebt sich über diese Zeit hinaus.
Das geschieht allerdings nicht nur einmal. Darin liegt ein Unterschied zur leiblichen Geburt. Wir werden durch den Glauben an Jesus nicht ein für alle Mal „von oben herab geboren“ und sind damit dann für den Rest unseres Lebens neue Menschen. Es ist vielmehr ein Vorgang, der sich wiederholt. Wir begeben uns auf einen Weg, der uns immer weiter führt. Die neue Geburt ist wie ein lebenslanger Prozess, ein Wachsen und Werden.
Dieser Weg hat jedoch ein endgültiges Ziel, auf das wir uns freuen können. Paul Gerhardt erwähnt es am Ende seines Liedes indem er dichtet: „Dir will ich hinfahren; mit dir will ich endlich schweben voller Freud ohne Zeit dort im andern Leben.“  (s.o.  Str. 12) Wir „haben“ am Ende „das ewige Leben“.
Wahrscheinlich hat Nikodemus das alles auch erfahren. Er wurde „von oben herab geboren“. Was Jesus ihm in dem nächtlichen Gespräch erklärt hat, ist wahr geworden. Er hat sich darauf eingelassen und wurde sein Jünger. Zweimal taucht er noch im Johannesevangelium auf. Das eine Mal verteidigte er Jesus in einem Streitgespräch mit anderen Pharisäern und gab sich als sein Anhänger zu erkennen. (Joh. 7, 50f)
Das andere Mal war nach seinem Tod. (Joh. 19,39) Er half bei der Abnahme Jesu vom Kreuz und brachte zur Bestattung eine Mischung von Myrrhe und Aloe mit, ein wohlriechendes Harz und Holz. In zerstoßener und pulverisierter Form hat er die Duftstoffe – wie es üblich war – in die Leinentücher gegeben, mit denen der Leichnam eingewickelt wurde. Und er brachte davon eine sehr große Menge mit, es ist von umgerechnet 32 Kilo die Rede. Das sprengte alle normalen Maße und entsprach seiner Verehrung gegenüber Jesus. Er hatte in ihm den königlichen Gottessohnes gefunden.
Und das können auch wir, dazu feiern wir Weihnachten. Lassen Sie es uns tun, indem wir Jesus „ins Herz schließen“, ihn „mit Fleiß bewahren“ (s.o.  Str.11) und ihm unser Leben übergeben.
Amen.

Der Friedefürst ist geboren

Predigt über Jesaja 9, 1- 6:  Verheißung eines  Friedefürsten


Heiligabend, 24.1.2017, 17 Uhr, Lutherkirche Kiel

Jesaja 9, 1- 6

1 Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell.
2 Du weckst lauten Jubel, du machst groß die Freude. Vor dir wird man sich freuen, wie man sich freut in der Ernte, wie man fröhlich ist, wenn man Beute austeilt.
3 Denn du hast ihr drückendes Joch, die Jochstange auf ihrer Schulter und den Stecken ihres Treibers zerbrochen wie am Tage Midians.
4 Denn jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht, und jeder Mantel, durch Blut geschleift, wird verbrannt und vom Feuer verzehrt.
5 Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter; und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst;
6 auf dass seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende auf dem Thron Davids und in seinem Königreich, dass er’s stärke und stütze durch bRecht und Gerechtigkeit von nun an bis in Ewigkeit. Solches wird tun der Eifer des HERRN Zebaoth.

Liebe Gemeinde.
Mitten im Ersten Weltkrieg, in diesem millionenfachen Sterben ereignete sich am Heiligen Abend 1914 etwas sehr Ungewöhnliches: Für ein paar Stunden bzw. Tage kamen die deutschen Soldaten und ihre Feinde, vor allem englische Soldaten, aus den Schützengräben – und feierten gemeinsam. Es kam zu spontanen Verbrüderungen.
Dieses Ereignis ist als „Weihnachtsfrieden“ in die Geschichte eingegangen, oder auch als „weihnachtliche Waffenruhe“. Sie fand an einigen Abschnitten der Westfront, in Flandern statt, und auch an Teilen der Ostfront gab es zu diesem Zeitraum keine Schusswechsel. Von der Befehlsebene war das nicht autorisiert, die Soldaten taten es aus eigenem Antrieb.
Inzwischen ist das lange her, aber erzählt wird diese Geschichte immer noch. Es gibt auch Filme dazu, denn es fasziniert die Menschen bis heute. Wie durch ein Wunder war plötzlich Frieden möglich, weil die Soldaten; die sich eigentlich gerade bekämpften, es so wollten. Sie gehorchten der Weihnachtsbotschaft mehr, als den Waffen und verwirklichten ein Stück des Friedens, der uns an diesem Fest verheißen wird.
In unserer alttestamentlichen Lesung geschieht das z.B. Es ist die Prophezeiung eines „Friedefürsten“, so lautet einer der Namen, der ihm hier gegeben wird.
Jesaja hat das formuliert, einer der großen Schriftpropheten des Alten Testamentes. Er wirkte in einer Zeit, als Juda durch die Großmacht Assyrien bedroht wurde. Das Volk hatte also Angst und verlor die Hoffnung. Jesaja wollte ihnen Mut machen, und so verkündete er, dass bald eine große Wende eintreten würde, ein universaler Friede, Gerechtigkeit und Heil. Er verhieß den Israeliten einen zukünftigen Messias, der ein gerechter Richter und Retter der Armen sein würde. Die Rede ist so etwas wie ein Auftragsgedicht für seine Thronbesteigungsfeier.
Jesaja erinnert darin unter anderem an einen Tag in der Vergangenheit des Volkes, an dem die Israeliten mit Gottes Kraft einen herrlichen Sieg über ihre Feinde errungen hatten, mit nur ganz geringer menschlicher Macht. Und so etwas wird wieder geschehen, sagt er. Denn Gott wird ihnen einen Retter „geben“, der besondere Namen erhält. Sie lauten: „Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst“.
Zum Schluss sagt der Prophet: „Auf dass seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende auf dem Thron Davids und in seinem Königreich, dass er’s stärke und stütze durch Recht und Gerechtigkeit von nun an bis in Ewigkeit. Solches wird tun der Eifer des HERRN Zebaoth.“
Das ist die Verheißung Jesajas, und die haben die Christen auf Jesus bezogen. Sie sehen in ihm diesen Retter, der die Finsternis vertreibt und eine ewige Herrschaft des Friedens aufrichtet, der stark und gewaltig ist.
Aber tun sie das eigentlich zu Recht? Wo und wann erleben wir davon denn etwas? Die Welt hat sich in den letzten 2000 Jahren, seitdem Christus erschienen ist, doch so gut wie gar nicht geändert! Es gibt keinen weltweiten Frieden und viel Ungerechtigkeit. Was soll das also, dass wir so etwas alles in Jesus sehen? Er scheint machtlos zu sein. Das denken viele. Sie fragen sich, wo ist Gott? Und warum lässt er all das Leid, die Kriege und das Blutvergießen zu? Wozu lesen wir die Bibel überhaupt, wenn sie doch nicht der Wirklichkeit entspricht?
Auf diese Fragen suchen wir Antworten, und unser Abschnitt aus dem Alten Testament gibt uns darauf auch welche. Wir müssen ihn nur genau lesen.
Dann gilt es als erstes festzustellen, dass hier ein zukünftiger Friede angekündigt wird. Der Prophet beschreibt eine Vision, etwas, das noch kommen wird. Und das ist durch das Kommen Jesu Christi nicht anders geworden. Wir glauben zwar, dass er der Retter ist, der die Welt erlösen kann, aber auch sein Heil verwirklicht sich erst in der Zukunft ganz. Es hat durch sein Erscheinen zwar begonnen, es ist da, aber vorerst bleibt es noch verborgen. Nur wer sich darauf einlässt, kann es erleben.
Helmut Gollwitzer hat das einmal sehr schön formuliert. Das war ein Theologe, der von 1908 bis 1993 lebte. Während des dritten Reiches gehörte er zur sogenannten bekennenden Kirche, d.h. er war ein Gegner der Nazis und hat das auch umgesetzt. Seit den Novemberpogromen 1938 verhalf er z.B. Juden zur Flucht bzw. Ausreise. Außerdem hatte er Kontakte zu Widerständlern in der Wehrmacht. Mehrfach er wurde deshalb verhaftet und bekam ein Redeverbot. Das hielt ihn aber nicht davon ab, seinen Glauben zu bekennen. So ist von ihm aus diesen düsteren Zeiten die Aussage überliefert: „Die Nacht wird nicht ewig dauern. Es wird nicht finster bleiben. Die Tage, von denen wir sagen, sie gefallen uns nicht, werden nicht die letzten Tage sein. Wir schauen durch sie hindurch vorwärts auf ein Licht, zu dem wir jetzt schon gehören und das uns nicht loslassen wird. Das ist unser Bekenntnis.“ Er glaubte also an die Zukunft, und dazu sind auch wir eingeladen: Zum Glauben daran, dass das Leben weitergeht, und dass spätestens am Ende aller Zeiten etwas Großes und Schönes auf uns wartet, ein helles Licht und ein ewiger Friede.
Zu diesem Glauben müssen wir uns allerdings entscheiden. Das ist der zweite Punkt. Den Frieden Christi gewinnen wir nur, wenn wir uns danach ausstrecken und auf ihn hoffen. Wir müssen uns also fragen, wo wir hinschauen und wie wir leben wollen Natürlich können wir auf all die Probleme starren, uns beklagen, zweifeln und bitter werden. Aber ist das ratsam? Solange wir das tun, finden wir mit Sicherheit keine Antwort auf die Frage, was Jesus denn gebracht hat. Wir entdecken seine Macht und seinen Frieden nicht, wenn wir nur auf das Böse blicken. Im Gegenteil, dann verschließen wir uns. Es hat ganz viel mit uns selber zu tun, ob sich der Friede Christi verwirklicht. Wir werden von Gott nicht aus der Verantwortung entlassen. Er will mit den Menschen zusammen arbeiten. Er traut ihnen etwas zu und rechnet damit, dass sie seinen Willen umsetzen. Es ist also wichtig, dass wir uns für Jesus Christus öffnen und auf ihn schauen.
Dabei müssen wir uns allerdings klar machen, dass seine Herrschaft von ganz anderer Art ist, als wir uns das zunächst vorstellen. Er greift nicht mit Gewalt ein, das wird schon an seinem Kommen deutlich. Er ist als kleines Kind auf dieser Welt erschienen und ist den Weg des Leidens gegangen. Seine Stärke liegt nicht in Gewalt oder Herrschaft, sondern in Hingabe und Liebe, in Geduld und Barmherzigkeit.
Um seine Kraft und seine Gegenwart zu entdecken, ist es deshalb gut, wenn wir uns unsere eigene Hilflosigkeit eingestehen und uns bewusst machen, wie oft wir selber leiden, schwach oder traurig sind. Es gibt dafür viele Gründe. Es können Konflikte mit anderen sein, hervorgerufen durch Eifersucht, Hass und Neid. Oder auch Krankheiten, Verluste und Enttäuschungen. Am liebsten verdrängen wir das alles oder versuchen, uns irgendwie selber zu retten.
Doch das ist oft kaum möglich ist. Wir spüren: In den tiefen Schichten unserer Seele bleibt es meistens friedlos und unruhig. Wir haben Angst, machen uns Sorgen und fühlen uns allein. Wir brauchen eine größere Macht, eine Hilfe, die tiefer geht, und genau die hat Jesus Christus für uns bereit. Wir müssen eigentlich nur still werden und auf ihn vertrauen, auf dieses kleine Kind, das uns von Gott gegeben wurde. Dann entdecken wir seine Kraft, es wird friedlich in unsrer Seele. Jesus kann etwas tun, er wirkt in uns und kann uns verändern.
Anselm Grün hat das einmal so formuliert: „Wenn Christus in mir geboren wird, wenn er mein Herz ausfüllt, dann ahne ich etwas von dem Frieden, der von ihm ausgeht. Es ist kein Friede, der mit Waffengewalt durchgesetzt werden muss. Sein Friede strömt aus einem Herzen, das von Liebe voll ist.“ Es gibt den Frieden Christi, und wir können dafür zum Kanal werden. Dann fließt er durch uns hindurch in diese Welt hinein.
Das alles wird sehr schön deutlich, wenn wir uns noch einmal klar machen, was die Namen bedeuten, die der Prophet Jesaja in unserem Text dem Messias gibt:
Der erste Name lautet „wunderbarer Ratgeber“, d.h. er zeigt mir neue Wege, öffnet mir die Augen für seinen Frieden, enthüllt Geheimnisse und hilft mir weiter.
Der zweite Name heißt „starker Gott“. Er ist demnach größer als ich, er hat Kraft und ungeahnte Möglichkeiten. Er kann das Böse überwinden. Er kann in meiner Seele siegen und mich selber stark machen. Er beschützt und trägt, er rettet und befreit.
Sein dritte Name ist: „ewiger Vater“. Das bedeutet, er bleibt bei mir, er ist mir zugewandt, er kümmert sich um mich und versorgt mich. Er ist da, und das wird niemals aufhören. Es wird bis in eine unbegrenzte Zukunft hinein so weitergehen. Menschliche Väter sterben, aber Jesus nicht, auf ihn ist ewig Verlass.
Und der letzte Name lautet „Friedefürst“, man kann auch sagen „Befehlshaber des Friedens“. Er wacht also darüber, dass Frieden in mir ist, und passt darauf auf, dass er erhalten bleibt. Er garantiert ihn, d.h. er sorgt für Stabilität und Ruhe, Wohlergehen und Heil.
Und das sind wunderbare Namen für Jesus Christus. Sie enthüllen, was er kann. Wir können es erfahren, wenn wir uns ihm zuwenden und auf ihn vertrauen. Seine Macht zieht dann in unser Leben ein. Die Probleme werden kleiner, Ängste verschwinden. Wir können in Frieden miteinander leben und uns einander lieben. Das ist der zweite Punkt.
Und damit ist als drittes klar, dass der Friede, den Jesus Christus gebracht hat, in dieser Zeit und in dieser Welt nur punktuell möglich wird. Er ereignet sich dort, wo Menschen daran glauben. Er leuchtet immer mal wieder auf. Es fällt von der Zukunft her ein Lichtstrahl in diese Zeit. So war es in der Heiligen Nacht im Jahr 1914. Der Krieg ging anschließend leider weiter, und viele Soldaten wollten das bestimmt nicht. Aber wenigstens ist der Friede einmal kurz vorhanden gewesen. Er hat sich gezeigt, Menschen haben ihn verwirklicht, dort, wo sie waren, mit den Menschen, mit denen sie zusammen trafen. Sie sind aufeinander zugegangen, haben sich die Hand gereicht und haben Weihnachten gefeiert. Und das können auch wir erleben, in unseren Familien, im Freundeskreis, am Arbeitsplatz, in der Gemeinde und in der Gesellschaft. Überall und immer wieder gibt es die Lichter des Friedens.
Lassen Sie uns dazu beitragen, dass das so bleibt, indem wir durchlässig werden für den Frieden Christi. Anstatt über die Dunkelheit zu klagen, wollen wir sie mit unserem Glauben und unserer Zuversicht durchdringen. Es ist großartig, dass Gott selber zu uns gekommen ist. Lassen Sie uns an diesem bedeutenden Ereignis festhalten, uns davon erschüttern und begeistern lassen und von Herzen Weihnachten feiern.
Amen.

Jesus Christus – die Mitte der Welt

Predigt über Offenbarung 5: Das Buch mit den sieben Siegeln

1. Sonntag im Advent, 3.12.2017, Luther- und Jakobikirche Kiel

Offenbarung 5

1 Und ich sah in der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß, ein Buch, beschrieben innen und außen, versiegelt mit sieben Siegeln.
2 Und ich sah einen starken Engel, der rief mit großer Stimme: Wer ist würdig, das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen?
3 Und niemand, weder im Himmel noch auf Erden noch unter der Erde, konnte das Buch auftun und hineinsehen.
4 Und ich weinte sehr, weil niemand für würdig befunden wurde, das Buch aufzutun und hineinzusehen.
5 Und einer von den Ältesten spricht zu mir: Weine nicht! Siehe, es hat überwunden der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids, aufzutun das Buch und seine sieben Siegel.
6 Und ich sah mitten zwischen dem Thron und den vier Gestalten und mitten unter den Ältesten ein Lamm stehen, wie geschlachtet; es hatte sieben Hörner und sieben Augen, das sind die sieben Geister Gottes, gesandt in alle Lande.
7 Und es kam und nahm das Buch aus der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß.
8 Und als es das Buch nahm, da fielen die vier Gestalten und die vierundzwanzig Ältesten nieder vor dem Lamm, und ein jeder hatte eine Harfe und goldene Schalen voll Räucherwerk, das sind die Gebete der Heiligen,
9 und sie sangen ein neues Lied: Du bist würdig, zu nehmen das Buch und aufzutun seine Siegel; denn du bist geschlachtet und hast mit deinem Blut Menschen für Gott erkauft aus allen Stämmen und Sprachen und Völkern und Nationen
10 und hast sie unserm Gott zu Königen und Priestern gemacht, und sie werden herrschen auf Erden.
11 Und ich sah, und ich hörte eine Stimme vieler Engel um den Thron und um die Gestalten und um die Ältesten her, und ihre Zahl war vieltausendmal tausend;
12 die sprachen mit großer Stimme: Das Lamm, das geschlachtet ist, ist würdig, zu nehmen Kraft und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Preis und Lob.
13 Und jedes Geschöpf, das im Himmel ist und auf Erden und unter der Erde und auf dem Meer und alles, was darin ist, hörte ich sagen: Dem, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm sei Lob und Ehre und Preis und Gewalt von Ewigkeit zu Ewigkeit!
14 Und die vier Gestalten sprachen: Amen! Und die Ältesten fielen nieder und beteten an.

Liebe Gemeinde.

Wer einen Kreis zeichnen möchte, braucht dafür normalerweise einen Zirkel, d.h. eine Mitte, von der her sich der Kreis definiert, und einen Radius. Ohne das – besonders ohne einen Mittelpunkt – ist es sehr schwierig.
In der Physik spielt diese Tatsache ebenfalls eine Rolle, d.h. wenn Bewegung in den Kreis kommt und er sich dreht. Dann entsteht die sogenannte „Zentrifugalkraft“. Ein Bespiel dafür ist der Schleuderball, den man an einer Schlaufe festhält und dreht. Dadurch wird er beschleunigt, und wenn man ihn loslässt, fliegt weg. Und das heißt: Solange die Elemente auf der Kreislinie mit der Mitte verbunden sind, bleiben sie da, wenn sie losgelassen werden, fliehen sie.
Und das ist ein schönes Bild für unser Leben insgesamt: Wenn wir eine Mitte haben, an die wir uns binden, sind wir gehalten. Trennen wir uns davon, werden wir in die Weite geschleudert und gehen verloren.
Wir brauchen diese Mitte also, und sie muss die Kraft haben, gegen die „Fliehkräfte“ des Lebens zu wirken, uns festzuhalten. In der Physik heißt diese Kraft die „Ziehkraft“ oder einfach „Zentralkraft“.
Und genau davon ist in unserer Epistel von heute, der Vision aus der Offenbarung des Johannes, die Rede: Die kraftvolle Mitte, die hier beschreiben und verkündet wird, ist ein Lamm, das vor dem Thron Gottes steht und von „vieltausendmal tausend Engeln“ umringt wird.
Lassen Sie uns das, was dort erzählt wird, einmal ausmalen und die einzelnen Elemente deuten.
Die Vision beginnt bereits im vorhergehenden Kapitel: Da wird beschrieben, wie sich im Geist für den Seher Johannes eine Tür im Himmel öffnet und er zum Eintritt gerufen wird. In einem Saal voller Licht, Weite und Schönheit sieht er in der Mitte Gottes Thron, umgeben von vier Gestalten. Drei davon gleichen Tieren, es waren ein Löwe, ein Stier und ein Adler. Die vierte Gestalt hatte „ein Antlitz wie ein Mensch“. (Offb. 4,6f) Die Kirche sieht darin die Symbolbilder der vier Evangelisten. Sie singen unaufhörlich das „Heilig, heilig, heilig“, das in der Tradition des Judentums und der alten Kirche ein wichtiger Teil der Liturgie ist. Um diesen Thron und die vier Gestalten herum stehen „vierundzwanzig Älteste“.  (Offb. 4, 4.8) Sie repräsentieren eine gottesdienstliche Versammlung und stehen für die endzeitlich-himmlische Kirche.
Unser Kapitel beginnt nun mit einer Buchrolle, die zur Rechten des Thrones liegt und die siebenfach versiegelt ist. Es ist eine Urkunde, und sie enthält den endzeitlichen Geschichtsplan Gottes. Mit der Lösung der sieben Siegel werden die Geschicke der letzten Zeit entbunden, alle Schicksale und Schrecken, die noch über die Welt hereinbrechen sollen. Wer die Siegel öffnen kann, setzt also den endzeitlichen Geschichtsplan Gottes in Gang. Auch die Erwartung einer endgültigen Rettung wird damit erfüllt. Der Siegelöffner ist gleichzeitig der Überwinder, der die Weltgeschichte an ihr Ziel bringt. Er stillt die Sehnsucht der Menschen nach Erlösung.
Es gibt nur einen, der das kann, und dieses Wesen erscheint nun vor den Augen des Sehers im himmlischen Thronsaal: Es ist ein Lamm, das die Schnittwunden seiner Schächtung an seinem Hals hat und zugleich sieben Hörner trägt. Mit diesem Bild ist Christus gemeint. Es kommt an vielen Stellen in der Offenbarung vor. Die sieben Hörner sind ein Zeichen seiner herrschaftlichen Würde. Gleichzeitig ist er das Opferlamm, das die Schuld der Welt stellvertretend gesühnt hat. Der Titel „Lamm“ weist also auf den Opfertod Christi hin und gleichzeitig auf die Herrschaft, die dem erhöhten Herrn übertragen ist. Es ist die der hingebenden Liebe. Und als der, der zugleich liebt und regiert, empfängt er das Buch des Lebens aus der Hand Gottes und löst die Siegel des Schreckens.
In diesem Augenblick fallen alle Umstehenden vor ihm nieder. Sie spielen himmlische Musik und entzünden in goldenen Schalen Räucherwerk, das wohlriechend den Himmel durchströmt. Das sind die Gebete der Christen, die aus den irdischen Gottesdiensten in den himmlischen Gottesdienst gelangen. Zum Schluss vereinen sich die Chöre aller Geschöpfe und Engel, die um den Thron stehen, und sie singen das „neue Lied“, den Lobpreis der Vollendung der Geschichte Gottes mit seiner Schöpfung: „Dem, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm sei Lob und Ehre und Preis und Gewalt von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen!“
Diesen Abschnitt aus der Bibel lesen wir heute, am ersten Advent, und das wirkt zunächst befremdlich. Denn in den Wochen, die vor uns liegen, erwarten wir die irdische Geburt des Gottessohnes, das ist alter liturgischer Brauch. Es gehört allerdings genauso zu unserer Tradition, dabei gleichzeitig an das zweite Kommen Christi zum Anbruch der Endzeit zu denken. Das vergessen wir heutzutage gern. Doch in den Adventswochen verbinden wir diese beiden Inhalte, und das ist gut, denn es erinnert uns daran, worum es in dieser Zeit letzten Endes geht: Um den Anbruch einer neuen Welt, um die Berührung des Himmels mit der Erde und das Erscheinen Gottes. Wir werden eingeladen, uns neu auf die geheime Mitte des Universums auszurichten, auf den liebenden und erhöhten Christus, der auch uns halten und retten kann.
Lassen Sie uns also fragen, wie das geht und was dazu gehört. Und dafür hilft es, wenn wir uns zunächst klar machen, wie unser Leben normaler Weise aussieht. Wir können das gut mit dem Bild von den „Fliehkräften“ tun, die sind nämlich vielfältig und stark. Sie entstehen, weil unser Leben ständig in Bewegung ist und sich dreht. Wir werden von Vielerlei umkreist und machen diese Bewegung deshalb selber mit.
Das können z.B. andere Menschen sein, die etwas von uns wollen. Wir sollen ihren Erwartungen gerecht werden, etwa im Beruf oder in der Familie. Es geht auch meistens gar nicht anders, als dass wir darauf eingehen, denn natürlich braucht ein Kind seine Eltern, der Ehemann die Ehefrau, die Vorgesetzte ihre Angestellten usw. Die Aufgaben, die damit zusammenhängen, bringen Bewegung ins Leben, und vieles davon macht uns auch Freude. Doch gelegentlich kann es zu viel werden, dann geraten wir unter Druck und entfernen uns von unserer eigenen Mitte. Wir geraten ins Schleudern, und es fühlt sich so an, als würde eine starke, fremde Kraft uns aus der Bahn werfen.
Konsum- und Vergnügungsangebote können dieselbe Wirkung haben. Gerade jetzt in der Adventszeit locken sie in vielfältiger Weise. Wir reden nicht umsonst von der „Glitzerwelt“ der Kaufhäuser und Weihnachtsmärkte: Überall werden wir geblendet und verführt. Unsere Lust wird stimuliert. Das macht bis zu einem bestimmten Grad Spaß, aber unsere Bedürfnisse und Triebe können uns auch ins Rotieren bringen. Dann verlieren wir uns und fühlen uns irgendwann unwohl.
Und diese Liste, der „Fliehkräfte“ des Lebens ließe sich beliebig verlängern: Von allen Seiten werden wir umkreist und fangen an, uns zu drehen. Und dabei entsteht die Gefahr, dass wir uns selber aus den Augen verlieren. Bildlich gesprochen, werden wir in die Weite geschleudert. Wir verlieren die Orientierung und den festen Standpunkt, wissen nicht mehr, wo wir hingehören, und fühlen uns schlecht. Innere Leere und Sinnlosigkeitsgefühle beschleichen uns. Auch Einsamkeit und Angst kommen auf, und irgendwann geht nichts mehr. Wir sind erschöpft und ausgelaugt und wissen nicht weiter.
Es ist deshalb wichtig, dass wir immer mit der Mitte in Verbindung bleiben und die „Zentralkraft“ wirken lassen. Wir brauchen ein Zentrum, das uns hält und von dem her wir leben.
Und dazu regt die Adventszeit uns an. Uns wird der verkündet, der in der Mitte der Welt vor dem Thron Gottes steht und uns retten kann: Jesus Christus, der liebende und erhöhte Herr. Er ist da und lädt uns zu sich ein. Wenn wir auf ihn blicken und uns ihm anvertrauen, dann kann seine Kraft uns halten. Es ist die Kraft der liebenden Hingabe, die uns bindet und erlöst.
Die Adventszeit ist dazu da, dass wir uns ihr aussetzen, uns immer wieder innerlich sammeln und die Gegenwart Christi genießen. Anstatt uns auf die Peripherie des Lebens auszurichten, gilt es, die Mitte zu suchen. Die Erlösung liegt nicht in auf der Kreislinie, sondern im Zentrum. Es ist deshalb gut, wenn wir unser Bewusstsein regelmäßig umlenken und uns darauf „konzentrieren“. Dann werden wir fest und ruhig, wir finden zu unserer eigenen Mitte und zu Gott.
In einem Himmelfahrtslied von Philipp Friedrich Hiller aus dem Jahr 1757 kommt all das sehr schön zum Ausdruck. Es lautet: „Jesus Christus herrscht als König, alles wird ihm untertänig, alles legt ihm Gott zu Fuß.“ (Evangelisches Gesangbuch 123) Dieses Bild hat der Dichter der Offenbarung entnommen und er malt es in den folgenden Versen sehr schön aus, bis es in Strophe fünf heißt: „Nur in ihm, o Wundergaben, können wir Erlösung haben, die Erlösung durch sein Blut.“ Der Dichter erinnert damit an das „Opferlamm“, das wir durch den Glauben in unser Leben aufnehmen dürfen. Deshalb folgt in Strophe sieben der Aufruf: „Gebt, ihr Sünder, ihm die Herzen, klagt, ihr Kranken, ihm die Schmerzen, sagt, ihr Armen, ihm die Not. Wunden müssen Wunden heilen, Heilsöl weiß er auszuteilen, Reichtum schenkt er nach dem Tod.“ Es geht darum, dass wir uns Christus anvertrauen, zu ihm rufen und viel von ihm erwarten. Dann „zieht er uns zu sich empor“ und „der Himmel steht uns offen“.
Deshalb ist es gut, wenn wir uns in die Scharen der Engel und Wesen um den Thron Gottes einreihen. Selbst wenn wir auf der „tiefsten Stufe“ stehen, oder – um in unserem Bild zu bleiben – auf einer der äußeren Kreislinien, können wir auf die Mitte schauen und mit allen anderen „glauben, reden und rufen: Jesus Christus herrscht als König, alles sei ihm untertänig; ehret, liebet, lobet ihn!“
Amen.