Lasset uns mit Jesus ziehen

Predigt über Lukas 18, 31- 34: Die dritte Leidensankündigung

Sonntag vor der Passionszeit, Estomihi, 23.2.2020, 9.30 Uhr, Lutherkirche Kiel

Lukas 18, 31- 34

31 Er nahm aber zu sich die Zwölf und sprach zu ihnen: Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, was geschrieben ist durch die Propheten von dem Menschensohn.
32 Denn er wird überantwortet werden den Heiden, und er wird verspottet und misshandelt und angespien werden,
33 und sie werden ihn geißeln und töten; und am dritten Tage wird er auferstehen.
34 Sie aber begriffen nichts davon, und der Sinn der Rede war ihnen verborgen, und sie verstanden nicht, was damit gesagt war.

Liebe Gemeinde.

Die schwerste Botschaft, die es zu überbringen gibt, ist die Todesnachricht. Bei einem Gewaltverbrechen oder einem Unfall mit Todesfolge ist das die Aufgabe der Polizei. Es gehört natürlich zu ihrer Ausbildung, dafür das nötige Feingefühl zu entwickeln, trotzdem werden wir als Notfallseelsorger und Seelsorgerinnen oft gebeten, mitzukommen. Denn die Information ist für die Angehörigen ein Schock, niemand weiß, wie sie reagieren werden. Sie brauchen oft menschlichen Beistand oder psychologische Betreuung.

Ähnlich schwer ist es, wenn Ärzte in so einer Situation sind. Das geschieht sicher noch viel häufiger. Dabei müssen sie nicht nur Todesnachrichten überbringen, sondern oft schon vorher ankündigen, dass eine Krankheit nicht mehr heilbar ist, und der oder die Betroffene nur noch kurze Zeit zu leben hat. Auch das erfordert sehr viel Fingerspitzengefühl.

Einem Kranken selbst sagt man es manchmal lieber gar nicht. Das ist dann natürlich unehrlich, aber es gibt Menschen, für die es besser ist, wenn sie nicht erfahren, dass sie bald sterben werden. Möglicherweise würden sie es sowieso nicht verstehen oder glauben.

So ging es jedenfalls den Jüngern Jesu. Sie waren zwar in der Rolle der Angehörigen, und Jesus war der, der bald sterben würde, aber das Unverständnis lag bei ihnen. Er wusste um die Realität und sah ihr ins Auge. Seine Jünger sollten es auch verstehen, und er hat dreimal versucht, sie in sein bevorstehendes Schicksal einzuweihen. So überliefern es die Evangelisten Matthäus, Markus und Lukas. Die dritte Vorhersage aus dem Lukasevangelium haben wir eben gehört.

Man kann sie unter die Überschrift stellen: „Jesu Weg zum Ziel“, denn so war es für ihn: Er war gefasst und hatte das Ende seines Weges auf der Erde klar im Blick. Er wusste, dass seine Feinde ihn umbringen wollten, und er eines gewaltsamen Todes sterben würde. Doch das erschreckte ihn nicht, weil er an die göttliche Bestimmung glaubte, die dahinter stand. Er ging davon aus, dass sich damit der Heilsplan Gottes erfüllte. Denn so hatten es bereits die Propheten vorhergesagt, und nun wurde diese Weissagung Wirklichkeit.

Darüber wollte er seine Jünger belehren und aufklären. Sie sollten hören, was ihm und damit auch ihnen bevorstand. Er weihte sie in sein Wissen ein.

Doch es gelang ihm nicht, sich verständlich zu machen. Sie begriffen nicht, wovon er redete und was er meinte. Sie wehrten sich gegen die furchtbare Nachricht und nahmen sie nicht auf, denn das konnten sie nicht verkraften. Sie sollten erkennen, dass seine Hinrichtung bevorstand, sie ihn also auf grausame Weise verlieren würden und dabei selber in Gefahr gerieten. Das lag außerhalb ihres Vorstellungsvermögens, sie wollten es einfach nicht erfassen.

Denn es war zu schlimm für sie. Drei Jahre lang waren sie mit ihm gegangen, hatten dafür alles aufgegeben, hatten ihm vertraut und geglaubt, dass er der Messias war, der alles ändern würde. Natürlich liebten sie ihn auch und hingen an ihm. Sie wollten ihn auf keinen Fall verlieren. Es ist völlig nachvollziehbar, dass sie die Todesnachricht ablehnten.

Wie es Jesus selber mit diesem Wissen ging, wird hier zwar nicht erwähnt, aber er schien nüchtern und innerlich gefestigt gewesen zu sein. Er beschreibt ja sehr genau, was ihn erwartete: Zuerst kommen seelische Qualen, Verspottung, Misshandlung und Verhöhnung. Dann folgen körperliche Grausamkeiten, wie die Geißelung und die Hinrichtung.

Davor hätte er eigentlich Angst bekommen und so schnell wie möglich weglaufen und sich verstecken müssen. Doch er tat genau das Gegenteil: Er begab sich in die Hände seiner Feinde und ging ihnen entgegen, nach Jerusalem, wo sie bereits auf ihn warteten. Fast scheint es so, als hatte er eine Todessehnsucht, doch das war nicht der Fall. Er beschwor seinen gewaltsamen Tod zwar herauf, aber er wusste, dass das nicht das Ende seines Auftrags sein würde. Deshalb konnte er so ruhig damit umgehen. Er sah weiter, über sich und seine Zeit auf Erden hinaus. Er glaubte an die Macht Gottes, die auch noch jenseits des Todes bleibt und wirkt. Gerade durch seinen Tod würde sie sich als wahr erweisen, und den Menschen den Weg in die Ewigkeit öffnen. Das waren sein Glaube und seine Einsicht, davon war er erfüllt und durchdrungen.

Die Jünger dagegen konnten das nicht verstehen, seine Rede blieb für sie rätselhaft. „Sie aber begriffen nichts davon, und der Sinn der Rede war ihnen verborgen, und sie verstanden nicht, was damit gesagt war.“ So steht es am Ende des Textabschnittes.

Und damit sind sie uns sehr nah. Das können wir uns gut vorstellen. Möglicherweise geht es uns sogar ganz ähnlich. Wir wissen zwar, dass Jesus gekreuzigt wurde, aber leicht fällt uns dieses Wissen nicht. Es ist unbehaglich und anstößig. Und das war schon immer so. Von Anfang an war das Kreuz ein Ärgernis, über das auch die Christen nachdenken mussten. Bis heute versucht die Theologie, es einzuordnen, und es gibt viele verschiedene Ansätze dafür.

Der geläufigste ist, dass Jesus für unsere Sünden gestorben ist. Der Apostel Paulus hat diese Theorie als erster formuliert. In den Evangelien liegt der Schwerpunkt anders. Da machen die Leidensankündigungen – von denen uns heute eine vorliegt – deutlich, was der Tod Jesu bedeutet, und zwar werden wir mit ihnen in die Nachfolge gerufen. D.h. wir sollen Jesus in sein Leiden und in den Tod folgen, um dann auch mit ihm aufzuerstehen und zu neuem Leben zu erwachen. Der Christ und die Christin werden eingeladen, sich auf den Weg zu machen und mit ihm zu gehen. Dann können auch sie erfahren, dass die Macht Gottes weit über den Tod hinausgeht. Wir werden zur Leidensbereitschaft herausgefordert, um an der Auferstehung teil zu haben.

Aber wollen wir das? Ist das für uns nicht genauso hart? Wir wollen den Tod und das Leiden nicht, es schreckt uns ab und verstört uns. Es geht uns nicht anders als den Jüngern. Gewaltsame Vorfälle sind dabei besonders entsetzlich. Wir hören ja fast täglich davon. Meistens geschehen sie in anderen Ländern, doch jetzt ist es auch bei uns passiert: Neun Menschen mussten in Hanau sterben, weil ein Einzelner es so wollte. Wie können wir da ruhig und fest bleiben? Es löst Angst und Schrecken aus.

Deshalb wird der Vorfall in den Medien und in der Politik ausführlich behandelt. Es gibt inzwischen sehr viele gute und hilfreiche Äußerungen und Aktionen dazu. Ich möchte all die Bekundungen jetzt nicht wiederholen, und hinzuzufügen gibt es dem auch kaum noch etwas.

Die Frage, die sich in unserem Zusammenhang stellt, ist auch hauptsächlich die: Wie geht es jetzt den Angehörigen der Opfer? Sie sind ja am meisten betroffen und sind in schweres Leid geraten. Deshalb gibt es auch eine Opferbeauftragte, die ihnen mit ihrem Team hilft, die vielen Gefühle und Gedanken zu verarbeiten, Trauer und Wut, Angst und Entsetzen. Der Gedanke, so ein Schicksal einfach hinzunehmen oder es möglicherweise sogar freiwillig zu wählen, kommt uns auf diesem Hintergrund völlig abwegig, ja sogar zynisch vor. Das kann doch nicht die Antwort auf Terror und Krieg, Gewalt und Morden sein!

Doch so dürfen wir den Weg Jesu und seinen Ruf in die Nachfolge auch nicht verstehen. Er will nicht, dass wir taten- oder gedankenlos zusehen, wenn etwas Schlimmes passiert. Der Schreck und die Verstörung gehören dazu. Wir sollen nur realistisch sein und uns nichts vormachen. Es gilt zu erkennen, dass das Leben oft genau so grausam ist. Auch wenn uns keine Terroranschläge treffen, geht es uns nicht immer gut. Wir müssen vieles erleiden und ertragen, und am Ende steht auf jeden Fall der Tod, da führt kein Weg auf der Welt drum herum. Jesus möchte von uns Nüchternheit und Ehrlichkeit gegenüber diesen Tatsachen. Wir verdrängen das ja lieber, verschließen unsere Augen und beschäftigen uns nicht damit. Doch damit werden wir dem Leben nicht gerecht. Wir versuchen, etwas auszuklammern, das sich nicht ausklammern lässt. Und das ist nicht ratsam. Denn irgendwann holt es uns ein, und dann haben wir keine Möglichkeit, damit umzugehen. Angst überfällt uns, Unruhe und möglicherweise Verzweiflung. Wir wissen nicht weiter, sind ratlos und aufgeschmissen. Deshalb ist es so schwer, eine Todesnachricht zu empfangen. Sie tut sehr weh.

Doch es gibt einen Weg, wie sich dieser Schmerz abschwächen kann. Und zwar ist es wichtig, dass wir uns selber spüren und uns klar machen, was alles in uns vorgeht, wenn wir mit dem Tod in Berührung kommen. Es ist nämlich gar nicht nur die schlimme Erfahrung, die uns quält, sondern auch das, was dadurch in unserer Seele geschieht: Wir hadern und lehnen uns auf, und das zermürbt uns. Es gibt negative Kräfte, die uns von innen verzehren und zerstören wollen. Das müssen wir erkennen und uns dagegen wehren. Es ist nicht zwingend, dass wir uns diesen Kräften ausliefern, wir können ihnen etwas entgegensetzen.

Es beginnt damit, dass wir still werden und gar nichts mehr tun oder denken, allerdings ohne unsere Augen zu verschließen. Wir wenden uns nicht von der Realität ab, sondern wenden uns Gott zu. Er ist die größere Realität, und wir sagen und geben ihm, was uns beschwert. Er kann von uns nehmen, was uns nieder drückt, daran gilt es, zu glauben. Das ist zwar wie ein Sterben, aber es tut gut. Wir nehmen unseren eigenen Tod damit ein Stück weit vorweg, jedoch mit einem „Ja“, und dadurch lässt der Schmerz nach.

Wir haben vorhin das Lied gesungen: „Gott ist gegenwärtig“ (EG 165). Es beginnt in den ersten beiden Strophen mit der Vorstellung von Gottes Thron und der Aufforderung zur Anbetung. Das ist schön, und wir singen es gerne. Die dritte Strophe ist dagegen sehr unbeliebt und wird oft weggelassen. Sie beginnt mit dem Satz: „Wir entsagen willig allen Eitelkeiten, aller Erdenlust und Freuden.“ Das ist uns fremd und passt nicht in unser Lebensgefühl. Aber es ist eine sehr sinnvolle Vorgehensweise, die auch in der Leidensankündigung Jesu zum Ausdruck kommt: Es ist gut, wenn wir die Oberflächlichkeit bei Seite legen und annehmen, dass das Leben nicht nur lustvoll und unterhaltsam ist.

Stattdessen sind wir eingeladen, unseren „Willen, Seele, Leib und Leben Gott zum Eigentum zu geben.“ So geht die Strophe aus dem genannten Lied weiter. Und das ist wichtig. Denn daran wird deutlich, dass wir weder zu einem heldenhaften Verzicht noch zum Stumpfsinn oder zur Gelichgültigkeit aufgefordert werden. Wir dürfen vielmehr wissen und glauben, dass wir nicht allein sind. Wir können und sollen auf Jesus blicken und uns seinen Weg und sein Leiden vorstellen. Er geht dann mit uns und steht uns bei. Jesus führt uns durch die Dunkelheit. Und das gilt in allen Situationen, die dunkel und schwer sind, die wir nicht verstehen und die uns aufwühlen. Wir sind auf jeden Fall bei ihm geborgen. Er umgibt uns mit seiner Liebe und lässt uns teilhaben an seiner Überwindung.

Natürlich geschieht das nicht in einem Augenblick. Es ist manchmal ein langer Weg, den wir gehen müssen, bevor es nach einer schlimmen Erfahrung wieder hell in uns und um uns herum wird. Aber es gibt diesen Weg, und es geht darum, dass wir ihn einschlagen. Dann behalten wir auf jeden Fall eine Hoffnung. Mit der Zeit weicht die Verzweiflung, und das Herz wird ruhig, auch angesichts von Tod und Schrecken. Jesus hat das Reich Gottes gebracht und die Ewigkeit für uns geöffnet. Leiden und sterben, Gewalt und Terror haben nicht das letzte Wort. Es gibt vielmehr eine Wirklichkeit jenseits des irdischen Lebens. Gottes Macht ist größer als alles, der Tod kann sie nicht auslöschen. Das hat Jesus verkündigt, dafür hat er gelebt, dafür ist er gestorben und auferstanden. Er führt uns den Weg zu Gott, den Weg durch die Zeit in die Ewigkeit.

Seine Botschaft war die schönste, die es gibt, denn sie ist eine Antwort auf alle unsere Fragen und Nöte. Sie löst keinen Schock aus, sondern bringt Ruhe und Freude. Er selber ist der Beistand, den wir brauchen. Er heilt unsere Seele und verheißt uns Leben. Es tut deshalb gut, wenn wir ihn empfangen, an ihn glauben und darauf vertrauen, dass sein Weg auch für uns der beste ist.

Lasst uns deshalb singen:

„Nun aufwärts froh den Blick gewandt und vorwärts fest den Schritt! Wir gehn an unsers Meisters Hand und unser Herr geht mit.“ (EG 394)

Amen.

Gott ist parteilich

Predigt über Matthäus 20, 1- 16: Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg

3. Sonntag vor der Passionszeit, Septuagesimae, 9.2.2020,
Lutherkirche Kiel

Matthäus 20, 1-16

1 Denn das Himmelreich gleicht einem Hausherrn, der früh am Morgen ausging, um Arbeiter für seinen Weinberg einzustellen.
2 Und als er mit den Arbeitern einig wurde über einen Silbergroschen als Tagelohn, sandte er sie in seinen Weinberg.
3 Und er ging aus um die dritte Stunde und sah andere müßig auf dem Markt stehen
4 und sprach zu ihnen: Geht ihr auch hin in den Weinberg; ich will euch geben, was recht ist.
5 Und sie gingen hin. Abermals ging er aus um die sechste und um die neunte Stunde und tat dasselbe.
6 Um die elfte Stunde aber ging er aus und fand andere und sprach zu ihnen: Was steht ihr den ganzen Tag müßig da?
7 Sie sprachen zu ihm: Es hat uns niemand eingestellt. Er sprach zu ihnen: Geht ihr auch hin in den Weinberg.
8 Als es nun Abend wurde, sprach der Herr des Weinbergs zu seinem Verwalter: Ruf die Arbeiter und gib ihnen den Lohn und fang an bei den letzten bis zu den ersten.
9 Da kamen, die um die elfte Stunde eingestellt waren, und jeder empfing seinen Silbergroschen.
10 Als aber die Ersten kamen, meinten sie, sie würden mehr empfangen; und auch sie empfingen ein jeder seinen Silbergroschen.
11 Und als sie den empfingen, murrten sie gegen den Hausherrn
12 und sprachen: Diese Letzten haben nur eine Stunde gearbeitet, doch du hast sie uns gleichgestellt, die wir des Tages Last und Hitze getragen haben.
13 Er antwortete aber und sagte zu einem von ihnen: Mein Freund, ich tu dir nicht Unrecht. Bist du nicht mit mir einig geworden über einen Silbergroschen?
14 Nimm, was dein ist, und geh! Ich will aber diesem Letzten dasselbe geben wie dir.
15 Oder habe ich nicht Macht zu tun, was ich will, mit dem, was mein ist? Siehst du scheel drein, weil ich so gütig bin?
16 So werden die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein.

Liebe Gemeinde.

„Damit das Reich Gottes verwirklicht werden kann, müssen jene an diesem Reich teilhaben, die ganz weltlich des Lebens in seinen verschiedenen Formen beraubt worden sind: die Armen und Unterdrückten. Daher ist die Verkündigung Jesu parteilich, und der Gott des Lebens zeigt sich parteilich für die des Lebens beraubten […] Jesus verkündigt das Reich Gottes den Armen, verkündigt das Leben jenen, die es am wenigsten haben.“ (Bruno Kern, Theologie der Befreiung, Tübingen und Basel, 2013, S. 39)

So formuliert Jon Sobrino, ein spanischer Jesuit, der zu den sogenannten Befreiungstheologen gehört. Er lebt in El Salvador und ist Professor der Theologie. Seine Bedeutung liegt vor allem darin, dass er erforscht und herausgearbeitet hat, wie das Leben und die Verkündigung Jesu Christi die Gesellschaft prägen können. Nachfolge bedeutet für ihn ganz praktisch das Engagement für die Befreiung der Unterdrückten.

Und damit ist er nicht allein. Für alle Befreiungstheologen ist die Person Jesu Christi der Prüfstein für ihre Denkwege, und sie haben herausgestellt, dass Jesus und die Botschaft vom Reich Gottes unauflöslich zusammengehören. (s.o. S. 128)

Was das Reich Gottes dabei bedeutet, kann man an seinem Handeln und auch an seinen Gleichnissen erkennen. Eins davon haben wir vorhin gehört. Es ist das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg.

Jesus wählt für seine Geschichte wie immer eine Situation aus dem Alltagsleben der Menschen und erzählt von einem Weinbergbesitzer: Der brauchte Arbeiter, möglicherweise für die Ernte, und so ging er früh am Morgen aus, um sie zu suchen. Sie standen auf dem Marktplatz in der nächsten Ortschaft und warteten ihrerseits auf eine Anstellung. Es war damals üblich, dass Menschen für einen Tag bei jemandem arbeiteten und am Morgen für eine Anstellung zur Verfügung standen. Die Arbeitszeit dauerte normaler Weise von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Was den Lohn betraf, so verabredete man morgens die Höhe, und am Abend wurde man ausbezahlt.

Bis dahin ist hier also alles ganz normal. Der Weinbergbesitzer schlägt auch den damals üblichen Tageslohn vor, einen Silbergroschen nämlich. Das war zwar nicht viel, aber wenn man sonst kein Einkommen hatte, lohnte es sich durchaus, dafür einen Tag lang zu schuften. So fand der Gutsbesitzer also welche, die auf seinem Weinberg für den verabredeten Lohn arbeiten wollten.

Doch dann tat er etwas Ungewöhnliches. Drei Stunden später ging er nämlich noch einmal los, um Arbeiter einzustellen. Offensichtlich reichten die Kräfte nicht aus, um das, was getan werden musste, zu bewältigen. Interessanter Weise wird aber beim zweiten Mal die Höhe des Lohnes nicht erwähnt. Der Herr will ihnen „geben, was recht ist“, heißt es nur. Das weckt natürlich die Erwartung, dass sie entsprechend ihrer kürzeren Arbeitszeit auch weniger Geld bekommen, aber das wird bewusst so nicht gesagt. Es soll in der Schwebe bleiben, denn genau darum geht es am Ende bei der Pointe der Geschichte.

Vorher wiederholt sich der Vorgang allerdings noch dreimal im Dreistundentakt. Sogar kurz vor Sonnenuntergang werden abermals Arbeiter eingestellt.

Dann ist es Abend und es kommt zur Auszahlung. Und nun wird es spannend und interessant. Was hat der Weinbergbesitzer vor? Wie wird er die Arbeiter belohnen? Das fragt sich jeder, der die Geschichte bis dahin gehört hat. Und so ist sie auch aufgebaut. Dabei sind gerade die letzten Arbeiter, die nur eine Stunde gearbeitet haben, erzählerisch wichtig, denn um die geht es, und um die ersten. Diese beiden Gruppen kommen deshalb nun ins Blickfeld. Und zwar fängt der Hausherr mit der Lohnauszahlung bewusst bei den Letzten an. Die Ersten sollen nämlich mitkriegen, was er tut. Sie sollen zu Zeugen der Belohnung werden. Denn nun geschieht das Auffällige, die Arbeiter erhalten alle gleich viel, und zwar den vollen Tageslohn. Der Weinbergbesitzer kümmert sich nicht darum, wie lange die Einzelnen gearbeitet haben, er gibt jedem einen Silbergroschen. Und das ist natürlich eine Provokation, denn er ergreift eindeutig Partei für die Letzten. Prompt ruft dieses Verhalten den Missmut der Ersten hervor. Sie finden das ungerecht und beschweren sich. „Sie murrten gegen den Hausherrn“, wie es heißt. Sie hatten den ganzen Tag in der Hitze geschuftet, und nun sollen sie genauso bezahlt werden, wie die, die erst am Abend angefangen haben? Das ist ihr verständlicher Vorwurf.

Und darauf bekommen sie auch eine Antwort. Der Hausherr erklärt ihnen sein Handeln, und zwar mit zwei Argumenten. Er beruft sich einmal auf das Recht, das er ja nicht verletzt hat. Niemand bekommt weniger als vereinbart, kein Vertrag wurde gebrochen, keiner wurde ausgenutzt oder betrogen. Das ist das eine Argument. Es bezieht sich auf die Ersten. Und das andere ist seine Güte und Großzügigkeit, die er gegenüber den Letzten geltend macht. Er unterbricht also den reinen Lohngedanken, er geht nicht nur nach der Leistung, sondern er sieht die Menschen und ihre Bedürftigkeit. Menschlichkeit leitet diesen Herrn, und er bittet die Murrenden um Verständnis. Die Ersten sollen sich doch lieber mit den Letzten freuen, anstatt sich zu beschweren, denn auch sie haben bekommen, was sie zum Überleben brauchen.

Das ist das Gleichnis, und damit sagt Jesus etwas über sein eigenes Denken und Handeln und über sein Gottesbild. Mit dem Hausherrn ist nämlich Gott gemeint, und die Arbeiter sind diejenigen, die sich zu ihm bekennen, ihm dienen und an ihn glauben. Es geht dabei um die Frage, wer „am Reich Gottes teilhat“.

Zu diesem Thema sagt Jesus, dass bei Gott etwas anderes zählt, als Leistung und Lohn. Er ist gütig und großzügig. Er rechnet nicht nach, wieviel einer für ihn tut, sondern er behandelt jeden gleich. Denn Gott kalkuliert nicht, sondern er liebt. Und diese Liebe kennt keine Grenzen, sie wird nicht aufgeteilt oder portioniert, sondern sie gilt jedem ganz und gar. Sie wird auch ganz frei gewährt, denn Gott ist nicht der Geschäftsführer der Welt, sondern ihr Schöpfer und ihr Besitzer. Gott lässt sich deshalb von unseren menschlichen Vorstellungen und Erwartungen nicht einengen. Er ist nicht kleinlich oder knauserig. Und so haben gerade die Benachteiligten und die Armen, die Sünder und die Schwachen bei Gott immer eine Chance. Gott stellt sich auf ihre Seite.

Doch wollen wir das hören? Weckt das nicht eine gewisse Empörung? Es ist ja nicht ganz gerecht, was der Hausherr tut, und wirkt sehr willkürlich. Es gefällt uns nicht, dass Gott hier als parteilich dargestellt wird. Sollte er nicht lieber neutral bleiben und sich auch zu denen bekennen, die zuerst da waren? Ein nachvollziehbares Lohndenken, Rücksichtnahme und Respekt gegenüber den Belangen aller liegt uns näher, es entspricht eher unserem Gerechtigkeitsempfinden. Auch wir fühlen uns durch das Handeln des Weinbergbesitzers provoziert und müssen uns fragen, wie wir damit umgehen wollen. Und das können wir gut in drei Schritten tun.

Zunächst einmal ist es ratsam, wenn wir erkennen, wo unsere Empörung herkommt. Was steckt dahinter? Ist es wirklich nur ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl? Wenn wir ehrlich sind, ist es noch mehr. Es ist uns nämlich wichtig, Geld zu verdienen und einen gewissen Wohlstand zu erreichen. Wenn wir ihn uns selber erarbeitet haben, sind wir stolz. Es dauert auch lange, bis wir wirklich zufrieden sind und genug haben. Wenn wir sehen, dass es anderen besser geht, beschleicht uns deshalb gerne einmal der Neid. Wir „murren“ gelegentlich und finden, dass es nicht ganz gerecht in unserer Gesellschaft zugeht.

Genau das wird in unserem Gleichnis hinterfragt. Es deckt den heimlichen Neid, die Unzufriedenheit und das materialistische Denken auf. Und es ist gut, wenn wir zugeben, dass wir davon nicht frei sind, sondern ihm immer wieder verfallen. Das ist der erste Schritt.

Als zweites gilt es die Werte zu beachten, die hier im Mittelpunkt stehen. Es sind andere als Geld oder Lohn, und wir werden eingeladen, uns damit anzufreunden. In dem Lied, das wir eben gesungen haben, klang das schon an. Es beginnt mit dem Bekenntnis: „Alles ist an Gottes Segen und an seiner Gnad gelegen über alles Geld und Gut.“ (EG 352,1) Um diesen Segen sollten wir uns deshalb kümmern – er ist viel wichtiger als Reichtum oder Wohlstand – und uns von dem Irrtum verabschieden, Geld und Güter seien alles, was wir zum Glück und zur Lebensfreude brauchen. Wir müssen nicht zu den materiell Reichen gehören, denn es gibt wunderbare Dinge, die nicht zu kaufen aber sehr wertvoll sind. Sie werden uns einfach so geschenkt, wir nur müssen sie nur beachten und empfangen. Es gibt dazu ein schönes Gedicht von dem deutschen Schriftsteller Mischa Mleinek. Es trägt den Titel: „Leider unerschwinglich“ und lautet folgendermaßen:

„Sie träumen und glauben und denken,
dass Geld-Haben alles wär.
Sie würden uns gerne den Himmel schenken
und haben ihn selbst nicht mehr.
Sie meinen, sie hätten schon alles,
weil jeder so leicht vergisst:
Da ist manches Wunderbare auf der Erde,
das als Ware leider unerschwinglich ist.
Kauf dir das Lied, das die Nachtigall singt!
Kauf dir, dass einer dich mag!
Kauf dir, dass am Straßenrand ein Vagabund dir winkt –
kauf dir das Lachen vom vergang’nen Tag!
Kauf dir das Raunen des Grases im Wind –
kauf dir ein zärtliches ,Du‘ –
kauf dir, wenn einmal das Leben verrinnt, eine Sekunde dazu! Kauf dir das Lied, das die Nachtigall singt –
Liebe, die treu zu dir hält.
Kauf dir das Glück, das nur Zweisamkeit bringt –
Keiner auf der Welt hat so viel Geld!“

In diesem Gedicht kommt Jesus zwar nicht vor, aber es gibt mit Sicherheit wieder, wie auch er gedacht hat. Es enthält seinen Geist, und der kann auch unser Denken erfüllen. Denn Jesus lädt uns ein, die Liebe an erste Stelle zu setzen, die Mitmenschlichkeit und Genügsamkeit.

Und das ist drittens ein sehr wohltuender und heilsamer Vorgang. Wir profitieren davon viel mehr, als von allem anderen, denn oft sind wir selber „die des Lebens beraubten“, arm und unterdrückt. Auch wenn uns keine Geldsorgen plagen, kann es sein, dass wir bedürftig sind. Denn es gibt unzählige andere Defizite, die das Leben beeinträchtigen. Sie können durch Enttäuschungen oder Verletzungen im zwischenmenschlichen Bereich entstehen, durch Tod oder Missbrauch, Verlust und Trauer. Auch unsere eigenen Fehler und Schwächen machen uns gelegentlich das Leben schwer, zerstören Träume, setzen uns Grenzen und belasten uns. Kein Leben verläuft ohne Niederlagen.

Mit dem Gleichnis will Jesus uns daraus einen Ausweg zeigen. Er weist uns auf die liebende Macht Gottes hin, die uns aus all dem befreit. Denn Gott erwartet nichts von uns, wir können jederzeit kommen und an seiner vollen Gnade teilhaben. Denn der „Gott des Lebens zeigt sich parteilich für die des Lebens beraubten […] Jesus verkündigt das Reich Gottes den Armen, verkündigt das Leben jenen, die es am wenigsten haben.“

Dieser Grundsatz der Befreiungstheologen wird ja gern als zu politisch, zu links und zu weltlich kritisiert. Der Vorwurf lautet: Gott ist größer als die Welt, wir glauben an die Ewigkeit und müssen uns um unser Seelenheil kümmern. All das droht in der Befreiungstheologie verloren zu gehen. Aber das muss nicht sein, denn beides gehört zusammen. Wenn wir in uns erfahren, dass Gott auf unserer Seite steht, ergreifen auch wir Partei. Wir wenden uns ganz von selber den Armen zu, engagieren uns für die Befreiung der Unterdrückten, und das Reich Gottes wird jetzt schon Wirklichkeit.

Amen.