Jesus hat sich für uns geopfert

Predigt über Hebräer 9, 15. 26b- 28: Das einmalige Opfer Christi

Karfreitag, 30.3.2018, 9.30 Uhr, Lutherkirche Kiel

Hebräer 9, 15. 26b- 28

15 Und darum ist er auch der Mittler des neuen Bundes, damit durch seinen Tod, der geschehen ist zur Erlösung von den Übertretungen unter dem ersten Bund, die Berufenen das verheißene ewige Erbe empfangen.
26b Nun aber, am Ende der Welt, ist er ein für alle Mal erschienen, durch sein eigenes Opfer die Sünde aufzuheben.
27 Und wie den Menschen bestimmt ist, einmal zu sterben, danach aber das Gericht:
28 so ist auch Christus einmal geopfert worden, die Sünden vieler wegzunehmen; zum zweiten Mal wird er nicht der Sünde wegen erscheinen, sondern denen, die auf ihn warten, zum Heil.

Liebe Gemeinde.

Für ihre neugeborenen Kinder bringen Eltern viele Opfer: Sie verzichten auf Schlaf und Freizeit, gemeinsames Ausgehen, Ruhe und Stunden der Muße. Doch die meisten tun das zum Glück ganz selbstverständlich. Das Verantwortungsbewusstsein und die Freude an dem Kind ermöglichen es ihnen, so dass sie es vielleicht noch nicht einmal als ein Opfer empfinden. Es gehört eben dazu, und das ist gut so. Wie es überhaupt ein Glück ist, dass die Aufopferung als eine Möglichkeit in unserem sozialen Verhalten angelegt ist. Wir dienen und helfen dadurch den Schwächeren und Bedürftigen, ohne dafür etwas zu verlangen, und das ist oft lebensnotwendig.

In der Antike gibt es dafür das Bild des Pelikans. Das geht auf eine Legende zurück, die von einer Hungersnot für Menschen und Tiere handelt. Als die Pelikanküken zu verhungern drohten, riss sich das Elterntier die Brust auf, um seine Nachkommen mit dem eigenen Blut zu nähren. Die Kinder überlebten und das Elterntier starb. Tatsächlich färbt sich beim Krauskopfpelikan während der Brutzeit das Gefieder im Kehlbereich rot, was sicherlich die Erklärung für diesen Mythos liefert.

Im Christentum ist der Pelikan, der sein Blut spendet, ein Symbol für Jesus Christus geworden. Er hat sich geopfert, damit wir leben können. Es gibt viele Bilder, die den Pelikan und seine Jungen zeigen und damit Jesus Christus meinen. (Beispiel: Grabmal von E. Vogel)

Und das entspricht durchaus dem Neuen Testament. Da finden wir an mehreren Stellen die Deutung des Todes Jesu als ein Opfer. Besonders stark vertritt der Hebräerbrief diese Theorie. Kapitel neun und zehn handeln davon. Wir haben vorhin einen Abschnitt daraus gehört, den wir heute bedenken wollen.

Wer den Hebräerbrief geschrieben hat, wissen wir nicht genau, der Verfasser wird nicht namentlich genannt. Aber es ist klar, dass es sich um einen gebildeten Menschen handelte, der im jüdischen Denken zu Hause war, denn er deutet das Christusgeschehen streng vom Alten Testament her. So will er mit Hilfe der Bibel belegen und beweisen, dass Jesus der Sohn Gottes ist, der die Menschen erlöst und die Welt rettet. Auch die Empfänger des Briefes waren mit dem jüdischen Denken vertraut. Sie kannten die Bibel und den Kultus.

Dazu gehörte eine umfangreiche Opferpraxis, die im Tempel von Jerusalem vollzogen wurde. Dort brachten die Priester nach bestimmten Vorschriften regelmäßig Tiere und Speisen dar, um Gott zu versöhnen, ihm zu danken und zu loben oder um ein Gelübde abzulegen. Das kannten die Adressaten des Hebräerbriefes und so verstanden sie, was der Schreiber meinte, wenn er sagt: „So ist auch Christus einmal geopfert worden, die Sünden vieler wegzunehmen.“ Der Verfasser reiht den Tod Christi in die Opfer ein, die die Juden darbrachten.

Er betont allerdings gleichzeitig, dass es mit diesem Opfer eine besondere Bewandtnis hat. Der Tod Christi ist eine große Wendemarke. Die Welt steht seitdem in einem neuen Licht, denn sein Opfer geschah „ein für alle Mal am Ende der Welt. Die Sünden sind damit beseitigt.“ So formuliert der Briefschreiber es hier. Die Lebenshingabe Jesu ist für ihn so etwas wie ein großer Versöhnungstag in der Menschheitsgeschichte.

Der Hebräerbrief stellt also die bisherige religiöse Opferpraxis der Juden in Frage, denn mit dem Tod Christi hat Gott selbst sich in Jesus Christus als letztes und endgültiges Opfer dargebracht. Nicht mehr der Mensch muss sich oder etwas opfern, sondern Gott tut es aus Liebe zu den Menschen. Er gibt sich unumkehrbar hin. So wird Jesus Christus „zu einem Mittler“ zwischen Gott und den Menschen. Er errichtet einen „neuen Bund, damit […] die Berufenen das verheißene ewige Erbe empfangen.“

Das sind die Aussagen in unserem Predigttext, und natürlich kennen wir die alle so oder so ähnlich. In der Abendmahlsliturgie sind sie lebendig geblieben, in den Passionsliedern und auch im Denken vieler Christen. Trotzdem tun wir uns schwer damit. Die Deutung des Todes Jesu als eines Opfers bzw. Sühnetodes hat es heutzutage nicht leicht. Viele Theologen lehnen das inzwischen ab. Sie wollen nicht an einen Gott glauben, geschweige denn ihn lehren, der Blut sehen muss, damit er gnädig gestimmt wird. Sie halten diese Vorstellung für antiquiert und überholt. Sie finden sie abstoßend und unzeitgemäß. Viele Gläubige folgen dieser Meinung und sind froh, dass sie endlich öffentlich ausgesprochen wird.

Für andere dagegen ist gerade das der Kern unseres Glaubens. Wenn wir uns von der Lehre verabschieden, dass Jesus sich für uns geopfert hat, geben wir das Entscheidende auf. Wir verharmlosen seinen Tod, verleugnen die Wahrheit und versündigen uns am Evangelium. Vor ein paar Jahren hat dieser Streit sogar für Schlagzeilen gesorgt. Er wird oft verbittert geführt.

Aber ist das nötig? Ich denke, es gibt auch eine Brücke zwischen diesen beiden Positionen, und ich möchte einmal versuchen, sie zu bauen. Wir müssen die Gedanken des Hebräerbriefes nicht aufgeben, wenn wir einen milden und liebenden Gott suchen. Wenn wir tiefer in diese Vorstellungen eindringen, merken wir nämlich, dass sie gar nicht so blutrünstig sind, wie sie uns vorkommen. Lasst uns das deshalb tun und uns drei Dinge klar machen.

Zunächst einmal dürfen wir die Aussagen, die den Tod Jesu als einen Sühnetod beschreiben, gerne relativieren. Sie sind eine Interpretation des Kreuzes, es gibt schon im Neuen Testament noch viele andere. Ihren Grund haben sie alle darin, dass die ersten Christen das unfassbare Ereignis, dass Jesus am Kreuz gestorben ist, irgendwie verstehen wollten. So sagen die Evangelisten, dass es notwendig und von Gott gewollt war. Sie führen das nicht näher aus, es wird einfach nur festgestellt und reicht ihnen als Erklärung. (vgl. Lukas 24,26f) An anderen Stellen ist davon die Rede, dass wir erst durch den Sterben Jesu wirklich Gemeinschaft mit ihm haben. (vgl. Römer 6,1-10) Er ist durch diese tiefste Stufe des irdischen Lebens hindurch gegangen und lässt uns im Tod nicht allein. Mit ihm können wir deshalb selber unser Kreuz auf uns nehmen. (vgl. Matthäus 10,38f) Im Vertrauen auf seine Hingabe und seine Gegenwart können wir dem Tod ruhig entgegensehen. (vgl. 2.Timotheus 2, 11)

Die Vorstellung, dass er ein Opfer für Sünden ist, ist also nur eine Deutungsmöglichkeit. Sie hat sich – wie gesagt – aus der jüdischen Opferpraxis ergeben und lag für die Menschen damals nahe. Im Laufe der Jahrhunderte hat sie sich im kirchlichen Denken und Handeln zwar in den Vordergrund gedrängt, aber wir dürfen sie getrost mit anderen Aussagen im Neuen Testament ausgleichen. Das schränkt sie ein und nimmt ihnen ihre Schärfe. Sie wird dadurch erträglicher. Das ist der erste Punkt.

Als zweites dürfen wir die sühnende Wirkung des Todes Jesu nicht als einen blutrünstigen Akt Gottes denken. Wir geben Gott damit in unserer Phantasie viel zu menschliche Züge. Die Beziehung zwischen ihm und Jesus ist nicht genauso, wie zwischen einem menschlichen Vater und seinem Sohn. Wir beschreiben mit diesem Bild vielmehr etwas, das wir in Wirklichkeit gar nicht begreifen können. Es gibt nicht umsonst schon im Neuen Testament viele Aussagen darüber, dass die Herkunft Jesu außerhalb der Zeit liegt, und dass er und Gott in Wirklichkeit eins sind. Die Kirche hat das mit theologischen Formeln ausgedrückt, wie z.B. im nizänischen Glaubensbekenntnis: Der zweite Artikel über Jesus Christus beginnt dort folgendermaßen: „Wir glauben an Jesus Christus, Gottes eingeborenen Sohn, aus dem Vater geboren vor aller Zeit: Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott, gezeugt, nicht geschaffen, eines Wesens mit dem Vater; durch ihn ist alles geschaffen.“ An diesen Worten ist erkennbar, dass sich hinter dem Leben Jesu und in seiner Person ein großes Geheimnis verbirgt. Wenn er stirbt, stirbt Gott selber, das ist in unserem Zusammenhang das entscheidende Bekenntnis. Gott hat sich selber zum Opfer gemacht. Er wurde schwach und hat sich dem Tod unterworfen. Wir sehen in dem Kreuz Jesu also in erster Linie die unendliche Liebe Gottes zu den Menschen. Er gibt sich selber hin, damit wir leben. Und damit beendet er die ganze bis dahin gültige Opferpraxis. Sie wird ein für alle Mal abgeschafft und ist nicht mehr nötig. Wir haben durch seine Selbsthingabe einen freien Zugang zu ihm. Das ist der zweite Punkt.

Und als drittes ist der Tod Jesu nie ohne seine Auferstehung zu denken. In ihm bahnt sich schon das neue Leben an. So wie in der Natur jedes Opfer dem Leben dient, so ist es auch mit dem Tod Jesu. Wenn wir beobachten, wie z.B. Vögel ihre Jungen aufziehen, bekommen wir davon eine Ahnung. Unermüdlich sind sie auf Nahrungssuche. Ihre ganze Zeit und Kraft, ja ihr gesamtes Dasein opfern sie dafür, dass der Nachwuchs leben kann. Millionenfach spielt sich dieser Vorgang in der Schöpfung ab. Ohne ihn wäre alles dem Untergang geweiht. Unsere Welt lebt davon, dass Opfer gebracht werden. Auch dieser Gedanke mildert den Schreck, den wir empfinden, wenn wir den Tod Jesu da einreihen. Er schafft neues Leben, wir „empfangen das verheißene ewige Erbe.“

Mit diesen drei Argumenten können wir vielleicht doch mit den Aussagen unseres Predigttextes etwas anfangen. Es wäre auch schade, wenn wir sie bei Seite tun, denn dann verlieren wir eins der großen Geheimnisse unseres Glaubens. Es lohnt sich vielmehr, wenn wir versuchen, ihre Wahrheit zu entdecken.

Und dazu ist es gut, wenn wir zunächst einmal ehrlich sind und zugeben, dass es das Böse in der Welt gibt. Wir dürfen es nicht unterschätzen. Das war es ja, was Jesus am Kreuz durchlebt hat: Seine Widersacher waren im Unrecht und luden schwere Schuld auf sich. Und so etwas geschieht immer noch überall. Niemand von uns ist davon frei. Die Sünde greift nach uns, sie spielt sich oft auf, will uns beherrschen und unser Leben zerstören. Jeder Konflikt ist dafür ein Zeichen, jede Schwäche, jede Unvollkommenheit. Wir machen alle Fehler und tragen dazu bei, dass das Leben manchmal dunkel und rau ist. Auch vor Gott können wir nicht bestehen, denn er hat sich das alles eigentlich ganz anders gedacht. Das sollten wir zugeben und „beweinen“, wie es in einem Passionslied von 1530 heißt. Sebald Heyden dichtete es. (Evangelisches Gesangbuch Nr. 76) Er bezeichnet unsere Sünden als eine „schwere Bürde“, die wir aus eigener Kraft nicht loswerden können. Wenn wir die Wirkung des Kreuzes Jesu entdecken und erfahren wollen, müssen wir uns das als erstes eingestehen.

Dann sind wir nämlich froh, dass Jesus Christus sich geopfert hat, um uns schwachen und bedürftigen Menschen zu dienen. Er hat unsere Not gewendet, denn hinter seinem Tod verbirgt sich seine unendliche Liebe, und wir sind eingeladen, uns darauf einzulassen. Auch wenn das Kreuz Jesu ein großes Ärgernis ist, sollten wir dem nicht ausweichen. Denn es stellt eine Zeitenwende dar, ein universales Geschehen, das für die ganze Welt von Bedeutung ist. Es beinhaltet, was mit der Liedzeile zum Ausdruck kommt: „Den Toten er das Leben gab und tat dabei all Krankheit ab.“

Wenn wir darauf vertrauen und unsere Bedenken begraben, merken wir, dass eine geheimnisvolle Kraft vom Kreuz ausgeht. Wie das Blut des Pelikans die Jungen nährte, so fließt uns vom Kreuz die Liebe Gottes zu. Unsere Sünden werden weggespült, unsere Schwachheit wird überwunden und das Böse in uns wird vertilgt. Uns wird durch das Kreuz Vergebung und Heil geschenkt. Das Dunkel lichtet sich, Ängste verschwinden und neues Leben entsteht. Wir „empfangen das verheißene ewige Erbe“ wie es in unserem Textabschnitt heißt, d.h. wir gewinnen selber Anteil an der neuen Zeit, die Christus heraufgeführt hat. Wir erben den Himmel und werden mit unendlicher Liebe erfüllt.

Und das heißt, dass nicht nur für uns persönlich in unserem Inneren neue Möglichkeiten erwachen, wir können die Liebe, die wir empfangen, auch anderen Menschen weitergeben. Wir werden selber zum Opfer fähig und können jedem und jeder, die es nötig hat, zeigen, was uns geschenkt wurde. Wir brauchen dafür keinen Lohn, weil wir im Vertrauen auf Jesus immer wieder mit der Kraft versorgt werden, die wir dazu brauchen.

„So lasst uns nun ihm dankbar sein, dass er für uns litt solche Pein, nach seinem Willen leben.“

Amen.

Lasst uns mit Jesus ziehen

Predigt über Jesaja 50, 4- 9: Der Knecht Gottes im Leiden

6. Sonntag der Passionszeit, Palmarum, 25.3.2018, 9.30 Uhr, Lutherkirche Kiel

Jesaja 50, 4- 9

4 Gott der HERR hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben, dass ich wisse, mit den Müden zu rechter Zeit zu reden. Alle Morgen weckt er mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören. 
5 Gott der HERR hat mir das Ohr geöffnet. Und ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück.
6 Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel.
7 Aber Gott der HERR hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden. Darum hab ich mein Angesicht hart gemacht wie einen Kieselstein; denn ich weiß, dass ich nicht zuschanden werde.
8 Er ist nahe, der mich gerecht spricht; wer will mit mir rechten? Lasst uns zusammen vortreten! Wer will mein Recht anfechten? Der komme her zu mir!
9 Siehe, Gott der HERR hilft mir; wer will mich verdammen? Siehe, sie alle werden wie Kleider zerfallen, die die Motten fressen.

Liebe Gemeinde.

In Deutschland ist das Demonstrationsrecht im Artikel über die Versammlungsfreiheit im Grundgesetz verankert, und das ist gut. Denn mit einer Demonstration äußern Menschen in der Öffentlichkeit ihre Meinung und bewegen etwas. Die Formen, Anlässe und Themen für die Versammlungen sind dabei sehr unterschiedlich. Es gibt Kundgebungen gegen die Regierungspolitik, Märsche für Frieden, Mahnwachen für gewerkschaftliche Ziele und vieles mehr. In der letzten Zeit wurde hauptsächlich über Kurden berichtet, die hier in Deutschland gegen die türkische Militäroffensive in Syrien demonstrieren.

Zum Glück verlaufen die Proteste meistens friedlich. Es gibt ja leider auch das Gegenteil, dass Demonstrationen in Gewalt ausarten. Doch damit werden sie eigentlich ad absurdum geführt, denn dann haben sie keinerlei positive Wirkung mehr. Im Gegenteil, man hätte sich das alles auch sparen können. Niemand nimmt das Anliegen mehr ernst, die Zerstörungswut siegt und das ist traurig.

Am Passahfest in Jerusalem vor ungefähr 2000 Jahren geschah so etwas Ähnliches. Jesus war in die Stadt gekommen, und sein Einzug glich einer spontanen Demonstration. Die Menschen versammelten sich und begleiteten ihn. Sie „nahmen Palmzweige und gingen hinaus ihm entgegen und riefen: Hosianna! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn, der König von Israel!“ „Alle Welt lief ihm nach.“, wie die Pharisäer voller Ärger feststellten. (Johannes 12, 12-19) Der Einzug glich einem Friedensmarsch mit einer Kundgebung.

Doch nicht lange danach kippte die Stimmung. Vor dem Statthalter Pilatus entstand ein „Getümmel, das immer größer wurde und das Volk schrie: Lass ihn kreuzigen!“ (Matthäus 27, 22-25) Dazu ist es dann auch gekommen. Der friedliche Einzug war in Gewalt ausgeartet, die am Ende sogar zu einem Todesurteil führte. Ist der Einzug Jesu in Jerusalem deshalb nicht eher ein negatives Beispiel für eine Demonstration? Hat diese Geschichte überhaupt eine Bedeutung, wenn sie kurz danach sozusagen widerlegt wurde?

Das müssen wir uns fragen, und darauf gibt uns der Abschnitt aus dem Alten Testament, den wir gehört haben, eine Antwort. Denn wir können ihn auf Jesus übertragen. Dann erfahren wir, wofür er demonstriert hat und dass er trotz der offensichtlichen Niederlage doch einen Sieg errungen hat.

Der Text steht bei dem Propheten Jesaja, und es ist das dritte von vier sogenannten „Gottesknechtsliedern“. (Jesaja 42,1-4; 49,1-6; 50,4-9; 52,13-53,12) Sie handeln alle von einem Menschen, den Gott für einen besonderen Auftrag auserwählt hatte: Seine Aufgabe war es, die Müden aufzurichten, die Gefangenen zu befreien, Israel zu sammeln und den Heiden das Licht zu bringen. Gott gab ihm dafür seinen Geist und verlieh ihm eine besondere innere Kraft. Die brauchte er auch, denn er wurde nicht von allen geliebt. Anfeindungen kamen auf ihn zu, er wurde verfolgt und gedemütigt. Ihm wurde großes Unrecht angetan, und er geriet in schweres Leid. Allerdings hat er sich dagegen nicht gewehrt. Er nahm die Schmähungen und die Ungerechtigkeit vielmehr auf sich. Er litt und war gehorsam.
Das erfahren wir im dritten Lied, und im vierten steigert sich das noch.

Doch von wem redet der Prophet hier eigentlich? Das ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Es kann sein, dass er sich selber meint, vieles in unserem Text lässt darauf schließen. Seine Worte beschreiben jedenfalls genau das Prophetenamt, denn sein Dasein ist vom Hören und Reden bestimmt. Er muss Morgen für Morgen sein „Ohr wecken“, es immer wieder neu von Gott öffnen lassen, um dann den Müden eine Antwort geben zu können. Er ist wie ein „Jünger“, der gehorcht und seinen Auftrag ausführt. Auch die Anfeindungen und Schmähungen passen dazu, denn das erlebten die Propheten in Israel nicht selten. Sie erlitten oft Schläge und Beschimpfungen, Spott und Hohn.

Doch hier liegt darüber erstaunlicher Weise keine Klage vor. Der Prophet hält trotz allem an Gott fest und bleibt ihm treu. Er nimmt das Leid an und bekennt seine Zuversicht. Er glaubt sogar, dass Gott selber das Leiden und den Gehorsam seines Dieners will. Und seine Hoffnung besteht darin, dass Gott ihm eines Tages helfen wird. Er weiß, dass er von Gott Recht bekommt und niemand ihn verderben kann. Er bekennt: „Siehe, Gott der HERR hilft mir; wer will mich verdammen?“ Seine Gegner fühlten sich zwar als die Sieger, aber das störte ihn nicht. Seine Gewissheit ging über das Geschehen hinaus. Sie wies in eine andere Zeit, in die Zukunft und in eine neue Wirklichkeit. In ihr werden die Gegner sterben und vergehen wie „Kleider, die von Motten zerfressen werden“.

Das sind die Worte Jesajas und es liegt nahe, dass die ersten Christen in dem Geschick dieses Mannes eine Vorhersage des Lebens Jesu sahen. Genauso ist es ihm ergangen: Er war von Gott gesandt und hat ihm bedingungslos gehorcht. Sein Ohr war offen für alles, was Gott ihm sagte. Die Müden hat er aufgerichtet und allen hat er das Wort Gottes verkündet. Trotzdem wurde er von seinen Gegnern überwältigt und geriet in schweres Leid. Doch das war nicht das Ende. Durch seinen Gehorsam ist er vielmehr stark geworden, er hat eine Hilfe erfahren, die über alles Menschliche hinausgeht. Denn Gott war bei ihm, ja in ihm, und er hat ihm einen Sieg geschenkt, der sogar den Tod einschließt.

Die Gewalt hat also nicht das letzte Wort behalten. Jesus hat sie durch seinen Gehorsam und seine Hingabe außer Kraft gesetzt. Er blieb auch im Tod der Friedenskönig als den die Menschen ihn bei seinem Einzug feierten. Es lohnt sich deshalb immer noch, ihm nachzufolgen, sich zu ihm zu bekennen und ihn vor aller Welt zu loben und zu preisen.

Doch was heißt das nun? Sollen wir unseren Glauben öffentlich demonstrieren, so wie das in dieser Begebenheit spontan geschah? Das hieße dann, dass wir uns als Christen zeigen, uns zu Fragen des gesellschaftlichen Geschehens äußern und Stellung beziehen. Sollen wir sozusagen mit Jesus protestieren? Viele Christen tun das. Sie versuchen, etwas in der Welt zu verändern, dem Unrecht zu wehren und den Frieden voran zu bringen. Jesus hat es uns schließlich vorgelebt.

Doch das sind nicht alle. Vermutlich genauso viele Christen denken: Wir können nichts ausrichten, es ist zwecklos, der Gewalt, die vieler Orts geschieht, Einhalt gebieten zu wollen. Demonstrationen richten ja schon nicht besonders viel aus, wie sollten wir als Christen dann in der Lage sein, etwas zu verändern? Gottesdienste, Gebete, Lieder und Psalmen sind doch noch viel machtloser. Was bleibt uns also als wirksames Mittel?

Diese Frage stellen wir uns immer wieder, und viele Christen beantworten sie tatsächlich mit Resignation. Sie ziehen sich ins Private zurück und kümmern sich nicht mehr um das Unrecht, die Kriege, Konflikte und das Leiden der vielen Menschen, die davon betroffen sind. Sie lassen die Dinge laufen. Sie argumentieren, dass Jesus das doch auch getan hat. Er hat sich schließlich nicht gewehrt.

Doch so einfach ist es nicht. Wenn Jesus gescheitert und nur gestorben wäre, gäbe es den christlichen Glauben heute bestimmt nicht mehr. Es lag noch viel mehr in seinem Verhalten, das wir uns klar machen müssen. Denn er hat dem Unrecht standgehalten: Er bot seinen „Rücken dar denen, die ihn schlugen, und seine Wangen denen, die ihn rauften. Er verbarg sein Angesicht nicht vor Schmach und Speichel.“ Und das ist eine Form des öffentlichen Widerstandes. Jesus war geduldig und verlor nie seine Hoffnung. Er glaubte fest, dass „Gott der HERR ihm hilft“, und dass er „nicht zuschanden“ wird. Sein „Angesicht war hart wie ein Kieselstein.“ Und das hat er auch gezeigt. Er demonstrierte mit seinem Einzug in Jerusalem und mit seinem ganzen Leben, dass es den Frieden gibt. Er spürte, dass Gott ihm immer „nahe“ war und ihn „gerecht sprach“. Er blieb deshalb mutig und unbeugsam und wusste: Alle, die ihm Unrecht taten, würden eines Tages vergehen „wie Kleider, die die Motten fressen.“

Und das ist eine Einstellung, die auch wir uns aneignen können. Wir können Jesus nachfolgen und dabei seinen Geist empfangen, den Geist der Geduld und der Hoffnung, des Widerstandes und des Friedens. Und das hat durchaus eine gesellschaftliche Relevanz. Wenn wir diese Haltung einnehmen, bleibt unsere Überzeugung keine Privatsache. Denn das gilt immer für die ganze Welt.

Deshalb ist es auch wichtig, dass wir sie zeigen. Das ist das Thema der diesjährigen Fastenaktion, der wir uns in unseren Gemeinden angeschlossen haben. Sie steht unter der Überschrift „Zeig dich! Sieben Wochen ohne Kneifen.“ (7 Wochen ohne, die Fastenaktion der evangelischen Kirche 2018, edition chrismon) Denn das gehört sich für Christen nicht. In dem Kalender, der dazu herausgegeben wurde, steht dazu ein sehr schöner Text von dem Theologen Fulbert Steffensky, über den es sich lohnt, nachzudenken. Er lautet: „Die Klarheit der Lebenswünsche und Lebensabsichten hängt auch davon ab, ob man ihnen eine Form und einen Gestus geben kann. Überall da, wo Menschen etwas leidenschaftlich wollen, werden die inneren Wünsche zur äußeren Figur, wird die Seele zu einer nach außen gesetzten Landschaft, in der sie sich wiedererkennt und gestärkt wird. Die richtigen Inhalte sind nicht genug. Man braucht die ständige Aufführung und Gestaltung dieser Inhalte. Sie werden gestärkt, indem man sie spielt und äußert.“ (Fulbert Steffensky, Das Haus, das die Träume verwaltet, Würzburg 1998, S. 98; im Fastenkalender am 17.3.)

Und das gilt auch für Christen. Es ist von großer Bedeutung, dass wir Jesus immer wieder öffentlich bekennen, „mit ihm ziehen“ (EG 384,1) und demonstrieren, wofür wir stehen. Sonst verkümmert unser Glaube. Er wird irgendwann kraftlos und die Hoffnung verschwindet mitsamt der Geduld.

Wir können das durchaus mit unseren Gottesdiensten tun, denn sie sind immer öffentlich. Auch Gespräche über den Glauben und Gebete sind eine gute Form des Bekenntnisses. Sie machen uns Mut und helfen, dass wir uns nicht beirren lassen. Wir bleiben aufrecht und zeigen Widerstand gegen zerstörerische Strömungen. Wir halten an der eigenen Überzeugung fest. Wir leben von innen heraus und setzen den negativen Kräften, die uns von außen bedrängen, etwas entgegen. Und dadurch wächst unser Glaube und bleibt lebendig. Dabei dürfen wir wissen, dass wir das Recht immer auf unserer Seite haben. Und wir haben Anteil an einem Sieg, der über diese Welt hinaus weist. Gott hilft uns und Christus selber ist dann bei uns. Unser Leben und Handeln sind ein Hinweis auf seine Gegenwart.

Natürlich ist es wichtig, dass wir realistisch bleiben und nicht gleich die ganze Welt retten wollen. Das schaffen wir in der Tat nicht. Aber vor Ort gibt es mit Sicherheit immer wieder Dinge, die wir benennen und auf die wir aufmerksam machen können. Wir müssen sortieren und auswählen, wo es sich am meisten lohnt. Doch wenn wir das tun, ist unserem Handeln und Reden, unserem Demonstrieren und unserem Widerstand auch Erfolg beschieden.

Wir müssen dafür gar nicht nur die Bibel lesen, es gibt genauso viele Beispiele in der Geschichte. Sie beweist, dass eine friedliche Demonstration durchaus etwas bringen kann. So hat etwa der Menschenrechtler Gandhi in Indien großes bewegt. Die Wende in Deutschland verlief friedlich, und alle Kriege der Menschheit waren irgendwann auch wieder zu Ende. Es kommt immer darauf an, wo wir hinschauen und wie wir die Welt sehen wollen.

Und das gilt auch für das Leben Jesu und seinen Einzug in Jerusalem. Es sah zwar so aus, als ob er am Ende verloren hat, aber das war ein Trugschluss. In Wirklichkeit hat er „gesiegt“ und er kann uns „Kraft und Mut“ geben. Er offenbart immer wieder „sein Recht und seine Herrlichkeit.“ So formulierte es 1798 der Pastor und Dichter Matthias Jorissen. (EG 286) Er konnte deshalb voll Zuversicht bleiben, denn er glaubte: „Bald schaut der ganze Kreis der Erde, wie unsers Gottes Huld erfreut.“ Und er ruft dazu auf: „rühm, Erde, Gottes Herrlichkeit!“ Lasst uns dieser Einladung folgen und immer wieder „frohlocken und jauchzen und unsern König anbeten.“

Amen.

Freude im Leid

Predigt über Philipper 1, 15- 21: Die Freude des Apostels am Evangelium

4. Sonntag der Passionszeit, 11.3.2018, 11 Uhr, Jakobikirche Kiel

Philipper 1, 15- 21

15 Einige zwar predigen Christus aus Neid und Streitsucht, einige aber auch in guter Absicht:
16 diese aus Liebe, denn sie wissen, dass ich zur Verteidigung des Evangeliums hier liege;
17 jene aber verkündigen Christus aus Eigennutz und nicht lauter, denn sie möchten mir Trübsal bereiten in meiner Gefangenschaft.
18 Was tut’s aber? Wenn nur Christus verkündigt wird auf jede Weise, es geschehe zum Vorwand oder in Wahrheit, so freue ich mich darüber.
Aber ich werde mich auch weiterhin freuen;
19 denn ich weiß, dass mir dies zum Heil ausgehen wird durch euer Gebet und durch den Beistand des Geistes Jesu Christi,
20 wie ich sehnlich warte und hoffe, dass ich in keinem Stück zuschanden werde, sondern dass frei und offen, wie allezeit so auch jetzt, Christus verherrlicht werde an meinem Leibe, es sei durch Leben oder durch Tod.
21 Denn Christus ist mein Leben, und Sterben ist mein Gewinn.

 

Liebe Gemeinde.

Es gibt vier liturgische Farben zu den verschiedenen Festen und Zeiten des Kirchenjahres, in denen jeweils passende Paramente aufgehängt werden, vor dem Altar, am Lesepult und an der Kanzel. Jetzt sind sie violett, denn das ist die Farbe der Sammlung für die Buß- und Fastenzeiten. Ostern ist dann die Farbe Weiß dran, die als Innbegriff des Lichtes gilt. Wir nehmen sie für alle Christusfeste und besonderen Feiertage. Dann gibt es noch rot, die Farbe, die an die Liebe, das Feuer und das Blut erinnert und für die Feste des Heiligen Geistes und der Kirche vorgesehen ist. Und die vierte Farbe ist grün als Symbol für das Wachstum. Sie hängt hier in den Zeiten ohne besondere Feste.

Für den heutigen Sonntag, den vierten Sonntag der Fastenzeit steht nun im Sonn- und Feiertagskalender folgender Hinweis: „Wegen des freudigen Charakters des Tages kann das Violett zum Rosa aufgehellt werden.“ Rosa ist eine Mischfarbe aus viel Weiß und blaustichigem Rot. Es hat einen optimistischen, erfreulichen und positiven Charakter. Aber natürlich haben wir kein rosa Parament, denn wer schafft sich so etwas schon für einen einzigen Sonntag im Kirchenjahr an?

Trotzdem ist die Anweisung interessant. Sie besagt, dass es mitten in der Fastenzeit doch einen Grund zur Freude gibt.

Davon handelt auch der Abschnitt aus dem Brief des Paulus an die Philipper, der heute unser Predigttext ist. Paulus schrieb ihn aus dem Gefängnis, d.h. er hatte es gerade sehr schwer. Trotzdem ist er positiv und zuversichtlich. Den genauen Grund für die Inhaftierung des Paulus kennen wir nicht. Wir wissen auch nicht, in welcher Stadt er war, aber Paulus hat durch sein Handeln ja immer wieder sowohl Juden als auch Römer provoziert und gegen sich aufgebracht. Er wurde während seiner Missionstätigkeit mehrere Male gefangen genommen. Das war ungerecht und bedeutete für Paulus Leid und Not. Doch er blieb innerlich guter Dinge und er beschreibt hier, wie das kam. Um das zu verstehen, ist es gut, wenn wir uns klar machen, wie sein Leben insgesamt aussah.

Er war ein Apostel, und zwar durch und durch. Gott hatte ihn berufen, das Evangelium zu verkündigen, und diesem Auftrag hatte er sich mit seinem ganzen Leben verschrieben. Deshalb sagt er auch: „Wenn nur Christus verkündigt wird auf jede Weise, so freue ich mich darüber.“ Und er wusste: Seine Verhaftung änderte daran nichts. Sie war kein tödlicher Schlag gegen die Verkündigung des Evangeliums, wie seine Widersacher sich das gewünscht hätten. Im Gegenteil, die Verfolgung und das Martyrium der Apostel führten dazu, dass nun andere, auch ehemals Furchtsame den Mund öffneten und Christus vor aller Welt bekannten.

Selbst die Motive, die die einzelnen Prediger zur Christusverkündigung veranlassten, spielten seiner Meinung nach keine große Rolle, und die waren durchaus unterschiedlich. Die einen taten es „in guter Absicht“, „aus Liebe“ und Wahrhaftigkeit, andere aus persönlichem Ehrgeiz, Neid und Eigennutz. Aber das verurteilte Paulus nicht, weil er davon überzeugt war, dass Christus größer ist als seine Boten. Das Evangelium ist mächtiger als seine Verkündiger.

Die Gedanken von Paulus kreisen im Gefängnis also nicht um seine Person. Er spricht nicht von seiner Unschuld, seinem Recht und der Schlechtigkeit der anderen. All das liegt Paulus fern, denn er denkt nicht an sich, sondern an Christus und das Evangelium. Darum kann er sich freuen, selbst wenn man ihm die Gefangenschaft noch schwerer machen würde. Er bleibt trotz aller Not mit Gott verbunden und glaubt daran, dass auch das, was böse aussieht, sich für ihn zum Heil auswirkt.

Denn er vertraut auf Christus. Er wird sich selber durch Paulus verherrlichen, und es ist gleichgültig, ob Paulus dabei am Leben bleibt oder stirbt. Sollte er weiterleben, wird der Inhalt seines Daseins immer noch Christus sein. Sollte er sterben, wird auch dadurch Christus groß werden. Wichtig ist nicht, was aus ihm wird, wichtig ist allein der Triumph Christi in aller Öffentlichkeit.

Und dem hat Paulus sich gewidmet. Sein Leben wird also durch Leiden und Sterben nicht abgewertet, sondern im Gegenteil, es erfährt im Tod noch eine Steigerung, weil er dann Christus von Angesicht zu Angesicht schauen und für immer bei ihm sein wird. Deshalb kann er sagen: „Christus ist mein Leben, und Sterben ist mein Gewinn.“ Hinter dieser Aussage verbirgt sich keine Todessehnsucht, sondern das Geheimnis der Gegenwart Christi, die alles Irdische durchdringt und relativiert.

Das schreibt Paulus den Philippern, damit auch sie sich keine Sorgen machen, sondern sich mit ihm darüber freuen, dass „Christus verherrlicht wird an seinem Leibe, es sei durch Leben oder durch Tod.“ Er lädt sie zur Freude über das Heil ein, zu dem seine Gefangenschaft „ausgehen wird durch den Beistand des Geistes Jesu Christi.“

Und diese Einladung gilt auch uns. Es gibt eine Freude im Leid, ein Licht, das die Dunkelheit aufhellen kann. Und das ist gut, denn auch unser Leben ist oft dunkler, als wir es uns wünschen. Wir sind zwar nicht im Gefängnis, aber gefangen sind wir trotzdem oft. Das kann z.B. durch eine Krankheit geschehen. Sie fesselt uns ans Bett oder an das Haus, schränkt uns in unseren Möglichkeiten ein und nimmt uns unsere Freiheit. Dazu kommt die Sorge, wie es wohl weiter gehen wird, ob das Leben jemals wieder so wird, wie es einmal war und wie wir es uns vorstellen. Denn viele Krankheiten sind chronisch oder unheilbar, sie werden im Laufe der Zeit schlimmer und schränken uns immer weiter ein.

Genauso ist es mit dem Älterwerden. Davor haben die meisten Menschen Angst, denn es bringt unausweichlich einen Abbau der körperlichen Fähigkeiten mit sich, Verschleißerscheinungen treten auf, Verfall und am Ende möglicherweise ein Siechtum. Es bedeutet Schwäche, Abschied und oft auch Einsamkeit.

Und diese Zustände des Alleinseins und der Kraftlosigkeit kennen wir alle. Sie können auch eintreten, wenn wir gar nicht selber von Krankheit betroffen sind, sondern ein Mensch in unserer Nähe, unser Partner, Kinder, Eltern, gute Freunde. Wenn sie alt und krank werden, erschüttert uns das ebenso.

Wir müssen feststellen, dass das Leben sich manchmal verdüstert. Sorgen und Ängste drücken uns nieder, wir verlieren den Mut, empfinden keine Freude mehr und sehen keine Zukunft. Insofern können wir uns mit dem, was Paulus sagt, ruhig beschäftigen, es passt auch in unser Leben. Was die Überwindung von persönlichem Leid betrifft, so können wir viel von ihm lernen. Lassen Sie uns also fragen, welche Schritte Paulus innerlich gegangen ist.

Dabei fällt als erstes die Distanz auf, die Paulus zu seinem eigenen Schicksal einnimmt. Er identifiziert sich nicht mit dem, was er kann und will, auch nicht mit seiner gegenwärtigen Situation, sondern lässt es alles los. Er kann sich von seinen eigenen Vorstellungen, wie die Dinge zu laufen haben, verabschieden und darauf vertrauen, dass Gott trotzdem wirkt und handelt. „Gott schreibt auch auf krummen Linien gerade.“ Das ist zwar ein volkstümlicher und vielleicht kindlicher Gedanke, aber genau das sagt Paulus sich hier. Und damit macht er sich unabhängig von den äußeren Gegebenheiten. Er zieht sein Wohlbefinden nicht daraus, dass er etwas kann und erreicht. Er wendet sich vielmehr nach innen und hält sich an die Allmacht und die Liebe Gottes.

Und das können auch wir tun, in jeder Situation. Lassen Sie uns unsere Einstellung zum Leben deshalb daraufhin einmal kritisch überprüfen. Oft sind wir nämlich auf das fixiert, was nicht mehr geht, auf unsre Lebensumstände und die Probleme, die auftauchen. Wenn wir Schmerzen haben, kreisen unsere Gedanken fast immer darum. Wir lehnen die Schwäche ab, vergleichen uns mit anderen oder mit dem, wie es uns früher ging, wehren uns gegen den Verlust und die Veränderung. Wir hadern mit dem Schicksal und verzagen, wenn es uns aus irgendwelchen Gründen schlecht geht, und dabei kann natürlich keine Freude aufkommen.

Doch es gibt auch die Möglichkeit, uns von all dem, was uns stört, innerlich zu lösen. Wir müssen nicht ständig über unsre Probleme nachgrübeln, schon gar nicht, wenn es sowieso keine naheliegende Lösung gibt. Dann ist es besser, wenn wir uns innerlich verabschieden und uns im Vertrauen üben.

Das bringen uns heutzutage ja sogar schon sogenannte Motivationstrainer und –trainerinnen bei. Auf der Homepage so eines Anbieters steht z.B. groß der Satz von Albert Einstein: „Die einzigen wirklichen Feinde des Menschen sind seine eigenen negativen Gedanken. Wenn Du ein glückliches Leben haben möchtest, dann knüpfe es an ein Ziel, nicht an Menschen oder Dinge.“ Wenn man sich zu einem Seminar unter diesem Motto anmeldet, wird einem gezeigt, wie man selbst sein Leben gestalten kann. Der Trainer motiviert zu mehr Zufriedenheit, einem ausgewogenem Lebensgefühl und dem Erreichen der eigenen Ziele. Dabei kommen verschiedene mentale Strategien und Übungen zum Einsatz. Man lernt z.B., in „seinem Gehirn zu Hause“ zu sein. Diesen Gedanken habe ich kürzlich in einem Roman gelesen. (Gavin Extence, Das unerhörte Leben des Alex Woods, Pößneck, 2013, S. 91)

Und all das ist auch schön und gut, es ist viel Wahres daran. Nicht umsonst haben solche Kurse einen großen Zulauf und stehen hoch im Trend. Wer will nicht zufrieden sein und alles schaffen? Doch genau da liegt auch der Schwachpunkt dieser Strategien. Sie dienen letzten Endes dem eigenen Erfolg und sind Methoden der Selbsterlösung. Sie sind auch immer irgendwie anstrengend. Und ob sie an den wirklichen Grenzen des Lebens noch helfen, wage ich zu bezweifeln. Es gibt nicht für alles eine psychologische Lösung. In bestimmten Situationen versagen unsere eigenen Kräfte, unser Wille oder unsere Selbstdisziplin, und wir brauchen etwas ganz anderes.

Und genau darüber schreibt Paulus uns hier etwas. Er lädt uns ein, über unsere irdischen Ziele und Möglichkeiten hinaus auf Jesus Christus zu vertrauen. Seine Gegenwart ist noch viel mehr, als alles, was wir uns selber ausdenken oder erreichen können. Er ist größer als unser Leben, und gleichzeitig ist er für uns da. Das ist die Botschaft des Evangeliums.

Und um das zu erfahren, kann das Leiden sogar eine Chance sein. Es hilft uns, Jesus nachzufolgen, „mit ihm zu leiden“ und seinem „Vorbild gleich“ zu werden. So formulierte es Sigmund von Birken 1653 in dem Lied „Lasset uns mit Jesus ziehen.“ (EG 384) Er hat es im Glauben wahrscheinlich selber erfahren, dass „nach dem Leide Freuden folgen.“ Denn er sagt: „Armut hier macht dorten reich, Tränensaat, die erntet Lachen; Hoffnung tröste die Geduld: Es kann leichtlich Gottes Huld aus dem Regen Sonne machen.“  Dahinter steht die Gewissheit, dass es nicht nur eine Freude im Leiden gibt, sondern dass wir sogar durch das Leid zur wahren Freude vordringen. Denn Christus sprengt unsere Ketten, ganz gleich welcher Natur sie sind. Er überwindet unsere Gefangenschaft, er erlöst uns von allen negativen Gedanken, und dadurch empfangen wir neue Kraft und Stärke.

Ein schönes Bild ist dafür das Weizenkorn, das in die Erde fällt. (Johannes 12,24) Jeder Same muss im Erdreich verschwinden, bevor er zu einer Pflanze werden kann. So lange er an der Oberfläche bleibt, geschieht gar nichts. Irgendwann vertrocknet er. Erst wenn er in der Erde „erstirbt“, entsteht daraus neues Leben. Dieses Gesetz von Werden und Vergehen durchzieht die ganze Schöpfung. Es ist deshalb gut, wenn wir es auch in unserem Leben geschehen lassen, das Leiden annehmen und uns Christus anvertrauen. Dann kann eine tiefe und bleibende Freude entstehen, die unabhängig von allem ist, was uns widerfährt.

Und das ist in der Tat eine Botschaft, zu der die Farbe rosa sehr gut passt. Das dunkle Violett mischt sich mit Weiß, denn wir erkennen bereits das Ziel, dem die Sammlung und die Buße der Fastenzeit dienen. Ein Spalt öffnet sich, und wir erleben schon jetzt etwas von der Freude der Auferstehung, die wir Ostern feiern dürfen.

Amen.

Ihr sollt heilig sein

Predigt über 1. Petrus 1, 13- 21: Geheiligtes Leben

3. Sonntag der Passionszeit, Okuli, 4.3.2018, 9.30 und 11 Uhr
Luther- und Jakobikirche Kiel

1. Petrus 1, 13- 21

13 Darum umgürtet die Lenden eures Gemüts, seid nüchtern und setzt eure Hoffnung ganz auf die Gnade, die euch angeboten wird in der Offenbarung Jesu Christi.
14 Als gehorsame Kinder gebt euch nicht den Begierden hin, denen ihr früher in der Zeit eurer Unwissenheit dientet;
15 sondern wie der, der euch berufen hat, heilig ist, sollt auch ihr heilig sein in eurem ganzen Wandel.
16 Denn es steht geschrieben (3.Mose 19,2): »Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig.«
17 Und da ihr den als Vater anruft, der ohne Ansehen der Person einen jeden richtet nach seinem Werk, so führt euer Leben, solange ihr hier in der Fremde weilt, in Gottesfurcht;
18 denn ihr wisst, dass ihr nicht mit vergänglichem Silber oder Gold erlöst seid von eurem nichtigen Wandel nach der Väter Weise,
19 sondern mit dem teuren Blut Christi als eines unschuldigen und unbefleckten Lammes.
20 Er ist zwar zuvor ausersehen, ehe der Welt Grund gelegt wurde, aber offenbart am Ende der Zeiten um euretwillen,
21 die ihr durch ihn glaubt an Gott, der ihn auferweckt hat von den Toten und ihm die Herrlichkeit gegeben, damit ihr Glauben und Hoffnung zu Gott habt.

Liebe Gemeinde

Wenn eine verstorbene Person vorbildlich aus dem Glauben gelebt hat und Christus in besonderer Weise nachgefolgt ist, kann sie nach katholischem Kirchenrecht vom Papst heiliggesprochen werden. Ob dafür die Voraussetzungen gegeben sind, wird nach gewissenhafter Prüfung festgestellt. Einer solchen Person müssen Wunder, besondere Tugendhaftigkeit und der Ruf der Heiligkeit nachgewiesen werden, und dazu werden viele Zeugen befragt. Bis dieses Verfahren abgeschlossen ist, vergehen mehrere Jahre, und das ist auch vorgeschrieben, in der Regel gilt eine Fünfjahresfrist. Für den, der diese Prüfung erfolgreich durchlaufen hat, wird am Ende dann das dreifache Amen in der Kirche gesprochen. Er wird zur Ehre der Altäre erhoben, und den Gläubigen wird empfohlen, ihn als Vorbild und Fürsprecher bei Gott anzunehmen.

Uns, als Protestanten, ist das alles etwas fremd. Wir können uns zwar vorstellen, was gemeint ist, wenn ein Mensch heiliggesprochen wird, aber so richtig berührt es uns nicht. Vielleicht finden wir diesen Teil des katholischen Glaubens sogar fragwürdig. Warum sollen einige Menschen nach ihrem Tod besser dastehen als andere? Sind wir nicht alle Sünder, die nur durch die Gnade Gottes gerettet werden? Wir werden doch nicht durch unsere Werke, sondern durch den Glauben gerecht. Das hat Luther betont, und deshalb gibt es bei uns auch keine Heiligen, die wir besonders verehren.

Was sollen wir also mit unserem Predigttext anfangen, in dem es an einer Stelle heißt: „Ihr sollt heilig sein.“ Das Thema kommt in der Bibel vor, als evangelische Christen sollten wir es also nicht völlig ignorieren. Allerdings hilft uns der Abschnitt aus dem Petrusbrief auch, zu verstehen, was damit gemeint sein kann. Lassen Sie uns den also einmal genau lesen.

Der Brief ist ja ursprünglich an die ersten Christen gerichtet, also an Menschen, die gerade einen neuen Glauben gefunden hatten. Und natürlich unterschieden sie sich dadurch von ihrer heidnischen und jüdischen Umwelt. Sie hatten andere Maßstäbe, andere Werte und ein anderes Verhalten. Sie wurden deshalb im ersten und zweiten Jahrhundert nach Christus auch von vielen Außenstehenden verdächtigt, geschmäht, angeklagt und sogar vor Gericht gestellt.

Das hat der Schreiber des Petrusbriefes im Kopf. Er schreibt an Gemeinden in Kleinasien, die in Bedrängnis waren. Und er will ihnen Mut machen, sie sollen standhaft bleiben und gehorsam und treu an der neuen Lehre festhalten. Sie sollen sich von ihrem neuen Glauben nicht abbringen lassen, auch wenn sie deswegen verfolgt werden.

Und dazu erinnert er sie an Gottes Heilshandeln in Jesus Christus, an sein Blut und den Preis, den Gott für ihre Erlösung gezahlt hat. Darauf hatten sie sich ja eingelassen, sie hatten sich für Christus entschieden und sich taufen lassen, um daran Anteil zu haben. Und so hatten sie eine neue Hoffnung und einen neuen Gehorsam. Daran erinnert der Schreiber sie, und er will sie damit zum Durchhalten motivieren.

Die Heiligkeit ist hier also nicht moralisch gemeint. Sie ist kein Verdienst des Menschen, sondern ein Verdienst Christi. Wer an ihn glaubt, wird von Gott geliebt, und das prägt das Leben. Das sollen die Christen einfach nur beachten. In Ihrem Leben soll Raum für Christus sein. Dazu dienen die Verhaltensweisen, die hier aufgezählt werden.

Und das ist immer noch eine wichtige Ermahnung, denn oft führen wir unser Leben fern von Christus. Ob wir katholisch oder evangelisch sind, spielt dabei keine Rolle. Es tut uns allen gut, unser Leben immer wieder daraufhin zu überprüfen, ob Christus mit seinem Erlösungswerk darin vorkommt. Lassen Sie uns die einzelnen Dinge, die uns hier nahe gelegt werden, also noch einmal durchleuchten.

Zunächst können wir zwei Angelegenheiten erkennen: Einerseits werden Verhaltensweisen erwähnt, die sich auf unsere menschliche Natur beziehen, andererseits geht es um Übungen, die in der Beziehung zu Gott eine Rolle spielen.

Was unsere Natur betrifft, so sollen wir „nüchtern“ sein und „den Begierden nicht nachgeben“. Damit ist ganz einfach die Enthaltsamkeit von Wein gemeint. Doch warum ist dem Schreiber das wichtig? Gegen ein Gläschen Wein und einen kleinen Rausch ist doch nichts einzuwenden, er muss ja nicht gleich in eine Sucht ausarten. Soll uns hier der Spaß am Leben verdorben werden?

Sicherlich nicht! Hinter der Ermahnung zur Nüchternheit steckt etwas anderes. Das wird deutlich, wenn wir uns klar machen, was die Nüchternheit mit sich führt: Wer nüchtern ist, macht sich nichts vor. Er erkennt sich selber und sieht auch die anderen, wie sie wirklich sind. Er ist klar und realistisch und kann die Dinge, die ihm widerfahren, richtig beurteilen. Er legt alles Trügerische ab, bleibt entschlossen und lässt sich nicht verführen und nichts einflüstern. Er weiß, was wirklich zählt und wichtig ist. Er „kommt runter“, wie man so sagt, steigt aus allem, was ihn gefangen hält, aus. Und das kann noch viel mehr sein, als Alkohol oder Drogen. Auch unsere Aufgaben können Besitz von uns ergreifen, Pläne oder Sorgen. Ebenso führen Begegnungen, Gespräche oder Konflikte manchmal dazu, dass wir die Bodenhaftigkeit verlieren. Es gibt unzählig viele Ereignisse im Leben und Vorgänge in unserem Bewusstsein, die einem Rausch ähneln. Unsere Gedanken kreisen dann um irgendetwas, was mit dieser Welt zusammenhängt. Das füllt uns oft ganz aus, und dann sind wir weit weg von uns selbst, lassen uns treiben und driften von der Realität ab.

Und davor warnt uns der Schreiber hier. Das alles soll nicht geschehen. Wir sollen stattdessen wach und achtsam sein. Und das ist durchaus ein angenehmer Zustand. Er kommt einem sauberen und aufgeräumten Zimmer gleich. Unser Geist und unsere Seele sind frei. Es geht darum, dass Christus in unser Leben einziehen kann, und wir für ihn in unserem Inneren Platz machen.

Die andere Themengruppe der Ermahnungen beschreibt deshalb, was in der Beziehung zu ihm wichtig ist. Es wird der Gehorsam genannt, das Beten, die Gottessfurcht, der Glaube und die Hoffnung. Und damit wird ein Missverständnis ausgeräumt, das in diesem Zusammenhang auftauchen könnte: Die Ermahnung zur Nüchternheit ist nicht als eine Aufforderung zur Selbsterlösung zu verstehen. Das versuchen heutzutage ja viele Menschen. Sie finden die Nüchternheit erstrebenswert, weil sie sich selber damit „optimieren“ können, wie es so schön heißt. Sie beherrschen sich selber, absolvieren anstrengende Fitnessprogramme, halten Diäten ein und trainieren täglich ihren Geist und ihr Bewusstsein. Körper und Seele sollen ruhig und rein sein, damit es ihnen so gut wie möglich geht. Auch in der Esoterik ist das das Ziel. Doch so etwas ist hier nicht gemeint. Die Nüchternheit ist kein Selbstzweck und keine Selbstverwirklichung, sie dient vielmehr dem Glauben an Gott. Er ist da, das ist das Entscheidende, auf ihn dürfen wir hoffen und seinem Willen sollen wir gehorchen. Dafür gilt es, bereit und nüchtern zu sein.

Ein guter Zeitpunkt für diese Übung ist der Morgen. Bevor der Tag beginnt, können wir uns vor Gott stellen, ihm die Ehre geben und auf Jesus Christus schauen. Dazu hilft sehr schön das Morgengebet der Kirche. Es lautet: „Die Nacht ist vergangen, der Tag ist herbei gekommen. Lasst uns wachen und nüchtern sein und abtun, was uns träge macht. Lasst uns laufen mit Geduld in dem Kampf, der uns verordnet ist, und aufsehen zu Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens.“ (Evangelisches Tagzeitenbuch, Münsterschwarzach und Göttingen 1998, S. 290)

Und damit sind wir bei dem dritten wichtigen Thema, das in unsrem Text vorkommt: Für die Heiligung spielt nicht nur unser Beitrag eine Rolle, sondern vor allen Dingen das Werk Christi. Daran erinnert der Schreiber hier ja hauptsächlich. Er erwähnt das „teure Blut Christi als eines unschuldigen und unbefleckten Lammes. Gott hat ihn auferweckt von den Toten und ihm die Herrlichkeit gegeben.“ Jesus Christus ist für uns gestorben und auferstanden. Gott hat sich offenbart, ist zu uns gekommen und schenkt uns seine Gnade. Jesus lebt und „erlöst“ uns von unserem „nichtigen Wandel“. Wir werden auf das Heilswerk Christi verwiesen, wie es auch im Glaubensbekenntnis formuliert ist. Es ist der Weg Christi von der Erniedrigung in die Erhöhung. Auf den nimmt er uns mit, wenn wir wach und nüchtern sein, an ihn glauben und auf ihn hoffen. Und darin besteht unsere Heiligung.

Wir werden also nicht dadurch heilig, dass wir etwas tun, sondern durch das Gegenteil, dass wir selber einmal nichts mehr tun. Wir sind eingeladen, etwas geschehen zu lassen und dafür unsere Selbstbestimmung abzulegen. Unser Beitrag ist das Vermeiden, Still halten und natürlich auch der Verzicht. Aber all das ist nicht als Leistung gedacht, sondern es soll uns für die große Tat Gottes bereit machen, für Jesus Christus, der uns seine Liebe und sein Erbarmen schenkt.

Das Nichtstun ist deshalb auch nicht mit Faulheit oder dem Lustprinzip zu verwechseln. Das ist durch den Zusammenhang deutlich. Es wäre ein Missverständnis, das allerdings oft entsteht. Man denkt dann: Wenn Gott alles für mich tut, kommt es ja gar nicht mehr drauf an, wie ich lebe, dann kann ich „tapfer sündigen“. Dieser Ausdruck ist von Martin Luther und er ist bei evangelischen Christen ein geflügeltes Wort geworden. Der Gedanke ist sehr beliebt und weit verbreitet. Viele kümmern sich tatsächlich nicht um ihre Lebensführung. Es scheint in bestimmten lutherischen Kreisen sogar zum guten Ton zu gehören, Wein zu trinken, zu rauchen, zu essen und sich „den Begierden hinzugeben.“

Doch so einfach ist es nicht. Unser Leben als Christen soll nicht profan sein. Es gibt Unterschiede zum weltlichen Dasein und zum „nichtigen Wandel“. Aber die bestehen nicht darin, dass Christen irgendwie besser oder religiöser sind als andere, in dem Wort „Heiligung“ steckt vielmehr das Wort „heil“, und das sollen wir sein. Es geschieht auch, wenn wir an die Liebe Christi glauben, nüchtern und wach sind, denn wir werden dadurch befreit und ausgeglichen. Wir entziehen uns den zerstörerischen und krankmachenden Einflüssen und geben uns einer Kraft hin, die uns rettet. Es ist ein Leben in Vertrauen, Hoffnung und Liebe. Und dazu hat Friedrich Hölderlin einmal gesagt: „Glaube und Liebe und Hoffnung sollen nie aus meinem Herzen weichen. Dann gehe ich, wohin es soll, und werde gewiss am Ende sagen: Ich habe gelebt!“

Man kann Heiligung also mit „gelingendem Leben“ gleichsetzen, und das finden wir bei evangelischen Christen genauso wie bei katholischen. Es wird bei uns zwar nicht durch ein geregeltes Verfahren festgestellt und bleibt möglicher Weise unspektakulär, aber wir können davon ausgehen, dass mehr Heilige unter uns sind, als wir ahnen. Sie leben vielleicht im Verborgenen, man erkennt sie nicht auf den ersten Blick. Doch es gibt Zeichen. So kann es vorkommen, dass wir es aus unerklärlichen Gründen angenehm finden, mit bestimmten Menschen zusammen zu sein. Man hält es gut in ihrer Nähe aus. Sie sind „liebenswert, man wird in ihrer Gegenwart geistig erfrischt und hat das Gefühl, der Gnade Gottes näher gekommen zu sein.“ So formulierte es ein geistlicher Lehrer aus dem Mittelalter. ( Die Wolke des Nichtwissens, übertragen und eingeleitet von Wolfgang Riehle, Einseideln 1980, S. 123) Das liegt dann eventuell daran, dass sie frei von sich selber sind und die Liebe Gottes in sich tragen.

Aber entscheidend ist noch nicht einmal das. Viel bedeutsamer ist es, dass Gott sie kennt, und das tut er. „Es kennt der Herr die Seinen und hat sie stets gekannt, die Großen und die Kleinen in jedem Volk und Land.“ So dichtete Philipp Spitta 1843. (Evangelisches Gesangbuch Nr. 358) Gott erkennt die Heiligen „am Glauben, der nicht schaut und doch dem Unsichtbaren, als säh er ihn, vertraut.“
„Er kennt sie als die Seinen an ihrer Hoffnung Mut, die fröhlich auf dem einen, dass er der Herr ist, ruht.“
„Er kennt sie an der Liebe, die seiner Liebe Frucht und die mit lauterm Triebe ihm zu gefallen sucht, die andern so begegnet, wie er das Herz bewegt, die segnet, wie er segnet, und trägt, wie er sie trägt.“

Amen.