Christus vergibt uns unsre Sünden

Predigt über 1. Johannes 1, 5- 2, 6: Das Leben im Licht

3. Sonntag nach Trinitatis, 17.6.2018, 11 Uhr, Jakobikirche Kiel

1. Johannes 1, 5- 2, 6

1 5 Und das ist die Botschaft, die wir von ihm gehört haben und euch verkündigen: Gott ist Licht, und in ihm ist keine Finsternis.
6 Wenn wir sagen, dass wir Gemeinschaft mit ihm haben, und wandeln in der Finsternis, so lügen wir und tun nicht die Wahrheit.
7 Wenn wir aber im Licht wandeln, wie er im Licht ist, so haben wir Gemeinschaft untereinander, und das Blut Jesu, seines Sohnes, macht uns rein von aller Sünde.
8 Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns.
9 Wenn wir aber unsre Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit.
10 Wenn wir sagen, wir haben nicht gesündigt, so machen wir ihn zum Lügner, und sein Wort ist nicht in uns.
2 1 Meine Kinder, dies schreibe ich euch, damit ihr nicht sündigt. Und wenn jemand sündigt, so haben wir einen  Fürsprecher bei dem Vater, Jesus Christus, der gerecht ist.
2 Und er ist die Versöhnung für unsre Sünden, nicht allein aber für die unseren, sondern auch für die der ganzen Welt.
3 Und daran merken wir, dass wir ihn kennen, wenn wir seine Gebote halten.
4 Wer sagt: Ich kenne ihn, und hält seine Gebote nicht, der ist ein Lügner, und in dem ist die Wahrheit nicht.
5 Wer aber sein Wort hält, in dem ist wahrlich die Liebe Gottes vollkommen. Daran erkennen wir, dass wir in ihm sind.
6 Wer sagt, dass er in ihm bleibt, der soll auch leben, wie er gelebt hat.

Liebe Gemeinde.

»In einem katholischen Dorfpfarrhaus klopft des Abends ein Mann an die Tür. Er sei katholischer Priester, sagt er, und habe hier eine Wagenpanne gehabt. Ob er im Pfarrhaus übernachten könne? „Aber natürlich“, sagt der Dorfpfarrer, „kommen Sie doch rein.“ „Kann ich morgen in Ihrer Kirche die Messe lesen?“ fragt der Fremde. „Hier sind mein Ausweis und meine Celebret“, [das ist dafür die kirchliche Erlaubnis] und er kramt schon danach in der Tasche. „Aber lassen Sie doch, Herr Confrater, das ist nicht nötig“, wehrt der Gastgeber ab. „Kommen Sie doch weiter ins warme Zimmer. Wie wär‘s mit einem guten Glas Wein?“ „Vielen Dank, aber ich trinke nicht“, sagt der Fremde. „Aber eine gute Zigarre werden Sie sicher nicht ablehnen?“ „Leider – ich rauche auch nicht.“ „Nun – das soll ja vorkommen“, sagt der Dorfpfarrer etwas befremdet. „Aber in einer Viertelstunde kommen der Lehrer und der Doktor zu einem Skat. Sie halten doch mit?“ „Bedaure“, sagt der Fremde, „ich spiele nicht Karten!“ „So? Dann zeigen Sie mir doch lieber einmal Ihr Celebret!“« (Der klerikale Witz, Hrg. Hans Bemmann, München, 7. Auflage 1983, S. 22f)

Das ist natürlich ein Witz, aber wie alle Witze enthält er ein Körnchen Wahrheit. In diesem Fall ist es das weltliche – oder auch sündhafte – Verhalten vieler Geistlicher, das nicht nur geduldet sondern geradezu erwartet wird.

Priester, Pastoren, und auch Mönche und Nonnen sollen schließlich dem Leben zugewandt sein, sich den einen oder anderen Genuss gönnen und Freude ausstrahlen. Ein übertriebenes Sündenbewusstsein oder gar Weltverneinung wirken abstoßend. Es ist viel beruhigender, wenn Geistliche sich in ihrem Lebenswandel nicht von anderen Menschen unterscheiden, dann braucht keiner ein schlechtes Gewissen zu haben, wenn er z.B. trinkt, raucht oder Karten spielt.

Denn die Bibel entlastet uns diesbezüglich nicht. Da ist an vielen Stellen davon die Rede, dass wir unsere Sünden und unsere Schlechtigkeit erkennen und unseren Lebenswandel ändern sollen. So auch in dem Abschnitt aus dem ersten Johannesbrief, den wir eben gehört haben. Da heißt es an einer Stelle: „Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns. Wir machen Christus zum Lügner, und sein Wort ist nicht in uns. Wir wandeln in der Finsternis.“ Das klingt anstrengend und ungemütlich. Schon das Wort „Sünde“ schreckt uns ab, und eine Aufforderung wie „Sündigt nicht!“ die in dem Text auch an uns gerichtet wird, noch viel mehr.

Führt das nicht alles zur Freudlosigkeit? Das wird dem Christentum ja oft unterstellt. Wir haben den berühmten Vorwurf von Nietzsche im Ohr: „Sie müssten fröhlicher aussehen, die Christen.“ Er fand, das Christentum habe den Lebenswillen geschwächt, es mache keinen Mut zum Leben, sondern erziehe zum Muckertum. „Der christliche Glaube ist von Anbeginn Opferung: Opferung aller Freiheit, alles Stolzes, aller Selbstgewissheit und des Geistes.“ So sagt er. Der christliche Glaube war für ihn deshalb ein „Zeichen von Verarmung an Leben.“ Das sind Nietzsches Vorwürfe (siehe: http://www.ursulahomann.de/NietzscheUndDasChristentum/komplett.html) und mit denen müssen wir uns in der Tat auseinandersetzen. Denn natürlich kann der Glaube zur Verneinung des Lebens führen. Nietzsche kannte auch solche Menschen. Er hatte eine Kirche erlebt, die seiner Meinung nach der Menschheit jede Lebenshoffnung nahm. Und das hat der eine oder die andere von Ihnen eventuell ebenfalls schon erfahren, weil in der Kirche viel zu viel über die Sünde geredet wird, und das ist für viele heutzutage zum Problem geworden.

Aber ist es wirklich lebensfeindlich? In unserem Briefabschnitt kommt etwas anderes zum Ausdruck. Lassen Sie uns einmal genau hinschauen, was hier steht, dann entdecken wir, dass es gar nicht so schlimm ist. Gleich zu Beginn wird uns bereits etwas sehr Positives verkündigt. Es heißt ja am Anfang: „Und das ist die Botschaft, die wir von ihm gehört haben und euch verkündigen: Gott ist Licht, und in ihm ist keine Finsternis.“ Es geht also um etwas Helles und Schönes, um genau das, wonach wir uns sehnen, um Leben und Freude. Der Schreiber will uns das nicht vermiesen oder ausreden, er erkennt bloß, dass es nicht so einfach ist, das auch zu finden. Denn es gibt ganz vieles, das unser Leben und unseren Geist verdunkeln kann. Und damit meint er nicht das eine oder andere Laster, sondern dunkle Kräfte, die in der Welt wirken. Wenn in der Bibel das Wort „Sünde“ steht, dann ist damit nicht etwas Moralisches gemeint, sondern eine Macht, die uns von Gott trennt. Sie hat etwas Zerstörerisches an sich, sie kann uns in den Abgrund reißen. Und davor sollen wir bewahrt werden.

Dabei geht es nicht darum, dass wir uns aus eigener Kraft gegen negative Einflüsse stemmen und einen makellosen Lebenswandel führen. Es gibt vielmehr jemanden, der die Macht der Sünde gebrochen hat. Das ist Jesus Christus, der Sohn Gottes. „Sein Blut macht uns rein von aller Sünde. Er ist treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit. Er ist unser Fürsprecher bei dem Vater, er ist gerecht und die Versöhnung nicht allein für unsere Sünden, sondern auch für die der ganzen Welt.“ Das ist das Evangelium, die gute Botschaft. Daran dürfen wir glauben, darauf dürfen wir vertrauen. Dann wirkt sich die befreiende Kraft Jesu in unserem Leben aus.

Doch damit das geschieht, müssen wir ehrlich sein und uns selbst erkennen. Wir dürfen uns nichts vormachen, uns nicht selber betrügen oder einer Lebenslüge hingeben. Vor dieser Gefahr will uns der Schreiber des Briefes bewahren. Er warnt uns davor, so zu tun, als würde das Leben von alleine gelingen, und als wäre das so einfach.

Die Aufforderung zu einem geordneten Lebenswandel ist also nicht gegen das Leben gerichtet, sondern sie dient ihm. Und sie ist auch nicht moralisch gemeint, sondern eng verknüpft mit der Botschaft, dass wir einen göttlichen Beistand und ein Vorbild haben. Jesus Christus ist da, um uns zu helfen und zu erlösen. Wir werden zwar dazu ermahnt, „seine Gebote zu halten und so zu leben, wie er“, aber das geht nur, wenn wir „ihn kennen und in ihm“ sind. Dann können seine Wahrheit und seine Liebe sich in uns ausbreiten.

Wir müssen sowohl „Sünde“ als auch „Freude“ also noch viel umfassender und tiefer verstehen, als wir das normalerweise tun. Es sind keine innerweltlichen oder psychologischen Kategorien, sondern beschreiben jeweils Räume des Bewusstseins oder Bereiche des Lebens, Kräfte, die wirken und Macht haben.

Fangen wir doch einmal mit der Freude an. Wir denken oft, wir gewinnen sie, wenn wir uns möglichst viel gönnen, Spaß und Erfolg haben, mit netten Menschen zusammen sind, gesund bleiben usw. Aber sind diese Vorgänge und Handlungen nicht alle sehr oberflächlich und vor allen Dingen flüchtig? Solche Geschichten können ganz schnell vergehen und zusammenbrechen. Dieses Konzept bleibt auch irgendwie immer unvollkommen und unzureichend, denn wir haben nie so ganz genug. Und wenn es schlimm kommt, wirkt es sogar zerstörerisch. Denn es kann z.B. in eine Sucht führen, zu Geldverschwendung oder zum Ehebruch, in Krankheit oder in den sozialen Abstieg.

Das Leben ist leider etwas komplizierter, als wir es uns wünschen, und das gilt es, zu erkennen. Es ist gut, wenn wir aufdecken, was uns gefährdet, und uns selber spüren. Das mindert nicht die Lebensqualität, sondern wir nehmen uns endlich einmal ernst, so wie wir sind. Uns wird bewusst, was wir können und auch nicht können. Wir setzen uns mit uns selber und unserer Wirklichkeit auseinander.

Das ist mit „Sündenerkenntnis“ gemeint, und die ist zutiefst heilsam. Denn sie führt dazu, dass wir uns nicht mehr selber betrügen und die Bilder, die wir vom Leben haben, loslassen. Wir machen uns nichts mehr vor, sondern können uns entspannen. Dazu will uns der Glaube an Jesus Christus führen, und ohne ihn geht es auch kaum. Wir können uns an ihn wenden, dann fängt er uns auf. Wir müssen nur zu ihm beten, ihn um Hilfe und Erbarmen anflehen. Dadurch kommen wir mit Gott in Berührung, der uns erschaffen hat. Er ist der tiefste Grund für unser Dasein und das Ziel auf das wir zugehen. Es gilt also, dass wir uns auf Christus einlassen, ihm vertrauen und seine Liebe und Vergebung zulassen. Nur mit ihm kann das Leben wirklich gelingen, nur bei ihm finden wir unseren Sinn und unseren Halt, die ganze Fülle, nach der wir uns sehnen. Wir spüren seine Kraft.

Der Glaube an Jesus Christus und das Evangelium beinhalten also in Wirklichkeit genau das Gegenteil von dem, was Nietzsche darin gesehen hat. Wir gehen nicht zerknirscht oder mit gesenktem Haupt durch das Leben, wir werden vielmehr aufgerichtet und bekommen neuen Mut. Unser Dasein wird hell und schön. Wir werden heiter und gelassen. Lasten fallen von uns ab und Freude kommt auf, eine tiefe und bleibende Freude, die sich nicht so schnell vertreiben lässt.

Natürlich gehört dazu, dass wir gelegentlich Abstand nehmen von der Welt und uns gewisser Genüsse enthalten. Wenn wir in der Anekdote, die ich am Anfang erzählt habe, einmal nicht den Witz beachten, sondern die Lebensweise des Pfarrers, der keinen Wein trinken möchte, nicht raucht und nicht Karten spielt, dann bekommt sie einen ganz anderen Sinn. Denn dieser Mensch hat den Wert der Askese erkannt, die das Leben ordnet und reinigt. In dem Wort „Laster“ steckt ja „die Last“, und das ist sehr vielsagend: Wenn wir Laster abwerfen, wird unser Gang leichter und fröhlicher, wir gewinnen Güte und Gelassenheit.

Und solche Menschen gibt es, Menschen die sich zu einem Lebenswandel entschieden haben, der die weltlichen Freuden kritisch sieht und davon Abstand nimmt. Wir treffen sie z.B. in Klöstern. So stellt sich eine Nonne ihren Ordensgründer, den heiligen Benedikt, z.B. folgendermaßen vor: „… mit beiden Füßen fest auf dem Boden stehend, mit offenen Ohren nach allen Richtungen horchend, mit durchdringenden, gütigen Augen, die tiefer als die Oberfläche sehen und in allen Christus entdecken.“ (Aquinata Böckmann OSB, Perspektiven der Regula Bendicti, Münsterschwarzach 1986, S. 4ff) So jemanden habe ich vor kurzem tatsächlich getroffen, und zwar den Abt des Benediktinerklosters in Hildesheim. Er hielt einen Vortrag über die Stille. Und wenn man mich fragt, was mir am meisten an ihm aufgefallen ist, dann würde ich sagen: Die Freude und Heiterkeit. Die hat er ausgestrahlt und damit hat er uns angsteckt.

Wir müssen nicht alle ins Kloster gehen, aber wir dürfen uns gerne von Menschen inspirieren lassen, die diesen besonderen Weg gewählt haben. Sie zeigen uns, dass es im Leben um mehr geht, als um ein paar weltliche Freuden, denn sie verweisen uns auf Gott und laden uns ein, „im Licht zu wandeln, wie Christus im Licht ist.“ Was das konkret heißt und in welcher Form wir das tun, müssen wir selber herausfinden, aber wir dürfen davon ausgehen, dass „wir dann Gemeinschaft untereinander haben, und das Blut Jesu uns rein macht von aller Sünde.“

Amen.

Alle sind zum Glauben an Gott eingeladen

Predigt über 1. Korinther 14,1-3.20-25: Zungenrede und prophetische Rede

2. Sonntag nach Trinitatis, 10.6.2018, 9.30 und 11 Uhr
Luther- und Jakobikirche Kiel

1. Korinther 14,1-3.20-25

1 Strebt nach der Liebe! Bemüht euch um die Gaben des Geistes, am meisten aber um die Gabe der prophetischen Rede!
2 Denn wer in Zungen redet, der redet nicht für Menschen, sondern für Gott; denn niemand versteht ihn, vielmehr redet er im Geist von Geheimnissen.
3 Wer aber prophetisch redet, der redet den Menschen zur Erbauung und zur Ermahnung und zur Tröstung.
20 Liebe Brüder, seid nicht Kinder, wenn es ums Verstehen geht; sondern seid Kinder, wenn es um Böses geht; im Verstehen aber seid vollkommen.
21 Im Gesetz steht geschrieben (Jesaja 28,11-12): »Ich will in andern Zungen und mit andern Lippen reden zu diesem Volk, und sie werden mich auch so nicht hören, spricht der Herr.«
22 Darum ist die Zungenrede ein Zeichen nicht für die Gläubigen, sondern für die Ungläubigen; die prophetische Rede aber ein Zeichen nicht für die Ungläubigen, sondern für die Gläubigen.
23 Wenn nun die ganze Gemeinde an einem Ort zusammenkäme und alle redeten in Zungen, es kämen aber Unkundige oder Ungläubige hinein, würden sie nicht sagen, ihr seid von Sinnen?
24 Wenn sie aber alle prophetisch redeten und es käme ein Ungläubiger oder Unkundiger hinein, der würde von allen geprüft und von allen überführt;
25 was in seinem Herzen verborgen ist, würde offenbar, und so würde er niederfallen auf sein Angesicht, Gott anbeten und bekennen, dass Gott wahrhaftig unter euch ist.

Liebe Gemeinde.

Für den Reformator Martin Luther war klar: Niemand ist unter Christen und Christinnen besser oder heiliger als der oder die andere. Er war der Meinung: Jeder Christ soll die Bibel selbst lesen und verstehen und den Glauben weitergeben. Einer seiner kraftvollen programmatischen Sätze lautet: „Denn was aus der Taufe gekrochen ist, das kann sich rühmen, dass es schon zum Priester, Bischof und Papst geweiht sei, […].“ So schreibt der Reformator 1520 in seiner Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation […]“. Und er erklärt kurz und bündig, dass „wir alle gleichmäßig Priester sind“. Mit der Zeit wurde daraus der Ausdruck „Priestertum aller Gläubigen“, weil es sich auf alle Christinnen und Christen bezieht.

Es gibt also in der Gemeinde grundsätzlich keine Personen, die nicht zum Predigen berufen sind. Jedem und jeder wird die Offenbarung des Geistes geschenkt, alle sollen in den gottesdienstlichen Versammlungen Christi Gegenwart und Zuwendung erfahren und weitersagen können.

Das war auch schon Paulus wichtig. Die Gottesdienste der Gemeinde sollten für alle Menschen offen und verständlich sein. Besonders in seinem ersten Brief an die Korinther bietet er einen Einblick in seine Meinung zu diesem Thema. Da behandelt er verschiedene Fragen des Abendmahls und der Liturgie, und in diesem Zusammenhang stehen auch seine Ausführungen über zwei Formen von geistgewirkter Rede. Wir haben daraus vorhin einen Teil gehört.

Dabei ist euch sicher aufgefallen, dass Paulus sich mit einem Phänomen auseinandersetzen musste, das wir heutzutage in unseren Gottesdiensten nicht kennen, der sogenannten „Zungenrede“. Das ist ein Reden oder Beten in der Verzückung, der Ekstase. Sie galt in den ersten Christgengemeinden als eine Gabe des Geistes. Menschen wurden dabei von einer überrationalen seelischen Bewegung erschüttert und sprachen oder sangen dann in fremden Lauten. Das klang sicherlich ganz schön, war aber ohne Übersetzung bzw. Auslegung für andere nicht verständlich. Sie „reden im Geist von Geheimnissen“, wie Paulus es ausdrückt, und er hatte damit ein Problem. Denn in der Gemeinde von Korinth wurde diese Gabe als ein besonders wertvoller Erweis des Geistes angesehen und von einem Teil der Gemeindeglieder sehr hoch bewertet. Sie fanden sich heiliger und Gott näher, als die anderen, herausgerufen und auserwählt. Und offensichtlich führte das zu Konflikten und zu Unordnung in der Gemeinde. Denn diejenigen, die diese Gabe nicht hatten, fühlten sich dadurch minderwertig und nicht richtig dazugehörig. Außerdem war es so, dass der ekstatisch Redende allein mit Gott verbunden war, andere konnten daran nicht teilhaben. Er war isoliert und störte das gemeinschaftliche Element des Gottesdienstes.

Paulus sieht sich deshalb genötigt, einzugreifen, und er stellt klar: Sinnvoll ist nur eine Sprache, die von denjenigen, die sie hören, auch verstanden wird. Das ist schon im Allgemeinen so, aber in Glaubensfragen erst recht. Was hat ein Gottesdienstbesucher oder eine Gottesdienstbesucherin davon, wenn sie die Zungenrede zwar hört, aber nicht versteht? Gar nichts! Zur Erbauung aller dient nur das „prophetische Reden“, so nennt Paulus das Sprechen, das alle verstehen und das „zur Ermahnung und zur Tröstung“ führt. Es bewirkt, dass ein Ungläubiger erkennt, was tief „in seinem Herzen verborgen ist“. Er spürt seine Gottesferne und seine Verlorenheit, weiß sich aber gleichzeitig von Gott angesprochen, geliebt und gewollt. „Und so würde er niederfallen auf sein Angesicht, Gott anbeten und bekennen, dass Gott wahrhaftig unter euch ist.“ wie Paulus sagt. Und darum soll es in den Gottesdiensten gehen: Dass Menschen zum Glauben an Gott und an Jesus Christus finden. Sie sollen den Ruf Gottes vernehmen und mit Ja beantworten. Paulus möchte, dass die Gemeinde ein Ort ist, an dem die Menschen aufatmen können, wo ihnen die Angst genommen wird, wo sie vom Tod wieder ins Leben finden. Der Gottesdienst möge seinen einladenden Charakter bewahren, das ist ihm wichtig. Die sich plagen und die schwer zu tragen haben, sollen sich angesprochen wissen. Und daran beteiligen sich alle, die bereits dazu gehören. „Strebt nach der Liebe!“ Mit diesem Satz leitet Paulus seine Ausführungen ein und das ist zugleich die Zusammenfassung und das Ziel.

Und das ist auch für uns eine wichtige Ermahnung: Die Liebe möge über allem stehen. Mit ihr gilt es, einander zu begegnen und Fremde einzuladen. Sie ist das große Geschenk, das Gott uns in Jesus Christus gemacht hat, und das soll durch nichts verdunkelt werden. Die Liebe fließt von Jesus Christus in die Herzen der Gläubigen und von ihnen zu allen anderen Menschen. Das ist das Evangelium, dem ja auch wir folgen.

Aber ist das nun so neu? Und können uns die Ausführungen über die Zungenrede irgendetwas dazu verdeutlichen? Brauchen wir die überhaupt noch? Dieses Phänomen gibt es bei uns wie gesagt nicht. Ist es deshalb nicht überflüssig, dass wir uns mit diesem Kapitel im ersten Korintherbrief beschäftigen? Das fragen wir uns, und dazu gibt es folgendes zu sagen:

Ganz unnötig sind die Gedanken von Paulus für uns nicht, denn hinter seiner Kritik verbirgt sich eine Beobachtung, die auch auf uns zutrifft. Und zwar betrifft sie die Haltung, die sich leicht einschleicht, wenn jemand eine besondere geistliche Gabe empfängt. Sie mag von Gott sein, aber sie hat etwas Verführerisches an sich. Denn ganz schnell bildet der Empfänger oder die Empfängerin sich darauf etwas ein. Die Eitelkeit wird also gefördert, denn man fühlt sich als etwas Besonderes. Selbstruhm, Egoismus und Geltungssucht ergreifen das Gemüt, und das alles sind Laster, die nicht mehr dem Wirken des Heiligen Geistes entsprechen. Zudem fühlt es sich sicher gut an, in eine entsprechende Ektase zu verfallen. Man bekommt daran Spaß, und so spielt plötzlich auch das Lustprinzip eine Rolle. Ganz abgesehen davon, dass kein Außenstehender und keine Außenstehende verstehen kann, was mit der betreffenden Person geschieht. Sie erbaut ausschließlich sich selbst und löst sich aus der Gemeinschaft.

Und vor diesen Lastern sind auch wir nicht geschützt. Wir beschäftigen uns ebenfalls ganz gerne mit uns selbst ohne Rücksicht auf unsere Mitmenschen. Wir pflegen unsere Religiosität und fühlen uns herausgerufen. Allenfalls vergleichen wir uns mit anderen und messen den Grad unserer Christlichkeit. Natürlich wollen wir am liebsten gut und vielleicht sogar heilig sein. Doch das führt auch bei uns dazu, dass die Gemeinschaft leidet. Die anderen geraten in Vergessenheit oder sind in unseren Augen minderwertig.

Und zu dieser Gruppe können wir ganz schnell auch selber gehören. Das ist die andere Seite dieses Erfolgsdenkens. Wenn wir uns miteinander vergleichen, können wir uns auch schlechter fühlen als die anderen, das Selbstvertrauen schwindet, Unsicherheit und Zaghaftigkeit beschleichen uns. Wir halten uns für bedeutungslos. Und das führt zu genau den gleichen Folgen, wie die Selbstüberschätzung: Wir drehen uns um uns selbst und verlieren den Kontakt zu den anderen. Das gegenseitige Verständnis leidet, und Außenstehende fühlen sich ausgegrenzt.

All das sind übrigens Phänomene, die sich nicht nur in der Gemeinde abspielen. Unser Miteinander ist davon oft geprägt, dass wir uns gegenseitig übertreffen wollen, gerade in einer Leistungsgesellschaft ist das so: Auch im Beruf oder in der Familie wollen wir am liebsten gut sein und anerkannt werden. Die einen schaffen das, die anderen bleiben auf der Strecke. Und dabei gehen die Liebe und die Offenheit füreinander verloren, Unfriede und Unordnung kehren ein.

Davor will Paulus die Korinther bewahren, und darauf müssen auch wir achten. Es ist wichtig, dass wir nüchtern bleiben und immer wieder unsre eigenen Schwächen erkennen. Wir sind nicht besser oder schlechter als andere und genauso erlösungsbedürftig. Der Gottesdienst ist kein Ort von besonders Auserwählten, sondern ein Ort, an dem Christus spricht: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.“ (Matthäus 11,28) Dieser Einladung dürfen wir folgen und uns beleben und aufrichten lassen. Christus möchte uns stärken und erfrischen. Das ist das Evangelium, das wir immer wieder feiern, wenn wir zusammenkommen. Wir sind geladene Gäste, die es nötig haben, dass ihnen vergeben wird. Wir werden durch die Barmherzigkeit Christi angenommen, wie wir sind. Daran werden wir heute erinnert. Das Gleichnis von dem großen Abendmahl aus dem Lukasevangelium (Lukas 14, 15-24) betont genau diesen Sachverhalt, und es tut gut, wenn wir das beachten.

Dann werden wir nicht nur selber getröstet, sondern wirken auch auf andere einladend. Sie kommen am ehesten hinzu, wenn sie Menschen treffen, die erfüllt sind von der Liebe Christi und das mit klaren Worten bekennen. Nicht der Grad der Heiligkeit oder der theologischen Bildung ist entscheidend, um ein guter Prediger oder eine gute Predigerin des Evangeliums zu sein, sondern der Glaube an Jesus Christus, dem wir alles verdanken. Ihn sollen wir weitergeben, in Liebe und Zuwendung zu den Menschen.

Das ist das Anliegen von Paulus, und das ist auch für uns noch wichtig. Zusammenfassend kann man sagen, dass er mit seinen Ausführungen auf die drei Ebenen eingeht, die bei der Weitergabe des Evangeliums eine Rolle spielen: Das sind Gott, die anderen und ich selbst. Alles drei muss zusammenspielen.

Was mich selbst betrifft, so gilt es, immer wieder ehrlich zu sein und mir nicht einzubilden, ich sei besser als andere. Nur wenn das eigene Ich kleiner wird, und ich den Selbstruhm ablege, kann Gott größer werden. Und um ihn geht es, um seine Liebe und Gegenwart. Sie sind in Jesus Christus da, dem wir vertrauen dürfen. Dann sehen wir die anderen ganz von selber klarer. Wir können uns in sie hineinversetzen, hören ihre Fragen und erkennen ihre Not. Und wir lernen automatisch, in welcher Sprache wir am besten mit ihnen reden. Sie verstehen uns und wir sie.

Und wenn das geschieht, ist die Kirche und jede Gemeinschaft lebendig und kann wachsen. Der Geist Gottes kann wirken und offenbart den Anwesenden, wie groß die Liebe Gottes ist. Alle, die sich darauf einlassen, erfahren in den Versammlungen seine Gegenwart und Zuwendung und werden zu Priestern und Priesterinnen, Bischöfen und Bischöfinnen seiner Gemeinde.

Amen.