Predigt über Lukas 4, 16- 21: Jesu Predigt in Nazareth
Neujahr, 1.1.2023, 18 Uhr, Lutherkirche Kiel
Lukas 4, 16- 21
16 Und er kam nach Nazareth, wo er aufgewachsen war, und ging nach seiner Gewohnheit am Sabbat in die Synagoge und stand auf und wollte lesen.
17 Da wurde ihm das Buch des Propheten Jesaja gereicht. Und als er das Buch auftat, fand er die Stelle, wo geschrieben steht (Jesaja 61,1-2):
16 Und er kam nach Nazareth, wo er aufgewachsen war, und ging nach seiner Gewohnheit am Sabbat in die Synagoge und stand auf und wollte lesen.
17 Da wurde ihm das Buch des Propheten Jesaja gereicht. Und als er das Buch auftat, fand er die Stelle, wo geschrieben steht (Jesaja 61,1-2):
18 »Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat, zu verkündigen das Evangelium den Armen; er hat mich gesandt, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und den Zerschlagenen, dass sie frei und ledig sein sollen,
19 zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.«
20 Und als er das Buch zutat, gab er’s dem Diener und setzte sich. Und aller Augen in der Synagoge sahen auf ihn.
21 Und er fing an, zu ihnen zu reden: Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren.
Liebe Gemeinde.
Kennt ihr den Rentnergruß? Er lautet: „Keine Zeit! Keine Zeit!“
Ironisch nennt man den Ruhestand ja auch manchmal „Unruhestand“. Denn es gibt tatsächlich viele Rentnerinnen und Pensionäre, die immer unterwegs sind, einen vollen Terminkalender haben, Verpflichtungen eingehen und irgendwo weiterarbeiten, ehrenamtlich oder auch hauptamtlich.
Denn das gehört zum menschlichen Leben, dass wir so lange es geht, aktiv sind. Wir wollen gerne nützlich sein, uns bewegen, andere Menschen treffen, etwas erleben usw. Was wir tun und leisten ist ein wichtiger Teil unserer Identität. Wir setzen uns Ziele und gestalten unser Leben.
Am Anfang eines neuen Jahres denken wir darüber gerne einmal nach. Wir fragen uns, was uns wichtig ist und wo es lang gehen soll. Denn neben den Verpflichtungen, an denen sich nichts ändern lässt, haben wir auch Gewohnheiten, über die wir durchaus entscheiden können. Das ist nicht nur im Ruhestand so. Wir können frei wählen, was wir essen, wie wir mit unseren Kräften umgehen wollen, welchen Menschen wir unsere Aufmerksamkeit schenken, was wir lesen usw. Am Jahresanfang nehmen wir uns deshalb gerne vor, einmal etwas Neues auszuprobieren, „Neuland zu betreten“.
Doch wie geht das eigentlich am besten? Mit den guten Vorsätzen ist das ja so eine Sache. Sie sind zwar gut, aber oft auch anstrengend. Wir wollen etwas verändern, scheitern aber an unsrem schwachen Willen und einer fehlenden Entschlusskraft. Nach ein oder zwei Monaten ist oft alles wie gehabt. Schnell reißen alte Unsitten wieder ein. Wir können zwar planen, aber wir haben die Zukunft nicht in der Hand. Wir brauchen noch mehr, als unsere guten Vorsätze, und genau davon handelt unser Evangelium.
Es enthält die Antrittspredigt Jesu. Seine öffentliche Wirksamkeit begann mit einem Besuch in der Synagoge seines Heimatortes Nazareth. Er war dort bekannt und wusste, wie man sich in einem Gottesdienst verhält. So hatte er als männlicher Jude das Recht, eine Prophetenlesung zu übernehmen. Das nahm er in Anspruch und meldete sich dafür. Man reichte ihm das Jesajabuch und daraus las er die Verheißung eines zukünftigen Messias: „Die Gefangenen werden entlassen, die Blinden werden sehen und die Zerbrochenen befreit.“ Der Prophet Jesaja bezieht sich mit dieser Verheißung auf ein Gesetz aus dem Buch Mose, nach dem es alle fünfzig Jahre ein sogenanntes Erlassjahr geben soll. Es lautet: „Und ihr sollt das fünfzigste Jahr heiligen und sollt eine Freilassung ausrufen im Lande für alle, die darin wohnen; es soll ein Erlassjahr für euch sein. Da soll ein jeder bei euch wieder zu seiner Habe und zu seiner Sippe kommen.“ (3. Mose 25,10)
Diese Schriftstelle und auch das Prophetenwort kannten die Zuhörer Jesu, nun warteten sie gespannt auf seine Auslegung. Und er erklärte ihnen: Was sie gehört haben, geht mit ihm in Erfüllung, und zwar „heute“, im Augenblick des Hörens, als Zuspruch. Er selber, Jesus ist der von den Propheten Verheißene. Das war seine Botschaft.
Doch diese Erklärung lehnten die Menschen in Nazareth ab. Dafür kannten sie ihn zu gut, er war ja einer von ihnen gewesen. Wütend jagten sie ihn am Ende des Gottesdienstes aus der Stadt und wollten ihn einen Abhang hinunterstürzen. Doch dazu kam es nicht. Wie durch ein Wunder ging Jesus „mitten durch sie hinweg“. (Lk. 4,30) Erreicht hat er in Nazareth allerdings nichts, denn die Menschen dort haben sich ihm gegenüber verweigert.
Und damit steht die Frage im Raum, was wir denn tun. Wie reagieren wir auf seine Worte? Sicher nicht so krass, wie die Nazarener, aber ganz einfach ist seine Aussage auch für uns nicht. Wir wollen gar kein „Erlass- oder Gnadenjahr“, wie Luther übersetzt hat, denn mit „Gnade“ verbinden wir nicht nur positive Gedanken und Gefühle. Wenn wir Gnade empfangen, ist es ja vollkommen uninteressant, was wir können oder leisten. Unsere Fähigkeiten und Eigenschaften spielen keine Rolle. Wir sind passiv und bestimmen nicht mehr selber, was geschieht. Bedeutet das nicht Stillstand? Wo bleibt die eigene Verantwortung für unser Handeln? Ist es nicht völlig sinnlos, sich Ziele zu setzen, wenn am Ende doch jemand anders über unser Ergehen entscheidet? Und verleitet es nicht zu Trägheit, sich einfach nur auf die Gnade zu verlassen?
Die persönlichen Fähigkeiten, Kraft und Kreativität, all das zählt bei uns mehr. Damit bauen wir unser Leben auf, gestalten es und nehmen uns etwas vor. Ideen und Wünsche setzen uns Bewegung. Und wir finden es auch gerecht, wenn jemand für seine Vergehen bestraft und möglicher Weise eingesperrt wird. Jeder muss die Folgen seines Handelns und seiner Entscheidungen tragen. Dieses Denken bestimmt unsere Lebensführung und unsere Gesellschaft. Die Verheißung eines „Gnadenjahres“ passt da irgendwie nicht hinein.
Doch so schnell sollten wir sie nicht abtun. Es ist sinnvoller, einmal genau nachzufragen, was hier gemeint ist, und dabei hilft es, wenn wir das griechische Wort, das hier für „Gnadenjahr“ steht, unter die Lupe nehmen. Wörtlich kann man nämlich übersetzen: „ein Jahr des Empfangens, des Zulassens oder Annehmens“. Es ist also ein „angenehmes Jahr“, in dem es uns gut geht.
Und das ist eine vielversprechende Ankündigung, die keineswegs zum Stillstand und zur Müdigkeit führt, denn genau das brauchen wir, wenn unser Leben gelingen soll. So einfach lassen sich unsere guten Vorsätze ja wie gesagt nicht verwirklichen. Es gibt viele Hinderungsgründe, von innen und von außen. Welche das sind, können wir uns gut klar machen, wenn wir die schlechten Zustände, die Jesus aufzählt, einmal im übertragenen Sinn verstehen. Er erwähnt Armut und Gefangenschaft, Blindheit und Gebrochenheit. Und das kennen wir bildlich gesehen alle.
So sind wir vielleicht nicht unbedingt materiell arm, aber es gibt ja auch eine Armut an Freude oder Liebe. Unser Leben ist dann irgendwie leer, wir sehnen uns nach mehr Mitmenschlichkeit und Zuwendung, fühlen uns einsam und verlassen. Und das raubt uns die Kraft und macht uns schwach.
Und „gefangen“ sind wir auch alle, in Beziehungen und Abhängigkeiten. Andere Menschen machen oft mit uns, was sie wollen. Wir können uns nicht lösen, sind in Umstände eingebunden, die uns festhalten. Und das lässt sich nicht so einfach verändern.
Genauso können wir „Blindheit“ im weiteren Sinne verstehen. Dann bedeutet sie, dass wir den Weg nicht mehr erkennen. Die Ziele verblassen, das Leben verfinstert sich, wir sind von Dunkelheit umgeben.
Und unter dem „Zerbrechen“ verstand sicher auch schon der Prophet alles, was im Leben schief läuft: Wir sind nicht immer gesund und fröhlich, aktiv und motiviert. Vieles zerbricht und zerrinnt im Laufe der Zeit. Wir liegen immer wieder am Boden.
Wenn wir unseren Text so verstehen, klingt er plötzlich ganz anders, und die Verheißung eines „Gnadenjahres“ gewinnt auch für uns eine Bedeutung. Es ist dann das Jahr, das wir bewusst nicht selber gestalten. Es wird uns vielmehr geschenkt. Wir lassen uns etwas gefallen. Nicht Ziele oder Inhalte stehen im Vordergrund, sondern das Vertrauen und die Offenheit. Wir geben uns hin und glauben. Und das ist keineswegs faul oder träge, sondern es fordert eine innere Aktivität, ein Schauen in eine andere Richtung, aufwachen und aufmerken, und zwar auf den, der da ist, gestern, heute und in Ewigkeit: Jesus Christus.
Er möchte „der Fels sein, auf dem wir stehen, der Führer, dem wir trauen, der Stab, an dem wir gehen, das Brot, von dem wir leben, der Quell, an dem wir ruhen, das Ziel, das wir erstreben.“ So hat Cornelius Friedrich Adolf Krummacher es 1857 in dem Lied formuliert. „Stern, auf den ich schaue.“ (EG 407) Es gilt also, dass wir die Liebe Jesu annehmen und uns von ihm führen lassen. Wir müssen nicht alles selber hinbekommen, nicht immer aktiv und leistungsfähig sein, stark und motiviert. In seiner Gegenwart hat auch das Versagen Raum, die Schwachheit und das Leid, Einsamkeit und Trauer. Alles, was zum Leben gehört, darf vorkommen, wir dürfen sein, wer wir wirklich sind. Denn so werden wir angenommen und geliebt. In einem „Gnadenjahr“ steht das im Vordergrund.
Und das wirkt sich beruhigend und heilend aus. Wir werden erfüllt und gestärkt, von innen her gehalten und aufgebaut. Ein Gnadenjahr ist immer auch ein Jahr der seelischen Ruhe und der Zuversicht. Wir werden durch die Gnade innerlich befreit. Abhängigkeiten lösen sich auf, weil wir nicht mehr so viel erwarten. Wir können loslassen und uns entspannen. Alte Muster verschwinden, und vieles ändert sich. All das beinhaltet das „Gnadenjahr“, und das ist eine wunderbare Perspektive. Es lohnt sich, wenn wir uns am Anfang des Jahres dafür entscheiden und uns das vornehmen. Dann kann Jesus uns Kraft und Mut geben und unsere Lasten tragen.
Und das geht nicht nur, wenn der Ruhestand beginnt. Auch mit einem vollen Terminkalender, vielen Aufgaben und Verpflichtungen gibt es immer noch Möglichkeiten, Zeiten der Ruhe unterzubringen. Wir haben Freiräume, die wir nutzen können, um uns auf Jesus zu verlassen. Wir müssen uns nur dafür entscheiden.
Natürlich ist der Ruhestand dafür eine wunderbare Gelegenheit. Was vorher nur zwischendurch möglich ist, kann nun die Hauptaufgabe sein. Viele von euch haben schon lange diese Möglichkeit, weil sie bereits in diese Lebensphase eingetreten sind. Für mich beginnt er heute, und ich finde es sehr schön, dass das Wort „Ruhe“ darin vorkommt. Die Mütter und Väter des Gebetslebens und der Frömmigkeit sprechen gerne von der „Ruhe des Geistes und der Seele“. Sie tritt ein, wenn wir uns auf Gott verlassen und seine Gnade annehmen. Dann „stehen wir in der Ruhe“, und das tut uns allen gut. Wenn wir darauf achten, aus der Ruhe heraus zu handeln und zu leben, gelingt uns vieles besser. Wir merken von selber, was wichtig ist und wo es lang gehen soll, wie wir unsere Kräfte am besten einteilen, welche Menschen wir lieben wollen und welche Einflüsse auf uns wirken sollen. „Mit Gott betreten wir Neuland“ und gehen getrost unseren Weg.
Amen.