Beten mit Madame Guyon
Betrachtungen zu Abschnitten aus dem Buch: „Kurzer und sehr leichter Weg zum inneren Gebet“
Stilles Wochenende im Gethsemanekloster Riechenberg, 26.-29.1.2023
Jeanne-Marie Bouvier de La Motte Guyon (1648-1717), genannt Madame Guyon, war Tochter eines aus dem Bürgertum stammenden, wohlhabenden Richters. Während einiger Zeit in einem Kloster kam sie mit mystischem Gedankengut in Berührung. Ihre Absicht, Nonne zu werden, verwirklichte sich jedoch nicht. Vielmehr wurde sie gegen ihren Willen von ihren Eltern sechzehnjährig verheiratet. Durch den frühen Tod ihres Ehemannes (1676) wurde sie mit 28 Jahren Witwe.
Danach widmete sie sich wieder ganz dem Gebet und der Abfassung mystischer Schriften, mit denen sie zu einiger Berühmtheit gelangte. Sie beschreibt darin das innere Gebet, und die „heilige Indifferenz einer uneigennützigen, nicht berechnenden Liebe“ eines „gewährenden“ Gottes.
In der katholischen Kirche machte sie sich leider der Irrlehre verdächtig und wurde wie ein Staatsfeind erst in der Festung Vincennes, dann in einem Kloster interniert und 1698 bis 1703 sogar in der Bastille gefangen gehalten. Nach ihrer Freilassung zog sie sich zurück und war in den letzten Jahren ihres Lebens nur noch brieflich mit ihrer wachsenden Anhängerschaft verbunden, die sie nicht zuletzt in protestantischen Kreisen in England und in Deutschland fand.
„Angesichts der zentrifugalen Kräfte unserer Welt zeigt Madame Guyon aus christlicher Überlieferung einen Weg zur Mitte und dadurch zur Einheit und Ganzheit. Befreiend ist diese Antwort, weil sie nicht eigene Anstrengung und Leistung verlangt, sondern die eigene Aktivität zur Ruhe bringen will, um ein stilles Geschehenlassen von Gott her zu ermöglichen.“ (Emmanuel Jungclaussen).
Die folgenden Erläuterungen zu einem ihrer Texte sollen helfen, das zu üben.
Erste Einführung: Von der Hingabe
1. Hinführung: Zu den Schriften von Madame Guyon
Madame Guyon wird die „Mutter der innerlichen Seelen“ genannt, denn wie wir gehört haben, sammelte sich eine Gemeinde um sie, bestehend aus Katholiken und Protestanten in Frankreich, den Niederlanden, Deutschland und England. Sie hatte schon zu Lebzeiten eine starke ökumenische Ausstrahlung, die auch nach ihrem Tod lebendig blieb.
Das begann mit der Freundschaft zwischen ihr und dem reformierten Pfarrer Peter Poiret aus dem Elsass. Er stand schon vor ihrer Inhaftierung mit ihr in Verbindung, und sie sprach stets mit Hochachtung von ihm. Sie nannte ihn ihren „lieben Bruder“, es gab eine „Herzensvereinigung“ zwischen den beiden. Nach ihrem Tod gab er dann ihr gesamtes Werk in 39 Bänden heraus, und dadurch erhielt sie viel Anerkennung in pietistischen Kreisen.
Der nächste bedeutsame Mensch, der sich um ihren schriftlichen Nachlass kümmerte, war Gottfried Arnold, ein pietistischer Pfarrer aus dem Erzgebirge, ebenfalls ein Zeitgenosse von ihr. Später war er Superintendent in Brandenburg. Er ist auch in unserem Gesangbuch vertreten mit dem Lied 388: „O Durchbrecher aller Bande“. Er brachte einige Schriften von Mme Guyon auf Deutsch heraus.
Der einflussreichste Vermittler ihrer Lehre war dann Gerhard Tersteegen, der ungefähr 50 Jahre nach Mme Guyon lebte. Er hatte die Bibliothek von Peter Poiret geerbt und damit auch die Schriften von ihr, und sie hat ihn nachhaltig inspiriert. Sein gesamtes Werk ist „durchtränkt von ihrem Gedankengut“.
Ihre Wirkungsgeschichte war dann wie ein „unterirdischer Strom“, der bis heute hin und wieder sichtbar wird. Im 20. Jahrhundert war es der kleine schweizerische Verlag „Inneres Leben“ aus Uitikon unweit von Zürich, der alles, was von ihr ins Deutsche übersetzt worden war, herausgab.
Emmanuel Jungclaussen hat sich in dieser Zeit ebenfalls mit ihr beschäftigt und eine Schrift zusammengestellt, die den Titel trug: „Suche Gott in dir“. Die war im Herderverlag erschienen. 2009 wurde sie dann unter dem Titel „Kurzer und sehr leichter Weg zum inneren Gebet“ vom Neufeld Verlag neu aufgelegt, und dort kann man sie bis heute erwerben, die dritte Auflage ist von 2018.
Darin ist in einer deutschen Übersetzung die Schrift von Mme Guyon enthalten, die den Titel trägt „Kurzer und sehr leichter Weg zum inneren Gebet“ und eine schöne und ausführliche Einleitung von Emmanuel Jungclaussen.
Bedeutungsvoll ist die Schrift „kurzer Weg“ insofern, als sie das erste Buch von Mme Guyon ist. 1685 erschien es zum ersten Mal.
Sowohl in diesem Buch als auch in ihren späteren Schriften, wiederholen sich die Gedanken von Mme Guyon, denn sie schrieb meistens unter einer Inspiration. Ihr Wort ist immer lebendige Anrede, die geistlich erwecken soll.
In den Auszügen, die wir im Folgenden bedenken, ist zu erkennen, welchen Weg sie uns vorschlägt.
aus Kapitel VI: Von der Hingabe
3
Das Sich-Überlassen heißt, dass wir uns von aller Sorge um uns selbst entledigen und uns ganz der Führung Gottes anheimstellen.
Alle Christen sind aufgefordert, sich Gott ganz hinzugeben. Denn das, was geschrieben steht, gilt für alle: „Sorgt euch nicht um morgen, denn euer himmlischer Vater weiß, was ihr alles braucht.“ (vgl. Mt 6,34.32) „Denkt an ihn auf allen euren Wegen, und er selbst wird eure Schritte lenken.“ (vgl. Spr 3,6) „Gebt dem Herrn euer Tun anheim, und er lässt euer Planen gelingen.“ (vgl. Spr 16,3). „Befiehl dem Herrn deinen Weg, und hoffe auf ihn, er wird es fügen.“ (vgl. Ps 37,5)
Das Sich-Überlassen muss also, sowohl was das äußere wie auch das innere Leben betrifft, ein völliges Sich-Hineingeben in die Hände Gottes sein; wir vergessen uns selbst und denken nur an Gott. Auf diese Weise bleibt das Herz allezeit frei, zufrieden und unbefangen.
4
Für die Übung gilt: Man gebe unaufhörlich jeden Eigenwillen auf zugunsten des Willens Gottes. Man gebe alle besonderen Neigungen, so gut sie auch scheinen mögen, auf, sobald man sie aufkommen fühlt, um sich ganz in den Gleichmut zu begeben und nur das zu wollen, was Gott seit Ewigkeit gewollt hat: gleichmütig sein gegenüber allen Dingen – seien sie für den Leib oder die Seele, für das zeitliche oder ewige Wohl; die Vergangenheit vergessen, die Zukunft der Vorsehung überlassen und die Gegenwart Gott übergeben. Lassen wir es genug sein mit dem gegenwärtigen Augenblick, der den ewigen Auftrag Gottes an uns mit sich bringt und der für uns eine so unumstößliche Aussage über den Willen Gottes darstellt, dass sie allen gemeinsam und für jeden gültig ist: nichts von dem, was mit uns geschieht, dem Geschöpf zuschreiben, sondern alles in Gott sehen und alles so sehen, dass es unzweifelhaft aus seiner Hand kommt, ausgenommen unsere eigene Sünde.
Lasst euch also zu Gott führen, so wie es ihm – sei es für unser inneres wie auch für unser äußeres Leben – gefällt.
2. Auslegung
Der Text gehört zu den Anfangskapiteln, in denen Mme Guyon die ersten Schritte auf dem Weg ins innere Gebet beschreibt. Es beginnt mit der „Hingabe“ und einem „Sich-Überlassen“. Sie bezieht sich dabei auf mehrere Bibelstellen, so an die Aufforderung Jesu, sich nicht zu sorgen, und den Vers aus Psalm 37, „dem Herrn seinen Weg zu befehlen“.
Und dafür schlägt sie eine Übung vor: Die Aufgabe des Eigenwillens. Von dem sind wir normalerweise gesteuert, alle „besonderen Neigungen“ gehören dazu, alles Wünschen und Sehnen, alle Anliegen und Bestrebungen. Mme Guyon rät uns, ihnen gegenüber „gleichmütig“ zu werden, sie nicht sonderlich zu beachten, sondern sie loszulassen. Es geht ihr dabei auch um Leidensfähigkeit und Gelassenheit, eine tägliche Umkehr, Bekehrung und Buße. Sie sagt im nächsten Kapitel: „Das Sich-Loslassen und das Kreuz gehören zusammen. Sobald ihr etwas bemerkt, was euch widerstrebt und was euch als Leiden bevorsteht, überlasst euch gerade hierin ganz Gott und übergebt euch ihm als Opfer.“
Das erinnert an den inneren Kampf und das Gebet Jesu in Gethsemane. Da hat er sich ganz dem Willen Gottes überlassen und sein Kreuz auf sich genommen. Denn er wusste: Gottes Wille ist entscheidend. (Mt. 26, 36- 46)
So sieht es auch Mme Guyon. Gott muss „die Seele reinigen“, wie sie es später ausdrückt. Sie schreibt in Kapitel 24.6: „Damit der Mensch mit seinem Gott vereint wird, muss seine Weisheit zusammen mit der göttlichen Gerechtigkeit wie ein unerbittlich verzehrendes Feuer alles aus der Seele tilgen, was sie an Eigenmächtigkeit, Irdischem, der Sünde Verhaftetem und an Eigenhandeln aufweist. Wenn das alles aus der Seele getilgt ist, kann Gott sich mit ihr vereinen.“ (S. 141): Auch der Ausdruck „Abtötung der Leidenschaften“ (Kapitel 10) kommt in ihren Ausführungen vor.
In dem vorliegendem Text bringt sie das noch in Verbindung mit einer kleinen Betrachtung über das Empfinden der Zeit: Sie ordnet den Vollzug des Willens Gottes ganz dem Augenblick zu. Er spielt sich nicht in der Zukunft ab und auch nicht in der Vergangenheit. Beides gilt es, aus den Gedanken zu streichen: Um die Zukunft sollen wir uns nicht sorgen, sondern sie „der Vorsehung überlassen“, und die Vergangenheit sollen wir „vergessen“. Nur der gegenwärtige Augenblick bringt den „ewigen Auftrag Gottes an uns mit sich“. Und er ist allgemein gültig, unabhängig von allem Geschöpflichen.
Wenn wir das beachten, werden wir „zu Gott geführt so wie es ihm gefällt“.
3. Anwendung
Das klingt nicht nur schön und bequem, sondern enthält eine starke Provokation: Wir lieben unseren Eigenwillen und sehen es normalerweise auch nicht ein, dass wir ihn aufgeben sollen. Die Aufforderung dazu kennen wir aus anderen Zusammenhängen, und sie klingt nach Weltverneinung, Verzicht und Verachtung des Lebens, möglicherweise sogar einer Verherrlichung des Leidens. Und das lehnen wir ab, denn damit ändert sich nichts in unserem Leben oder in der Welt. Wenn wir uns nichts mehr wünschen, nichts wollen oder anstreben, bewegt sich auch nichts. Wir müssen unser Leben gestalten, arbeiten, helfen, Gutes tun, Pläne verwirklichen. Wir leben in der Welt, sie wurde uns gegeben, und wir sollen sie gestalten und füreinander da sein. Das sind unsere Einwände und Bedenken, wenn wir von einem „Sich-Überlassen“ und dem Aufgeben des Eigenwillens hören.
Doch all das hat Mme Guyon auch nicht gemeint. Sie lädt uns nicht dazu ein, willentlich und mit eigener Anstrengung uns selber zu kasteien und ganz weltabgewandt und asketisch zu werden, geschweige denn das Leiden zu suchen oder sogar zu verherrlichen. Sie selber hat ja auch nicht im Kloster gelebt. Sie beschreibt ihren Weg nicht, weil sie den weltlichen ablehnt, sondern weil sie um noch mehr weiß.
Sie hat erkannt, dass zum Menschsein noch mehr gehört, als das eigene individuelle Wirken in der Welt. Es gibt nicht nur die äußere Wirklichkeit, sondern auch die innere. Es gibt nicht nur die Zeit, sondern auch die Ewigkeit, nicht nur den Menschen, sondern auch Gott. Darauf möchte sie aufmerksam machen, da will sie uns hinführen, und das geht nur, wenn wir uns dieser Wirklichkeit auch zuwenden.
Dabei schlägt sie nicht vor, mit großer Willensanstrengung auf alles zu verzichten, was uns gefällt, sondern sie rät uns zum Gleichmut. Sie weiß: So einfach ist das Leben sowieso nicht. Wir müssen uns gar nicht großartig zum Verzicht entscheiden, das Leben selber verlangt ihn immer wieder von uns. Denn es läuft oft nicht so, wie wir uns das wünschen und wie wir es planen. Es gibt viele Enttäuschungen, Verluste, Entbehrungen. Krankheiten können kommen, Widerstände, Konflikte und am Ende das Alter und der Tod. Wir müssen das Leiden nicht herstellen, es ereignet sich von selber, wir werden davor nicht verschont.
Und anstatt uns dagegen aufzulehnen, sollen wir es annehmen. Es ist eine gute Chance, auf den inneren Weg zu kommen.
Mme Guyon sagt in Kapitel 10.3: „Damit meine ich nicht, dass es der Abtötung nicht bedürfe. Abtötung muss stets das Gebet begleiten, entsprechend den Kräften und dem Befinden des einzelnen und gemäß dem Gehorsam.
Ich sage vielmehr, man soll aus der Abtötung nicht die Hauptübung machen, und man soll sich nicht auf diese oder jene Bußübung versteifen. Vielmehr folge man allein der inneren Anziehungskraft und wende sich der Gegenwart Gottes zu, ohne eigens an die Abtötung zu denken. […] Es bedarf also allein der anhaltenden Aufmerksamkeit auf Gott, und alles wird in großer Vollkommenheit geschehen. Nicht alle sind zu äußeren Bußübungen fähig, aber zu dieser Aufmerksamkeit sind alle fähig.“
Und in Kapitel 11.2 schreibt sie: „Gott hat eine Anziehungskraft, die die Seele immer stärker zu ihm hindrängt. Indem er sie zu sich zieht, reinigt er sie. Es ist so, wie man es bei der Sonne sieht, die dicke Nebelschwaden an sich zieht und sie nach und nach, je näher sie ihr kommen, läutert und löst, ohne dass von deren Seite eine andere Anstrengung nötig wäre, als sich ziehen zu lassen. Der Unterschied dabei ist, dass der Nebel nicht aus freiem Entschluss der Anziehung folgt, wie es die Seele tut.“
In der Stillen Zeit können wir diesen Weg gehen, denn datrennen wir uns vorübergehend von allem, was uns sonst lieb ist. Vieles von dem, was wir „wollen“, tun wir nicht, wir nehmen ein Stück Verzicht und Askese auf uns und können uns gut im Loslassen üben. Vielleicht fühlen wir uns dabei zuerst auch gar nicht so wohl. Die Zeit wird uns zu lang, wir sind müde und zerstreut, verspannt oder unruhig. Uns gehen viele Gedanken durch den Kopf.
Das gilt es dann auszuhalten, es anzunehmen und zu bejahen. So wie wir uns jetzt fühlen, so geben wir uns Gott hin. Wir müssen nichts daran ändern, sondern nur einwilligen.
Außerdem können wir die Gelegenheit nutzen, unser Leben einmal zu überdenken. Wir können uns fragen: Worunter leide ich am meisten? Und wie gehe ich normalerweise damit um? Was versuche ich? Worum bemühe ich mich ständig?
In der Stille haben wir die Möglichkeit, uns einmal von allen Strategien der Leidvermeidung zu verabschieden. Wir überlassen uns einfach nur Gott, mit allem, was uns beschäftig und worunter wir leiden, mit unseren Fragen und Konflikten. Wir gehen den „kurzen und sehr leichten Weg zum inneren Gebet“ und können die Erfahrung machen, dass wir darauf „in kurzer Zeit sehr weit kommen“.
Zweite Einführung: Von den Mysterien
1. Hinführung: Stil und Aufbau der Schrift „kurzer Weg“
Wir wollen uns nun dem nächsten Schritt auf dem „Weg zum inneren Gebet“ zuwenden, den Mme Guyon uns vorschlägt. Vorweg möchte ich euch aber noch ein paar Hinweise zu ihrem Schreibstil geben.
Ich sagte ja schon, dass sie „viel und schnell“ schrieb, vom Heiligen Geist inspiriert, ohne das Geschriebene noch einmal zu lesen oder zu überarbeiten. So gibt es gelegentliche Übertreibungen und zahlreiche Wiederholungen. Emmanuel Jungclaussen hat trotzdem eine gewisse Ordnung in dem Buch über den „kurzen Weg“ beschrieben. Zunächst hält er es nicht für zufällig, dass es 24 Kapitel enthält. Das ist im Blick auf die Offenbarung des Johannes eine sinnbildliche Zahl, die die Vollkommenheit symbolisiert. Diese Idee stammt aus der Gestirnsreligion, nach der in Babylon 24 Gestirnen göttliche Ehre erwiesen wurde. In der Offenbarung erinnern 24 Älteste daran, die um den Thron Gottes stehen. In der Vision in Kapitel vier heißt es: „Und um den Thron waren vierundzwanzig Throne und auf den Thronen saßen vierundzwanzig Älteste, mit weißen Kleidern angetan, und hatten auf ihren Häuptern goldene Kronen.“ (Offb.4,4) Die Stelle kannte Mme Guyon sicher.
Außerdem lässt sich durchaus eine bestimmte Reihenfolge der Themen erkennen, die sie in den Überschriften der Kapitel nennt. So hat Emmanuel Jungclaussen eine „Klammer“ entdeckt, die aus der Vorrede zusammen mit Kapitel eins und dem vorletzten Kapitel 23 besteht. Es ist eine allgemeine Einladung zur Gottesliebe und eine Ermahnung an die Seelsorger, die Menschen dahin zu führen.
Kapitel zwei bis vier zeigen dann erste Schritte auf dem Weg des inneren Schweigens, Kapitel fünf bis elf machen deutlich, welche Grundhaltungen auf dem Weg des inneren Schweigens entwickelt werden müssen, und die Folgen, die sich daraus ergeben. Kapitel zwölf bis 14 handeln vom Gebet, dem Ruhen vor Gott und dem Schweigen. In den folgenden Kapiteln behandelt sie dann ein paar sehr konkrete Fragen, wie die Beichte und Kommunion, das Lesen und das mündliche Gebet, das Bittgebet, die Verfehlungen, Zerstreuungen und Versuchungen. Ab Kapitel 20 nimmt sie die Themen des Anfangs noch einmal auf und schreibt über die „Läuterung und das Zunichtewerden“, die „innere Umwandlung“ und schließlich über die „Vereinigung mit Gott“. In Kapitel 22 verteidigt sie ihre Äußerungen gegen den Vorwurf der Untätigkeit im Gebet.
Man muss demnach selber so ein bisschen herausarbeiten, wie man den Weg gehen kann, den sie meint. Und dazu gehört nach dem ersten Schritt, den wir gestern bedacht haben – dem Verzicht auf den Eigenwillen – als nächstes das „Bleiben bei Jesus“, das Verweilen in der Gegenwart Gottes:
aus Kapitel VIII: Von den Mysterien
1
Man mag einwenden, dass sich auf diesem Wege die Mysterien, das heißt die Geheimnisse des Lebens Jesu, nicht einprägen. Es ist gerade umgekehrt. Gerade so werden sie der Seele geschenkt. Jesus Christus, dem man sich überlässt und dem man als dem Weg folgt, den man als Wahrheit hört und der uns als Leben zum Leben bringt (vgl. Joh 14,6), er prägt sich selbst der Seele dadurch ein, dass er ihr alle seine gottmenschlichen Seinsweisen zu übernehmen und zu tragen gibt.
Die gottmenschlichen Seinsweisen Jesu Christi übernehmen, das ist etwas viel Größeres als sie nur betrachten. Paulus nahm das Leiden als Leiden Christi leibhaftig auf sich. Er sagt: „Ich trage die Kennzeichen Jesu Christi an meinem Leib.“ (vgl. Gal 6,17) Aber er sagt nicht, er stelle eine Betrachtung darüber an.
2
Oft gibt Jesus Christus in diesem Zustand des Sich-Los-lassens seine gottmenschlichen Seinsweisen auf eine ganz besondere Weise zu erkennen. Man nehme sie in Empfang und lasse sich für alles verwenden, was ihm gefällt. Man nehme alles an, wohinein er uns nach seinem Gefallen versetzt, und man suche sich keinen Zustand selbst aus, außer dem einen: bei ihm zu bleiben, zu lieben und vor ihm zunichte zu werden. Man nehme alles gleichermaßen an, was er uns gibt: Licht oder Finsternis, Leichtigkeit oder Trockenheit, Stärke oder Schwäche, Süße oder Bitterkeit, Versuchung oder Zerstreuung. Schmerzen, Unannehmlichkeiten, Unsicherheit, nichts von all dem darf uns aufhalten.
aus Kapitel XX: Vom Tätigsein im Gebet
5
Versichert uns Jesus Christus nicht, dass das Reich Gottes mitten in uns ist? (vgl. Lk 17,21.) Das ist auf zwei Weisen zu verstehen. Die erste tritt ein, wenn Gott so sehr Herr über uns ist, dass ihm nichts mehr Widerstand leistet; dann ist unser Inneres wirklich sein Reich. Und die andere Weise ist, dass wir, wenn wir Gott, das höchste Gut, besitzen, das Reich Gottes besitzen, nämlich die Fülle der Glückseligkeit und das Ziel, auf das hin wir geschaffen wurden. Wie geschrieben steht: Gott dienen heißt herrschen.
Das Ziel, auf das hin wir geschaffen wurden, ist, Gott schon in diesem Leben zu verkosten – und man denkt nicht daran!
2. Auslegung
Mme Guyon erwähnt hier die „Mysterien Jesu“. Damit ist vor allem das Geheimnis seines irdischen Weges gemeint, seine Menschwerdung, sein Sterben und Auferstehen. Es ist zu unserem Heil geschehen, denn er war der Sohn Gottes. Durch sein Kommen, Leiden und Sterben und seine Auferstehung werden wir erlöst. Wir müssen nur daran glauben und uns darauf einlassen.
Die katholische Kirche – und zu der gehörte Mme Guyon ja – legt nun besonderen Wert darauf, das alles in der Kirche zu suchen. Denn sie verwaltet die Gnade, und nur wer dazu gehört, empfängt demnach das Heil. Mme Guyon musste sich mit dem Vorwurf auseinandersetzen, dass sie daran vorbei lebte und handelte, dass sie einen Weg vorschlug, auf dem die Gnade Christi und die Kirche überflüssig sind. Und dagegen wehrt sie sich. Sie betont, dass es auch ihr letzten Endes darum geht, dass die Menschen die Gnade Jesu empfangen, dass er sich „der Seele einprägt“ und uns zum Leben bringt. Sie bezieht sich auf die Stelle aus dem Johannesevangelium, wo Jesus sagt: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ (Joh.14, 6) Wichtig ist dabei für sie, dass sich das wirklich vollzieht, dass wir nicht nur darüber lesen, es betrachten und darüber reden, sondern dass wir die „Seinsweise Jesu übernehmen“. Sie lädt zu einem echten inneren Weg ein. Auf diesem Weg gibt Jesus sich uns zu erkennen, er schenkt sich selber, und wir empfangen seine Liebe. Es geschieht also genau das, was auch die Kirche predigt.
Sie erinnert dafür noch einmal an den „Gleichmut“, den sie schon erwähnte. Jesus ist das Wesentliche und das, „was ihm gefällt“, alles andere wird ihm untergeordnet. So relativieren sich die Gegensätze, die wir oft als absolute Alternative empfinden, und von denen wir das eine wollen, das andere aber ablehnen: „Licht und Finsternis, Leichtigkeit oder Trockenheit, Stärke oder Schwäche, Süße oder Bitterkeit, Versuchung oder Zerstreuung.“ Größer als all das ist die Gegenwart Jesu Christi, sein Wille, seine Führung, seine Liebe. Sie befähigt uns, „Schmerzen, Unannehmlichkeiten, Unsicherheit“ zu ertragen. Nichts kann uns davon abhalten, an seinem Leben teil zu haben. So formuliert sie es in Kapitel acht.
Ich hab dazu noch einen Abschnitt aus dem 20. Kapitel kopiert, in dem Mme Guyon diesen Vorgang mit der Vorstellung beschreibt, dass „das Reich Gottes mitten in uns ist“. Das ist ein Ausdruck aus dem Evangelium, hier bezieht sie sich auf Lukas 17,21, wo Jesus sagt: „Man wird auch nicht sagen: Siehe, hier ist es!, oder: Da ist es! Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch.“ Jesus will damit sagen, dass das Reich Gottes nichts Zukünftiges ist, sondern bereits gekommen ist, durch ihn und mit ihm. Mme Guyon legt das in ihrem Sinne aus – sie hat auch andere Bibeltexte mystisch interpretiert – und macht aus „mitten unter euch“ „mitten in uns“. Sie sagt damit: Gott wird beim inneren Gebet „Herr über uns“, d.h. er steht an erster Stelle, und „unser Inneres wird sein Reich“. Wir besitzen mit ihm „das höchste Gut“, und werden glücklich. Denn er ist das Ziel, auf das hin wir geschaffen wurden.
In Kapitel zwölf, das vom „vom Gebet der einfachen Gegenwart Gottes“ handelt, bringt sie diesen Gedanken so zum Ausdruck: „Die Seele, die sich, wie gesagt, treu in der Zuneigung und Liebe zu ihrem Gott übt, ist ganz erstaunt, dass sie nach und nach spürt, wie er völlig von ihr Besitz ergreift. Seine Gegenwart wird ihr so leicht, dass sie gar nicht anders könnte, als in dieser Gegenwart zu leben. Das ist ihr, ebenso wie das innere Gebet, als innere Haltung geschenkt worden. Die Seele erfährt, wie sie nach und nach von der Ruhe ergriffen wird. Das Stillschweigen macht ihr ganzes inneres Gebet aus. Und Gott senkt in sie eine Liebe ein, mit der ein unaussprechliches Glück beginnt.“ (12.1, S. 96)
3. Anwendung
Es ist gut, dass Mme Guyon das betont. Allerdings klingt auch das möglicherweise wieder so ein bisschen ärgerlich, denn wir wollen niemanden, der über uns „herrscht“. Warum soll Gott an erster Stelle stehen? Warum soll er uns ganz erfüllen, die „Mitte“ sein und alles andere zur Seite drängen?
Wir haben oft eine andere Vorstellung von Gott. Wir bauen ihn lieber in unser Leben ein. Er darf gerne darin vorkommen, aber eben als ein Teil von vielen anderen Einzelheiten. Natürlich beten wir und lesen in der Bibel, gehen zur Kirche, kommen ins Kloster, aber die Ausschließlichkeit, die Mme Guyon hier formuliert, gefällt uns nicht. Andere Dinge sind genauso wichtig. Das ist unsere gängige Einstellung.
Doch was geschieht dadurch eigentlich? Wir sollten dieses Denken einmal kritisch hinterfragen. Dann stellen wir fest, dass Gott dadurch oft so etwas wie ein Handlanger wird: Er soll uns helfen und für uns da sein. Der Glaube soll uns gut tun und entspannen. Wir ordnen die Botschaft des Evangeliums unseren eigenen Wünschen und Sehnsüchten unter.
Und dadurch entstehen zwei Probleme: Zum ersten funktioniert das oft nicht. Unsere Gebete werden anscheinend nicht gehört, Gott tut nicht, was wir wollen, er hilft uns nicht und steht uns nicht bei. Im entscheidenden Moment, wenn es uns wirklich schlecht geht, ist er nicht da. Er lässt uns allein, und Zweifel kommen auf, ob es ihn überhaupt gibt.
Zum anderen bleibt unser Glaube durch diese Einstellung oft eine reine Kopf-oder Gefühlssache. Er besteht aus bestimmten Ideen und Empfindungen, Gedanken und Theorien. Er kommt nicht wirklich in unser Leben hinein, hat keine gestalterische Kraft, wirkt sich nicht aus und verändert nichts. Das müssen wir zugeben, dann verstehen wir besser, was Mme Guyon uns sagen will.
Sie bringt zum Ausdruck, dass all das nicht an Gott und seiner Unzulänglichkeit liegt, sondern an uns. Mme Guyon erinnert uns daran, dass wir mit Gott nur verkehren können, wenn wir die Verhältnisse umkehren: Er ist nicht für uns da, sondern um seiner selbst willen, und wir sind für ihn da. Nicht Gott ist ein Teil unseres Lebens, sondern wir sind ein Teil seiner Schöpfung. Nicht wir haben ihn in der Hand, sondern er hält unser Leben in seiner Hand. Wenn wir das nicht sehen, schaffen wir Gott praktisch ab. Denn Gott kann nicht mehr Gott sein, wenn wir uns über ihn stellen.
Und dazu kommt: Wir werden der Realität nicht gerecht. Gott ist eben mehr als ein Gedanke. Er ist eine Wirklichkeit, in die es einzutreten gilt. Es gibt nicht nur das Reich dieser Welt, sondern auch das Reich Gottes, und das ist größer und umfassender, es ist ewig und unvergänglich.
Deshalb macht es uns keineswegs klein oder schwach, wenn wir Gott als „Herrscher“ über unser Leben anerkennen. Im Gegenteil: wir werden dadurch glücklich, weil wir endlich die Dinge so sehen, wie sie in Wirklichkeit sind. Wir werden unserer Bestimmung gerecht, wir finden das Ziel, für das wir geschaffen wurden, kommen an, wo wir hin gehören.
In der Stille können wir diese Umkehr gut vollziehen. Wir können uns fragen: Wann und wo denke ich an Gott? Welches Bild habe ich von ihm? Was soll er für mich tun?
Wenn wir uns das klar gemacht haben, verabschieden wir uns von all diesen Vorstellungen und stellen uns einfach in seine Gegenwart. Wir üben uns in der „Zuneigung und Liebe“ zu ihm und lassen ihn von uns „Besitz ergreifen“. Nach und nach werden wir dann „von der Ruhe ergriffen“, nach der wir uns sehnen, und wollen gar nichts anderes mehr, als „bei ihm zu bleiben“.
Dabei ist es sehr schön, dass wir das Evangelium und die Botschaft von Jesus Christus haben. Wir können zu ihm beten, er steht als Mensch und Bruder an unserer Seite, in ihm hat sich das Geheimnis Gottes offenbart. Er ist „der Weg, die Wahrheit und das Leben, und niemand kommt zum Vater, denn durch ihn.“ Aber durch ihn kommen wir auch zu Gott. Durch ihn haben wir das Heil und die „Glückseligkeit“. Wir müssen uns nur ihm anvertrauen, dann wird unser Inneres zu seinem Reich.
Dritte Einführung: „Vom Tätigsein im Gebet“
1. Hinführung: Die Lebensform von Mme Guyon
Jeanne Marie Guyon war bereits als Kind in verschiedenen Klöstern Nonnen zur Erziehung anvertraut worden. Sie kam dadurch schon früh mit der Bibel, geistlichen Schriften und einem Gebetsleben in Berührung und wäre selber auch gern Nonne geworden. Doch das ließen ihre Eltern nicht zu. Es war damals noch Sitte, dass sie nicht gefragt wurde und mit 16 Jahren an einen zweiundzwanzig Jahre älteren, sehr reichen und dabei wohltätigen adligen Herren verheiratet wurde. Erst zwei Tage vor ihrer Hochzeit sah sie ihn zum ersten Mal. Der Weg ins Kloster war dadurch verbaut. Sie wurde Ehefrau und bekam fünf Kinder, drei davon haben überlebt.
Neben den Aufgaben, die sich damit verbanden, hatte sie aber zum Glück Zeit und Gelegenheit, ihrer spirituellen Sehnsucht weiterhin nachzugehen. Sie fand Menschen, die ihre Seelenführer und Seelenführerinnen wurden, und so ging sie trotz der weltlichen Lebenssituation einen mystischen Weg. Die Umstände waren für sie allerdings auch nicht behaglich und lustvoll, bequem oder unterhaltsam, sondern von viel Leid geprägt: Sie hatte eine tyrannische Schwiegermutter, wurde mehrfach schwer krank und verlor zwei Kinder. Mit 28 Jahren wurde sie Witwe. Der Verzicht gehörte also schon früh zu ihrem Leben. doch das passte zu ihrem Wunsch, hauptsächlich einen inneren Weg zu gehen.
Als sie Witwe wurde, konnte sie sich in dieser Hinsicht neu orientieren. Sie widmete sich nun ganz dem Gebet und bekam kirchliche Aufgaben. Von ihren Kindern trennte sie sich, denn es begann so eine Art Wanderleben. Sie zog mehrfach um. Man kann ihren Auftrag als „Apostolat der Innerlichkeit“ bezeichnen, denn nun begann sie auch mit ihrer schriftstellerischen Tätigkeit. Mitte März 1685 wurde ihr erstes Buch veröffentlicht, der „Kurze Weg“. Freunde und Personen, die ihr geistlich nahe standen, haben das veranlasst.
Aber es gab nicht nur Menschen, die ihr wohlgesonnen waren. Von der Kirche wurde ihre Lehre kritisch gesehen, sie wurde wegen Verbreitung von Irrlehren verfolgt und schließlich verhaftet. Von 1698 bis 1703 – also fünf Jahre – war sie sogar in der Bastille inhaftiert. Erst danach wurde ihr Leben ruhiger und einfacher. Sie konnte noch 14 Jahre in der Stille und Abgeschiedenheit leben, die sie sich immer gewünscht hatte.
Und an diesem Lebensweg sieht man, dass man nicht unbedingt in ein Kloster gehen muss, um innerlich zu leben. Das geht in jeder Lebensform, man muss sich nur dazu entscheiden. Jeder und jede kann sich innerlich von den äußeren Umständen unabhängig machen, das Leid annehmen und einen mystischen Weg einschlagen. Bei Mme Guyon war das wahrscheinlich sogar ihre Rettung. Ohne diese innere Orientierung wäre sie vielleicht schon viel eher gestorben und hätte all die Härten nicht verkraftet, die sie durchgemacht hat.
In ihrer Lehre betont sie deshalb auch, dass jeder und jede diesen Weg gehen kann, und dass er sich auf die Lebensführung auswirkt. Nicht das Kloster führt den Menschen zu Gott, sondern wenn er sich Gott anvertraut, wird die ganze Welt zum Kloster.
Und diese Reihenfolge beachtet sie ganz konsequent. Auf alle Lebensfragen gibt sie die Antwort: Handle von innen heraus, dann ergibt sich alles andere von selbst. Auch auf die Tugend wendet sie dieses Muster an, d.h. auf die Lebensführung, das Handeln, die Moral und die Ethik.
aus Kapitel IX: Von den Tugenden
1
Das ist der kurze und sichere Weg, Tugend zu erlangen. Weil Gott der Ursprung aller Tugend ist, heißt Gott besitzen alle Tugend besitzen. Je mehr man sich diesem Besitz nähert, desto mehr hat man Tugend in einem hohen Maß.
Mehr noch, ich sage, dass jede Tugend, die nicht von innen kommt, eine Maske ist und wie ein Gewand, das sich ablegen lässt und kaum von Dauer ist. Die Tugend aber, die aus dem Grund kommt, ist die eigentliche, wahre und dauerhafte Tugend: „Alle Schönheit der Königstochter kommt von innen.“ (vgl. Ps 45,14) Und keine unter allen Seelen würde mehr Tugend üben, obwohl sie eigentlich nicht an die Tugend denkt.
Gott, mit dem diese Seelen vereint bleiben, lässt sie so auf jede Weise üben: Er duldet nichts, er erlaubt ihnen kein noch so kleines Vergnügen.
3
Wenn man doch diese Methode lehren könnte! Sie ist so leicht, dass sie für alle geeignet ist, für die Ungeschicktesten und Unwissendsten ebenso wie für die Gelehrtesten. Wie leicht wäre die ganze Kirche Gottes reformiert!
Man muss nur lieben. „Liebt und tut dann, was ihr wollt.“ (Augustinus) Denn wenn man richtig liebt, kann man nichts tun wollen, was dem Geliebten missfallen könnte.
2. Auslegung
Sie spricht hier über die „Tugend“. Das ist ein altmodischer Begriff, den wir kaum noch verwenden. Bei Wikipedia wird er so erklärt:
„Das Wort Tugend (von mittelhochdeutsch tugent ‚Kraft, Macht, [gute] Eigenschaft, Fertigkeit, Vorzüglichkeit‘ […]) ist abgeleitet von taugen; die ursprüngliche Grundbedeutung ist die Tauglichkeit (Tüchtigkeit, Vorzüglichkeit) einer Person. Allgemein versteht man unter Tugend eine hervorragende Eigenschaft oder vorbildliche Haltung. Im weitesten Sinne kann jede Fähigkeit zu einem Handeln, das als wertvoll betrachtet wird, als Tugend bezeichnet werden. In der Ethik bezeichnet der Begriff eine als wichtig und erstrebenswert geltende Charaktereigenschaft, die eine Person befähigt, das sittlich Gute zu verwirklichen. Damit verbindet sich gewöhnlich die Auffassung, dass dieser Eigenschaft und der Person, die über sie verfügt, Lob und Bewunderung gebühren.“
„Die christlichen Tugenden gehen auf die zehn Gebote des Alten Testamentes und deren Auslegung durch Jesus Christus im Neuen Testament zurück, etwa in den Seligpreisungen der Bergpredigt. Dort lehrt Jesus auch über die Anwendung der Tugenden des Almosengebens, des Gebets und des Fastens (Mt 6,1–21): Es kommt ihm nicht nur auf das Tun an sich an, sondern vor allem auf die Beweggründe dahinter.
Die drei göttlichen Tugenden, auch theologische Tugenden genannt, stehen im ersten Brief an die Korinther des Apostels Paulus (1 Kor 13,13). […] Es sind: Glaube, Hoffnung und Liebe.“ Außerdem nennt Paulus in seinen sogenannten Tugendkatalogen „Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, und Keuschheit“. (Gal 5, 22f) In der Kirche zählen dann noch Demut, Mildtätigkeit und Mäßigung dazu.
An all das dachte Mme Guyon sicher auch, d.h. sie geht hier auf das gesamte christliche Handeln ein und betont, dass es nur von innen heraus möglich ist. Wir können es nicht aus eigener Kraft verwirklichen, sondern Gott muss es uns schenken. Sonst ist es nur wie eine „Maske“ oder wie ein „Gewand“, d.h. es ist äußerlich und verdeckt, wie es wirklich um uns steht. Man kann es ablegen und es ist nur vorübergehend. Die Tugend muss aus dem „Grund“ der Seele kommen. Mme Guyon vergleicht sie mit der Schönheit einer Königstochter, die auch nur von innen kommen kann. Und sie wünscht sich, dass in der Kirche dieser Weg gelehrt wird. Anstatt auf äußeren Tugenden zu bestehen, sollten die Seelsorger sich darum kümmern, dass die Menschen auf ihr Inneres achten. Sie würden den Menschen, die ihnen anvertraut sind, viel Anstrengung und Mühe ersparen, und alle könnten es verwirklichen. In ihrer „Mahnung an die Seelsorger“ in Kapitel 22 schreibt sie dazu:
„Wenn das Herz gewonnen ist, ändert sich alles übrige leicht zum Guten. Deshalb fordert Gott vor allem das Herz. Mit diesem Mittel allein ließen sich Trunksucht, Gotteslästerungen, Schamlosigkeiten, Feindschaften, Räubereien, wie sie gewöhnlich bei den Leuten auf dem Land herrschen, eindämmen. Jesus Christus würde überall in Frieden herrschen, und allerorts würde sich das Gesicht der Kirche erneuern.“
In unserem Text aus Kapitel neun fügt sie am Ende ein Zitat von Augustin an: „Liebt und tut dann, was ihr wollt.“ Wer Gott wirklich liebt, will ihm auch gefallen, und er wird von selber gut.
3. Anwendung
Auch das sind wieder wichtige Hinweise, die uns helfen, uns aber gleichzeitig provozieren, denn sie enthalten nicht nur eine Mahnung, sondern auch eine Kritik. Und die sollten wir ernst nehmen.
Wir reden zwar nicht unbedingt von Tugenden, aber das richtige Handeln ist uns immer sehr wichtig. Es wird in der Kirche heutzutage stark betont. Wir werden regelmäßig zur Nächstenliebe aufgefordert, zum Helfen, zu Toleranz und Friedfertigkeit. Auch die Bewahrung der Schöpfung wird angemahnt, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Und natürlich wird erwartet, dass wir ruhig und geduldig sind, nicht laut werden, uns nicht aufregen, nicht schimpfen, keine Konflikte anzetteln, verständnisvoll, aufmerksam und einander zugewandt sind.
Wir wollen das alles auch gerne, denn so wie die Welt und unser Miteinander ist, ist es nur schwer auszuhalten. Es muss sich etwas ändern in der Gesellschaft und in unserem Leben. Zu vieles läuft schief, geht den Bach runter und wird zerstört. Deshalb werden wir regelmäßig ermahnt, Gutes zu tun, uns zu engagieren und einzusetzen.
Das stört uns auch nicht, im Gegenteil: Wir orientieren uns gerne an moralischen Werten, denn das ist einfach. Etwas zu tun und Gesetze einzuhalten, liegt uns nahe. Wir lieben klare Handlungsanleitungen, jeder und jede kann sie verstehen. Außerdem entstehen dadurch unser Selbstverständnis und unsere Identität. Wir definieren uns gerne über unsere Aktivitäten. Sie geben uns einen Sinn und eine Daseinsberechtigung.
Aber schaffen wir das alles auch, was da von uns verlangt wird und was wir uns vornehmen? Das Problem dabei ist, dass wir uns oft überfordert fühlen. Wir geraten unter Druck, arbeiten viel und sind am Ende erschöpft. Auch Frustration, Enttäuschung und Desillusionierung können uns befallen, denn wir merken immer wieder, wie wenig wir schaffen.
Mit der Arbeit an uns selber geraten wir ebenso an diese Grenzen. Unsere Fehler und Schwächen lassen sich nicht so leicht ausmerzen, wir verfallen regelmäßig in Verhaltensweisen, die weder uns noch den anderen guttun. Wir werden nie vollkommen. Unsere Sünde und Unzulänglichkeit begleiten uns ein Leben lang.
Deshalb ist es sehr hilfreich, was Mme Guyon uns hier rät. Sie kritisiert ja, dass das äußere Handeln oft nur eine Maske und ein Gewand ist, und betont, dass alles Gute nur von innen heraus geschehen kann. Wir müssen uns zuerst nach innen wenden, uns Gott anvertrauen und uns von ihm beschenken lassen. Dann verändert sich nicht nur unsere Seele, sondern auch unser Handeln. Wir werden befreit und können befreiend wirken. Wir geben einfach nur weiter, was wir geschenkt bekommen haben.
Mme Guyon wehrt sich damit gegen die Werkgerechtigkeit, und das ist gut, denn die gab es nicht nur zu ihrer Zeit, sie hat sich leider auch heutzutage wieder in unser Denken eingeschlichen: Wir meinen, wir können uns und die Welt selber erlösen, die Menschheit retten und das Reich Gottes verwirklichen.
Doch das ist ein Irrtum. Zuerst müssen wir von Christus erlöst werden, nur dann können wir erlösend handeln. Und das ist ein ganz einfacher Vorgang: Wir stellen uns in sein Licht, und in dem erscheinen dann die anderen Menschen. Wir überwinden die Grenzen unserer Wahrnehmung und unsres individuellen Denkens, können Liebe üben und Aufmerksamkeit schenken, Offenheit und Friedfertigkeit entstehen. Durch die Nähe und Barmherzigkeit Christi können wir selber vergeben und verzeihen.
Wir müssen es als unseren Beruf verstehen, aus der Gnade heraus zu leben. Die Liebe Christi ist der Sinn unseres Lebens und berechtigt uns zum Dasein. Dieser Weg und dieses Selbstverständnis sind nicht anstrengend und kräftezehrend, sondern wohltuend und heilsam. Wir erleben, dass Augustinus recht hatte, als er sagte: „Liebt und tut dann, was ihr wollt.“
verwendete Literatur:
Von der Leichtigkeit Gott zu finden, Das innere Gebet der Madame Guyon, herausgegeben und eingeleitet von Emmanuel Jungclaussen, Cuxhaven, Neufeld Verlag, 3. Auflage 2018
(Die Erläuterungen von Emmanuel Jungclaussen habe ich teilweise zitiert, das aber nicht jedes Mal gekennzeichnet.)
Betrachtungen zu Psalm 23
Stilles Wochenende im Gethsemanekloster Riechenberg, 9.- 11. 9. 2022
Erste Einführung: Vers 1- 4: Führung und Bewahrung
1. Hinführung
a. zum Thema
Die Jahreslosung für 2022 stammt aus der sogenannten Brotrede Jesu. Sie steht im Johannesevangelium, Kapitel sechs und enthält in Vers 35 das Wort Jesu: „Ich bin das Brot des Lebens.“ Das ist das erste der sogenannten „Ich-bin-Worte“ Jesu, mit denen er sich selber offenbart und sein Heil zusagt. In Vers 37 formuliert er das so: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.“
Und dazu passt gut der Psalm 23, denn auch er enthält wie kaum ein anderer die Heilszusagen Gottes. Es ist der Psalm vom guten Hirten, und er ist sicher einer der bekanntesten Psalmen überhaupt. „Über ihm liegt der zarte Hauch eines ungetrübten Seelenfriedens, der aus zuversichtlichem Gottvertrauen emporquillt.“ So steht es in einem Kommentar. (s.u.: verwendete Literatur)
Psalm 23
nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017
1 Der HERR ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.
2 Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser.
3 Er erquicket meine Seele. Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen.
4 Und ob ich schon wanderte im finstern Tal,fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.
5 Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde.
Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein.
6 Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des HERRN immerdar.
Er handelt von dem guten Hirten und enthält einfache und immerwährende Bilder wie den Hirten, die Herde, das Wasser und auch das gefährlich enge, dunkle Tal, das die Behutsamkeit des Hirten fordert. Der Psalm ist ein wunderschönes Jubellied, er tröstet und beruhigt, und unzählige Menschen haben darin Kraft gefunden. Im Judentum wird er mit Vorliebe bei Beerdigungen gesprochen. In der frühen Christenheit haben ihn in der Osternacht die Neugetauften zur Vorbereitung auf das Abendmahl gebetet. Die Bilder sind uns vertraut, und es gibt viele Nachdichtungen.
Denn der Psalm spricht die Sehnsucht unseres Herzens an: „Grüne Auen, klare Wasser, guter Weg, gedeckter Tisch, übervoller Becher, festliche Stimmung, ein Haus voller Glück und Freundlichkeit – und all das als Gabe eines Gottes, der es gut mit uns meint und uns zugewandt ist. Wer möchte das nicht?“ Es ist eine wunderbare Verheißung, die uns geschenkt wird „inmitten einer Welt, in der es Finsternis, Unheil und Feinde gibt.“
In dem Kommentar heißt es weiter: „Doch sind die Töne eines fast kindliches Vertrauens, die der Dichter hier findet, keineswegs aus jugendlich unbekümmerter Sorglosigkeit geboren; sie sind vielmehr die reife Frucht eines Herzens, das durch manche Erfahrungen und Kämpfe hindurch den stillen Abendfrieden der Seele trotz aller Bedrohung Kraft hat finden dürfen in der Gemeinschaft mit Gott.“ All das kann der Psalm uns vermitteln.
Ich werde deshalb wie immer die einzelnen Verse auslegen und darüber nachdenken, wie wir das Gesagte auf unser Leben anwenden können.
b. Aufbau von Psalm 23
Der Psalm ist ja nicht sehr lang, aber man kann trotzdem zwei Teile erkennen: Der erste Teil geht von Vers eins bis vier. Sie enthalten die Bilder vom guten Hirten, der uns begleitet, auch durch Leid und Not hindurch.
Der zweite Teil sind die Verse fünf bis sechs, die eher ein gottesdienstliches Geschehen beschreiben, ein Fest, das Ziel des Weges und die Verheißung des ewigen Lebens.
Im ersten Teil können wir dann wiederum zwei Abschnitte erkennen, die formal voneinander abgehoben sind: In Vers eins bis drei redet der Beter von Gott in der dritten Person, in Vers vier wird er als Du angesprochen. Im ersten Abschnitt ist Gott der Handelnde, der Beter ist das Objekt: Gott versorgt und führt ihn. Im zweiten Abschnitt ist der Beter das Subjekt: Er geht und fürchtet sich nicht.
2. Auslegung von Teil 1 (V.1-4)
V.1: Der HERR ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.
Der Psalm beginnt mit einem Bild, nämlich dem von einem Hirten. Der Dichter stellt sich vor, wie er seine Schafe weidet. Dieses Bild kannte er vielleicht schon aus Liedern im Gottesdienst, denn es wurde häufig benutzt, um die Fürsorge Gottes für sein Volk zu beschreiben. Er war der Hirte Israels, der sein Volk durch die Geschichte führte. Das stellten sich die Menschen gerne so vor.
Der Dichter benutzt dieses Bild jetzt für sein persönliches Gottesverhältnis. Es weckt in ihm dankbare Erinnerungen und er hat die Zuversicht, dass ihm nichts „mangeln“ wird. Ihm wird nichts von dem fehlen, was er zum Leben braucht. Er wir nichts entbehren, das ist sein ganz fester Glaube, der ihn ruhig und friedlich macht. Er fühlt sich in der Gemeinschaft mit Gott sicher.
In Vers zwei nennt er nun eine Tätigkeit des Hirten:
V. 2: Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser.
Der Hirte weidet seine Schafe, d.h. er führt sie zu Wiesen, auf denen frisches Gras wächst. Dieses Bild stammt aus dem Nomadenleben: Da gibt es immer nur bestimmte Plätze, an denen solches Gras wächst. Der Hirte muss sie kennen und sich mit seinen Schafen dort niederlassen.
Genauso wichtig ist das Wasser, auch das brauchen die Schafe und sie müssen dorthin geführt werden. Ein solcher Ort kann dann ihr Rastplatz sein. Wörtlich übersetzt heißt der Satz auch: „Er führt mich zu einem Gewässer, das zur Ruhe einlädt.“ Der Beter weiß sich also so von Gott versorgt, dass dabei für ihn eine wohltuende Ruhe eintritt. Er kann sich hinlegen, sich lagern und inneren Frieden finden.
Der nächste Vers beginnt mit dem Satz:
V.3a: Er erquicket meine Seele.
Im diesem Vers wendet der Beter sich nach innen und beschäftigt sich mit seiner „Seele“. Er meint damit sein Innerstes, sein Gemüt, aber auch die Kraft, durch die er überhaupt zu einem lebendigen Wesen wird. Das hebräische Wort für Seele meint also auch das Leben überhaupt, den Sitz der Empfindungen und Gefühle, das, was den Menschen ausmacht, seine Person, seinen Atem, sein Herz.
All das „erquickt“ Gott, wörtlich übersetzt heißt es: „Er stellt es wieder her“, d.h. er macht es ganz, er heilt und erfüllt die Seele, er stillt ihren Hunger und ihren Durst, er sättigt und erfrischt sie.
Und darüber freut sich der Beter. Er weiß, wo er versorgt wird, wo er alles bekommt, wonach er sich sehnt. Er weiß sich bei Gott geborgen, und diese Erfahrung geht tief in ihn hinein. Sie ergreift ihn ganz und berührt alle Fasern seines Lebens.
Der Beter sagt weiter:
V.3b: Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen.
Wir haben hier ein weiteres Bild aus der Tätigkeit des Hirten: Der Beter stellt sich die vielen Wege und Pfade vor, die er mit seinen Schafen geht. Er selber ist im Leben auch schon viel gegangen, und da war es bestimmt oft nicht ganz leicht, den richtigen Weg zu finden. Doch er denkt dabei sicher nicht nur an geografische Straßen, sondern hauptsächlich an seinen Lebensweg. Er musste sich oft entscheiden. Und dabei wusste er sich von Gott geführt und geleitet. Gott hat ihn oft vor Irrwegen bewahrt und ihn das Richtige tun lassen. So wie ein Hirte seine Schafe führt, so führt Gott diejenigen, die auf ihn vertrauen.
Und zwar tut er das „um seines Namens willen“. D.h. weil er selber es will, um seinetwillen eben, damit er gelobt und verherrlicht werde, damit der Mensch ihn erkennt und an ihn glaubt.
Der Beter hat also das Gefühl, dass sein Leben nicht einfach zufällig verläuft, sondern dass Gott ihm seinen Sinn und sein Ziel gibt. Gerade im Rückblick erkennt er das. Aber das lässt ihn natürlich auch hoffen. Auch der Weg, der vor ihm liegt, wird Gott ihm zeigen und ihn sicher führen.
In Vers vier ändert sich der Psalm nun wie gesagt etwas. Er lautet:
V.4a: Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück;
Sowohl von der Form als auch vom Inhalt her beginnt hier ein neuer Abschnitt. Der Psalm wechselt in die Anrede und stellt jetzt realistisch heraus, wie die Welt ist, in der wir leben. Es wird also deutlich, dass der Psalm nicht einfach nur eine Idylle malt.
Der Beter stellt sich ein Tal vor, eine Niederung, zu deren beiden Seiten sich Berge erheben. Da hindurchzugehen kann schon von sich aus unheimlich sein. Es wirkt bedrohlich und gefährlich, weil man so einem Tal nicht einfach entkommt. Verfolger, Diebe oder wilde Tiere haben es leicht, Durchziehende zu überfallen. Auch ein Unwetter kann sie überraschen und ihnen zusetzen. Man ist darin gefangen, bis das Tal sich wieder weitet, Häuser oder Ortschaften sichtbar werden, bei denen man Schutz findet.
Der Beter macht deutlich, dass er an solche Gefahren denkt, indem er vom „Tal der Finsternis“ spricht. Mit diesem Zusatz meint er Not und Bedrängnis und sogar Todesgefahr. So etwas hat er sicher schon erlebt. Der Weg durch „finstere Täler“ ist ihm nicht erspart geblieben. Aber er erinnert sich auch daran, dass er da hindurch gekommen ist. Er hat die Gefahr überstanden. Und das lag hauptsächlich daran, dass er behütet wurde. Gott war bei ihm, und er hat seine Nähe gerade da besonders gespürt.
Auffällig ist, dass er in diesem Vers Gott anspricht. In den ersten drei Versen hatte er über Gott gesprochen, nun wechselt er in die Anrede, in die Gebetsform. Er stellt also zu Gott eine Verbindung her und dadurch fühlt er sich sicher. Er erlebt, dass das Böse ihm nichts anhaben kann. Deshalb „fürchtet er kein Unglück“ und kein Böses. Er vertraut darauf, dass nichts ihm schaden kann, weil Gott bei ihm ist.
Er sagt dann weiter:
V.4b: denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.
Der Beter stellt sich jetzt zwei Werkzeuge vor, die ein Hirte bei sich hat. In der Lutherübersetzung sind es „Stecken und Stab“. Man kann sich auch eine Keule und einen Stab vorstellen: Mit der Keule wehrt der Hirte die wilden Tiere ab und mit dem langen Stab führt und stützt er gefährdete oder schwache Schafe bei schwierigen Stellen des Weges. Der Hirte sorgt sich also um die einzelnen. Er kennt jeden und jede und liebt sie. Er weiß, was sie brauchen, und lässt es sie finden.
3. Anwendung von Teil 1
Die Botschaft, die der Psalm in diesem ersten Teil enthält, ist also der Tost und die Hoffnung, Gottes Beistand und Hilfe, seine Kraft, die uns Mut und Zuversicht gibt. Der Hintergrund ist dabei die Erkenntnis und die Erfahrung, dass das Leben nicht immer harmonisch oder romantisch ist. Es gibt viele Widerwärtigkeiten, Gefahren, Nöte, Bedrängnisse. Das wird hier nicht verschwiegen. Uns wird nicht verheißen, dass wir davor verschont bleiben, wenn wir an Gott glauben. Vielmehr wird uns ein Weg gezeigt, wie wir mit dieser Realität leben können.
Und diesen Weg können wir besonders gut in der Stille gehen. Er besteht nämlich darin, dass wir uns in die Gemeinschaft mit Gott begeben. Gott lädt uns fortwährend ein, an ihn zu glauben, ihm zu vertrauen, und es gilt, dass wir das einmal hören und beachten und die Einladung annehmen.
Dazu gehört es, dass wir vorübergehend mit allen anderen Methoden, uns zu trösten können, aufhören. Dazu gehen wir in die Stille. In unserem normalen Alltag haben wir ja immer recht viele Mittel und Wege, es uns gut gehen zu lassen, wie Abwechslung, Geselligkeit oder Hobbys. Dazu kommen der Urlaub, Reisen und Ausflüge. Auch die Medizin oder die Psychologie ziehen wir zu Rate, wenn es uns schlecht geht. Denn natürlich wollen wir das Leid kleiner machen, am liebsten soll es sich ganz auflösen. Das ist eigentlich immer unser Ziel.
Doch wahrscheinlich wir wissen genau, dass das mit unseren weltlichen Methoden nicht immer gelingt. Sie greifen zu kurz, gehen nicht tief genug. Und das sagt uns auch der Psalm und er lädt uns ein, das zuzugeben.
Dazu können wir die Stille Zeit als erstes nutzen: Wir schauen uns das, worunter wir leiden, erst mal einfach nur an. Wir können uns fragen: Was ist mein „finsteres Tal“? Was macht mir zu schaffen? Womit hadere ich? Was verdunkelt mein Leben? Wovor habe ich Angst?
Als zweites nehmen wir es an. Wir unterlassen den Versuch, es abzuschaffen oder abzustellen, und halten es einmal aus. Wir vertrauen nicht mehr auf unsere eigene Kraft, sondern auf „den guten Hirten“. Dafür malen wir uns mit Hilfe des Palmes aus, was er alles tut.
Und als letztes erinnern wir uns daran, dass Jesus Christus gesagt hat: „Ich bin der gute Hirte“. (Joh. 10.11) Er hat den Tod besiegt und er ist da. Er ist jetzt mitten unter uns und schenkt uns seine Gegenwart. Wir müssen nur in seine Nähe treten und bei ihm unsre Sicherheit suchen. Dann sind wir nicht mehr allein und verlassen, sondern Jesus Christus steht uns zur Seite.
Letzten Endes kommen wir ohne ihn auch nicht gut durch das Leben. Wir brauchen diesen Halt, der größer ist, als unsere Wirklichkeit, den Freund, der auch im Tod lebendig ist. Ohne ihn sind wir den Zufällen und der Vergänglichkeit ausgeliefert. Uns fehlen der Grund, auf dem wir fest stehen, und der Sinn, der über uns selber hinausweist. Wirkliche Ruhe und Frieden, Erfüllung und Geborgenheit finden wir nur bei Gott und seinem Sohn Jesus Christus.
Es ist deshalb gut, uns immer wieder die Zeit und den Raum zu nehmen, mit ihm zusammen zu sein, zu ihm zu beten und uns ihm anzuvertrauen.
Zweite Einführung: Vers 5- 6: Glück und immerwährende Freude
1. Hinführung
Psalm 23 enthält viele Bilder, und die Grenze zwischen Bild und Sache kann oft gar nicht genau bestimmt werden. Beides fließt in einer poetisch-allegorischen Redeweise ineinander. Und das ist wohl gerade der besondere Reiz dieses Psalms: Die Bilder sprechen uns unmittelbar an. Sie beschreiben Gott so, wie wir ihn uns leicht vorstellen können und wollen.
Dabei geht es auch nicht nur um den Hirten, sondern das Bild ist im Alten Testament und in der Umwelt Israels gleichzeitig ein Königsbild. Gott ist hier auch der großzügige und fürsorgliche König. Der Psalm will nicht nur die Hilfe Gottes erfahren lassen, sondern ebenso seine Macht und Herrschaft. Er enthält also alles, was wir über Gott wissen, was wir bekennen und glauben, wie er ist und wie er zu uns in Beziehung steht.
Der Psalm ist deshalb auch ganz oft in Lied- bzw. Gedichtform gebracht worden. Er hat viele Menschen dazu angeregt, die Bilder in eine Sprache zu bringen, in der sie ihn noch besser behalten konnten. Und dazu bietet er sich gut an: dass wir ihn zu unserem geistigen Eigentum machen, ihn auswendig lernen. Dann können wir uns in allen Lebenslagen darauf verlassen.
So haben Menschen es immer getan, denn es ist eine gute Methode, wie wir den Trost der Bibel jederzeit abrufen können. Auch andere Teile bieten sich dafür an, dass wir sie im Gedächtnis behalten und sie sich darin eingraben.
Ich kenne auch wirklich viele Menschen, die den Psalm auswendig können. Wenn ich im Altenzentrum Gottesdienst halte, dann beten wir ihn z.B. immer zusammen, und ich muss den Text dafür nicht verteilen. Das hat meine Vorgängerin so eingeführt, und ich habe es beibehalten. Manchmal denke ich, vielleicht wäre es schön, auch einmal einen anderen Psalm zu nehmen, aber dann bleibe ich doch bei dieser Tradition, denn es können ihn wirklich alle mit beten. Er ist wie eine eiserne Ration, die die Menschen auch im hohen Alter noch parat haben.
Viele sind ja von Krankheit, Einsamkeit oder geistigen Verfall betroffen. Sie haben nicht mehr viel vom Leben, alles hat sich auf ein Minimum reduziert, und das ist traurig. Aber gerade dann ist es gut, wenn Gebete wie der Psalm 23 bis zum Lebensende Trost spenden können, weil sie zu unserem Gedächtnisschatz gehören. Denn das Entscheidende daran ist: Sie weisen über das Leben hinaus. Gott ist auch im Tod noch für uns da und führt uns hindurch. Er wird uns ganz zu sich holen, und dann wird es uns tatsächlich für immer gut gehen. Wir müssen nie mehr dürsten, sondern finden ewige Ruhe und Frieden. Davon handelt besonders der zweite Teil des Psalms.
2. Auslegung von Teil 2 (V.5+6)
V.5a: Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde.
Der Beter verlässt mit diesem Satz die Bildwelt des Hirten und des Wanderns und beschreibt einen Festsaal. Gott ist sein Gastgeber, er lädt ihn an seinen Tisch, den er selber gedeckt hat, es gibt Speise und Trank. Der Beter wird also versorgt, und gleichzeitig ist er mit Gott zusammen. Darüber freut er sich und ist fasziniert.
Denn es geschieht „im Angesicht seiner Feinde“. Wer das ist und was sie taten, wird nicht gesagt. Das Bekenntnis knüpft an die Metapher vom „finsteren Tal“ an, durch das der Beter gewandert ist. Gemeint sind wohl die Unstimmigkeiten und Probleme mit anderen Menschen, Feindseligkeiten und Bedrohungen, die es im Leben geben kann: Verachtung, Verfolgung, Verleumdung, Misshandlung usw. Das kennt der Beter zwar und er leidet darunter, aber es muss ihn nicht mehr kümmern, denn ihm widerfährt die größte Auszeichnung, die es geben kann: Er wird Tischgenosse des Königs. Gott ist auf jeden Fall auf seiner Seite, er ist für ihn da.
Im zweiten Teil von Vers fünf werden zwei Einzelheiten aus einem solchen Festessen herausgenommen, um die Freude und die Üppigkeit, den Glanz und die beglückende Atmosphäre anzudeuten. Er lautet:
V.5b: Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein.
Ägyptische Bilder bezeugen die Sitte, bei festlichen Mählern den Gästen parfümierte Fette und Öle in sogenannten Salbkegeln auf den Kopf zu binden. Teilweise waren die noch mit Blumen geschmückt. Im Laufe des Mahls zerflossen sie auf den erhitzten Häuptern, träufelten den Kopf herunter und verbreiteten einen betörenden Wohlgeruch. Die Gäste wurden damit verwöhnt, und so fühlt sich auch der Beter: Er wird von Gott nicht nur gesättigt, sondern auch verwöhnt. Das ist das eine.
Das andere ist der Becher, der übervoll ist. Der Gastgeber ist großzügig, der Beter kann es sich gut gehen lassen. Er kann sich entspannen und aufatmen, weil Gott es gut mit ihm meint. Er weiß, dass er das nicht verdient hat, Gott schenkt es ihm einfach, weil er es will und weil er voller Liebe ist. Der Beter muss es sich nur gefallen lassen, das Geschenk annehmen und genießen. Und das tut er hier. Er freut sich darüber, er ist dankbar und singt von der Gnade Gottes, weil er sie reichlich erfahren hat, und sein Leben dadurch schön geworden ist.
Im letzten Vers kommt sogar noch mehr zum Ausdruck: Der Beter ist geradezu von Gott begeistert. Er sagt:
V.6a: Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang,
Genauer übersetzt heißt es: „Nur Gutes und Gnade werden mich begleiten“. Dabei steht das hebräische Wort „gut“ für Angenehmes, Heilsames, Nützliches. Der Beter rechnet also nur noch mit Erfreulichem und Befriedigendem, weil er sich von der Gnade und Liebe Gottes umgeben weiß. Auch Schweres wird durch die Liebe Gottes gut. Sein Leben kann nicht mehr misslingen, denn er fühlt sich ganz und gar geborgen. Der Segen Gottes steht über seinem Leben. Die Güte und das Wohlwollen Gottes überstrahlen alles. Sie sind stärker als die dunklen Seiten. Durch Gottes Liebe verwandelt sich für ihn alles in Glück und Heil.
Und der Beter geht davon aus, dass das so bleibt. Er kann der Einladung Gottes ja immer wieder folgen. Deshalb sagt er am Ende:
V.6b: und ich werde bleiben im Hause des HERRN immerdar.
Der Beter erwähnt damit die Stunde des Gottesdienstes, sein Verweilen im Tempel, und der wird für ihn ein Symbol: So nah, wie er Gott da ist, so nah wird er ihm bleiben, und zwar über Zeit und Raum hinaus. Er hat so viel Gutes von Gott erfahren und empfangen, dass er gewiss ist: die Gemeinschaft mit Gott bleibt bis in alle Ewigkeit erhalten.
Er beschreibt mit diesen Worten hauptsächlich die innere Seite der Gottesgemeinschaft, auch wenn er das äußere Nahesein im Tempel erwähnt. Es ist für ihn ein Bild: Alle Tage seines Lebens werden durch die Nähe Gottes zu einem Gottesdienst. Er weiß sich aufs engste mit Gott verbunden, er hat eine Gewissheit, die bis ans Ende seines Lebens und auch noch darüber hinaus weist.
Wir können diesen letzten Satz sehr schön auf das anwenden, was vielleicht nach dem Tod auf uns wartet: Wir werden in das Haus Gottes aufgenommen. Darin sind „viele Wohnungen“, wie Jesus einmal gesagt hat (Joh.14,2), und jeder und jede, die an ihn glaubt, findet dort den Platz, an dem er oder sie zur Ruhe kommt und dauerhaften Frieden findet.
3. Anwendung von Teil 2
Die Botschaft und das Thema dieser letzten beiden Verse ist also der Gottesdienst und die Freude, beschenkt und erfüllt werden, Gnade und Liebe empfangen.
Und es ist gut, dass wir hier Zeit haben, uns auch damit zu beschäftigen, uns dafür zu öffnen und es zu genießen. Wir tun das viel zu selten, weil wir unseren Glauben häufig anders verstehen. Wir meinen oft, dass Gott etwas von uns will, dass er Regeln und Gesetze aufstellt, Forderungen und Erwartungen an uns hat. Der Glaube wird leicht zur Ideologie, und immer wieder schleicht sich eine gewisse Werkgerechtigkeit in unser Denken ein.
Dabei sind es bei uns natürlich nicht die Werke, die im Mittelalter von der Kirche gefordert wurden, wie Ablass und Buße, sondern Nächstenliebe, Bewahrung der Schöpfung, Einsatz für Frieden und die Gerechtigkeit usw. Das wird ganz oft gepredigt und sehr groß geschrieben. In der Öffentlichkeit kommt das natürlich gut an. Die Kirche ist dann zeitgemäß, sie mischt sich ein, macht mit und äußert sich zu den politischen Themen, die uns alle beschäftigen.
Ich lehne das auch nicht ab, es gehört ganz sicher zu einem lebendigen Glauben dazu. Ohne das alles wäre unser Glaube tot und egoistisch. Aber es steht nicht an erster Stelle und es ist auch nicht die Grundlage, auf der wir als Christen leben. Das ist etwas anderes. Denn an erster Stelle stehen immer die Gegenwart Gottes und seine Liebe. Die sollen wir genießen und empfangen. Unser Glaube ist keine Ideologie. Er erschöpft sich nicht in Ethik und Moral oder in politischen Programmen. Im Gegenteil: Wir müssen das alles immer mal wieder bei Seite legen und einfach nur da sein, den Augenblick genießen und uns auf die Gegenwart besinnen, auf das, was jetzt ist.
Bei unseren Vorstellungen davon, was wir alles tun müssen, sind wir mit unseren Gedanken der Gegenwart ja immer einen Schritt voraus. Wir begeben uns in die Zukunft, stellen uns vor, wie alles sein sollte, setzen uns Ziele und geben uns Anweisungen. Der Psalm lädt uns dagegen in das Hier und Jetzt ein, in die Freude und das Feiern.
Um das zu erfahren ist es gut, wenn wir uns in der Stille einmal fragen: Welche Wertvorstellungen habe ich? Welche Gesetze stelle ich auf? Was sagt mir mein Überich? Was meine ich, erreichen zu müssen? Was sind meine Ziele? Auf wessen Stimme höre ich am meisten? Wir müssen das alles nicht bewerten, sondern es einfach nur feststellen, es uns bewusst machen und klären.
In einem zweiten Schritt sind wir dann dazu eingeladen, all das abzulegen, es wie einen Stapel Akten einmal zur Seite zu schaffen, wenigstens vorübergehend, solange wir hier sind, und nichts mehr zu tun oder zu denken. Denn anstatt etwas geben zu müssen, dürfen wir im Glauben in erster Linie etwas empfangen: die Liebe Gottes und seine Fürsorge. Letzten Endes ist er unser Ziel und unsere Heimat. Es gilt, ihn um seiner selbst willen zu lieben, in die Freude einzutreten, in das Licht und das Heil. Es ist bereits da, auch in einer Welt voller Nöte, wir müssen nur hinschauen und es genießen.
Wenn wir fragen, was die Welt am meisten braucht, dann sind es Menschen, die erfüllt von Freude sind, deren „Haupt von Gott gesalbt“ ist, die gesegnet sind und diesen Segen zu den anderen Menschen bringen. Das ist unser Auftrag.
Wir können ihn in der Stille annehmen und uns darin einüben. Eine gute Methode ist dafür z.B. das Betrachten dieses Psalms, das Eintauchen in seine Bildwelt. Wir können uns im Geist an den Tisch Gottes setzen und uns von ihm verwöhnen lassen. Gleichzeitig können wir ganz direkt zu ihm beten. Es müssen nicht viele Worte sein, es kann schweigend geschehen, indem wir uns bewusst für seine Zuwendung öffnen.
Hilfreich ist da auch das sogenannte Herzensgebet. Es besteht darin, dass wir immer wieder einen Satz wiederholen, wie z.B. den: „Herr, Jesus Christus, erbarme dich meiner.“ Beim Einatmen rufen wir zu ihm, beim Ausatmen bitten wir um sein Erbarmen. Wir beten zu ihm hin und von ihm her und lassen uns mit jedem Ausatmen von seinem Erbarmen umhüllen und durchströmen. Dabei macht es nichts, wenn wir zwischendurch mal abschweifen und den Faden verlieren. Es geht ja nicht um unsre Konzentrationsfähigkeit, sondern um die Bitte um Erbarmen. In dem Moment, wo wir merken, dass wir an etwas anderes gedacht haben, können wir diese einfach wiederholen und uns Jesus Christus anvertrauen.
Denn er ist unser „guter Hirte“ und das „Brot des Lebens“. Durch seine Gegenwart haben wir all das, was der Psalm beschreibt.
Und das Schöne ist: Es währt in Ewigkeit, es überdauert auch den Tod. Selbst am Ende des Lebens können wir noch so beten. Die Verheißungen erfüllen sich dann erst recht, denn wir werden durch den Tod hindurch ganz in das „Haus Gottes“ aufgenommen.
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verwendete Literatur: Erich Zenger, Psalmen Auslegungen, Band 1: Mit meinem Gott spring ich über Mauern, Freiburg, Basel, Wien 2006, S. 225ff
Betrachtungen zu dem Text „Sucht“ aus dem
„Buch von der Liebe“ von Ernesto Cardenal
Stilles Wochenende im Gethsemanekloster Riechenberg, 27.- 30.1.2022
Erste Einführung: „Die innere Unruhe“ – Lossagen
- Hinführung: Zu dem „Buch von der Liebe“ von Ernesto Cardenal
Ernesto Cardenal hat das „Buch von der Liebe“ geschrieben, als er im Kloster war, also in den Jahren 1957 und 1958. Er war da 32.
Es gab zu dem Zeitpunkt bereits Gedichte von ihm, hauptsächlich mit philosophischen, historischen und politischen Inhalten. Das „Buch von der Liebe“ ist ganz anders als seine bis dahin erschienen literarischen Schöpfungen. Thomas Merton schreibt dazu in seinem Vorwort: „Seine dichterische Arbeit stellte er mit voller Absicht während dieser Novizenzeit zurück. Er notierte lediglich seine einfachsten und prosaischsten Erfahrungen, formte sie aber nicht zu bewussten Gedichten. Das Ergebnis war eine Reihe von ,Sketches‘, von der gleichen Reinheit und Verfeinerung, wie wir sie bei den chinesischen meistern der T’ang-Dynastie finden. Nie zuvor wurden die Erfahrungen eines Novizenlebens so treu und gleichzeitig so zurückhaltend dargestellt…“
Die Klosterzeit war für ihn eine Schule der Liebe, und davon legt er in dem Buch ein Zeugnis ab. Gleichzeitig hat er theologisch vieles erkannt. Theologie und Literatur verschmelzen hier miteinander, ebenso die Liebe zu den Menschen und die Liebe zu Gott.
Der Theologe Ulrich Schmidhäuser schrieb dazu 1971 in einem Artikel: „Das Buch enthält eine umfassende Theologie, die nicht nur die Kategorien, sondern auch die Sprache der exakten Wissenschaft hinter sich gelassen hat: Wagnis, von Gottes Liebe und Allmacht so zu reden, wie es einst Augustinus und die Mystiker getan haben, ohne verkniffene Polemik, ohne apologetische Attitüde, und doch wahrhaft umfassend. Die nachmoderne Form des christlichen Glaubens wird gewiss Züge einer solchen umfassend integrierenden geistigen Schau haben, wie sie in diesem Buch begegnen.“
Und der evangelische Journalist und Autor Horst Keil schrieb in dem selben Jahr in der Zeitschrift „Christ und Welt“: „Dies Buch ist ein Geschenk an die oft so leblose und verstandeskalte abendländische Theologie, die wohl viel im Keller hat, aber nur wenig davon auf den Tisch bringt und lieber das neue serviert. Viele, die heute suchen und aus den Gottesdiensten enttäuscht weggehen, werden etwas bei Cardenal finden.“
Und in einem Brief an seine in Madrid lebende Übersetzerin Anneliese Schwarzer de Ruiz schrieb Cardenal selber: „Es darf Sie nicht verwundern, dass viele Wiederholungen darin sind und dass alles ganz einfach geschrieben ist, so einfach, wie man nur schreiben kann. Einfachheit ist der Stil des Buches, und so sollte es bleiben. Übersetzen Sie alles ganz einfach, so wie ich es geschrieben habe. Das muss so sein. Sie müssen sich davor nicht fürchten, wie ich mich auch nicht davor gefürchtet habe.“
Es sind insgesamt 41 Texte, man kann auch sagen, kurze Abhandlungen oder Betrachtungen zu Stichworten und Themen wie z.B. der Identität, Leidenschaft, die Natur, Gott, Berufung, Sünde, Armut, Materialismus, Besitz, die Seele, der Wille Gottes, Verdammnis, Ewigkeit, das Paradies, die Evolution usw. Aber das alles ist weder systematisch geordnet, noch ist es jedes Mal etwas anderes. Wie er selber sagt, gibt es viele Wiederholungen und Überschneidungen.
Einer dieser Texte trägt die Überschrift „Sucht“:
„Alle Menschen werden mit einem verwundeten Herzen und einem unstillbaren Durst geboren. »Wie dürres Land lechzt meine Seele Dir entgegen« (Psalm 142). Der Vorgang des Essens und Trinkens wurde vom Schöpfer als materielles Symbol dieses Hungers und Durstes nach Gott eingesetzt.
Dieser Durst nach Gott spiegelt sich als innere Unruhe auf den Gesichtern aller Menschen, welche die Straßen, die Läden, die Kinos und Bars bevölkern. Alle Welt trägt einen Wunsch mit sich, viele Wünsche, eine Unendlichkeit von Wünschen: noch ein Gläschen, noch ein Stück Kuchen, noch ein Blick, noch ein Wort, noch ein Kuss, noch ein Buch, noch eine Reise. Mehr und immer mehr. Alle Gesichter verwundet von Unruhe und Wünschen. Aber wir, die wir aus der Sklaverei dieser Wünsche entronnen sind, fühlen uns wie aus den Konzentrationslagern der Nazis oder von der Zwangsarbeit in Sibirien befreit.
Der Mensch denkt immer, mit ein wenig mehr hätte er schon genug, aber immer wünscht er dann doch noch mehr und mehr. Er denkt, mit einem Häuschen, einem Wagen, einer netten Frau und gutgeratenen Kindern wäre er zufrieden, aber dann geht er doch immer wieder mit der gleichen Unruhe aus dem Haus. Er sucht immer neue Dinge mit immer gleicher Sucht. Mit immer gleicher Gier kauft er seine Zeitung, die er dann fortwirft, und immer wird er gleich unbefriedigt bleiben. Es ist wie eine Krankheit, die ihn zwingt, immer mehr und mehr zu essen, ohne dass er jemals satt würde.“
- Auslegung
Cardenal beginnt seine Gedanken hier mit der Feststellung, dass wir alle eine innere Unruhe haben. „Alle Welt trägt einen Wunsch mit sich“. So formuliert er das, und er bezeichnet es etwas weiter unten als „Sklaverei“. D.h. wir sind darin gefangen, es ist wie eine Fremdbestimmung, wie eine Krankheit sogar. Wir sind den „Dingen verfallen“ und von „Gier“ gesteuert. Das sind weitere Stichworte und Ausdrücke, mit denen er das Phänomen beschreibt.
Er kennt das wahrscheinlich aus eigener Erfahrung. Er kam aus einem wohlhabenden Elternhaus und hat u.a. in New York studiert. Wenn er die „Läden, die Kinos und Bars“ erwähnt, dann hat er sich selber mit Sicherheit darin herumgetrieben. Er hat den Wein genossen, „Kuchen“ gegessen und war hinter den Mädchen her. Letzteres ist in Gedichten aus der Zeit seiner jungen Jahre dokumentiert.
Doch dann hat er wohl die Erfahrung gemacht, dass so ein Leben die Seele krank macht und verkümmern lässt.
Er führt dafür am Anfang einen Psalmvers an, in unserem Text steht als Angabe in Klammern Psalm 142. Dazu müssen wir wissen, dass die Psalmen ab Psalm 42 in der Lutherbibel anders gezählt werden als in der Einheitsübersetzung, die die Katholiken benutzen. Deshalb ist die Stelle bei uns Psalm 143,6. Sie lautet: „Wie dürres Land lechzt meine Seele dir entgegen.“ Luther übersetzte: „Meine Seele dürstet nach dir wie ein dürres Land“. Der Beter bittet Gott hier um Hilfe, er fühlt sich verfolgt und liegt am Boden wie die, die lange schon tot sind. Er ist geängstet und breitet seine Hände zu Gott aus. „Sein Geist vergeht“. Es geht ihm also richtig schlecht, und das beschreibt Cardenal hier auch.
Er führt dafür einen starken Vergleich an: Er erwähnt die „Konzentrationslager der Nazis“ und die „Zwangsarbeit in Sibirien“. Schlimmere Gefängnisse gibt es nicht. Die Menschen dort litten und leiden Qualen und sind wie lebendig begraben. Es zerbricht und zerstört sie. Und das ist schon krass und sehr radikal gedacht, dass Cardenal unseren Materialismus damit vergleicht.
Wir denken ja, dass es uns guttut, wenn wir ein „Häuschen“, ein Auto, einen netten Partner oder eine nette Partnerin haben, „gut geratene Kinder“, die Zeitung lesen, gut essen usw. Wir hinterfragen unseren Wohlstand und unser bürgerliches Leben nicht. Es ist allgemeine Überzeugung, dass die Menschen das alles brauchen.
Doch das ist in Cardenals Augen ein Irrtum, denn auf die Seele achten wir dabei nicht. Die innere Unruhe bleibt, wir haben nie genug. Es ist eine oberflächliche Art zu leben, mit der wir unserem Menschsein und unserer Veranlagung nicht gerecht werden. In Wirklichkeit macht uns das sogar krank, es zerstört uns, so wie jede Sucht das tut. Wir werden unglücklich und gehen zu Grunde. Dass ist hier die erste Aussage, die wir heute Nachmittag einmal bedenken wollen.
- Anwendung
In der Stille haben wir Zeit, über unser Leben nachzudenken. Wir tun dass, damit wir näher zu Gott kommen. Doch der Weg dahin ist nicht so einfach, er führt über die Selbsterkenntnis, und dazu gehört die Einsicht, dass wir wahrscheinlich alle die Welt lieben und froh sind, dass wir einen gewissen Wohlstand haben. Ich denke, es ist auch nicht verkehrt, wenn wir das Schöne genießen und wahrnehmen, uns an den Dingen freuen und sie dankbar gebrauchen. Sie sind schließlich Gottes Schöpfung und für die Freude gemacht.
Die Frage ist dabei bloß: Was erwarten wir davon? Wir müssen die Grenzen alles Irdischen erkennen und Maß halten, wenn wir sie genießen. Wir sollten selbstkritisch sein und uns fragen: Wie materialistisch sind wir in unsrer Grundeinstellung? Bleiben wir nicht ganz gern an der Oberfläche? Und geht es uns wirklich gut damit?
Der erste Schritt in der Stille und der Kontemplation besteht darin, dass wir nüchtern werden, sehen, was mit uns los ist, auf dem Boden der Tatsachen landen und demütig werden. Es ist gut, wenn wir die Vergänglichkeit der Dinge erkennen, Zerstreuung und Vergnügen als das entlarven, was sie sind: Ablenkung von dem, was wir eigentlich suchen.
Möglicherweise fällt es uns am Anfang auch schwer, die Stille auszuhalten. Uns fehlt all das, was wir sonst um uns haben und tun. Aber gerade das ist der Sinn der Sache. Wir lassen es los und können uns einmal fragen:
Was fehlt mir am meisten? Was meine ich zu brauchen? Und brauche ich es wirklich? Wovon habe ich zu viel? Was macht mich überdrüssig und stört mich eventuell sogar? Und dann gilt es, dass wir eine Entscheidung treffen und loslassen, was überflüssig ist. Wir können uns fragen, wo es denn in Wirklichkeit lang gehen soll. Was kann ich ändern?
Es ist ein Stück innerer Askese, ein Loslassen und ein „sich lossagen“. Ich lese dazu einen Abschnitt aus einem anderen Text von Cardenal, der diesen ersten Gedankengang gut ergänzt. Er trägt den Titel „Lossagung“ (S.54f). Cardenal schreibt dort:
„Den Schöpfer suchend, wenden wir uns den Geschöpfen zu – wie der Schmetterling, der gegen eine Scheibe stößt. Denn die Schöpfung ist durchsichtig wie Glas und der Glanz Gottes scheint durch sie hindurch.
Wir wenden uns nach außen, weil uns die Schönheit der Dinge anzieht, und merken doch nicht, dass alles nur Widerschein der wirklichen Schönheit ist. Denn die eigentliche Schönheit ist in unserem Innern. So entfernen wir uns paradoxerweise umso mehr von der Schönheit, je mehr wir sie suchen, weil sie genau in der entgegengesetzten Richtung liegt, in der wir sie zu finden hoffen.
Es geht nicht an, sich zuerst mit Gott vereinigen zu wollen und danach alle Dinge fahren zu lassen. Zuerst kommt die Entsagung, dann die Vereinigung. Gott kann sich nicht mit uns verbinden, solange wir nicht wollen, wie ein Mann sich nicht mit seiner Geliebten vereinen kann, solange sie einen anderen liebt. Aber Gott geht im gleichen Augenblick in die Seele ein, in dem sie anfängt, Ihn zu lieben. Das vollzieht sich ganz automatisch. Wenn die Seele aufhört, die Welt zu lieben, bleibt sie nicht im Leeren hängen – es gibt keine Leere – , sondern fällt gleich in den bodenlosen Abgrund der Liebe Gottes. Ganz automatisch wird dann die Seele von Gott umfasst und umschlungen.
Wie man keinen Wein in ein Gefäß füllen kann, ohne es vorher zu leeren, so kann auch die Seele nicht mit Gott gefüllt werden, solange sie sich nicht von allem anderen frei macht.
Aber bevor wir Gottes Umarmung empfangen, müssen wir durch jene qualvolle Enge der Lossagung von allen Dingen. Alles Wünschen und alles Begehren der Seele muss sich erst losreißen von der Welt, an die sie sich hartnäckig wie mit Saugnäpfen anklammert. Erst dann bleiben ihre Arme frei zur Umarmung mit Gott.“
Zweite Einführung: „Die Tiefe unserer Seele“ – Ja sagen
- Hinführung: Befreiungstheologie und Mystik
Ernesto Cardenal gehört zu den sogenannten Befreiungstheologen, die sich bewusst zu einem gelebten Glauben im Diesseits bekennen und dafür eintreten, dass die Christen die Welt mit gestalten. Die Befreiungstheologen sind also aktiv und mischen sich ein. Diese Richtung in der Theologie ist in Lateinamerika entstanden, versteht sich als „Stimme der Armen“ und will zu ihrer Befreiung von Ausbeutung, Entrechtung und Unterdrückung beitragen. Die biblische Tradition wird als Impuls für umfassende Gesellschaftskritik verstanden und interpretiert. Immer ist die Situation sozial deklassierter Bevölkerungsteile dabei im Blick, und das Ziel ist eine basisdemokratische und teilweise sozialistische Gesellschaftsordnung. So war es auch bei Ernesto Cardenal.
Die Frage ist nun, wie das mit seiner mystischen Grundhaltung zusammenpasst. Die ist ja eher auf das Jenseits ausgerichtet, auf Kontemplation und Passivität, Abkehr von der Welt und Hinwendung zur Ewigkeit.
Oft streiten sich die Theologen darüber, was wichtiger ist. Es ist ein allgemein bekannter Konflikt, und meistens gehen die Vertreter dieser beiden Richtungen getrennte Wege.
Doch in Wirklichkeit gehört es zusammen, und das können wir bei Cardenal sehr schön erkennen. Sein Buch trägt nicht umsonst den Titel „von der Liebe“ Alles dreht sich um die Liebe, und zwar sowohl zu Gott als auch zu den Menschen. Cardenal gewann sein Interesse und seine Liebe zu den Armen aus seiner Liebe zu Gott. Und auch umgekehrt: Was er mit den Menschen erlebte, führte ihn zum inneren Gebet, zur Aufmerksamkeit auf die Liebe und Gegenwart Gottes.
Bei Cardenal ergibt sich der Zusammenhang durch seine Person und seinen Lebensweg. Die Mystik stand am Anfang und aus ihr folgten dann die weiteren Schritte. Er ist sich selber sein Leben lang treu geblieben. In der Gemeinschaft, in die er nach seinem Klosteraufenthalt eintrat, lebte er unter den Indios in einer Communität, die das Experiment wagte, einen urchristlichen Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus zu suchen. Er war für Cardenal eine „Revolution ohne Rache“.
In dem „Buch von der Liebe“ führt er nicht nur aus, was für das innere Leben wichtig ist, es enthält bereits viel Gesellschaftskritik. Cardenal sieht die Menschen, hat sie beobachtet und daraus seine Schlüsse gezogen. Es ist auch nicht sein Ziel, dass die Armen reich werden und ebenfalls Güter anhäufen, sondern dass alle, Arme und Reiche, ihre Armut erkennen und Mensch werden. Es geht ihm um die Würde des Menschen, um Ganzheit, Bildung, Chancengleichheit, Gerechtigkeit. Die Befreiungstheologie denkt nicht materialistisch, sondern zielt auf das Leben.
Das wird gut an einer Erklärung der Bischöfe Lateinamerikas von 1968 deutlich, die sie auf ihrer zweiten Generalversammlung in Medellín in Kolumbien formuliert haben. Da heißt es: „In der Heilsgeschichte ist das Werk Gottes eine Handlung der ganzheitlichen Befreiung und Förderung des Menschen in seiner vollen Dimension, die als einzigen Beweggrund die Liebe hat.“ „Gott hat in der Fülle der Zeit seinen Sohn gesandt, der Mensch wurde, um alle Menschen aus aller Knechtschaft zu befreien, in der sie die Sünde, die Unwissenheit, der Hunger, das Elend und die Unterdrückung, mit einem Wort, die Ungerechtigkeit und der Hass gefangen halten.“
Darin verbirgt sich auch eine Kritik an der Kirche, die diesen Weg verlassen hatte. Sie trug nichts dazu bei, dass sich an der Situation der Menschen etwas änderte, sondern war Teil des Systems geworden.
In der Mystik kommt diese Kritik ebenso vor. Sie will aus den Verstrickungen der Welt befreien und zielt auf ein persönliches und authentisches Beispiel tiefer innerer Bekehrung. Und genau das war auch den Befreiungstheologen wichtig. Der „Mangel an Menschlichkeit“ ist in beiden Bereichen das übergeordnete Thema.
Auch in dem Text, den ich euch mitgebracht habe, geht es um diese Frage. So beschreibt Cardenal im weiteren Verlauf, wie tief unsere Seele ist, und was wir brauchen, um ganze Menschen zu sein.
„Platon hat einmal gesagt, der Mensch sei wie ein zerbrochenes Gefäß, das sich nie füllen lässt. Die Sinne mögen sich an Genüssen überessen, die Seele bleibt doch immer unbefriedigt. Die irdischen Freuden bleiben an der Peripherie des Körperlichen und dringen nicht bis zur Seele vor. Sie verschlimmern höchstens ihren Durst, weil sie fühlt, dass der Kelch der Freude nicht einmal bis an ihre Lippen gelangt ist.
Es ist, als ob wir uns mit einer Nahrung sattessen wollten, die nichts hergibt, oder uns mit einem Wein betrinken, der nicht trunken macht. Die Nahrung füllt uns zwar, aber unser innerster Hunger wird nicht gestillt, sondern eher angefacht. Wir können überdrüssig werden, aber niemals satt.
Und so, wie wir uns von der Tiefe eines Brunnens überzeugen, wenn wir einen Stein hineinwerfen und seinen Aufprall nicht mehr hören, so können wir uns von der Tiefe unserer Seele überzeugen, wenn die Dinge in sie hineinfallen und einfach verschwinden, ohne dass ein Echo nachklingt, ohne dass wir sie fallen hören.
Weil Gott auf dem Grund jeder Seele wohnt, ist die Seele unendlich und kann mit nichts gefüllt werden als mit Gott.“
2. Auslegung
Im diesem Abschnitt geht Cardenal noch genauer darauf ein, wie die Seele beschaffen ist, und er führt dafür wieder mehrere Vergleiche und Bilder an. Das erste hat er bei Platon gelesen, und es ist das Bild des „zerbrochenen Gefäßes“. Im Deutschen sagen wir gerne, ein „Fass ohne Boden“. Man kann es füllen, aber es wird nie voll, denn alles, was hineinkommt, tritt wieder aus. Es bleibt nicht da, das Gefäß kann es nicht halten. Bemerkenswert ist dabei, dass Cardenal von einem „zerbrochenen Gefäß“ spricht, d.h. von etwas, das zerstört ist, das nicht heil ist, das einen Schaden hat. Es müsste erst repariert werden, bzw. einen Boden bekommen. Solange das nicht geschieht, bleibt das Gefäß leer, ganz gleich, wie viel man hinein füllt.
So ist es mit der Seele: Sie versucht, sich mit irdischen Freuden zu füllen, aber das kann nicht im Entferntesten das Problem lösen, das sie hat. Cardenal sagt, es bleibt „an der Peripherie des Körperlichen“. Und der Durst wird dadurch nur noch schlimmer. Das beschreibt er mit einem zweiten Bild aus dem Bereich des Essens und Trinkens: Es ist, als wolle die Seele trinken, aber der Kelch, aus dem sie das tut, berührt ihre Lippen gar nicht. Es geschieht also so gut wie nichts, alles bleibt, wie es ist: Der Durst und die Leere verschwinden nicht. Wir kennen das tatsächlich von der Erfahrung des Essens und Trinkens her: Es gibt Nahrung, die nicht sättigt, Wein, „der nicht trunken macht“. Unsere Bedürfnisse werden dadurch nicht befriedigt. Und das macht die Seele „überdrüssig“. Sie wird müde und langweilt sich. Es kommt keine Freude auf, keine Erfüllung.
Das dritte Bild ist die „Tiefe eines Brunnens“. Wir sehen nur noch selten einen Brunnen, aber wir wissen, dass man seinen Grund normalerweise nicht erblicken kann. Erst wenn man einen Stein hineinwirft, hört man eventuell durch den Aufprall, wie tief unten sich das Wasser befindet. Manchmal kann man diesen Aufprall noch nicht einmal hören, so weit fällt der Stein hinunter. Die Seele ist genauso: Die „Dinge fallen in sie hinein und verschwinden einfach“. Es gibt kein Geräusch und kein Echo.
Aber das heißt nicht, dass sie keinen Grund hat. Der ist bloß viel tiefer als wir denken. Es ist Gott, der „auf dem Grund jeder Seele wohnt“. Deshalb muss er in uns hineinkommen, wenn die Seele gefüllt sein möchte. Er allein kann den Schaden heilen.
Das alles kommt sehr schön in dem Wort von Jesus zum Ausdruck, das er zu der Samariterin am Brunnen sagt. Auch er benutzt für das, was er uns gibt, den Vergleich des Trinkens. Seine Botschaft lautet. „Wer von diesem Wasser trinkt, den wird wieder dürsten; wer aber von dem Wasser trinken wird, das ich ihm gebe, den wird in Ewigkeit nicht dürsten, sondern das Wasser, das ich ihm geben werde, das wird in ihm eine Quelle des Wassers werden, das in das ewige Leben quillt.“ (Joh.4, 13f)
- Anwendung
Die Gedanken Cardenals führen uns noch weiter in die Tiefe und laden uns ein, in unser Inneres zu schauen. Wir können uns fragen: Wie sieht es in mir aus? Wie erlebe ich mich? Wie gut kenne ich mich überhaupt? Was spielt sich auf dem Grund meiner Seele ab? Cardenal lädt uns zur Ehrlichkeit mit uns selber ein, zuzugeben, dass wir nicht heil sind.
Wir dürfen nicht unterschätzen, was der Materialismus mit uns macht, den er zuerst beschrieben hat. Er bedeutet, dass wir die Erfüllung unserer Wünsche von der verkehrten Stelle erwarten, von Äußerlichkeiten, anderen Menschen, Ereignissen, Gesprächen, Erlebnissen. Und das ist nicht nur unrealistisch, es führt auch zu inneren und äußeren Konflikten. Denn wir sind enttäuscht, wenn nicht das geschieht, was wir suchen und wollen. Anstatt der ersehnten Freude und des Glückes entstehen Wut und Ärger, negative Gedanken, Leid und Not. Die Probleme stehen oft im Vordergrund unseres Lebensgefühls, sie bestimmen unser Denken und unser Bewusstsein
Wir schieben sie dabei gerne auf die anderen, auf die Situation, in der wir sind, auf die Umstände und wollen dauernd etwas daran ändern. Denn natürlich versuchen wir, abzustellen, was uns stört. Aber das ist nicht so einfach und funktioniert so auch nicht. Wir werden nicht glücklich, wenn wir nur nach außen orientiert sind. Wir müssen einsehen, dass die Ursache für unser Leid in uns selber liegt.
Da gilt es, hinzuschauen, und zwar ohne Vorbehalte. Es geht zunächst auch nur um ein Hinsehen und Beobachten. Wir müssen gar nichts ändern. Viel wichtiger ist, dass wir uns kennen lernen und ja zu uns selber sagen. Unser Leben ist unvollkommen, die Unzufriedenheit gehört dazu, die Angst und die Unsicherheit. Wir müssen unser Leid annehmen. Die Stille gibt uns die Möglichkeit dazu. Wir können sie dazu nutzen, dass wir einfach aushalten, wie es um uns steht, dass wir unsere Gebrochenheit erkennen und den Abgrund in uns wahrnehmen.
Das führt bereits in eine Ruhe, die wir so nirgends wo anders finden. Wir kommen uns selber nahe, und die negativen Gedanken und Gefühle nehmen ab. Wir werden der „Tiefe unserer Seele“ endlich gerecht, weil wir in unsere „innere Kammer“ einziehen, wie Cardenal es ausdrückt. Er beschreibt das in einem anderen Beitrag so: (S.45f)
„Alle Menschen nennen eine innere Kammer ihr eigen. Im Innern jedes menschlichen Wesens gibt es einen Raum, einen ganz persönlichen Bereich, zu dem nur Gott Zutritt hat. Aber die meisten Menschen ignorieren das Vorhandensein dieses innersten Raumes, und darum ist ihr Herz leer und ohne Liebe. Denn die menschliche Liebe, selbst die allerheftigste nicht, dringt jemals in diesen Bereich vor. Gott ist es, der draußen steht und darauf wartet, eingelassen zu werden. »Siehe, ich stehe vor der Türe und klopfe an …«, heißt es in der Apokalypse.
Die meisten Menschen hören diese schmerzerfüllte Stimme in der Nacht und ein Klopfen an der Tür. Darum ist ihr Herz voller Trauer. Wir suchen das Glück außerhalb unserer selbst, anstatt der Stimme in unserem Innern zu lauschen. Vielleicht wissen wir, dass wir uns nach innen wenden sollten und tun es nicht, weil wir auch wissen, dass wir vorher durch den Kampf der Lossagung von allen Dingen und sogar der Lossagung von uns selbst hindurch müssten. Gott ruft uns in unserem tiefsten Sein, so tief, dass wir denken könnten, er wäre außerhalb unserer Seele. Er wohnt aber tiefer als unser Gewissen und unsere Träume. […]
Gott ist […] tief innen in unserer Seele. Dort wo die Träume wohnen, im Dunkel unseres Unterbewusstseins, in den Tiefen der Persönlichkeit, in diesem intimsten Bereich, der sich keinem mitteilt. An den Quellen der Träume, der Mythen und der Liebe: Dort ist der Raum, in dem Gott Wohnung nehmen möchte.“
Dritte Einführung: „Die Liebe zu Gott“ – Gott das Sagen überlassen
- Hinführung: Liebe ist Aktion und Kontemplation
Das Buch von Ernesto Cardenal ist eine „Hymne auf die Liebe“, wie Thomas Merton in seinem Vorwort sagt. Doch was ist Liebe eigentlich? Der Begriff wird überall verwendet, und er hat viele Bedeutungen. Denn es gibt die romantische und die erotische Liebe, die Selbstliebe und die Nächstenliebe. Können wir Mitmenschlichkeit, Fürsorge und Hilfsbreitschaft auch als Liebe bezeichnen? Ist sie ein Gesetz oder eine Tugend, eine Kraft oder eine Realität? Und welchen Stellenwert hat sie in unserem Leben, in unserem Glauben und Handeln? Können wir sie fordern oder anordnen?
Auch das sind Fragen, über die sich die Theologen streiten, denn das Nachdenken oder Ermahnen zur Liebe kann schnell zur Werkgerechtigkeit führen. Es klingt nach Moral, nach guten Werken, nach Leistung und Selbsterlösung. Auch die Frage, ob Diakonie oder Gebet wichtiger sind, steht dabei wieder im Hintergrund, ob der Schwerpunkt auf Kontemplation oder Aktion liegen soll.
Thomas Merton geht darauf in seinem Vorwort ein und stellt einige wichtige Dinge klar. So sagt er z.B.: „Liebe ist das Grundgesetz aller Wesen, die frei, sich selbst zu geben, geschaffen wurden, frei zur Teilnahme an der unendlich schaffenden Fülle der Lebensgabe Gottes.“ „Das Leben selbst ist Liebe, und wenn es wahrhaft gelebt wird, lehrt es Liebe.“ „Wenn der Mensch in die Liebe einwilligt und sich dem Leben in seiner einfachen und primitiven Reinheit – als einer Gabe Gottes – ausliefert, dann wird die ganze Welt voll von Liebe erscheinen.“ Das sind ein paar Sätze von Thomas Merton aus dem Vorwort zu dem Buch von Ernest Cardenal.
Und damit trifft er gut, was hier das Entscheidende ist: Liebe und Gebet sind keine Alternativen, sondern sie gehören zusammen und sind in Wirklichkeit ein und dasselbe. Denn es kann gar keine wahre Liebe ohne die Liebe Gottes geben. Und wer Gott wirklich liebt, liebt auch seine Nächsten. Die Liebe ist eine Äußerung des ganzen Menschen, ein Lebensvollzug, eine Seinsgrundlage.
Die Frage, ob Kontemplation oder Aktion wichtiger ist, führt in die Irre, denn es sind keine Gegensätze. Sie stellt sich nur dann, wenn wir sowohl das eine als auch das andere missverstehen. Ein Missverständnis ist es z.B., wenn Kontemplation für uns eine Gefühlssache ist, eine reine Innenschau, eine Flucht aus der Welt, die nur das Ich im Blick hat. In der Esoterik mag das so sein, in der christlichen Mystik wäre das ein Fehlschluss.
Genauso dürfen wir die „Aktion“, also das Handeln am Menschen und in der Welt, nicht als Moral verstehen, der Idealismus und Dogmatismus zu Grunde liegen. Revolutionäre denken vielleicht so, Freiheitskämpfer und Weltverbesserer.
Das Christentum versteht das Handeln anders, denn unser Glaube beruht auf der Gottesliebe, auf Vertrauen und dem Gnadenempfang. Er beginnt immer damit, dass wir unsere eigene Armut erkennen, uns an Gott wenden und uns retten lassen. Dann entstehen die guten Werke ganz von selber. Das haben auch die Reformatoren erkannt und formuliert: Wenn aus dem Glauben keine Liebe erwächst, ist er tot.
Und genauso soll es in den Klöstern sein. Sie sind als Orte der Liebe zu Gott und den Menschen gedacht, „Schulen der Barmherzigkeit“. Es wird dort gebetet, aber das macht die Menschen nicht abgewandt und weltfremd, sondern offen. Das Gebet gibt ihnen Kraft und Mitgefühl. Die Stille ist kein Urlaub und keine Entspannung, wie wir sie in Wellness-Einrichtungen bekommen. Sie ist dazu da, dass wir uns Gott hingeben, seine Liebe empfangen und dann auch weitergeben.
Thomas Merton sagt das so: „Nur durch das Tun der Liebe erreichen wir die kontemplative Intuition der liebenden Weisheit. Diese kontemplative Erkenntnis ist eine höhere Form der Tat, eine reinere Liebe. Liebe löst den Widerspruche zwischen Handeln und Denken.“
Und an einer anderen Stelle sagt er: „Nur Gottes Liebe ist völlig rein. Die menschliche Liebe kann sich nur in der Mystik göttlicher Reinheit annähern oder in dem Heiligen, der von der Liebe Gottes vollkommen besessen ist.“
Damit hat er Ernesto Cardenal mit Sicherheit richtig verstanden. Auch für ihn sind Klöster Orte der Liebe und der Heiligung. Er sagt das in dem dritten Abschnitt unseres Textes so:
„In den Klöstern sieht man Männer, die zufrieden und erfüllt ihres Weges gehen, lächelnd und ohne eine Sorgenfalte auf ihrer Stirn. Ignatius von Loyola sagte einmal, auch wenn ihm befohlen würde, die Kompanie Jesu aufzulösen, würde er in 15 Minuten seinen inneren Frieden wiedererlangt haben
Die Menschen sind mit den Dingen dieser Erde nie zufrieden, weil sie nicht für sie geschaffen wurden. Die Tiere befriedigen ihre Bedürfnisse und brauchen nicht mehr. Sie spüren keinen Durst nach Unendlichkeit in sich, und diese Erde ist ihr Himmel. Darum sind die Tiere nie von ihrem Leben enttäuscht und begehen nie Selbstmord, weil sie für diese Schöpfung erschaffen wurden. (Und alle Tiere sind auch Heilige, mit ihrer tierhaften Heiligkeit, sie sind keusch und arm und gehorsam wie die Mönche, und sie sind demütig.)
Unser Sein aber ist entworfen worden, um Gott zu lieben, um Ihn zu besitzen und Ihn zu genießen, wie die Makrele entworfen wurde zum Schwimmen und die Möwe zum Fliegen.
Der Mensch ist nicht zum Genießen dieser Erde, sondern zum Genießen Gottes erschaffen. Und darum sind wir nur mit Gott glücklich.
Obwohl wir Gott nie gesehen haben, sind wir wie Zugvögel, die an einem fremden Ort geboren, doch eine geheimnisvolle Unruhe empfinden, wenn der Winter naht, einen Ruf des Blutes, eine Sehnsucht nach der frühlingshaften Heimat, die sie nie gesehen haben und zu der sie aufbrechen, ohne zu wissen, wohin. Sie haben den Ruf des Gelobten Landes vernommen, die Stimme des Geliebten, der ruft: »Auf, meine Freundin! Du meine Schöne, komm! Vorüber ist die Winterzeit, der Regen ist vorbei« (Hohes Lied, 2,10).“
- Auslegung
In diesem Abschnitt geht es um die Liebe zu Gott und die Liebe von Gott. Nachdem Cardenal unsre menschliche Grundstruktur beschrieben hat, die von Materialismus und Sehnsucht geprägt ist, kommt er nun zu der Antwort auf die Fragen, die sich daraus ergeben: Sie liegen bei Gott, oder genauer gesagt: Gott ist die Antwort.
Cardenal erwähnt zuerst die Klöster. Sie sind Orte, in denen es vorrangig um Gott geht. Wer dort eintritt, hat erkannt, dass er nur bei Gott zur Ruhe kommen kann. Er hat sich für ein Leben der Gottesliebe entschieden und lässt dafür alles andere zurück. Und das ist ein guter Weg, denn dort findet derjenige, der dazu berufen ist, tatsächlich Zufriedenheit und Erfüllung. Menschen die dort leben, gehen „lächelnd und ohne Sorgenfalten durchs Leben“. Wie er sagt.
Er führt als ein Beispiel Ignatius von Lloyola an. Das war ein großer Heiliger und Mystiker in Spanien aus dem 15. Jahrhundert. Er war der wichtigste Mitbegründer und Gestalter der sogenannten „Gesellschaft Jesu“, – in unsrem Text wird sie „Kompanie Jesu“ genannt, die später auch als Jesuitenorden bezeichnet wurde. Das war Ignatius natürlich wichtig, es war sein Lebenswerk, aber er hing nicht daran, wie Cardenal wusste und hier erwähnt. Wenn sie aufgelöst würde, würde er „nach 15 Minuten seinen inneren Frieden wieder erlangen“, denn den gewann er durch das Gebet und die Liebe zu Gott, durch sonst nichts, nicht einmal durch so etwas wie seinen eigenen Orden.
Cardenal will uns mit diesem Beispiel dazu einladen, dass wir uns alle innerlich so unabhängig von den „Dingen dieser Erde“ machen, denn wir wurden letzten Endes nicht für sie geschaffen. Wir haben einen „Durst nach Unendlichkeit“, damit wurden wir geboren, deshalb können wir ihn nur mit der Unendlichkeit stillen. „Unser Sein ist entworfen worden, um Gott zu lieben, um ihn zu besitzen und ihn zu genießen.“ Wenn wir das ignorieren, verfehlen wir unsre Bestimmung. Wir werden unglücklich, sind vom Leben enttäuscht und es kann sogar in den Selbstmord führen.
Bei den Tieren ist das anders. Sie brauchen nicht mehr, als ihre leiblichen Bedürfnisse zu stillen. Sie müssen nur artgerecht leben, dann ist alles gut für sie. Als Beispiel nennt Cardenal die Makrele und die Möwe. Die eine gehört ins Wasser und muss schwimmen, die andere an den Himmel um zu fliegen. Sie folgen ihrer Bestimmung und sind deshalb „keusch und arm, gehorsam und demütig“. Für Cardenal ist das ein Gleichnis für den Ordensweg und die Heiligung.
Ein weiteres Gleichnis sind für ihn die Zugvögel. Sie wissen von Geburt an, wo sie wann hinfliegen müssen, sie machen sich auf, weil sie es im Blut haben, sie brechen auf, ohne zu wissen, wohin. Ihre Sehnsucht nach der Wärme führt sie an den richtigen Ort.
So einen Ruf tragen auch wir in uns. Cardenal nennt ihn den „Ruf des gelobten Landes“. Und er führt am Ende eine Stelle aus dem Hohenlied der Liebe an, in der das zum Ausdruck kommt: „Mein Freund antwortet und spricht zu mir: Steh auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm her! Denn siehe, der Winter ist vergangen, der Regen ist vorbei und dahin.“ (Hl. 2, 10f)
- Anwendung
Dieser letzte Abschnitt enthält eine ganz klare Botschaft, er ist ein Stück Verkündigung, denn Cardenal sagt uns: Gott ist da, er hat uns erschaffen, er liebt uns und schenkt sich selber. Er möchte mit uns zusammen sein, das ist unsere Bestimmung.
Und daraus ergeben sich für unsere Lebensführung ganz konkrete Konsequenzen, denn wir werden damit zum Glauben an Gott eingeladen, zum Vertrauen und zur Hingabe an ihn. Wir müssen uns also fragen, wie wir das umsetzen können.
Ein guter Schritt ist der, für ein paar Tage in die Stille und in das Schweigen zu gehen. Wir lassen damit die „Dinge dieser Erde“ vorübergehend hinter uns, um Gott näher zu kommen, um seine Liebe zu spüren und in sie einzutauchen. Wir haben Zeit zum Gebet, zum Gespräch mit Gott. Wir können ihm sagen, was uns bewegt und auf seine Stimme hören. Vielleicht merken wir ja, dass uns das guttut, dass wir unserer eigentlichen Bestimmung näher kommen. Wir werden ausgeglichener und ruhiger, fühlen uns frei und eins mit uns selbst.
Vielleicht würden wir sogar gerne dabei bleiben, aber das geht nicht. Unsere Aufgaben und andere Menschen warten auf uns. Wir können uns dem nicht einfach so entziehen und unser Leben nun völlig umkrempeln.
Aber das müssen wir auch nicht. Es reicht schon, wenn wir uns vornehmen, jeden Tag eine Zeit der Stille zu haben. Wir sollten uns ganz konkret fragen, wann und wo wir das einrichten können. Auch wie wir beten wollen, was in der Stillen Zeit geschehen soll, können wir uns überlegen.
Eine gute Möglichkeit ist das Herzensgebet, bei dem wir mit jedem Atemzug einen Satz wiederholen, wie z.B. den: „Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner“. Das können wir auch zwischendurch tun, und uns damit immer wieder zu der Quelle begeben, aus der wir leben, die Unendlichkeit in unseren Geist lassen, dem Ruf Gottes in unserem Inneren folgen.
Wir lassen damit die Liebe zu, die wir dann auch weitergeben können. Wenn wir das tun, werden sich Beziehungen ändern, vielleicht entstehen sogar neue, weil wir nichts mehr von den anderen erwarten. Wir können sie lieben, weil wir frei und gelassen sind.
Ich lese dazu zum Abschluss wieder einen weiteren Abschnitt aus dem Buch von Cardenal. Er heißt „Schauen“ und der Anfang daraus lautet folgendermaßen: (S.43f)
„Es gibt Augenblicke, da fühlen wir Seine Augen auf uns, Augen, die uns mit einer unendlichen Intensität anschauen, fest auf uns gerichtet durch alle Ewigkeit hindurch. Und manchmal fühlen wir, dass unsere Seele Ihn anblickt, die Augen unermesslich weit geöffnet, ganz dem Schauen hingegeben, die ganze Seele verwandelt in Blick. Ein anderes Mal fühlt sich die kleine Seele umarmt vom Geliebten, oder sie selbst verwandelt sich ganz in Umarmung mit Ihm und fühlt unverwechselbar die Berührung mit Ihm. Oft ist es nichts als eine zarteste Liebkosung, die Seele und Haut gleichermaßen einhüllt mit einem Schauer, der über Haut und Seele geht, denn »wenn die Seele nicht Körper ist, was ist sie dann«?
Und die Seele wird ganz Seufzer, liebend und liebend mit jedem Ausatmen und Einatmen, mit allen Zellen und allen Drüsen und allen Organen, eine unaufhörliche Flamme der Liebe.
[…]
In diesem Augenblick habe ich nichts und niemand. Ich bin losgelöst von allem und allein auf der Welt. Und trotzdem besitze ich alles, ich bin glücklich und brauche nichts; nichts wünsche ich. Denn was die anderen in der Liebe suchen, in der Familie, bei Freunden, auf Festen, das habe ich hier. Was der Dichter in der Poesie sucht und der Maler in der Kunst, das bist Du für mich. Was der Diktator in der Macht sucht, der Reiche im Geld und der Trinker im Wein und was auch ich früher vergeblich suchte: alles habe ich jetzt hier. Mein ganzes Leben ist hier, meine ganze Welt und all meine Liebe. Mir gehört aller Reichtum, mir, der ich nichts mein eigen nenne. Ich habe alle Freude, allen Frieden, alle Schönheit und alle Liebe. Ich bin ganz gefüllt mit diesem allen, ich wünsche nichts mehr. Ich habe Dich und habe alles, denn Du bist der Herr aller Dinge: aller Sterne und aller Länder und aller Wesen dieser Erde.
Alle Dinge des Weltalls, alle Poesie, alle Freundschaft, alle Tage und Nächte sind zu Deinem Lob bestimmt.“
[…]
Literatur: Ernesto Cardenal, Das Buch von der Liebe, Gütersloh 1978
Betrachtungen zu Psalm 103
Stilles Wochenende im Gethsemanekloster Riechenberg, 10.- 12.9.2021
Psalm 103: Das Hohelied der Barmherzigkeit Gottes
1Lobe den HERRN, meine Seele,
und was in mir ist, seinen heiligen Namen!
2 Lobe den HERRN, meine Seele,
und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat:
3 der dir alle deine Sünde vergibt
und heilet alle deine Gebrechen,
4 der dein Leben vom Verderben erlöst,
der dich krönet mit Gnade und Barmherzigkeit,
5 der deinen Mund fröhlich macht
und du wieder jung wirst wie ein Adler.
6 Der HERR schafft Gerechtigkeit und Recht
allen, die Unrecht leiden.
7 Er hat seine Wege Mose wissen lassen,
die Kinder Israel sein Tun.
8 Barmherzig und gnädig ist der HERR,
geduldig und von großer Güte.
9 Er wird nicht für immer hadern
noch ewig zornig bleiben.
10 Er handelt nicht mit uns nach unsern Sünden
und vergilt uns nicht nach unsrer Missetat.
11 Denn so hoch der Himmel über der Erde ist,
lässt er seine Gnade walten über denen, die ihn fürchten.
12 So fern der Morgen ist vom Abend,
lässt er unsre Übertretungen von uns sein.
13 Wie sich ein Vater über Kinder erbarmt,
so erbarmt sich der HERR über die, die ihn fürchten.
14 Denn er weiß, was für ein Gebilde wir sind;
er gedenkt daran, dass wir Staub sind.
15 Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras,
er blüht wie eine Blume auf dem Felde;
16 wenn der Wind darüber geht, so ist sie nimmer da,
und ihre Stätte kennet sie nicht mehr.
17 Die Gnade aber des HERRN währt von Ewigkeit zu Ewigkeit
über denen, die ihn fürchten,
und seine Gerechtigkeit auf Kindeskind
18 bei denen, die seinen Bund halten
und gedenken an seine Gebote,
dass sie danach tun.
19 Der HERR hat seinen Thron im Himmel errichtet,
und sein Reich herrscht über alles.
20 Lobet den HERRN, ihr seine Engel,
ihr starken Helden, die ihr seinen Befehl ausrichtet,
dass man höre auf die Stimme seines Wortes!
21 Lobet den HERRN, alle seine Heerscharen,
seine Diener, die ihr seinen Willen tut!
22 Lobet den HERRN, alle seine Werke,
an allen Orten seiner Herrschaft!
Lobe den HERRN, meine Seele!
Erste Einführung: Vers 1- 13: Gott ist gut und barmherzig
- Hinführung
a. zum Thema
Psalm 103 trägt in der Lutherbibel die Überschrift: „Das Hohelied der Barmherzigkeit Gottes“. Es ist ein Lobgesang auf die Taten Gottes und beschreibt sein Heilshandeln. Es besteht darin, dass er gnädig ist und gerne vergibt. Er befreit von Schuld und schenkt inneren Frieden. Er schafft eine wundervolle Erneuerung.
Das beruht auf seinem Bund, den er mit Israel am Sinai geschlossen hat. Das Volk hatte sich gleich danach schwer versündigt, indem es das goldene Kalb anbetete. Gott war darüber zornig, aber er hat die Sünde vergeben. Denn seine Güte hat kein Maß und keine Grenze. Das verkündet der Psalm.
Die Botschaft gilt auch uns und führt uns zu der Gewissheit, dass Gott es gut mit uns meint. Wir können den Psalm beten und dabei zu Gott aufschauen, der auch uns die Sünden vergibt. Wenn wir uns von seiner Botschaft ergreifen lassen, werden wir erfahren, dass sich dabei eine „Verjüngung des Lebens“ vollzieht, wie sie nur Gott schenken kann.
Ich werde deshalb wie immer die einzelnen Verse auslegen und darüber nachdenken, wie wir das Gesagte auf unser Leben anwenden können. Bevor ich damit beginne, möchte ich aber noch einmal etwas zu dem Buch der Psalmen, wie es in der Bibel steht, im Allgemeinen sagen, und unseren Psalm in seinen Zusammenhang einordnen.
b. Kontext
Die einzelnen Psalmen stammen von ganz unterschiedlichen Verfassern aus allen Zeiten und aus mannigfachen Lebenssituationen. Es gibt deshalb Klagepsalmen und Lobpsalmen, Volkslieder, Schilderungen von Lebenserfahrungen, liturgische Gesänge, Lehrstücke und Meditationen. Einige wurden von Einzelnen geschrieben, stehen also in der Ich-Form, andere werden von einer Gruppe gesungen, die dann in der Wir-Form verfasst sind.
Jetzt sind sie alle in einem Buch versammelt, das in fünf Bücher aufgeteilt ist, übergreifend sind darin vier Bücher mit Psalmen Davids enthalten. Die sind wahrscheinlich nicht wirklich von ihm, sondern wurden ihm im Nachhinein zugeschrieben. Das geht auf die sogenannten Redaktoren zurück, die das Buch so, wie wir es heute kennen, vermutlich in der Zeit nach dem Exil zusammengestellt haben.
Unser Psalm steht im vierten Buch und ist einer der Davidpsalmen. Er gehört mit Psalm 102 und Palm 104 zusammen. Auch Psalm 104 beginnt nämlich mit der Aufforderung: „Lobe, den Herrn, meine Seele“. Es ist so eine Art Fortsetzung von Psalm 103, denn er enthält am Anfang die Vorstellung, dass Gott im Himmel thront. Das war am Ende von Psalm 103 ebenfalls die Aussage: Gott ist ewig und erhaben. Der folgende Psalm zählt dann außerdem ganz ähnliche Eigenschaften Gottes auf: Er „sättigt mit Gutem“ und „erneuert das Leben“.
Genauso gibt es sprachliche und inhaltliche Gemeinsamkeiten mit Psalm 102. Der enthält die Klage über die Vergänglichkeit des Lebens und den Trost, dass Gottes Jahre dagegen „für und für währen“. Die drei Psalmen sind also wahrscheinlich von den Redaktoren bewusst so hintereinander gestellt worden.
c. Aufbau von Psalm 103
Der Psalm gliedert sich in drei Teile: Vers eins bis fünf ist der Aufgesang, also die Einladung und Aufforderung zum Lob Gottes. Dabei redet der Sprecher mit seiner Seele, also mit sich selbst. Die Verse sechs bis 18 bilden den Hauptteil mit dem eigentlichen Thema, und die Verse 19 bis 22 sind der Abgesang. Er bildet gegenüber dem Aufgesang thematisch eine Steigerung: Nun wird nicht nur die eigene Seele, sondern der gesamte himmlische Hofstaat und alle Werke der Schöpfung zum Lobpreis aufgefordert. Die letzte Zeile ist wortgleich mit der ersten Zeile des Psalms.
Wir betrachten zuerst den Aufgesang und den ersten Teil des Hauptteils, danach sind der zweite Teil und der Abgesang dran.
- Auslegung
V. 1: Der Psalm beginnt mit einer Art Selbstgespräch: Der Beter spricht zu seiner Seele. Er wendet sich also nach innen und fordert sich selber zum Lob Gottes auf. Die Beter im Alten Testament tun das oft, denn sie wussten, dass das Gotteslob von innen kommen muss. Mit der Seele meinten sie ihre Lebensmitte, den Sitz des Lebens im Inneren, wo alle religiösen Empfindungen und Gedanken herkommen. Die Seele musste am Gotteslob beteiligt sein, wenn es echt und lebendig sein sollte, es sollte sozusagen „mit Leib und Seele“ geschehen. Dabei ist mit „Gott loben“ auch „Gott begrüßen“ gemeint, oder sogar „ihn segnen“. Diesen Ausdruck gibt es in den Psalmen mehrfach und war ein Teil der Frömmigkeit des Alten Testamentes. Gott segnet nicht nur die Menschen, sie können anders herum auch ihn segnen. Das heißt, sie stellen einen inneren Kontakt zu Gott her und sehen in ihm nur das Gute. Sie wünschen sich dabei, dass der Segen sich auch auf sie selber überträgt. D.h. Gott kann in die Seele einziehen, der Lobpreis macht lebendig und froh.
V. 2: Im nächsten Vers wird die Selbstaufforderung noch einmal wiederholt und mit der Ermahnung verbunden, all das Gute nicht zu vergessen, das Gott bereits getan hat. Der Beter hat also schon viele positive Erfahrungen mit Gott gemacht. Für ihn ist klar: Das Gute in seinem Leben kommt von Gott, es sind seine Wohltaten. Er kann die Spuren Gottes in seinem Leben entdecken. Daran erinnert er sich und möchte es im Gedächtnis behalten.
Für die Israeliten gab es auch einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Wohlergehen und dem Handeln Gottes: Seine Gnade wirkte sich so aus, dass es den Menschen gut ging. Wohlstand war ein Zeichen dafür, dass ein Mensch von Gott gesegnet war. Das bedenkt der Beter hier, er meditiert und verinnerlicht es.
V. 3: Im nächsten Vers beginnt eine Aufzählung der guten Erfahrungen, die der Beter mit Gott gemacht hat. Zwei Dinge nennt er hier, die Gott ihm abgenommen hat: Seine Sünden und seine Krankheiten. D.h. der Beter ist durch Gott gesund geworden an Leib, Geist und Seele. Sein Gewissen quält ihn nicht mehr, weil Gott ihm vergibt. Dinge, die ihn belastet haben, verlieren ihr Gewicht, weil Gott sie ihm abgenommen hat. Er darf vor Gott sein, wer er ist. Er muss seine Fehler und Vergehen nicht verstecken, sondern kann sie bekennen und sich davon befreien lassen. Das ist heilsam, das macht gesund, sodass er auch die Genesung von Krankheiten auf Gott zurückführt. Er sieht Gottes Gnade darin. Er fühlt sich von Gott geheilt, weil der Kontakt zu Gott und der Glaube einfach wohl tun.
V. 4: Luther übersetzt Vers vier so: „Der dein Leben vom Verderben erlöst.“ Wörtlich übersetzt heißt es: „Er kauft dich frei von der Grube“. Der Beter hatte also das Gefühl, dem Grab schon nahe gewesen zu sein. Vielleicht war er wirklich einmal in Todesgefahr, durch eine Krankheit oder eine andere Not. Und er hat erlebt, dass Gott etwas getan hat, was ihn davor bewahrt hat, vielleicht im letzten Augenbick auf wunderbare Weise. Und anstatt im Grab zu versinken, ist ihm sogar ein Kranz aufgesetzt worden: Gott hat ihn „mit Gnade und Barmherzigkeit gekrönt“. Es war unverdient, was Gott für ihn getan hat. Er hat es als Geschenk empfangen, und ist seitdem von Gott gesegnet. Der Schutz Gottes ist über ihm, er fühlt sich herausgehoben und geehrt, aber nicht durch menschliche Taten oder seine eigenen Leistungen, sondern durch Gott.
V. 5: Luther übersetzt Vers fünf so: „Der deinen Mund fröhlich macht und du wieder jung wirst wie ein Adler.“ Wörtlich übersetzt heißt es: „Der deine Zeit, [oder deine Zukunft] mit Kostbarkeiten [und Glück] erfüllt und du dich verjüngst wie ein Adler.“ Durch das, was der Beter an Gutem von Gott bekommen hat, wird sein Leben auch in Zukunft reich gesegnet sein. Und er fühlt sich dadurch wie ein Adler, der sich durch die Mauserung scheinbar immer wieder verjüngt. Er wirft sein altes Federkleid ab und wird dadurch wieder leicht und schnell. So geht es auch dem Beter, der durch den Segen Gottes erfrischt und erneuert wird.
Bis dahin geht der sogenannte Aufgesang des Psalms, der aus einem langen Satz besteht.
V .6: In Vers sechs beginnt nun der Hauptteil, der Gottes Heilshandeln und Parteinahme für alle Unterdrückten und Schuldig gewordenen beschreibt. Es wird gleich mit dem ersten Satz genannt: „Der HERR schafft Gerechtigkeit und Recht allen, die Unrecht leiden.“ Gott weiß um das, was Menschen einander antun, er sieht das Unrecht und stellt sich auf die Seite derer, die ungerecht behandelt werden, denen Gewalt angetan wird, die unterdrückt werden. Wenn sie sich an ihn wenden, verhilft er ihnen zum Recht. Wie ein guter Schiedsrichter klärt er die Situation. Er fällt ein gerechtes Urteil. Deshalb kann man auch umgekehrt sagen, dass da, wo das Rechte geschieht, sich Gottes Wille durchsetzt.
V. 7: Vers sieben spielt sprachlich und theologisch auf die Offenbarung Gottes am Sinai an. Da hat Gott „Mose seinen Willen kundgetan“, er hat ihm die zehn Gebote gegeben.
V. 8: Zu der Offenbarung am Sinai gehört nicht nur, dass Gott seinen Willen kundtut, er hat dort auch sein Wesen enthüllt, und dazu gehört ebenso die Sündenvergebung. Sie steht sogar im Mittelpunkt. Er ist „barmherzig und geduldig“, d.h. er kann lange warten, er bleibt ruhig und liebevoll. Die Gnadenerweise Gottes in der Geschichte Israels sind zahlreich. Man findet viel Güte bei ihm, seine Geduld kennt keine Grenzen.
V .9: Natürlich gibt es auch den Zorn Gottes. Den haben die Israeliten mehrfach zu spüren bekommen, so z.B. nach der Anbetung des goldenen Kalbes. Aber im Gegensatz zu seiner Güte vergeht sein Zorn wieder.
V. 10: Deshalb können wir immer zu ihm kommen. Er stellt keine Bedingungen. Was wir getan oder gelassen haben, ist für ihn kein Kriterium des Handelns. Er richtet sich nicht nach dem, was wir mitbringen, sondern nach seiner eigenen Gnade und Liebe. Der Beter weiß, dass er Gott nie ganz entsprechen kann, er macht viele Fehler, aber er hat deshalb keine Angst vor Gott, sondern fühlt sich gerade mit seiner Unvollkommenheit von Gott angenommen. Seine Schuld trennt ihn nicht von Gott, sie ist vielmehr der Grund, warum er zu ihm flieht.
V. 11: Der Beter beschreibt Gottes Liebe in den nächsten Versen mit drei Bildern. Zuerst betrachtet er den Himmel, der die ganze Erde überspannt. Er ist so hoch, dass ein Mensch der damaligen Zeit ihn niemals erreichen konnte. Die Höhe des Himmels stand deshalb auch für Unendlichkeit. Und genauso ist es mit der Liebe und Gnade Gottes: Sie ist unendlich weit und steht wie der Himmel über denjenigen, „die Gott fürchten“, d.h. die ihn verehren und an ihn glauben. Sie können sich seiner Gnade gewiss sein, seines Wohlwollens und seiner Barmherzigkeit. Sie behält die Oberhand, sie wird immer wieder siegen und mächtig sein.
V. 12: Das zweite Bild für diese Erfahrung ist die Entfernung zwischen Morgen und Abend, zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang. Sie berühren sich nie. Wie ein großer Bogen liegt ein ganzer Tag dazwischen und hält den Abend und den Morgen auseinander. Man kann sich auch die Himmelsrichtungen vorstellen, den Osten und den Westen, die einander genau gegenüber liegen Genauso weisen unsere Sünden in die gegensätzliche Richtung zu der, aus der Gott uns anschaut und uns begegnet.
V. 13: Und es folgt noch ein drittes Bild für die Barmherzigkeit Gottes: Der Beter stellt sich einen Vater vor und denkt daran, wie der normaler Weise mit seinen Kindern umgeht. Kinder brauchen einen Vater, sie brauchen auf jeden Fall Erwachsene, die sie lieben und sich um sie kümmern, denn alleine können sie nicht leben. Dazu sind sie noch zu unerfahren und zu hilflos. Sie sind abhängig von der Liebe und Fürsorge ihrer Eltern, und die meisten Eltern wissen das ja auch zum Glück und handeln entsprechend. Genauso ist Gott: Er kümmert sich um uns, er lässt uns nicht allein, er weiß, was uns fehlt und erbarmt sich über uns. Er ist zu uns wie ein liebender Vater zu seinen Kindern.
- Anwendung
Bei der Betrachtung dieses ersten Abschnittes könnt ihr in drei Schritten vorgehen:
Der Teil handelt ja von unseren Sünden und der Vergebung Gottes, d.h. zunächst einmal geht es um Selbsterkenntnis. Nutzt die Zeit, um euch selber nahe zu kommen. Dabei ist es wichtig, dass ihr so ehrlich wie möglich seid. Schaut euch euer Leben an und geht folgenden Fragen nach:
Wann habe ich einmal eine gravierende Fehlentscheidung getroffen? Wen habe ich verletzt, wen bin ich übergangen? Wann war ich gleichgültig oder ungerecht, undgeduldig und vorschnell? Wann habe ich die Kontrolle über mein Handeln verloren? Und geschieht das regelmäßig? Was ist mein Beitrag zu den Problemen, die ich im Leben habe?
Das sind unbequeme Fragen, wir stellen sie uns nicht gern, und noch viel weniger gefallen uns die Antworten. Denn sie tun weh. Wir wollen so nicht sein und haben deshalb Angst davor, uns diese dunklen Seiten von uns selbst anzuschauen. Wir fürchten auch, dass wir verurteilt werden, wenn es rauskommt, was wir falsch gemacht haben oder machen. Wir fürchten uns vor uns selber und vor den anderen. Und natürlich haben wir auch Angst vor Gott, vor einer strafenden und mächtigen Instanz, einer Zurückweisung, einer Ablehnung.
Doch das alles gilt es, zunächst einfach auszuhalten. Es ist ein Wagnis, das wir eingehen, und es ist ungemütlich. Aber die Stille ist am Anfang immer ungemütlich und unbequem. Sie kann schmerzen oder trocken sein. Sie sorgt für Ernüchterung und Entzug. Aber sie hilft gerade deshalb. Sie sorgt schon fast von allein für die Selbsterkenntnis, denn wir können uns selber nicht mehr ausweichen. Es gibt kaum eine andere Möglichkeit, als dass wir uns alles angucken, was hoch kommt, es ertragen und zulassen.
Wenn wir das getan haben, können wir zum zweiten Schritt übergehen und uns in Reue üben. Wir gestehen uns ein, dass wir unvollkommen sind und geben unser Sünden zu. Sie können uns leid tun. Sie haben fast alle ihren Ursprung in unserem Egoismus und unserer Selbstherrlichkeit. Wir wollen immer irgendetwas, und oft wollen wir zu viel. Wir sind illusorisch und vergewaltigen dabei uns selbst und andere. Wir üben Macht aus, die niemandem gut tut. Das müssen wir erkennen, und es ist gut, wenn wir es bedauern und bereuen.
Denn das können wir vor Gott tun. Wir sind nicht allein, sondern treten vor ihn, auch wenn wir Angst haben, und breiten alles vor ihm aus, was uns belastet. Wir bekennen und tun Buße. D.h. wir gehen nicht mehr in derselben Richtung weiter, sondern bleiben stehen, kehren um und suchen einen neuen Weg.
Und den gibt es, das ist der dritte Schritt: wir können Gott um Vergebung bitten, dann empfangen wir seine Barmherzigkeit. Wer so offen und ehrlich vor Gott tritt und zu ihm betet, den weist er nicht zurück. Er entlädt nicht seinen Zorn, sondern schenkt uns seine Liebe und Gnade. Wir werden „geheilt und verjüngt“. Wir verlieren die Angst, entspannen uns und fühlen uns leicht. Es wirkt sich seelisch und körperlich aus, wenn wir Vergebung empfangen: Wir bekommen neue Kraft und neue Lebensfreude.
Vielleicht ist unser Gottesbild das eines strengen Richters. Dann haben wir jetzt die Möglichkeit, es zu korrigieren, denn der Palm malt uns etwas ganz anderes vor Augen: Wir können die Bilder meditieren, die er enthält.
Das geht im Zimmer, aber auch draußen. Da sehen wir den Himmel und die Erde, den Westen und den Osten, und können uns bewusst machen: So weit, wie sie voneinander entfernt sind, soweit „lässt Gott auch unsre Übertretungen von uns sein.“ Wir lassen uns von ihm beschenken und lieben.
Zweite Einführung: Vers 14- 22: Gott ist ewig und erhaben
- Hinführung
Wir betrachten Psalm 103 jetzt weiter und wir merken beim Lesen, dass er zahlreiche Anspielungen auf andere Stellen und Geschichten in der Bibel enthält. Er steht nicht isoliert, sondern gehört z.B. mit den beiden Psalmen zusammen, die vor ihm und nach ihm in der Bibel stehen. Aber es gibt auch noch viel mehr Parallelen. Ich erwähnte ja schon die Offenbarung Gottes am Sinai, wo Gott „Mose seine Wege kundgetan hat“, und die anschließende Geschichte mit dem goldenen Kalb (2. Mose 32, 1- 6): Als Mose auf dem Berg war, wurden die Israeliten ungeduldig und baten Aaron, ihnen einen neuen Gott zu bauen. Er ließ sich überreden, und sie formten aus ihrem Goldschmuck eine Statue in Form eines Kalbes. Sie beteten es an als den Gott, der sie aus Ägypten geführt hatte. Als Mose vom Berg stieg und das sah, wurde er sehr zornig. Es war Gottes Zorn, der sich durch ihn entlud, und es folgte eine schwere Strafe. Trotzdem hat Gott seinen Bund noch einmal erneuert, und er ist seinem Volk treu geblieben, auch später in der Geschichte. Immer wieder fielen die Israeliten von ihm ab und taten „was dem Herrn missfiel“, wie es dann heißt. Könige und auch Propheten haben sich versündigt, David gehört dazu, Elia, und sogar Mose. Gott war darüber zwar jedes Mal zornig, und die Sünde hatte auch Konsequenzen, aber er hat seinen Zorn immer wieder zurückgenommen.
In Jesus hat seine Barmherzigkeit dann letzten Endes und ein für alle Mal die Oberhand gewonnen. Er hat die Sünder erklärter maßen angenommen, ihnen vergeben und sie in die Nachfolge gerufen. Keiner der Menschen, die ihn umgaben, war heilig, sie waren alle beladen und hatten ihre Mühen und Sorgen. Bei Jesus fanden sie Halt und Vergebung, er eröffnete ihnen einen neuen Weg, den der Liebe und Barmherzigkeit. Denn das ist das Merkmal der Barmherzigkeit: Sie wendet sich dem zu, der von sich aus nicht liebenswert ist. Jeder und jede von uns braucht sie. Wir sind darauf angewiesen, wenn wir leben und gesund bleiben wollen. Davon handelt der erste Teil des Psalms.
Im nächsten Teil geht es nun noch um etwas anderes, das uns zu schaffen macht, das unser menschliches Leben prägt: Es ist die Vergänglichkeit. Auch sie ist in der Bibel ein durchgehendes Thema. Das Bild, das in unserem Psalm dafür vorkommt, taucht schon in der Schöpfungsgeschichte auf, wo es heißt, dass Gott den Menschen aus „Staub von der Erde machte“. (1. Mose 2, 7) Und die meisten von euch kennen sicher die Stelle aus dem Buch Jesaja, wo es heißt: „Alles Fleisch ist Gras, und alle seine Güte ist wie eine Blume auf dem Felde. Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, aber das Wort unseres Gottes bleibt ewiglich.“ (Jesaja 40, 6.8) Und auch andere Psalmen greifen das Thema auf, wie etwa Psalm 90, in dem steht: „Denn tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache. Du lässest sie dahinfahren wie einen Strom, sie sind wie ein Schlaf, wie ein Gras, das am Morgen noch sprosst, das am Morgen blüht und sprosst und des Abends welkt und verdorrt.“ (Psalm 90, 4- 6)
Das wird nun auch in unserem Psalm zum Ausdruck gebracht, und zwar in den Versen 14- 22.
- Auslegung
V. 14: Gott weiß, wie wir geschaffen sind, das heißt, er gibt auch darauf acht, er versteht und berücksichtigt es und kümmert sich um uns. Denn er selber ist unser Schöpfer und Bildner. Er weiß, dass wir ein Teil der Erde sind, dass wir sterben und vergehen. Irgendwann zerfallen wir und „werden wieder zu Staub“, denn aus ihm wurden wir auch geschaffen.
V. 15: Der Beter beschreibt diese Tatsache mit einem Bild. Er sieht das Gras auf dem Feld, das nur kurz in Blüte steht, einen Sommer lang, wenn es hoch kommt, dann verwelkt es und verblüht. Mohnblumen sind dafür ein schönes Beispiel, denn ihre Blütenblätter fallen schnell ab, oder auch der Löwenzahn, der zur Pusteblume wird und dessen Staubgefäße vom Wind verweht werden.
V.16: Der Wind trägt das Gras und die Blumen davon, zurück bleibt trockene Erde. Oft kann man noch nicht einmal mehr erkennen, dass dort einmal etwas gewachsen ist. Das war in Israel sicher in mehreren Gegenden noch stärker der Fall, als bei uns. Es gibt in dem Land viel Sand und Wüste. Wenn es regnet, wächst und blüht dort zwar plötzlich ganz viel, aber genauso schnell, wie es gekommen ist, verschwindet es auch wieder. Für den Beter ist das ein Bild für das menschliche Leben.
V. 17: Aber diese Einsicht deprimiert ihn nicht, sondern er schaut umso mehr auf die Gnade Gottes. Sie hat einen ganz anderen Charakter, als unser menschliches Dasein. Sie steht dazu in einem krassen Gegensatz. Luther übersetzt: Sie währt „von Ewigkeit zu Ewigkeit“. Man kann es auch so ausdrücken: „Sie war in grauen, unvordenklichen Vorzeiten schon da, und sie wird in eine ununterbrochene Zukunft münden.“ Denn das hebräische Wort, das wir mit „Ewigkeit“ übersetzen – ﬠלּמּ – (Olam) – meint beides: die Urzeit, die da war, bevor es Menschen gab, und die Zukunft, die niemals aufhört. Gottes Gnade stand vor allem Anfang und sie wird ewig bleiben. Sie ist unvergänglich. Deshalb gilt der Bund, den er mit den Menschen geschlossen hat, für alle folgenden Generationen.
Gott und Mensch werden hier also deutlich einander gegenüber gestellt. Er ist der Ewige, wir dagegen kommen und gehen wieder. Aber Gott weiß das und er ist mit seiner Gnade für uns da.
V. 18: Um dieser ewigen Gnade Gottes teilhaftig zu werden und von ihr zu leben, muss der Mensch ihn allerdings „fürchten“, d.h. zu ihm gehen, an ihn glauben und auf ihn vertrauen. Ohne eine lebendige Beziehung zu Gott werden wir seine unendliche Gnade nicht spüren. Sie trägt uns nur, wenn wir uns von ihr auch tragen lassen. Das gehört zu dem Bund dazu, den Gott mit Israel geschlossen hat. Er ist nicht einseitig, sondern wie ein Vertrag: Auch der Mensch muss seinen Beitrag leisten, wenn er kräftig und wirksam sein soll.
Soweit geht der Hauptteil des Psalms, nun folgt der Abgesang.
V. 19: Es ist ein abschließender Lobgesang, der mit einem Gleichnis für die Allmacht Gottes beginnt: Er regiert wie ein König über den ganzen Kosmos. Dafür steht das Bild von dem Thron, dem Ehrensitz, der nur für Gott vorgesehen ist. Er befindet sich nicht in einem Schloss dieser Welt, sondern „im Himmel“. Dort wohnt Gott, d.h. er wohnt dort, wo wir nicht von uns aus hinkommen können, hoch über uns, in der unsichtbaren Wirklichkeit, die alles überspannt und überdacht. Gott ist also nicht ein Teil der Welt, sondern ihr Herrscher. Sein Königreich ist unbegrenzt, es erstreckt sich über alles. Die ganze Welt, ja, das ganze Universum gehören dazu.
V. 20: So wie der Psalm mit einer Aufforderung zum Lobgesang begann, so endet er auch. Doch nun gibt es eine Steigerung: Der Beter fordert den gesamten himmlischen Hofstaat und alle Werke der Schöpfung zum Lobpreis Gottes auf. Alle, die Gott kennen und ihm dienen, sollen ein Lied zu seiner Ehre singen. „Engel und starke Männer, die sein Wort ausführen“, werden hier erwähnt. Damit ist die große Menge von himmlischen und irdischen Wesen gemeint, die an ihn glauben und von ihm reden, sichtbare und unsichtbare Gestalten und Personen.
V. 21: Der Beter stellt sich vor, dass Gott Heere und Diener hat wie ein großer König. Er wird im Alten Testament ja auch „Herr der Heerscharen“ genannt, „Gott Zebaoth“. Das sind die Engel und Gewalten, die dafür sorgen, dass sein Wille geschieht. Sie alle sollen singen, d.h. ein großer Chor soll anstimmen, der den Ruhm Gottes an allen Orten verkündet. Der Gott, den der Beter in seinem eigenen Leben erfahren hat, ist also nicht sein persönlicher, privater Gott. Wer ihn lobt, ist nie alleine für sich, sondern stimmt ein in einen großen Chor. Seine Stimme ist eine von vielen.
V. 22: Loben heißt im Hebräischen auch grüßen oder segnen. Und das ist eine schöne Vorstellung: Alle Werke Gottes begrüßen ihn immer und überall. Dahinter steht die Vorstellung, dass alles um seinetwillen da ist. Er ist die Mitte, und die ganze Welt gehört ihm. Deshalb soll er überall geehrt werden.
Wo man auch geht und steht, Gott ist da. Keine Stätte, kein Ort ist ausgespart, man kann ihn also überall erleben und preisen. Auch der Mensch ist sein Werk, er gehört zum Ganzen dazu und ist ein Teil davon. Deshalb steht es dem Menschen gut an, Gott zu ehren. Er tut damit das, was eine Bestimmung ist.
Und so endet der Psalm noch einmal mit demselben Satz, wie am Anfang: „Lobe den Herrn, meine Seele.“ Man könnte nun also wieder von vorne beginnen. Der Kreis schließt sich zu einem immerwährenden Lob auf Gottes Gnade und Allmacht.
- Anwendung
Auch dieser Teil des Psalms eignet sich gut, um ihn in der Stille zu betrachten und zu nachzubeten. Und es geht wieder um ein Thema, das nicht ganz bequem ist, nämlich um unsere Vergänglichkeit. Sie gefällt uns genauso wenig wie unsere Unvollkommenheit, aber sie ist eine Tatsache, der wir uns stellen sollten. Der Beter von Psalm 90 sagt: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ (Psalm 90,12) Das steht auch hinter unserem Psalm. Doch um welche Klugheit geht es hier?
Das wird klar, wenn wir uns wiederum bewusst machen, wie wir normaler Weise leben und denken. Wir handeln nämlich oft so, als würde unser Leben niemals aufhören. Wir klammern den Tod und die Vergänglichkeit aus und tun so, als hätte alles Bestand und könnte uns erfüllen und tragen: unsere Erfolge und Errungenschaften, Gaben und Fähigkeiten, Einsichten und Ideen, Menschen und Beziehungen, Geld und Gesundheit usw. An all dem halten wir uns fest, wir klammern uns daran, definieren uns selbst darüber. Es bestimmt unser Selbstverständnis, unsere Identität. Deshalb halten wir all das auch fest.
Dabei wissen wir ganz genau – weil wir es alle schon erfahren haben – dass das „unklug“, also „dumm“ ist: Alles kann uns genommen werden: Wir können krank werden, Menschen und Geld verlieren, und auch Gedanken und Ideen, von denen wir dachten, sie sind unerschütterlich und gehören zu uns, können sich wandeln und plötzlich ins Wanken geraten.
Wenn es geschieht, geht es uns meistens schlecht. Wir bekommen Angst, fühlen uns unsicher und werden traurig. Das Leben verdüstert sich, wir stehen am Abgrund und wissen nicht weiter.
Doch davor können wir uns schützen, wir müssen nur „klug werden“ und uns rechtzeitig im Loslassen üben, zum Leiden und Sterben bereit sein. Dann werden wir dem Leben viel eher gerecht, wir verhalten uns angemessen und realistisch.
Ihr könnt euch also zunächst einmal fragen: Woran hänge ich ganz besonders? Was halte ich fest? Wen will ich auf keinen Fall verlieren? Worauf vertraue ich? Was gibt mir Sicherheit? Was ist wichtig für mich?
Und auch da gilt es, – wie schon heute Morgen – so ehrlich wie möglich zu sein.
Ihr könnt die Antworten, alles, was euch einfällt und auffällt, dann in einem zweiten Schritt mit dem Gedanken durchdringen, dass das alles zwar schön, aber auch vergänglich ist, wie das Gras und die Blumen. Es kann euch genommen werden, durch Krisen und Katastrophen, durch eine Krankheit oder einen Unfall, Alter, Sterben und Tod. Es geht darum, unsere Illusionen über das Leben abzulegen. Das ist so ein bisschen, wie das eigene Sterben vorweg zu nehmen, es auf jeden Fall zu bejahen und anzunehmen.
Das ist wie gesagt, nicht ganz einfach. Es soll jetzt auch keine innere Heldentat und schon gar keine Selbstquälerei sein, sondern ein Schritt, der ein großes und schönes Ziel hat, nämlich näher zu Gott zu kommen und seine Gegenwart zu spüren. Es gelingt auch nur im Angesicht Gottes und im Glauben an ihn. Genauso wie wir unsre Sünden nur ertragen können, wenn wir vor Gott stehen, genauso ist es mit der Vergänglichkeit. Wir machen sie uns angesichts der Ewigkeit bewusst. Wir schauen dabei auf ihn, der niemals stirbt, der immer schon da war und bleiben wird, den ewigen Gott. Er ist groß und erhaben, seine Gegenwart kennt keine Grenzen, er ist der Ursprung und das Ende von allem, A und O.
Und auch bei diesem Thema geht es eventuell darum, unser Gottesbild zu korrigieren. Wir denken an Gott ja oft als den, der uns hilft und uns beisteht, der für uns da ist und unsere Gebete erhört. Wir wünschen uns vieles von ihm, er soll tun, was wir von ihm erbitten.
Doch Gott ist nicht unser Handlanger oder Diener, sondern es ist umgekehrt: Wir sind für ihn da. Er hat uns um seinetwillen geschaffen. Wir leben, weil er es will. Wir sind sein Wille, seine Geschöpfe. Er ist deshalb das Ziel und der Sinn unseres Lebens, die Mitte und die Erfüllung.
Es gilt also, dass wir uns ganz in seine Hand legen, denn dort gehören wir hin. Und das geschieht nur, wenn wir loslassen, was uns sonst bindet und erfüllt, leer werden und uns ihm überlassen. Gott ist wie eine Zuflucht, wir können uns mit allem was uns beschäftigt, was uns freut oder belastet, was uns erfüllt oder traurig macht, bei ihm bergen.
Dann werden wir auch mit ihm leben, und zwar in ganz neuer Weise. Wir werden mit einer Kraft erfüllt, die wir vorher nicht kannten. Sie dringt in jede Zelle unseres Leibes, durchflutet unsere Seele und unseren Geist. Nicht wir ergreifen Gott, sondern er ergreift uns. Sein Geist regiert unser Denken und Fühlen. Sterben und Auferstehen vollziehen sich schon jetzt, im Geist und im Glauben. Der Psalm – und eigentlich die ganze Bibel – laden uns ein, das einzuüben.
Als Christen haben wir dafür noch viel bessere Möglichkeiten, als die, die nur an das Alte Testament glauben, weil Jesus Christus diesen Weg voran gegangen ist. Wir glauben daran, dass er der Sohn Gottes und von den Toten auferstanden ist. Wer ihm folgt, wird „mit ihm sterben und auferstehen“. So hat Paulus das an vielen Stellen formuliert.
Und das macht uns krisensicher. Wir werden „klug“ und zuversichtlich, gewinnen Leichtigkeit und Hoffnung. Uns kann nichts mehr so schnell erschüttern. Wir gehen anders durch das Leben, wacher und gegenwärtiger, positiver und fröhlicher.
Ganz von selber liegt das Lob Gottes auf unserer Zunge, und wir singen: „Lobe den Herrn, meine Seele, und was in mir ist, seinen heiligen Namen. Lobe den Herrn meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.“
Literatur: Erich Zenger, Psalmen Auslegungen, Band 2: Ich will die Morgenröte wecken, Freiburg, Basel, Wien 2006, S. 191ff
Betrachtungen zu Psalm 139
Stilles Wochenende im Gethsemanekloster Riechenberg 11.-13.9.2020:
Beten mit den Psalmen
Psalm 139: Gott, der Allwissende und Allgegenwärtige
1 HERR, du erforschest mich
und kennest mich.2 Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es;
du verstehst meine Gedanken von ferne.
3 Ich gehe oder liege, so bist du um mich
und siehst alle meine Wege.
4 Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge,
das du, HERR, nicht schon wüsstest.
5 Von allen Seiten umgibst du mich
und hältst deine Hand über mir.
6 Diese Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch,
ich kann sie nicht begreifen.7 Wohin soll ich gehen vor deinem Geist,
und wohin soll ich fliehen vor deinem Angesicht?
8 Führe ich gen Himmel, so bist du da;
bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da.
9 Nähme ich Flügel der Morgenröte
und bliebe am äußersten Meer,
10 so würde auch dort deine Hand mich führen
und deine Rechte mich halten.
11 Spräche ich: Finsternis möge mich decken
und Nacht statt Licht um mich sein –,
12 so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir,
und die Nacht leuchtete wie der Tag. Finsternis ist wie das Licht.13 Denn du hast meine Nieren bereitet
und hast mich gebildet im Mutterleibe.
14 Ich danke dir dafür,
dass ich wunderbar gemacht bin;
wunderbar sind deine Werke;
das erkennt meine Seele.
15 Es war dir mein Gebein nicht verborgen, /
als ich im Verborgenen gemacht wurde,
als ich gebildet wurde unten in der Erde.
16 Deine Augen sahen mich,
als ih noch nicht bereitet war,
und alle Tage waren in dein Buch geschrieben,
die noch werden sollten und von denen keiner da war.17 Aber wie schwer sind für mich, Gott, deine Gedanken!
Wie ist ihre Summe so groß!
18 Wollte ich sie zählen, so wären sie mehr als der Sand:
Am Ende bin ich noch immer bei dir.
19 Ach Gott, wolltest du doch die Gottlosen töten!
Dass doch die Blutgierigen von mir wichen!
20 Denn sie reden von dir lästerlich,
und deine Feinde erheben sich mit frechem Mut.
21 Sollte ich nicht hassen, HERR, die dich hassen,
und verabscheuen, die sich gegen dich erheben?
22 Ich hasse sie mit ganzem Ernst;
sie sind mir zu Feinden geworden.23 Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz;
prüfe mich und erkenne, wie ich’s meine.
24 Und sieh, ob ich auf bösem Wege bin,
und leite mich auf ewigem Wege.
Erste Betrachtung: Gottes Allwissenheit und Allgegenwart (Vers 1- 12)
- Hinführung
a. zum Thema
Psalm 139 wurde von einem Menschen verfasst, der sich mit seinem Gottesverhältnis auseinandersetzt. Er glaubt nicht einfach nur naiv und optimistisch. Der Beter ringt um den Erweis der Gotteswahrheit, ohne die er nicht leben kann.
Und dabei ist ein Psalm herausgekommen, der wie ein Gebetsweg ist. Er führt den Beter und auch uns, die wir ihn lesen, zu der Gewissheit, dass unser ganzes Leben bei Gott geborgen ist. Denn Gott hat uns „gebildet“ und „umgibt uns von allen Seiten“. Er kennt uns, und unter seiner Führung kann das Leben gelingen. Seine Allwissenheit und Allgegenwart bewirken, dass wir selbst in der größten Finsternis nicht allein sind. Wir können ihm nirgends entrinnen.
Das kann natürlich Angst auslösen und zur Auflehnung gegen Gott führen. Viele erleben die Worte von Psalm 139 auch als Drohung und Einladung zur Selbstaufgabe. Doch so ist das hier nicht gemeint. Der Beter will vielmehr die gottgesetzte und gottgeschützte Lebensordnung beschreiben und unsere Beziehung zu Gott festigen. Beim Nachbeten und Meditieren können sich Zweifel legen, und die Wahrheit Gottes kann uns ergreifen.
Ich werde deshalb die einzelnen Verse auslegen und darüber nachdenken, wie wir das Gesagte auf unser Leben anwenden können. Bevor ich damit beginne, möchte unseren Psalm in seinen Kontext einordnen.
b. Kontext
Unser Psalm gehört zum „fünften Buch“ im Psalter und zu den Davidpsalmen. Man kann außerdem erkennen, dass er zu den späteren, also jüngeren Schriften im Alten Testament gehört, zur sogenannten Weisheit, die sich mit den einfachen Glaubensaussagen des alten Israel bereits auseinandersetzt. Dort gilt der Grundsatz: Wenn du Gott fürchtest, geht es dir gut, dann kann dein Leben gelingen. Die Feinde Gottes dagegen werden vernichtet. So einfach ist es für diesen Beter nicht mehr. Der Blick in die Geschichte seines Volkes hilft ihm nicht, um eine Lebensordnung zu erkennen, die von Gott gegeben und geschützt wird. Er bringt vielmehr seine ganz individuelle Beziehung zu Gott zum Ausdruck. Er sucht nach Gott und nach seiner eigenen Identität.
c. Aufbau von Psalm 139
Der Psalm hat einen Rahmen und einen Hauptteil, der wiederum aus vier Teilen besteht.
Der Rahmen sind Vers eins und die Verse 23 und 24. Sie beinhalten denselben Gedanken, am Anfang als Feststellung, am Ende als Bitte oder Imperativ: „Du erforschst mich und du erkennst mich.“ heißt es in Vers eins, und in Vers 23 steht: „Erforsche mich und erkenne mein Herz.“ Der Psalmbeter stellt an den Anfang also eine objektiv gegebene Gotteswahrheit, am Ende bittet er darum, dass er sie subjektiv erfahren möge, damit sein Lebensweg gelingt.
Das legt sich um den vierfach gegliederten Hauptteil:
Vers 2- 6: Gottes Allwissenheit
Vers 7- 12: Gottes Allgegenwart
Vers 13-16: Gottes Allwirksamkeit
Vers 17- 22: Die Bösen und das Chaos
2. Auslegung
V. 1: Der Psalm beginnt mit einem Bekenntnis, das gleichzeitig ein Dank und ein Lob ist: „Herr, du erforschst und kennst mich.“ D.h. Gott durchschaut ihn, er nimmt ihn wahr und kümmert sich um ihn. Der Beter erlebt sich in einem Zusammenhang, den er nicht selber beeinflusst oder herstellt. Er spürt vielmehr eine unsichtbare Bindung an die Wirklichkeit Gottes und staunt darüber. Ob es ihn beglückt oder bedrückt, ist schwer zu sagen, es erfüllt ihn aber auf jeden Fall mit Ehrfurcht vor Gott.
V. 2: „Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehst meine Gedanken von ferne.“ Wörtlich übersetzt lautet der Vers: „Ob ich aufhöre oder anfange, etwas zu tun, du weißt es.“ Was der Psalmbeter also auch treibt, ob er in Bewegung ist oder still da sitzt, Gott nimmt ihn wahr. Denn er weiß alles, er weiß auch, was der Beter denkt und vorhat. Das bekennt er hier und er spricht Gott dabei an.
V. 3: Im nächsten Vers denkt der Beter an seine Reisen, sein Wandern und Unterwegssein: „Ich gehe oder liege, so bist du um mich und siehst alle meine Wege.“ Wann immer er geht, Gott begleitet ihn. Die Straßen und Wege sind Gott vertraut, er kennt ihre Länge und die Dauer der Reise, denn er ist sie alle selber schon abgewandert. Das stellt der Beter sich vor. Und dazu gehört es, dass Gott auch bei der Rast noch um ihn weiß. Auch wenn er liegt und sich ausruht, ist Gott bei ihm. Er kann sich also nie verirren, auch wenn er mal einen Weg geht, der für ihn selber neu ist. Und das beruhigt den Beter. Er hat keine Angst, weil er weiß, dass er den richtigen Weg findet und die nötige Kraft erhält, um ihn zu gehen.
V. 4: Im nächsten Vers geht der Beter zu seinen Worten und Gedanken über. Auch die sind Gott bekannt. Er sagt: „Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du, HERR, nicht schon wüsstest.“ Gott weiß also nicht nur um seine äußere Situation, ob er liegt oder sitzt, geht oder steht, er kennt auch seine Gedanken, und was er sagen möchte. Doch wie auch schon in den vorigen Versen, ist nicht ganz klar, ob er das positiv oder negativ meint.
V. 5: Im nächsten Vers ist das erst recht so. Er lautet: „Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir. Wörtlich übersetzt heißt es: „Von vorne und von hinten engst du mich ein“, oder schlimmer noch: „schließt du mich ein“. Das klingt eher feindlich, und vielleicht empfindet der Beter genauso die Geste, dass Gott „seine Hand auf ihn legt“. Mit der Hand kann auch die Faust gemeint sein. Unter die muss der Beter sich fügen, er hat keine Wahl. Gott ist stärker, er ist überall, seiner Macht kann niemand entrinnen. Der Beter muss sich ihm hingeben.
In der Lutherübersetzung klingt es dagegen sehr positiv, und so kann man es auch verstehen. Denn Gott meint es ja nicht böse mit dem Menschen. Er beschützt ihn und ist immer bei ihm, sodass der Mensch sich bei Gott auch geborgen fühlen darf. Gottes Hand liegt segnend auf ihm.
V. 6: All das kann der Beter nicht wirklich erfassen. Er sagt in Vers sechs. „Diese Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch, ich kann sie nicht begreifen.“ Er schließt damit sein ‚Beschreibung der Allwissenheit Gottes ab: Sie bleibt für ihn ein Wunder, das er letzten Endes nur bestaunen kann. Der Gegensatz zwischen Gott und ihm bleibt unüberwindbar. Er kann Gott nie ganz ergründen, so sehr er es vielleicht auch möchte. Er merkt zwar immer wieder, wie groß und unfassbar Gott ist, aber er kann die ganze Weite dieser Erkenntnis gar nicht ausloten. Es übersteigt sein Denken und Fühlen.
V. 7: Nachdem der Beter in den ersten sechs Versen Gottes Allwissenheit bekannt hat, spricht er jetzt von seiner Allgegenwart und beginnt mit der Frage. „Wohin soll ich gehen vor deinem Geist, und wohin soll ich fliehen vor deinem Angesicht? Eigentlich kennt der Beter die Antwort schon. Er weiß nämlich, dass er nirgends hingehen kann, ohne dass Gott bereits da ist. Denn Gottes Geist waltet in allem. Er ist die Kraft, die den Fortbestand der Welt sichert, er ist also überall. Es klingt wieder so, als würde den Beter das bedrängen, als wollte er eigentlich gerne fliehen, denn er denkt ja darüber nach. Aber er weiß, dass er keine Chance hat, und das lässt ihn erschauern: Gottes Angesicht bleibt ihm immer zugewandt, wohin er auch geht, er steht Gott doch wieder gegenüber. Gott kehrt ihm niemals den Rücken zu, er kann nie hinter Gott gehen und sich dort verstecken. Gott sieht ihn immer wieder von vorne an, denn er ist nicht an den Raum gebunden.
V. 8: Um das zu veranschaulichen, erwähnt der Beter nun Orte, die weiter gar nicht auseinanderliegen könnten. Er sagt in Vers acht: „Führe ich gen Himmel, so bist du da; bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da.“ Das ist ein sehr interessanter Satz, denn nun werden zwei „Gegenden“ benannt, die es eigentlich nur in der Mythologie gibt. In der Vorstellungswelt des Alten Israel spielen sie ebenfalls eine wichtige Rolle: Der Himmel und das Totenreich. Mit dem ersten ist die höchste Höhe gemeint, der Ort, wo Gott wohnt. Das Totenreich ist die tiefste Tiefe, der Ort, wo Gott nicht gepriesen wird, wo er nicht mehr ist. Wer bei den Toten ist, ist von Gott getrennt. Das war die Auffassung.
Deshalb ist die Aussage dieses Beters, dass Gott auch da noch ist, eigentlich unglaublich und sprengt die Theologie des Alten Testamentes. Er erfährt die Allgegenwart Gottes so stark, dass er ihn sogar dort noch anzutreffen meint, wo er nach allgemeiner Überzeugung nicht sein kann. Die Größe Gottes übersteigt also das normale Denken. Er ist nicht nur überall auf der Erde, er ist auch noch über der Erde und unter der Erde, er umfängt das ganz Universum, mitsamt Himmel und Hölle, das Leben und den Tod.
V. 9+10: Niemand kann sich vor Gott verstecken, selbst wenn er das wollte. Das wiederholt der Beter in Vers neun. Er sagt: „Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten.“ Nachdem er im vorigen Vers von zwei ungleichen mythologischen Orten gesprochen hat, erwähnt er nun zwei geografische Gegensätze, den fernen Osten, wo die Sonne aufgeht, und den fernen Westen, wo die Sonne untergeht. Er malt sich die Weite und Größe der Erde aus und kommt zu der Erkenntnis, dass Gott auch hier überall ist. Selbst eine magische Flucht ist nicht möglich. Man stellte sich die Morgenröte als ein geflügeltes Wesen vor, das über den Himmel gleitet. Selbst wenn der Beter solche Flügel hätte und über den Himmel von einer Seite zur anderen fliegen würde, Gottes Hand würde ihn weiter leiten. Seine „Rechte“ würde ihn ergreifen, d.h. einfangen und festhalten.
V. 11+12: Am Ende dieser Beschreibung der Allgegenwart Gottes, die teilweise bedrückend klingt, kommt nun doch noch etwas eindeutig Positives. Der Beter sagt in Vers elf und zwölf: „Spräche ich: Finsternis möge mich decken und Nacht statt Licht um mich sein –, so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtete wie der Tag. Finsternis ist wie das Licht.“ Der Beter denkt weiter darüber nach, ob es irgendeine Möglichkeit gibt, vor Gott zu fliehen oder sich vor ihm zu verstecken. Er stellt sich vor, wie er auf geheimnisvolle Weise von der Finsternis bedeckt und von der Nacht umhüllt wird. Das menschliche Auge sieht n dieser Dunkelheit tatsächlich nichts mehr. Sie würde ihn verbergen. Aber Gottes Auge schaut da hindurch. Bei Gott gibt es kein Dunkel, das er nicht durchdringen könnte. Die göttliche Wirklichkeit kennt keine Grenzen. Unsere Finsternis ist für Gott nicht finster, auch die Nacht ist noch hell wie der Tag. Es gibt den Gegensatz zwischen Licht und Finsternis bei Gott nicht. Denn das Licht Gottes macht alles hell.
3. Anwendung
Die Verse beinhalten viele verschiedene Bilder und Aussagen, aber sie haben alle ein Thema: Es ist die Größe Gottes, seine Allwissenheit und Allgegenwart. Gott ist immer schon da, er ist der Größte und Überlegene. Der Beter sagt ja dazu, obwohl das auch bedrückend wirken kann.
Wie wir das empfinden, liegt daran, wie wir uns dieser Wahrheit nähern. Wenn es befreiend und wohltuend wirken soll, müssen wir anerkennen, dass Gott das Subjekt allen Geschehens ist. Er ist der Aktive, der Sehende und Gegenwärtige. Und das relativiert alles, was wir tun oder lassen. Es nimmt allen Ereignissen und Dingen ihre Schwere und Dramatik.
Meistens erleben wir uns anders. Unser Lebensgefühl ist davon geprägt, dass wir etwas tun und sehen, etwas erarbeiten und bewirken, etwas erforschen und erkennen, bedenken und aussprechen. Wir stehen immer im Mittelpunkt unserer eigenen Selbstwahrnehmung. Von unserem Ich her ordnet sich die Welt um uns herum. Alle Dinge und auch die anderen Menschen sind Objekte unserer Wahrnehmung, unseres Handelns und Wissens. Auch unsere Beziehung zu Gott ist meistens so geprägt: Wir glauben an ihn, beten zu ihm, bekennen ihn, loben ihn, folgen ihm usw.
Doch das ist auf die Dauer problematisch. Denn wenn wir Zweifel haben, kann Gott ganz schnell aus unserem Denken verschwinden. Wir können ihn nicht festhalten. Und es ist auch anstrengend, so an ihn zu glauben. Der Glaube fordert unsere Kraft und Aufmerksamkeit, wir müssen uns konzentrieren und das Richtige tun.
Der Psalm beschreibt dagegen etwas ganz anderes. Hier spricht ein Mensch, der das möglicherweise auch so versucht und erlebt hat und der an seine Grenzen gekommen ist. Er wusste nicht weiter. Aber daran ist er nicht verzweifelt, sondern er hat die befreiende Erfahrung gemacht, dass es genau anders herum ist: In Wirklichkeit denkt nicht er an Gott, sondern Gott denkt an ihn. Deshalb bleibt dem Beter eigentlich nur das Schweigen und das Staunen. Er kann nur von Gott ergriffen werden und sich damit auf einen lebenslangen Prozess einlassen. Glauben heißt, in Gott immer mehr hineingezogen werden.
Denn nicht der Beter findet Gott, sondern Gott findet den Beter. Und das kann eine befreiende Erkenntnis sein. Gott löst uns von unserem Ich und von unsrem Eigenwillen, er nimmt uns in seine Hand und schenkt uns Helligkeit.
Beim Beten des Psalms können wir uns selber loslassen, uns hingeben und in die Gegenwart Gottes einfügen. Betrachtet dafür die verschiedenen Aussagen, geht sie mit eurer Phantasie durch und lasst die Bilder auf euch wirken. Lasst euch in die Allgegenwart und Allwissenheit Gottes hineinfallen. Was auch immer ihr denkt, überlasst euch mit allem, was euch beschäftigt, Gott. Zu dieser Hingabe will uns der Psalm einladen.
Zweite Betrachtung: Gottes Allwirksamkeit, das Böse und das Chaos (Vers 13- 24)
- Hinführung
Der zweite Teil, oder besser gesagt Teil drei und vier stehen unter der Überschrift: „Gottes Allwirksamkeit, das Böse und das Chaos“. Wir bekommen es dabei mit einem Abschnitt zu tun, den wir wahrscheinlich am liebsten überspringen würden, und so handhaben es auch viele Theologen, die sich damit beschäftigen. Es sind die Verse 19-22, die lauten:
„Ach Gott, wolltest du doch die Gottlosen töten! Dass doch die Blutgierigen von mir wichen! Denn sie reden von dir lästerlich, und deine Feinde erheben sich mit frechem Mut. Sollte ich nicht hassen, HERR, die dich hassen, und verabscheuen, die sich gegen dich erheben? Ich hasse sie mit ganzem Ernst; sie sind mir zu Feinden geworden.“
Wir finden solche Passagen in ganz vielen Psalmen. Sie konfrontieren uns mit einer Welt voller Feindschaft und Gewalt. Der Beter schreit hier seine Angst vor Feinden heraus und er klagt Gott an. Im kirchlichen Stundengebet wurden diese Verse aus dem Psalm gestrichen, denn sie scheinen nicht in das Thema zu passen.
Aber es gibt auch einen Ansatz, der dafür plädiert, sie mitzulesen. Hier spricht ja ein Einzelner, der sich nicht nur über Gott freut, sondern auch an ihm leidet. Es gibt im gesamten Psalm viele klagende und anklagende Zwischentöne. Der Beter erlebt Gott nicht nur als schützende Macht, sondern aus als Last und als Hemmnis. Er fühlt sich von Gott belagert und in die Pflicht genommen. Er würde sich dem gerne entziehen. Doch das gelingt ihm nicht, und zum Schluss fügt er sich und findet einen positiven Zugang zu Gott.
Es ist hier also sowieso nicht alles nur harmonisch und schön. Der Beter hat viele Fragen und innere Kämpfe. Er setzt sich mit sich selber, mit Gott und mit seiner Umgebung auseinander.
Und das steht auch hinter den Versen 19-22. Es geht darin nicht um eine aktuelle Bedrohung durch Feinde, um konkrete Menschen, die er „hasst“. Hier wird vielmehr eine strukturelle Gewalt angesprochen, das Böse im Allgemeinen. Der Beter erlebt Kräfte, die die Gesellschaft moralisch verderben und zersetzen. Und mit der Macht und dem Erfolg der Gewalttäter steht für ihn auch die Gotteswahrheit auf dem Spiel. Dagegen regt sich in ihm Widerstand und Kampf. Das will er nicht hinnehmen. Es ist ein Kampf gegen Verbrecher, die Gottes Gebote missachten und andere Menschen vernichten. Die beiden Verben „hassen“ und „verabscheuen“ kann man auch mit „bekämpfen“ oder „etwas dagegen tun“ übersetzen.
Dabei drängt es diesen Beter wahrscheinlich nicht von Natur aus zu diesem Kampf gegen die Bösen und das Chaos. Das geht aus den ersten Versen hervor, die darauf hindeuten, dass er sich lieber aus allem heraushalten möchte. Er fühlt sich mystisch mit Gott verbunden. Aber er erkennt, dass es einen Zusammenhang zwischen seiner individuellen Frömmigkeit und der Politik gibt, denn Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft bedrohen auch die Verbundenheit mit Gott und können sie zerstören. Sein Gottvertrauen macht ihn nicht blind für gesellschaftliches Unrecht. Er sieht sich selber vielmehr in Gefahr und er hat Angst. Und im Widerstand gegen das Unrecht und die Gewalt geht ihm dann auf, wer er selber ist, und was Gott alles für ihn tut.
So können wir die übrigen Verse aus diesem zweiten Teil verstehen und einordnen.
2. Auslegung
13: Der Teil beginnt mit der Aussage: „Denn du hast meine Nieren bereitet und hast mich gebildet im Mutterleibe.“ Wir erkennen an dem „du“, mit dem der Beter Gott direkt anspricht, dass hier ein neuer Abschnitt beginnt. Mit dieser Aussageform der direkten Anrede hat der Psalm ja auch begonnen. Der Beter knüpft jetzt also an die Beschreibung seiner innigen Beziehung zu Gott in den ersten Versen an. Er reflektiert sie nun auf Gottes Beteiligung am kunstvollen Werden des Menschen im Mutterleib hin, und bringt damit zum Ausdruck, dass er an Gottes Allwirksamkeit glaubt: In allem ist Gottes gutes Werk und Schaffen erkennbar, also auch in der eigenen Existenz. Sein Leben gehört nicht ihm selber, sondern er hat es Gott zu verdanken. Er ist der Herr und Gestalter, der jedes einzelne Wesen geschaffen hat und kennt. Schon im Mutterleib hat Gott ihn „gewoben“, wie es wörtlich heißt. Hinter seinem Leben stehen also eine verborgene Absicht, ein Plan und ein Gedanke. Er fühlt sich eingeschlossen in das Wunder der Wirksamkeit Gottes. Er ist ein Teil des Geheimnisses Gottes. Gott ist in ihm und um ihn herum.
V. 14: Und das erfüllt den Beter mit Ehrfurcht und Dankbarkeit. Das sagt er im nächsten Vers, der lautet: „Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele.“ Wörtlich heißt es: „Ich preise dich dafür, dass ich so außergewöhnlich bin.“ Er erkennt, was für ein wunderbares Werk er selber ist, wertvoll und einmalig.
V. 15: Diesen Gedanken verfolgt er im nächsten Vers weiter. Er sagt dort: „Es war dir mein Gebein nicht verborgen, als ich im Verborgenen gemacht wurde, als ich gebildet wurde unten in der Erde.“ Der Beter stellt sich also die Zeit vor seiner Geburt vor: Da war er verborgen im Mutterleib, aber Gott kannte ihn bereits. Er beschreibt das noch mit einem Bild: Er vergleicht den Mutterleib mit dem Mutterschoß der Erde und stellt sich den wie eine geheime Werkstatt tief unten in der Erde vor, in der Gott seine Geschöpfe bildet. Der biologische und der mystische Ursprung des Menschen sind hier miteinander verwoben, und Gott hat das Webmuster entworfen.
V. 16: Dazu passt auch die nächste Aussage, die lautet: „Deine Augen sahen mich, als ich noch nicht bereitet war, und alle Tage waren in dein Buch geschrieben, die noch werden sollten und von denen keiner da war. Der Beter bekennt, dass Gott ihn schon gesehen hat, als er noch ein ungestaltetes Knäuel war, vor der Geburt. Und er hat die Lebenstage in sein „Buch des Lebens“ eingetragen. Das ist eine weiteres Bild: Der Beter stellt sich vor, dass es so etwas wie ein Schicksalsbuch gibt, das von Gott geschrieben wird. Und dieses geschriebene Wort wird Wirklichkeit. Denn in dem Buch stehen die Tage schon bevor sie da sind, bevor sie gebildet sind.
V. 17+18: Die nächsten beiden Verse beginnen mit dem Fragewort „Wie?“ Es taucht gleich zweimal auf. Der Beter gebraucht es allerdings weniger als Fragewort, denn als Ausruf. Er sagt: „Aber wie schwer sind für mich, Gott, deine Gedanken! Wie ist ihre Summe so groß! Wollte ich sie zählen, so wären sie mehr als der Sand: Am Ende bin ich noch immer bei dir.“
Der Beter bezieht sich damit auf all das, worüber er vorher nachgedacht hat, auf das Wissen und die Allmacht Gottes, die er an seinem eigenen Leib erkennt und erlebt, seine Allgegenwart und Allwirksamkeit. Er malt sich aus, wie es wäre, über die Gedanken Gottes einmal Buch zu führen, sie alle aufzuschreiben und zu erfassen. Mit vielen Dingen kann man das ja: Man kann Geld, Dinge und auch Menschen zählen, Ereignisse in der Geschichte aufschreiben, Familienchroniken verfassen usw. Aber mit den Gedanken Gottes geht das nicht. Es wäre so, als würde man Sandkörner zählen wollen, eine Aufgabe, an der man scheitern würde, denn es sind zu viele. Der Beter kann Gott also nicht erfassen wie andere Dinge im Leben. Er käme nie an ein Ende, wenn er es wollte, sondern würde immer wieder bei der Einsicht landen, dass Gott unfassbar ist.
V. 19-22: Doch das ist für ihn nicht nur beruhigend, es plagt ihn auch. Denn er kann Gottes Weltplan, den er bisher beschrieben hat, mit der Welt, in der er lebt, nicht zusammenbringen. Er kommt nun zu dem Problem, das er hat. Die Verse 17-18 gehören inhaltlich schon zu den Aussagen über die Gottlosen und die Männer, an deren Händen Blut der Gewalt und der Ausbeutung klebt, die Götzendienst treiben und über Gott spotten, seinen Namen beschwören und sich doch seinen Geboten widersetzen. Die Klage darüber bricht jetzt aus dem Beter heraus. Er leidet darunter, dass es das Böse gibt. Aber er will an der Gotteswahrheit festhalten und ihr auch den Weg ebnen. Er kämpft gegen den Gotteshass und macht Gottes Sache zu seiner eigenen. Und der beste Weg, das zu tun, besteht in dem, was er am Ende sagt.
V. 23-24: In den letzten beiden Versen konkretisiert der Beter, wie er sich den Kampf gegen die Gottlosen vorstellt. Er sagt: „Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz; prüfe mich und erkenne, wie ich’s meine. Und sieh, ob ich auf bösem Wege bin, und leite mich auf ewigem Wege.“ Das ist sein Abschlussgebet, mit dem er die Aussage, die ganz am Anfang steht, noch einmal aufnimmt. Er möchte, dass Gott ihn durchschaut und prüft. Gott soll sein „Herz“ erkennen. Damit meint er sein Innerstes, den Sitz der Lebenskraft, das Zentrum des geistigen und seelischen Lebens. Im Herzen entstehen Gefühle, Gedanken und Vorstellungen. Auch alle Pläne und Entschlüsse kommen letzten Endes aus dem Herzen. So dachten die Hebräer.
Und der Beter weiß, dass er in Gefahr ist. Auch er könnte auf den Weg der Gottlosigkeit abrutschen. Das Leben fordert immer wieder Entscheidungen, denn es gibt viele Wege, die man gehen kann. Oft weiß man nicht, was bei dem einen oder anderen herauskommt, was das Richtige und Gute ist. Deshalb bittet der Beter Gott darum, die Wege für ihn zu überprüfen. Er möchte gerne das wahre Leben finden, das Leben mit Gott und vor Gott, das dauernden Bestand hat. Aber dabei muss Gott selber ihm helfen. Er kennt seine eigene Unzulänglichkeit, seine Schwäche, die ihn manchmal vielleicht auch das Falsche tun lässt. Es führt dann ins Leid und in den Schmerz, in das Böse und das Chaos. Aus eigener Kraft kann er das nicht vermeiden. Deshalb vertraut er sich Gott an. Gott möge ihn führen, dann wird das Chaos vertrieben, und das Leben wird gelingen.
3. Anwendung
Es gibt wie gesagt Theologen, die die Verse über den Feindeshass ignorieren und am liebsten aus dem Psalm streichen würden. Aber wenn man das tut, wird man dem Psalm nicht gerecht. In gewisser Weise sind sie sogar der Höhepunkt, denn hier offenbart der Beter die Fragen, die er hat, die Probleme, auf die er mit seinem ganzen Gebet eine Antwort sucht. Wir gewinnen einen Einblick in seine Seele, er öffnet uns die Tür zu seinen innersten Gedanken, zu dem, worüber er nachgrübelt. Man kann die Verse also sogar als den Schlüssel zu dem Psalm verstehen. Der Beter beschreibt das Leid, aus dem er einen Ausweg sucht.
Und das können wir gut auf unser Leben anwenden, denn Leiden kennen wir auch. Auch wir haben unzählige Fragen und Probleme, Dinge, die wir „hassen“, die wir überwinden möchten und gegen die wir ankämpfen.
Das kann im Moment z.B. die Pandemie sein, in der wir leben, die bedrohliche Krankheit, die Entscheidungen der Politik, Konflikte, die daraus entstehen, Trauer, Ängste, Unsicherheit.
Aber auch unabhängig davon gibt es in jedem Lebenslauf viele Nöte, Verletzungen, Enttäuschungen, Niederlagen, Bedrohungen, Gefahren. Wir reagieren darauf mit Sorgen oder mit Wut, mit Kummer oder mit Ärger, mit Depression oder Aggression. All das ist nicht heilsam, es hilft uns nicht, wir finden keine Ruhe.
Genau die sucht aber der Psalmbeter und er beschreibt einen Weg, auf dem auch wir sie finden können. Der Beter konzentriert sich nämlich nicht auf all die Fragen, die er hat. Er wendet sich vielmehr an Gott und dankt ihm für alles Gute. Er spürt sich selber und erlebt sich auch in der Anfechtung als wunderbares Werk Gottes.
Und das können wir genauso tun. Anstatt uns auf unsere Probleme zu konzentrieren und darüber nachzugrübeln, gilt es, dass wir dazu in Distanz gehen und einen anderen Weg wählen, als die direkte Lösung zu suchen. Wir müssen dafür nur uns selber nahe kommen, in unser Inneres einkehren, und uns als Werk Gottes wahrnehmen. Unser Dasein ist kein Zufall. Jeder und jede von uns ist ein Gedanke Gottes. Wir sind sein Geschenk an uns selber. Unsere Existenz hat ihn als Vorzeichen.
Wenn wir unser Leben so verstehen und das erkennen, werden wir sein Wirken am eigenen Leibe erfahren. Wir merken: Es gab von Anfang an noch mehr als das, was wir sehen oder hören. Wir leben in einer Wirklichkeit, die nicht mit den Sinnen, sondern nur mit der Seele und dem Geist wahrnehmbar ist. Es ist die Gegenwart Gottes.
Wir spüren sie, wenn wir uns Gott zuwenden, zu ihm beten und ihm danken. Wir finden dann den „ewigen Weg“, bei dem wir von allen negativen Gedanken befreit werden. Wir spüren die Kraft Gottes und erkennen das Gute, das durch nichts zerstört werden kann. Alles Böse hat eine Grenze. Es kann niemals den Schöpfer überwinden, der unser Leben in der Hand hält. Wenn wir uns zu ihm hinneigen, schafft er unser Leben immer wieder neu.
Es gilt also, dass wir zu unserem Leben „Ja“ sagen, auch zu dem Leid, das es mit sich führt. Wir dürfen wissen, dass wir nie allein sind, auch dann nicht, wenn es uns eventuell so vorkommt, in Krankheit und Schwäche, beim Älterwerden und im Sterben. Wir sind zu jeder Zeit bei Gott geborgen, ganz gleich, was geschieht.
Und auf ihn vertrauen können wir immer. Das ist unabhängig von der äußeren Situation. Es gibt unserem Leben einen Sinn, der über Zeit und Raum hinausgeht. Wir finden einen Halt, der unerschütterlich ist. Dazu möchte der Psalm uns einladen. Er möchte uns dahinführen, uns selber zu spüren und uns im Vertrauen auf Gott zu üben. Lasst die negativen Gedanken los und denkt an das Gute, das Gott uns schenkt. Dann werdet ihr gestärkt und zuversichtlich, ruhig und fröhlich.
verwendete und teilweise zitierte aber nicht im Einzelnen angegebene Literatur:
- Erich Zenger, Psalmen Auslegungen, Band 2: Ich will die Morgenröte wecken, Freiburg, Basel Wien, 2. Aufl. 2006, S. 240ff
- Artur Weiser, Die Psalmen II, ATD 15, Göttingen 1987, S. 552ff
Einführungen zu Texten von Madeleine Delbrêl
Stilles Wochenende im Gethsemanekloster Riechenberg
„Beten mit Madeleine Delbrêl“
30.1.- 2.2.2020
Vorbemerkung und Literaturhinweise
Madeleine Delbrêl war eine französische Poetin, Sozialarbeiterin und katholische Mystikerin. Sie wurde 1904 in Mussidan geboren und starb 1964 in Ivry-sur-Seine. In ihrer Jugend war sie eine überzeugte Atheistin. Eine Lebenskrise und der damit verbunderne intensive Suchprozess lösten in der Zwanzigjährigen aber eine Erfahrung aus, die sie als „überwältigende Bekehrung“ bezeichnete: die Begegnung mit dem lebendigen Gott. Im Evangelium Jesu Christi hat sie eine Form dafür gefunden, aus diesem „unerhörten Glück“ zu leben und es mit anderen zu teilen.
Man nennt sie auch „Mystikerin der Straße“, weil sie bewusst mitten in der Welt gelebt und den Menschen in ihrer nächsten Umgebung die Liebe Gottes weitergegebn hat. Sie lebte als Mensch unter Menschen und praktizierte eine Spiritualität mitten im Alltag. Sie weigerte sich, zwischen profanem und religiösem Leben zu unterscheiden.
Sie hat viele Gedichte, Gebete und andere Texte verfasst und damit einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Ihre Gedanken und ihre Einstellung zum Leben sind heutzutage sehr gut nachvollziehbar und zugänglich, denn alle ihre Schriften sind auf Französisch in einem „Gesamtwerk“ erschienen, das zwölf Bände hat. Die Ausgabe ist von 2004 bis 2014 entstanden.
In deutscher Sprache gibt es sechs Bücher:
„Wir als Nachbarn der Kommunisten“ (1975), „Gebet in einem weltlichen Leben“ (61992), „Auftrag des Christen in einer Welt ohne Gott“ (22000), „Frei sein für Gott“ (1979), „Die Liebe ist unteilbar“ (22002) und „Der kleine Mönch“ (61986).
Anlässlich ihres 50. Todestages am 13.10.2014 wurde dann zudem ein Lesebuch herausgegeben unter dem Titel „Deine Augen in unsern Augen“ (München, Zürich, Wien, 22015). Annette Schleinzer, ehat darin eine Sammlung von Texten zusammengestellt, eine Theologin, die 1993 über M.D. promoviert und sich seitdem mit ihr beschäftigt hat. Sie lebt im Umfeld des Benediktinerklosters Huysburg bei Halberstadt. Ihr Buch ist also eine schöne Fundgrube.
Außerdem gibt es im deutschsprachigen Raum zwei neue Bücher von der promovierten Theologin Rosemarie Nürnberg, einer Seelsorgerin und Spezialistin für christliche Spiritualität. Sie ist im Radio zu hören, hält Vorträge und arbeitet im Erzbistum Köln. Von ihr gibt es die Bücher: „Ergriffen von Gott, Exerzitien mit M.D.“ (München, Zürich, Wien, 2017, zit. : „Exerzitien“) und „Anders beten, Impulse von M.D.“ (München, Zürich, Wien, 2015, zit.: „Anders beten“) Rosemarie Nürnberger hat die Gedanken von M.D. in diesen Büchern wunderbar geordnet und für uns verständlich und nachvollziehbar zusammengestellt. Wenn man mit Madeleine Delbrêl beten möchte, ist dem nichts hinzuzufügen. Da die Werke für ein Stilles Wochenende aber zu umfangreich sind, habe ich daraus eine Auswahl getroffen, d.h. etwas weggelassen. Die Themen für unsere Einführungen und auch etliche Formulierungen stammen demnach aus dem Exerzitienbuch. Ich habe die Zitate nicht überall als solche gekennzeichnet, durch die Kapitelüberschriften sind sie aber leicht zu finden.
Erste Einführung: „Rendezvous mit Christus“
(Exerzitien S.35ff)
1. Hinführung
Die Texte, die ich an den Anfang gestellt habe, handeln vom „Wort Gottes“, denn das ist das erste, was wir von M.D. lernen können: Das Wort Gottes „in uns hinein zu lassen“. (Exerzitien S. 43) Die Zitate stammen aus dem „Lesebuch“ und handeln davon, wie wir Christus begegnen können. Der erste Schritt besteht nämlich darin, dass wir die Heilige Schrift lesen oder hören. Wie anders sollte er sich auch offenbaren, wenn nicht durch sein Wort? Das war ebenso bei M.D. ausschlaggebend, und sie hat Zeit ihres Lebens im Wort Gottes gelesen. Sie hat sich auch dazu geäußert, wie wir das am besten tun sollen, und deutlich gemacht, dass das keine Lektüre wie alle anderen ist. Sie sagt: „Lass zu, dass das Wort Gottes in dir geschieht! Erlaube diesem Wort, dass es sich in deinem Leben auswirkt!“ (Exerzitien S.43) Darum geht es in folgendem Text:
Das Evangelium ist das Buch des Lebens des Herrn und ist da, um das Buch unseres Lebens zu werden. Es ist nicht da, um verstanden zu werden, sondern dazu, dass man sich ihm annähert – als Schwelle zum Geheimnis.
Es ist nicht da, um gelesen, sondern um in uns aufgenommen zu werden.
Jedes seiner Worte ist Geist und Leben. Behende und frei warten sie nur auf die Begierde unserer Seele, um in sie einzuströmen. Als lebendige Worte sind sie wie ein Sauerteig, der unseren Teig angreifen und mit dem Ferment des neuen Lebens durchdringen will.
Die Worte der menschlichen Bücher werden verstanden und geistig erwogen.
Die Worte des Evangeliums werden erlitten und ausgehalten.
Wir verarbeiten die Worte der Bücher in uns. Die Worte des Evangeliums durchwalken uns, verändern uns, bis sie uns sozusagen sich einverleiben …
Wenn wir unser Evangelium in Händen halten, sollten wir bedenken, dass das Wort darin wohnt, das in uns Fleisch werden will, uns ergreifen möchte, damit wir – sein Herz auf das unsere gepfropft, sein Geist dem unseren eingesenkt – an einem neuen Ort, zu einer neuen Zeit, in einer neuen menschlichen Umgebung sein Leben aufs Neue beginnen.
Wer sich auf diese Weise in das Evangelium vertieft, verzichtet auf das eigene Leben, um ein Schicksal zu empfangen, das Christus zu seiner alleinigen Form hat.
Œvre complètes III, Paris 2005, S. 56ff
Das Evangelium ist kein Buch unter andern: Es ist wie eine Begegnung, die Christus jedem und jeder von uns schenkt, bis ans Ende der Zeiten; eine Begegnung von Person zu Person, ein wahres, intimes, konkretes Herz-zu-Herz.
Die Liebe ist unteilbar, Einsiedeln 2000, S. 48
2. Auslegung
Das Evangelium ist kein Buch wie jedes andere, das wir einfach nur lesen und uns dabei bilden oder vergnügen. Es ist vielmehr lebendig und bietet eine Begegnung, ein Zusammensein, ein „Rendezvous mit Christus“, wie es im französischen Original heißt, denn es ist „das Buch des Lebens des Herrn“. Unter Rendezvous verstehen wir ein „Stelldichein“, die Verabredung zweier Menschen, die einander nahestehen, ein Treffen und eine Begegnung.
Ein solches Rendezvous schenkt Christus jedem und jeder von uns durch seine Worte im Evangelium. „Das Evangelium ist kein Buch unter andern: Es ist wie eine Begegnung, die Christus jedem und jeder von uns schenkt, bis ans Ende der Zeiten; eine Begegnung von Person zu Person, ein wahres, intimes, konkretes Herz-zu-Herz.“ Das Evangelium „ist dafür da, das Buch unseres Lebens zu werden.“ So drückt M.D. das aus.
Sie fügt hinzu, dass man es überall lesen oder hören, es bei sich tragen, es an einem Wendepunkt im Leben ergreifen kann, oder im gewöhnlichen Alltag, in einer Kirche, in der Küche, auf offenem Feld oder im Büro. Das betont M.D. an vielen Stellen: Wir brauchen keine besonderen Orte, um Christus zu begegnen, es kann immer und überall geschehen. Was nun das Lesen des Evangeliums betrifft, so greift man dann zwar selber nach dem Buch, wird aber von den Worten ergriffen, die man liest, denn sie sind Geist. M.D. sagt: Das Evangelium „ist nicht da, um verstanden zu werden, sondern dazu, dass man sich ihm annähert – als Schwelle zum Geheimnis. Es ist nicht da, um gelesen, sondern um in uns aufgenommen zu werden. Jedes seiner Worte ist Geist und Leben.“ Man nimmt es also auf, trägt es dann in sich und nimmt es mit sich auf den Weg.
In ihrer Gemeinschaft hat M.D. mit den anderen im Evangelium Zuflucht gesucht und gefunden. Sie haben sich „betend, suchend und aufmerksam hörend“ um die Person Jesu versammelt, um das, was er gesagt und getan hat, in sich aufzunehmen. Sie haben ihr Leben mit Jesus in Kontakt gebracht, so, wie es ist, und erfahren, dass er es dabei immer wieder zu dem werden ließ, was es sein soll. (Exerzitien S. 39f)
Das heißt, dass beide Seiten aktiv sind, wie bei jedem Rendezvous. Der oder die Lesende oder Hörende muss etwas wollen und suchen, aufmerksam sein, eine „Begierde der Seele“ mitbringen, damit die Worte in sie „einströmen“ können. Es sind „lebendige Worte wie ein Sauerteig, der unseren Teig angreifen und mit dem Ferment des neuen Lebens durchdringen will.“ Das ist ein schönes Bild, das besagt, dass etwas mit uns geschieht, wenn wir auf diese Weise Christus begegnen, er durchdringt unsere Seele mit neuem Leben, verändert uns, füllt uns mit Kraft.
Ein Vorbild ist für M.D. dabei Maria, die zu Füßen Jesu sitzt und auf seine Worte hört, weil sie sich nach der Kraft und dem Leben sehnt, das er mit sich bringt. (Lukas 10,38-42) Sie ging davon aus, dass die Worte Jesu „in ihr geschehen“. Das Wort des Herrn ist also aktiv. Unser Beitrag für die Begegnung ist dagegen eine bewusste Entscheidung, etwas geschehen zu lassen, passiv zu sein, zu empfangen. Wir müssen das Wort und seine Wirkung zulassen. Dann macht es etwas mit uns. Es ist also ganz anders als die „Worte der menschlichen Bücher“, die wir „verstehen und geistig erwägen“. Wir müssen nicht klug sein, brauchen nicht unseren Verstand und unser Urteilsvermögen, sondern viel eher Leidensbereitschaft und Geduld. „Die Worte des Evangeliums werden erlitten und ausgehalten“, sagt M.D.
Die Worte anderer Bücher „verarbeiten“ wir, d.h. wir nehmen sie auf, denken darüber nach, diskutieren vielleicht, schreiben Abhandlungen und Doktorarbeiten. Sie fordern unsere Gelehrsamkeit, und manchmal verändern wir sie dabei auch. Mit dem Evangelium ist es genau umgekehrt: „Die Worte des Evangeliums durchwalken uns, verändern uns, bis sie sich uns sozusagen einverleiben.“ Denn das Evangelium enthält viel mehr, als andere Bücher, Christus ist darin gegenwärtig und sein Wort will „in uns Fleisch werden und uns ergreifen.“
Dafür gebraucht M.D. noch ein weiteres schönes Bild: „Sein Herz wird auf das unsere gepfropft“. Das Aufpfropfen ist ein Vorgang aus der Züchtung von Pflanzen und Gehölzen und dient der Pflanzenveredelung: Ein Edelreis wird auf eine gewöhnliche Unterlage gesteckt, einen Ast oder abgesägten Stamm, und wächst dort an. Dadurch entsteht ein neuer Strauch. Die beiden Gehölze wachsen zusammen. Und so ist es mit dem Wort Christi in unserer Seele: Es wächst an, und er selber wird in uns lebendig.
Und das hat zur Folge, dass er auch in der Welt lebt, hier und heute. „Sein Geist wird dem unseren eingesenkt“, sagt M.D. und so kann „sein Leben an einem neuen Ort, zu einer neuen Zeit, in einer neuen menschlichen Umgebung aufs Neue beginnen.“ Wie anders sollte er auch in der Welt gegenwärtig sein, wenn nicht durch die Menschen, die an ihn glauben und sich mit ihm verbinden, seinen Geist aufnehmen und ihn in sich einsenken lassen. M.D. formuliert das so: „Wer sich auf diese Weise in das Evangelium vertieft, verzichtet auf das eigene Leben, um ein Schicksal zu empfangen, das Christus zu seiner alleinigen Form hat.“
Christus hat geliebt und gelitten, er war gehorsam und von Gott erfüllt. Er hat sich ganz dem Willen Gottes untergeordnet und sich den Menschen zugewandt. So wird auch unser Leben. „Das Wort Gottes wird uns befruchten, verwandeln, erneuern“, (Exerzitien, S. 44) und das „Leben wird ein Fest“, wie M.D. an anderer Stelle sagt. Jede Begegnung, jedes Erlebnis verändert sich, wenn wir sie in der liebenden Beziehung zu Gott tun. Und das kann in jeder Minute geschehen, in jedem Augenblick, mitten in dem, was uns gerade begegnet, in dem Menschen, der eben jetzt auf uns zukommt. So war es bei Christus, so war es bei M.D., und so kann es auch uns gehen.
3. Anwendung
Wenn wir das nun auf unser Leben anwenden wollen, helfen uns drei Fragen: (Exerzitien, S. 46)
- Wie lese ich die Bibel?
Sicher leben wir alle mit ihr und kennen auch viele Geschichten und Sprüche daraus. Und möglicherweise haben wir so einige Probleme, denn die Bibel ist ja nicht immer verständlich, es ergeben sich Widersprüche und Fragen, auch Zweifel und vielleicht sogar ein gewisser Überdruss. Es ist oft trocken und langweilig, oder auch verwirrend und verstörend, in der Bibel zu lesen. Deshalb gibt es ja die Theologen, die „Schriftgelehrten“, die uns helfen, damit umzugehen. Und die sind auch wichtig. Ich finde schon, dass wir versuchen sollten, die Bibel so gut es geht, zu erforschen. Aber das kann kein Selbstzweck sein. Es muss vielmehr dem dienen, was M.D. beschreibt: Dass wir Gott begegnen, bzw. Jesus Christus. Mit dieser Voreinstellung sollten wir deshalb die Bibel lesen, mit der Vorentscheidung, dass das möglich ist. Wir können jede Geschichte mit der Frage lesen: Was ist darin jetzt für mich wichtig? Was will Gott mir sagen?
Damit hängt die grundsätzliche Frage zusammen, die wir uns als zweites stellen können:
- Was erwarte ich von Gott? Ist er für mich lebendig, was soll er in meinem Leben bewirken, was traue ich ihm zu?
Erst dann werden wir empfangsbereit und offen. Wir geben ihm eine Möglichkeit, seinen „Geist in uns einzusenken“.
Und als drittes können wir uns fragen:
- Wie geht es mir, wenn ich nach seinem Wort handle, d.h. mich selber zurückstelle und seinen Geist wirken lasse?
Das haben wir sicher alle schon versucht und damit unsere Erfahrungen gemacht. Es heißt nicht, dass wir nach einer bestimmten Moral agieren, uns Gesetze auferlegen und fromme Programme abhaken. Wenn wir das tun, ist es nicht wirklich Gott, der uns anleitet. Das merken wir daran, dass es uns anstrengt und ermüdet. Wenn Gott uns wirklich „befruchtet und erneuert“, müsste eine stille und erfüllende Freude entstehen. (Exerzitien, S. 47) Das kann der Maßstab sein, der uns hilft, das Wort Gottes in der Weise zu lesen und zu hören, die M.D. uns vorschlägt. Darauf sollten wir also achten, dann kann das „Rendezvous mit Christus“ gelingen.
Zweite Einführung: „Gebet in einem weltlichen Leben“
(Exerzitien S.48ff)
1. Hinführung
Wenn wir uns mit dem beschäftigen, was M.D. über das Gebet und den Glauben geschrieben hat, könnte man annehmen, dass sie zurückgezogen gelebt hat, ganz auf Gott ausgerichtet, in einem kontemplativen Kloster, abseits der Welt. Aber das ist nicht der Fall. Sie hat keinen Schutz von Mauern um sich herum gebraucht, keine Einsamkeit und Stille, sondern hat ihre Spiritualität gerade mitten im Alltag gelebt. Tag für Tag war sie im Einsatz – zunächst als engagierte Sozialarbeiterin in einem Arbeitervorort von Paris, dann als aufmerksame Leiterin ihrer geistlichen Gemeinschaft. Und diese hatte sie auch nicht gegründet, um nur noch zu beten, sondern um Menschen in Not ein offenes Ohr und eine helfende Hand zu bieten. Sie war also gut beschäftigt und hatte einen ausgefüllten Tag mit vielen Aufgaben, Begegnungen, Gedanken und Gesprächen.
Und sie wusste: So geht es vielen Menschen: Sie haben immer weniger Zeit, sind getrieben, stehen unter Druck, machen sich Sorgen und Gedanken. M.D. hat erkannt, wie schwierig es deshalb geworden ist, einen Zeit-Raum für Gott zu finden und freizuhalten. Es scheint manchmal unmöglich zu sein. Sie sagt dazu: „Man kann heute nicht mehr beten wie früher, es sei denn, man wäre in einem Kloster oder in einer bestimmten außergewöhnlichen Lebenslage. Doch folgt daraus keineswegs, dass man nicht mehr beten soll, nur anders wird man beten müssen, und dieses anders gilt es zu entdecken.“ (Exerzitien, S. 49)
Es geht also darum, ganz individuell die Form herauszufinden, die für den Einzelnen oder die Einzelne möglich ist. Und dazu gibt M.D. interessante Anregungen, wie man mitten in einem weltlichen Leben seine ganz persönliche Art und Weise zu beten finden kann. Hier ist ein sehr origineller Vorschlag:
In das beschäftigtste, umhergeworfenste Leben dringen dennoch, wie feiner Staub, leere Zeitteilchen ein. Sieht man sie – man sieht sie nicht immer –, so müsste man auf den Gedanken kommen, sie zusammenzulegen oder aneinanderzureihen und dadurch ein Stück verwertbare Zeit zu gewinnen. Wenn wir behaupten, Beten sei unmöglich, so müssen wir uns auf die Suche nach diesem Zeitstaub machen und ihn so, wie er ist, verwerten. In weiten Gebieten der Welt kennen die Leute als Brennstoff nur Holz – anderswo Holz und Kohle. Aber es gibt auch Öl. Um eine Ölschicht zu erreichen, spielt die Ausdehnung keine Rolle. Man braucht nicht Tausende von Quadratkilometern auszubeuten, auch kein System unterirdischer Stollen anzulegen. Man bohrt senkrechte Schächte, deren Öffnung lächerlich eng ist. Aber man dringt so tief hinunter wie nötig, um die Ölschicht zu erreichen.
Heutzutage ist in manchem städtischen Leben das Gebet nur durch Bohrungen möglich, wobei Intensität bzw. Innigkeit die Dauer ersetzt. Solch ein kräftiges, unsichtbares Hinabtauchen strebt in der Tiefe zu Gott hin, in konzentrierten Akten des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe.
Gebet in einem weltlichen Leben, Einsiedeln 1974,
S. 82
Man wird sich überlegen müssen, ob fünf Minuten früher aufstehen, um den Tag mit Gott zu beginnen – wie verblödet, schlaftrunken, denkunfähig wir dann auch sein mögen – unserer Gesundheit ernstlich schadet. Ob es allen Ernstes eine Verletzung der Liebe ist, diese oder jene Person einen kurzen Augenblick warten zu lassen. Ob eine dringende geistige Arbeit wirklich leidet, wenn wir ihr fünf Minuten entziehen, bevor wir uns daransetzen. Ob die Dringlichkeit des Besens oder der Waschmaschine nicht ein paar Momente des Wartens verträgt, um sich ein Gebet zu gestatten; genauso wie sie es vertragen würde, wenn jemand uns rasch etwas sagen wollte … oder wenn das Telefon klingeln würde.
ebd. S. 83
2. Auslegung
Wir sind alle sehr beschäftigt und „umhergeworfen“, wie M.D. sagt. Das macht uns zu schaffen, wir klagen gern darüber, dass wir keine Zeit haben. Damit meinen wir Zeit für das, was wir eigentlich wollen. Wir haben oft das Gefühl, dass wir dazu nicht kommen. Wir schieben es vor uns her, denken daran, sehnen uns vielleicht auch danach. Denn es ist uns wichtig. Zu diesen Dingen, die wir zu verpassen scheinen, gehört auch Zeit für Gott. Wir wünschen sie uns, denn wir versprechen uns davon, dass wir dann einmal so richtig zur Ruhe kommen und uns entspannen. Hier im Kloster ist es nun endlich so weit. Aber vorher vergehen Tage und Wochen, ohne dass uns das gelingt. Manchmal sind wir wahrscheinlich auch kurz davor, den Wunsch aufzugeben, solche Zeiten regelmäßig und häufiger einzurichten. Unser Alltag lässt sie einfach nicht zu.
Doch das ist nicht nötig. Wir müssen uns nicht vom Gebet und einem regelmäßigen Umgang mit Gott verabschieden. Wir müssen bloß umdenken und uns von der Vorstellung trennen, dass Gott ganz viel Extra-Zeit von uns haben möchte. „Gott schenkt uns jederzeit eine Möglichkeit zu beten“ sagt M.D. Sie scheint uns bloß zu fehlen. Aber das ist ein Irrtum, und der liegt daran, dass wir eine falsche Vorstellung davon haben. Wir brauchen nämlich gar keine speziellen Zeit-Räume, weil es längst in jedem Tagesablauf so etwas „Zeitteilchen“ gibt, die wir nutzen können. Wir müssen sie nur entdecken.
Und dazu wird M.D. sehr konkret. Sie sagt dazu an anderer Stelle: Wir können unsere Augen zu Gott erheben z.B. während „die Suppe langsam aufkocht, während wir am Telefon darauf warten, dass sich jemand meldet, während wir an der Haltestelle nach dem Bus Ausschau halten, während wir eine Treppe hinaufsteigen, während wir im Garten für den Salat ein wenig Petersilie holen.“ Und selbst eine Verspätung, von Menschen oder Verkehrsmitteln bietet eine günstige Gelegenheit zum Beten. (Anders beten, S. 68f) Alles kann zur Zeit für Gott werden, Zeit, um mit ihm in Kontakt zu treten. Man kann also vermeintlich verlorene Zeit zurückgewinnen und in gewonnene Zeit verwandeln. Wir müssen nur umdenken, und uns davon verabschieden, dass irgendwann etwas ganz Großes und Spezielles geschieht, das uns Gott näher bringt, dass es dabei um Alles oder Nichts gehen muss. Wir warten und warten darauf, aber diese Gelegenheit kommt nicht. „Was kommt, sind dagegen Umstände, die unsere Geduld erfordern“ (Anders beten S.64), doch genau die sind wertvoller, als wir meinen. Wir können sie bewusst für eine Begegnung mit Gott nutzen, alle Banalitäten, alle Widrigkeiten, alles, was uns nicht gefällt, was wir lästig und überflüssig finden. Letzten Endes gibt es so etwas gar nicht, denn jede Situation kann fruchtbar für das Gebet und den Glauben werden. Selbst wenn es nur kleinste „Zeitteilchen“ sind.
Man kann sie ja alle „zusammenzulegen oder aneinanderreihen und dadurch ein Stück verwertbare Zeit gewinnen. Wenn wir behaupten, Beten sei unmöglich, so müssen wir uns auf die Suche nach diesem Zeitstaub machen und ihn so, wie er ist, verwerten.“ „Ohne Zeitaufwand gibt es kein lebendiges Gebet. Aber nicht die Zeitdauer garantiert das Gebet, sondern der Wert der Zeit: was wir anderes mit ihr machen könnten.“ Das sagt M.D, dazu.
Es kommt also nicht auf die Länge der Zeit an, die wir für Gott investieren, sondern auf die „Intensität bzw. Innigkeit“. Das bringt sie wieder mit einem Bild zum Ausdruck, und zwar dem von der Tiefenbohrung, die wir bei der Ölgewinnung als Technik einsetzen. Dafür müssen nicht große Flächen verwüstet werden wie z.B. beim Abbau von Braunkohle. M.D. schreibt: „Man braucht nicht Tausende von Quadratkilometern auszubeuten, auch kein System unterirdischer Stollen anzulegen. Man bohrt senkrechte Schächte, deren Öffnung lächerlich eng ist. Aber man dringt so tief hinunter wie nötig, um die Ölschicht zu erreichen.“ So ähnlich ist es in einem „städtischen Leben“. Da ist das Gebet „nur durch Bohrungen möglich, wobei Intensität bzw. Innigkeit die Dauer ersetzt.“ Es ist wie ein „kräftiges, unsichtbares Hinabtauchen“, das „in der Tiefe zu Gott hin strebt.“
Das kann jeder und jede praktizieren und einüben. Und man muss das auch nicht dem Zufall überlassen. Oft wissen wir ja ungefähr, wie unser Tag abläuft, und können schon im Voraus diese kleinen Zeit-Zwischenräume auskundschaften. Dann gelingt es am ehesten, sie auch als günstige Gelegenheiten zum Gebet wahrnehmen zu können.
M.D. lehnt es also nicht ab, dass wir Stille Zeit machen und unseren Tag so entwerfen, dass dafür die Möglichkeit besteht. Wir dürfen bloß nicht mit zu großen Erwartungen da heran gehen und sollten einfach damit beginnen. Dazu kann es durchaus gehören, „fünf Minuten früher aufzustehen“. Es schadet uns ja nicht, macht uns nicht krank, sondern gibt uns die Möglichkeit, „den Tag mit Gott zu beginnen“. Dabei es macht es ihrer Meinung nach nichts, wenn wir „verblödet, schlaftrunken, oder denkunfähig“ sind. Ebenso wenig hält sie es für eine „Verletzung der Liebe“, „diese oder jene Person einen kurzen Augenblick warten zu lassen.“ Auch „eine dringende geistige Arbeit leidet“ nicht wirklich, „wenn wir ihr fünf Minuten entziehen, bevor wir uns daransetzen.“ Genauso verträgt im Haushalt „die Dringlichkeit des Besens oder der Waschmaschine ein paar Momente des Wartens, um sich ein Gebet zu gestatten“. Wenn das Telefon klingelt, gehen wir normaler Weise ja auch ran und lassen andere Dinge vorübergehend ruhen. Und wir hören zu, wenn jemand uns rasch etwas sagen will. Genauso ist es mit Gott: Er ruft immer mal wieder an, will zwischendurch mit uns reden, wir müssen nur offen dafür sein und darauf eingehen.
M.D. nennt diese „Zeitmulden“ auch „Blitzakte des Untertauchens in Gott“ (Exerzitien, S. 53), und sie haben in ihr „den Geschmack am Gebet neu geweckt“ und sie mit „der Quelle in Verbindung gebracht, mit dem Ursprung des lebendigen Wassers.“ So hat sie entdeckt, dass es möglich und auch notwendig ist, „mitten im weltlichen Leben zu beten“. Das beeinträchtigt das Leben nicht, „sondern im Gegenteil, es macht es lebbarer, weil es jetzt vom Unersetzlichen genährt wird.“ „Schon ein paar Minuten solchen Betens können uns Gott überantworten, restloser als viele vielleicht sehr gesammelte Stunden“. „Lediglich die Sehnsucht, Gott wirklich zu lieben, muss ihnen vorausgehen. Diese Sehnsucht macht das Gebet aus.“
3. Anwendung
Das sind die Gedanken Madeleines zu einem „Gebet in einem weltlichen Leben“, und die können wir sehr gut anwenden. Dabei helfen uns wiederum drei Fragen: (Exerzitien S. 61)
1. Wir haben hier im Kloster ja nun sehr viel Zeit, und wir haben sie uns extra für Gott und das Gebet genommen. Aber gelingt uns das auch? Welche Erwartungen haben wir, und verspüren wir den Wunsch nach einer innigeren Gottesbeziehung? Das ist die erste Frage, die wir uns stellen können. Vielleicht fühlen wir uns so, wie M.D. es beschreibt: Schlaftrunken und unkonzentriert. Das stört uns vielleicht und wir ärgern uns darüber. Doch das ist nicht hilfreich, im Gegenteil, es verhindert das Gebet erst recht. Anstatt dagegen an zu gehen, ist es viel besser, wenn wir uns das einfach nur bewusst machen und versuchen es, anzunehmen. Dazu gehören Geduld und Ausdauer, denn wir laufen auch nicht weg und lenken uns nicht ab. Wenn wir uns unwohl fühlen, sagen wir vielmehr „ja“ dazu und lassen unsere eigenen Vorstellungen vom Beten los. Dann entspannen wir uns am ehesten.
2. Die zweite Frage lautet dann: Wie aufmerksam sind wir für den „Zeitstaub“, die „Zeitmulden“, in denen uns die „Tiefenbohrung“ doch gelingt? Das passiert ja trotzdem, ganz unverhofft und überraschend. Wir sollten uns von der Vorstellung verabschieden, dass wir hier nun besonders fromm oder heilig werden, schon gar nicht aus eigener Anstrengung heraus. Es geht nicht um Alles oder Nichts. Wir werden mit Sicherheit nicht in irgendwelche göttlichen Sphären entrückt und alles andere verblasst. Wenn so etwas geschieht, ist das wohl möglich sogar eine Täuschung. Wichtiger als solche besonderen Erlebnisse sind die Atemzüge, mit denen wir mit Gott ins Gespräch kommen, die Augenblicke, die zu Gebeten werden. Gott bietet sie uns an, wir müssen sie nur entdecken und davon Gebrauch machen.
3. Und als drittes können wir uns fragen: Was machen wir, wenn wir nicht richtig beten können, nicht so, wie wir uns das wünschen? Wir können gerade daraus ein Gebet machen, und „ums Beten beten“, (Exerzitien S. 59f) d.h. Gott um seine Hilfe bitten. Wenn wir nicht weiterkommen, geht der Glaube voran. M.D. sagt dazu: „Erbitten wir vom Herrn das Gebet mit einer konkreten Bitte, in die wir unser ganzes Bündel hineinlegen, alles, worüber wir verfügen, selbst wenn es sehr wenig ist: unser ganzes bisschen Kraft, unser ganzes bisschen Zeit. All das, was wir in eine menschliche Bitte hineinlegen würden, die uns sehr am Herzen liegt.“ (Anders Beten S. 35f)
„Es kommt nicht darauf an, was wir Gott anbieten, sondern dass wir ihm alles geben, und sei es noch so dürftig. Das wird ihm genügen, weil wir uns ganz Gott anvertrauen. Wir werden offen und bereit, Gott wirken zu lassen. Wir werden daran erinnert, dass wir ganz von ihm abhängig sind.“ (Anders beten S. 36f)
Und das tut gut, das ist heilsam und unversehens kommen wir in die Ruhe, nach der wir uns sehnen.
Dritte Einführung: „Die Liebe ist unser Leben“
(Exerzitien S.79ff)
1. Hinführung
Wenn wir uns mit M.D. beschäftigen, entsteht eventuell die Frage, ob wir das, was M.D. uns sagt, wirklich anwenden können. Sie war ja ein besonderer Mensch, das könnte unser Einwand sein. Hans Urs von Balthasar, ein katholischer Theologe, der M.D. durch Übersetzungen im deutschen Sprachraum schon in den 70er Jahren bekannt gemacht hat, nennt sie sogar eine der „bedeutendsten Frauen des 20. Jahrhunderts.“ (Anders beten S. 18f). Und das stimmt, sie war durchaus eine ungewöhnliche und inspirierende Frau. Drei Eigenschaften bzw. Entscheidungen unterscheiden sie von den meisten anderen Menschen:
Erstens hatte sie ein starkes Bekehrungserlebnis, so etwas erfährt nicht jeder und jede von uns, und es muss bei ihr sehr tief gewesen sein. Gott ist ihr wirklich begegnet, seine Wirklichkeit ist in ihr geschehen, er hat sich in ihre Seele eingesenkt, hat sie herausgerufen und sie mit einer besonderen Aufgabe beauftragt. Sie hatte eine klare Berufung, so zu leben, wie sie gelebt hat. Sie ist wirklich umgekehrt und hat eine Richtung eingeschlagen, die sie dann nie wieder verlassen hat. Offensichtlich hatte sie auch nie Zweifel an Gott oder dem Evangelium, das kommt jedenfalls nirgends zum Ausdruck. Wir finden bei ihr keine Anleitung, wie man damit eventuell umgehen könnte. Gott war für sie da, wirklich und lebendig und hat ihr Leben in seine Hand genommen, es geprägt und gestaltet. Das kann wahrscheinlich nicht jeder und jede von uns so eindeutig von sich selber sagen.
Zweitens ist sie bewusst ehe- und kinderlos geblieben. Sie hat sich also zu einer besonderen Lebensform entschieden, die ihr natürlich mehr Freiräume gab, als das Leben mit familiären Pflichten. Auch wenn sie nicht ins Kloster gegangen ist, sich nicht aus der Welt zurückgezogen hat, so hat sie sich nie in so eine enge persönlich Beziehung begeben, wie Ehe und Kinder es bedeuten. Auch das unterscheidet sie von den meisten von uns.
Und drittens war sie klug und hatte eine schriftstellerische Begabung. Was sie aufgeschrieben hat, sind nicht nur gute Gedanken und Erfahrungen, sondern es ist auch wunderbar ausgedrückt, originell und kreativ. Sie war eine Poetin, hat anschauliche Bilder gefunden und mit dem „kleinen Mönch“ eine Figur geschaffen, wie Romanautoren es tun. Das ist natürlich auch etwas Besonderes.
Trotzdem ist ihre Botschaft nachvollziehbar, und wir können viel von ihr lernen. Selbst wenn wir nicht genauso leben und nicht so begabt sind wie sie, können wir damit etwas anfangen, denn sie hat sich in das wirkliche Leben hineinversetzt, kannte es, und hatte gute Ideen für alle. Sie hat bewusst versucht, den Glauben so zu leben, dass andere dem folgen können, und das ist ihr auch gelungen. Sie hatte einen ganz eigenen Realismus, deshalb können ihre Erfahrungen wegweisend sein. Sie hat präzise beobachtet, wie es den Menschen heutzutage geht.
Und entscheidend ist, dass es bei allem, was sie geschrieben und gelebt hat, letzten Endes um die Liebe geht. Und die steht jeder und jedem offen, dazu sind wir alle berufen und befähigt, sie ist die stärkste und grundlegendste Kraft, die uns antreiben und erfüllen kann. Davon handelt der dritte Text, den ich euch mitgebracht habe.
Die Liebe ist mehr als das, was man zum Dasein braucht;
mehr als das, was man zum Leben braucht;
mehr als das, was man zum Handeln braucht.
Die Liebe ist unser Leben, das zum ewigen Leben wird. Lassen wir die Liebe, so lassen wir unser Leben. Ein Akt ohne Liebe führt sofort zum Tod, ein Akt der Liebe zur Auferstehung im Nu.
Du kannst die Liebe nicht machen: Sie wird dir geschenkt. Unvollkommene Liebe ist ein unvollkommen empfangenes Geschenk – die vollkommene Liebe aber ein restlos empfangenes.
Die Liebe ist so umsonst, wie sie notwendig ist. Du gewinnst sie nicht wie einen Wettbewerb. Du gewinnst sie, indem du sie ersehnst, erbittest, empfängst und weiterverschenkst. Aneignen lässt sie sich nicht – aber man kann sie nach und nach kennenlernen, indem man Christus kennenlernt.
Der Glaube an Christus macht uns fähig zur Liebe; das Leben Christi enthüllt uns die Liebe; es zeigt uns, wie man die Liebe ersehnen, erflehen, empfangen soll. Der Geist Christi macht uns lebendig für die Liebe, handelnd aus Liebe, fruchtbar in Liebe.
Alles vermag der Liebe zu dienen, aber ohne sie wird alles unfruchtbar – vor allem wir selbst.
Œvre complètes III, Paris 2005, S. 106f
Unterwegs, beim Kochen, zwischen zwei Besuchen oder abends vor dem Einschlafen können wir an die Pforte des Herzens Gottes klopfen, um dort in der Sanftmut unterrichtet zu werden, die allein sein Geist … in uns verwirklichen kann. Bitten wir ihn, uns zu lehren, was es heißt, genauso wie er und an seiner Stelle sanftmütig zu sein. Denn er ist in uns, und wir sind Lügner, wenn wir nicht gütig sind wie er. Er möge uns lehren, anderen zuzuhören, zu ihnen zu sprechen, sie anzusehen, mit seinen Ohren, mit seinem Mund, mit seinen Augen. So gehen wir auf ganz erstaunliche Weise in die Gesinnung seines Herzens ein.
Die Liebe ist unteilbar, Einsiedeln 22002, S. 43
2. Auslegung
M.D. sagt: „Die Liebe ist unser Leben“, denn glauben und lieben hängen unmittelbar miteinander zusammen. Wenn der Glaube das Leben von innen her verwandelt, wird es ein Leben, das die Liebe Gottes kundtut und verwirklicht. Dabei sind die Gottes- und die Nächstenliebe untrennbar miteinander verbunden. Die Liebe zu Gott und den Menschen gehören unteilbar zusammen. Das heißt der Glaube wird sichtbar in Taten der Liebe, und umgekehrt: durch die Liebe bilden sich „Inseln der Transzendenz“, d.h. „Inseln göttlicher Anwesenheit“ (Exerzitien S.82). Denn für M.D. ist „die Liebe mehr als das, was man zum Dasein braucht; mehr als das, was man zum Leben braucht; mehr als das, was man zum Handeln braucht.“ „Glaube, Hoffnung und Liebe führen uns schon in dieser Welt zum ewigen Leben und lassen uns darin existieren.“ (Exerzitien S.80) Das ewige Leben beginnt für sie also schon jetzt, und zwar durch die Liebe, die uns teilhaben lässt an der Liebe, die Gott selber ist. Das ewige Leben bricht dadurch in die Zeit ein, und damit Gott selbst. Das liebevolle Handeln an den Menschen macht Ernst mit der Liebe Gottes. Sie kennt deshalb auch kein Maß. M.D. sagt dazu an anderer Stelle: „Alles muss bei uns zu finden sein: ein Glas Wasser, Brot für die Hungrigen, Nahrung auch im übertragenen Sinn und die Mittel, sie zu geben, ein Dach für die Obdachlosen, ein Besuch im Gefängnis und im Krankenhaus, Mitleid mit den Weinenden, indem wir mit ihnen weinen oder helfen, die Ursache ihrer Tränen zu beseitigen, Freundschaft für die Sünder und für die Unbeliebten, Nähe zu denen, die im Dunkeln stehen.“ In all dem wird eine „Spur der Liebe Gottes sichtbar“, „die Liebe wird zur Verkündigung“. (Exerzitien S. 86)
Wichtig ist dabei allerdings, dass „du die Liebe nicht machen kannst.“, wie M.D. sagt. Sie ist keine Leistung und kein Werk. Möglicherweise klingt das alles ja so ein bisschen nach einer neuen Form der Werkgerechtigkeit: Wir müssen Gutes tun, wenn wir gute Christen und Christinnen sein wollen. Aber das wäre ein Missverständnis. Die Liebe „wird dir geschenkt.“ sagt M.D., und wir können sie nur empfangen. Je empfangender wir werden, umso vollkommener wird auch unsere Liebe. Und sie ist „umsonst“. Wir können sie uns nicht verdienen, wir werden nicht damit belohnt, „du gewinnst sie nicht wie einen Wettbewerb.“ Die Liebe ist also ein Mysterium, ein Geheimnis. Man kann sie nur erlangen, „indem man sie ersehnt, erbittet, empfängt und dann weiterverschenkt. Aneignen lässt sie sich nicht – aber man kann sie nach und nach kennenlernen, indem man Christus kennenlernt.“
Das ist ein wichtiger Gedanke: Sie macht uns Christus ähnlich, der Glaube an ihn „macht uns fähig zur Liebe.“ „Das Leben Christi enthüllt uns die Liebe.“ Denn er war davon ganz erfüllt.
Ein schönes Wort, das in diesem Zusammenhang bei M.D. auftaucht ist „Güte“. Sie beobachtet, dass das aus der Mode gekommen ist. Keiner benutzt es noch. Aber für sie beinhaltet es ganz viel. Die Begegnung mit einem gütigen Menschen ist wie eine „echte, belebende Sauerstoffzufuhr für die Herzen“. Man gibt den Menschen dadurch etwas Wesentliches zurück, man trifft sie in ihrem Eigenwert. (Exerzitien S.89) Und das hat Christus uns vorgelebt und geschenkt. Er war durch und durch gütig und barmherzig. Von ihm kann man die „Liebe ersehnen, erflehen [und] empfangen“. „Der Geist Christi macht uns lebendig für die Liebe, handelnd aus Liebe, fruchtbar in Liebe.“ M.D. zitiert dafür oft das Wort Jesu aus dem Matthäusevangelium (11,28f): „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.“ Jesus selber lädt uns ein, zu ihm zu kommen und von ihm zu lernen. „Wir können diese Güte auch nur bei ihm und bei keinem anderen lernen.“ betont M.D. (Exerzitien S.91) „Nichts auf der Welt wird uns Zugang zum Herzen unseres Nächsten verschaffen als die Tatsache, dass wir Christus Zugang zu unserem Herzen gewährt haben.“, sagt sie an einer anderen Stelle. In dem Text, den ich mitgebracht habe steht das so: „Bitten wir ihn, uns zu lehren, was es heißt, genauso wie er und an seiner Stelle sanftmütig zu sein. Denn er ist in uns, und wir sind Lügner, wenn wir nicht gütig sind wie er. Er möge uns lehren, anderen zuzuhören, zu ihnen zu sprechen, sie anzusehen, mit seinen Ohren, mit seinem Mund, mit seinen Augen. So gehen wir auf ganz erstaunliche Weise in die Gesinnung seines Herzens ein.“
Und auch hier gilt wieder, dass das überall und immer geschehen kann: „Unterwegs, beim Kochen, zwischen zwei Besuchen oder abends vor dem Einschlafen können wir an die Pforte des Herzens Gottes klopfen, um dort in der Sanftmut unterrichtet zu werden, die allein sein Geist … in uns verwirklichen kann.“
Für M.D. ist das auch die beste Form der Verkündigung. Die realistische Güte ist das konkrete Zeugnis der Liebe Gottes, das in die „Augen, Ohren, die Hände, in das Herz der Menschen dringt.“ Dabei geht es immer um den Menschen, der gerade vor uns steht, der uns seine Sorgen erzählt., der uns vielleicht langweilt oder nervt. „Alles vermag der Liebe zu dienen.“ Und nur dadurch wird unser Leben fruchtbar.
3. Anwendung
Damit das nun geschieht, können uns wieder drei Fragen helfen.
- Wie ist es um die Güte in unserem Leben bestellt? Wann waren wir zuletzt gütig?
Wir handeln ja oft nach ganz anderen Kriterien, gerade in unserem Miteinander. Da stellen wir eher Ansprüche, haben Erwartungen und Vorstellungen von den anderen. Sie entsprechen dem häufig nicht: Unsere Partner haben Defizite, sie hören nicht zu, sind anstrengend, lieben uns nicht genug, sind entweder unzuverlässig oder zu streng und pingelig. Das sind unsere Gedanken, und es kommt zu heimlichen Vorwürfen. Wir ärgern uns und sind unterschwellig wütend.
Oft stören andere Menschen uns auch schlicht und ergreifend. Sie kommen ungelegen, halten uns von dem ab, was wir gerade machen wollen, sind zu laut, zu aufdringlich oder zu fordernd.
Und natürlich entstehen dadurch unzählige Konflikte, Spannungen, manchmal sogar Streit und es kommt zu Trennungen. Wir halten es oft nur schwer miteinander aus und leiden untereinander.
Und da hilft das, was M.D. uns sagt, sehr. Sie lädt uns zur „Güte“ ein, d.h. zur Nachsicht und Barmherzigkeit, zu Geduld und Ausdauer. Um die zu erlangen, ist es gut, wenn wir uns als zweites fragen:
- Was erleiden eigentlich die anderen durch mich? Wen habe ich enttäuscht, wessen Erwartungen erfülle ich nicht? Und wann haben ich das letzte Mal Güte erfahren?
Diese Fragen führen uns dazu, uns selbst zu erkennen und demütig zu werden, und das tut gut. Keiner und keine von uns ist vollkommen und muss es auch nicht sein. Es geht es nicht darum, uns zu verurteilen. Wir müssen uns nicht schlechter machen, als wir sind. Aber es ist gut, wenn wir uns eingestehen: Wir brauchen genauso viel Hilfe und Güte. Wir sehnen uns ja auch danach, und es heilt unsere Seele, wenn wir sie erleben, es richtet uns auf.
Es ist deshalb ein Glück, dass wir sie nicht vergeblich suchen müssen und sie bei Jesus Christus finden können. Er ist für uns da, so wie wir uns das wünschen. Er stillt unsere Sehnsucht, denn er nimmt uns an, wie wir sind. Bei ihm können wir zur Ruhe kommen, uns fallen und lieben lassen. Und damit empfangen wir seinen Geist. Je realistischer wir dabei uns selber gegenüber sind, umso eher kann seine Liebe in unser Leben einziehen.
- Und als drittes können wir uns fragen: Wie verkündige ich eigentlich die Liebe Christi?
Oft meinen wir ja, dass wir dafür eine besondere Ausbildung brauchen, Theologie studieren müssen, uns gut in der Bibel auskennen usw. Und weil wir das alles nicht vorweisen können, überlassen wir die Verkündigung anderen, den Profis. Wir trauen uns das nicht zu und halten lieber unseren Mund. Wir wollen uns auch nicht blamieren und keinen Gegenwind aushalten. Es macht keinen Spaß, wenn andere sich über unseren Glauben lustig machen, ihn abwerten oder ablehnen. Deshalb ziehen wir uns von der Verkündigung lieber zurück.
Doch das ist nicht nötig. Wir müssen es nicht aufgeben, Christus in der Welt zu bezeugen, denn es gehören gar nicht viele Worte dazu. Unsere Taten und unser Handeln sind viel geeigneter, um Christus in die Welt zu tragen. Wir können ihn mit unserem Leben verkündigen, überall, wo wir sind. Es kann ein Zeugnis für die Liebe Gottes werden. Wenn Menschen uns treffen, empfangen sie Gott, ob sie es nun wissen oder nicht. Wir dürfen davon ausgehen, dass er selber sich mitteilt, dass von seinem Geist etwas überspringt.
Betrachtungen zu Psalm 34
Stilles Wochenende: Beten mit den Psalmen, Gethsemanekloser Riechenberg, 6.-8.9.2019
Psalm 34: Gott sieht und hört den Gerechten
Lutherübersetzung
1 Von David, als er sich wahnsinnig stellte vor Abimelech und dieser ihn von sich trieb und er wegging.
(א) 2 Ich will den HERRN loben allezeit;
sein Lob soll immerdar in meinem Munde sein.
(ב) 3 Meine Seele soll sich rühmen des HERRN,
dass es die Elenden hören und sich freuen.
(ג) 4 Preiset mit mir den HERRN
und lasst uns miteinander seinen Namen erhöhen!
(ד) 5 Als ich den HERRN suchte, antwortete er mir
und errettete mich aus aller meiner Furcht.
(ה) 6 Die auf ihn sehen, werden strahlen vor Freude,
und ihr Angesicht soll nicht schamrot werden.
(ז) 7 Als einer im Elend rief, hörte der HERR
und half ihm aus allen seinen Nöten.
(ח) 8 Der Engel des HERRN lagert sich um die her,
die ihn fürchten, und hilft ihnen heraus.
(ט) 9 Schmecket und sehet, wie freundlich der HERR ist.
Wohl dem, der auf ihn trauet!
(י) 10 Fürchtet den HERRN, ihr seine Heiligen!
Denn die ihn fürchten, haben keinen Mangel.
(כ) 11 Reiche müssen darben und hungern;
aber die den HERRN suchen,
haben keinen Mangel an irgendeinem Gut.
(ל) 12 Kommt her, ihr Kinder, höret mir zu!
Ich will euch die Furcht des HERRN lehren.
(מ) 13 Wer möchte gern gut leben
und schöne Tage sehen?
(ן) 14 Behüte deine Zunge vor Bösem
und deine Lippen, dass sie nicht Trug reden.
(ס) 15 Lass ab vom Bösen und tu Gutes;
suche Frieden und jage ihm nach!
(ע) 16 Die Augen des HERRN merken auf die Gerechten
und seine Ohren auf ihr Schreien.
(פ) 17 Das Angesicht des HERRN steht wider alle, die Böses tun, dass er ihren Namen ausrotte von der Erde.
(צ) 18 Wenn die Gerechten schreien, so hört der HERR
und errettet sie aus all ihrer Not.
(ק) 19 Der HERR ist nahe denen,
die zerbrochenen Herzens sind,
und hilft denen, die ein zerschlagenes Gemüt haben.
(ר) 20 Der Gerechte muss viel erleiden,
aber aus alledem hilft ihm der HERR.
(ש) 21 Er bewahrt ihm alle seine Gebeine,
dass nicht eines zerbrochen wird.
(ת) 22 Den Gottlosen wird das Unglück töten,
und die den Gerechten hassen, fallen in Schuld.
23 Der HERR erlöst das Leben seiner Knechte,
und alle, die auf ihn trauen, werden frei von Schuld.
Erste Einführung: Vers 1- 11: Bekenntnis der Zuversicht
- Hinführung
a. zum Thema
Wir betrachten heute Psalm 34. Das Thema hat sich aus der Jahreslosung ergeben, die stammt in diesem Jahr aus Psalm 34. Es ist der Vers 15, der lautet: „Suche Frieden und jage ihm nach.“ Die Einkehrtage im Kloster, die für Gruppen angeboten und inhaltlich gestaltet werden, greifen dieses Thema alle in bestimmter Weise auf, und da hatten wir es in diesem Jahr einfach, denn das Wochenende, das Beatrix und ich hier im September anbieten, haben immer einen der Psalmen als Grundlage für die geistlichen Betrachtungen.
Wir machen das deshalb, weil hier im Kloster in den Andachten ja viele Psalmen gesungen und gebetet werden, und da liegt es nahe, auch mal den einen oder anderen näher zu betrachten.
Was nun den Vers 15 in Psalm 34 betrifft, so ist er allerdings nicht das Hauptthema des Psalms, sondern eine von verschiedenen Ermahnungen, die wir im zweiten Teil finden. Der Psalm 34 trägt in der Einheitsübersetzung vielmehr die Überschrift: „Unter Gottes Schutz“, und davon handelt er auch, wie Gott den „Gerechten sieht und hört“.
b. Kontext
Innerhalb des Psalters gehört Psalm 34 zu den Psalmen Davids, und er ist das Danklied eines Einzelnen, das wohl im Gottesdient gesungen wurde. Ab Vers 12 erinnert er allerdings an die Spruchweisheit, denn von da an enthält der Psalm Ermahnungen und Ratschläge, wie man ein frommes Leben führen kann. Eine Besonderheit gibt es noch, die man in der Übersetzung nicht erkennen kann: die Versanfänge sind alphabetisch angeordnet (ich hab euch die hebräischen Buchstaben deshalb mal vor jeden Vers geschrieben: Alef, Bet, Gimel, Dalet usw.) Das gibt es auch in einigen anderen Psalmen, wie z.B. 9, 10, 111 und 119 (da sind es ganze Abschnitte, in denen die Verse jeweils mit demselben Buchstaben beginnen.) Das war eine spielerische poetische Kunstform in der damaligen Zeit, die Aussagen sind wie Perlen nebeneinander auf eine Schnur gereiht.
So ähnlich ist es übrigens auch mit dem ganzen Psalter. Er ist ebenfalls eine Sammlung von nur lose miteinander verbundenen Liedern und Gebeten. Die Entstehungsgeschichte ist vielschichtig und verzweigt, denn die einzelnen Psalmen stammen von ganz unterschiedlichen Verfassern: charismatische Männer und Frauen, Priester, Weisheitslehrer, Propheten, Hofdichter, Gesunde, Kranke, Alte, Junge, Fröhliche und Leidende. Man unterscheidet auch gerne zwischen den Psalmen des Volkes, also einer Gruppe, und den Gebeten Einzelner. Auch die Anlässe, aus denen die einzelnen Psalmen entstanden sind, sind sehr unterschiedlich. Es gibt Klagepsalmen und Lobpsalmen, Volkslieder, Schilderungen von Lebenserfahrungen, liturgische Gesänge, Lehrstücke, Meditationen.
Jetzt sind sie alle in einem Buch versammelt, das in fünf Bücher aufgeteilt ist, übergreifend sind darin vier Bücher mit Psalmen Davids enthalten.
Das geht auf die sogenannten Redaktoren zurück, die das Buch so, wie wir es heute kennen, wahrscheinlich in der Zeit nach dem Exil zusammengestellt haben: Dabei haben sie eine ganze Reihe von Psalmen im Nachhinein David zugeschrieben. Der erste Davidpsalter geht von Psalm 3-41, der zweite von Psalm 51-72, dann sind 138-145 von ihm, und die weiteren Davidpsalmen sind dann eher verstreut.
c. Aufbau von Psalm 34
Zum Aufbau von Psalm 34 muss man sagen, dass die Verse wie gesagt durch die alphabetische Anordnung gedanklich nur eine lose Verbindung zueinander haben, auch wiederholt sich das eine oder andere, aber man kann trotzdem einen gewissen Aufbau erkennen: Verse 2- 4 bilden eine hymnische Einleitung, dann folgt die Darstellung der Erhörung als Bekenntnis des Beters in Vers 5- 11. Im zweiten Teil sind diese persönlichen Erfahrungen dann ausgeweitet zu allgemeinen Erkenntnissen und Mahnungen, die in einem engen Zusammenhang mit der alttestamentlichen Spruchweisheit stehen. Wir betrachten heute Morgen den Eingangshymnus und den ersten Teil. Dabei schauen wir uns zunächst die einzelnen Verse an, d.h. ich werde sie auslegen, und dann fragen wir, wie wir die Bilder und Gedanken in der Stille für unser persönliches Gebet anwenden können.
- Auslegung
V.1: Die Geschichte über David und Abimelech steht in 1. Samuel 21,11-16, aber das ist für uns nicht von so großer Bedeutung, denn der Bezug zu dieser Begebenheit wurde wie gesagt erst im Nachhinein hergestellt. Wichtig ist daran nur, dass es eine Situation war, in der David sich vor Verfolgung und Strafe fürchtete und ungeschoren davon kam. Denn das ist der Schwerpunkt hier: Der Dank für Errettung und das Bekenntnis der Zuversicht, das daraus entsteht.
V.2: Wörtlich heißt es in Vers zwei: Ich will Gott „segnen“, das kommt im Hebräischen öfter vor, und es heißt so viel wie „grüßen oder begrüßen“. Und das ist eine schöne Vorstellung: Gott segnet und begrüßt nicht nur uns, auch wir begrüßen ihn und wünschen ihm Gutes, d.h. wir treten mit ihm in Verbindung, freuen uns über seine Gegenwart und verbringen Zeit mit ihm. Der Beter möchte das „immer“ tun, „zu jeder Zeit“, also am besten täglich oder sogar stündlich. Es soll sein Leben prägen, ja, sein ganzes Dasein soll im Grunde genommen ein Lobpreis Gottes sein. Der soll jedenfalls nicht abreißen. „In seinem Mund“ soll immer ein Lied für Gott liegen. Andere Worte sind nicht so wichtig, entscheidend ist, dass sein Mund mit Lob erfüllt ist.
V.3: Er schaut dann nach innen und spürt seine „Seele“. Das ist im Hebräischen die Mitte der Person, der Kern des Menschen, in dem alle Regungen und Gedanken wohnen. Dort soll das Gotteslob beginnen. Der Beter öffnet sich also für Gott, er lässt ihn in sich hinein, damit er seine Stärke und Freude wird. Er will von innen heraus Gott loben und ein Leben in seiner Gegenwart führen. Denn er weiß, dass ihn das aufrichtet und stärkt. Er gehörte ja selber zu den „Elenden“. So nennt er hier diejenigen, die sein Lob hören sollen. Genau übersetzt sind es diejenigen, die sich beugen und sich als Knechte gegenüber Gott verstehen, die sich unterordnen und klein fühlen. Ihnen möchte er mit seinem ganzen Leben ein Zeugnis dafür geben, dass Gott nicht die Menschen demütigt, sondern sie aufrichtet. Es ist wohltuend und heilsam, wenn Gott die Seele bewohnt.
V.4: Wörtlich heißt es hier: Gott soll „mächtig werden“, er soll in seinem Leben und in der Gemeinde „anwachsen“, immer mehr Raum einnehmen und ihn ganz erfüllen. Der Name Gottes soll so hoch sehen, dass er nicht mit Füßen getreten oder geschmäht werden kann. Und dabei sollen dem Beter alle helfen, die den Psalm mitsingen.
Bis dahin ging die hymnische Einleitung. In Vers fünf beginnt nun das Bekenntnis des Beters, in dem er darstellt, dass Gott ihn erhört hat.
V.5: Er sagt zunächst, dass er den Herrn in seiner Notsituation befragt hat. Er hat sich an Gott gewendet, weil er Rat und Hilfe suchte. Das war wie das Befragen eines Orakels, eine Erkundigung und ein Nachforschen, wodurch er erfahren wollte, was er tun sollte. Und er hat tatsächlich Antworten erhalten. Sie bestanden darin, dass Gott ihm freundlich entgegengekommen ist und alles, wovor der Beter Angst hatte, aus dem Weg geräumt hat. Gott hat die Gegenstände der Furcht beseitigt und ihn daraus errettet. Er hat ihn herausgerissen und befreit.
V.6: Und so wird es allen gehen, die zu Gott „aufblicken“: Sie werden nicht enttäuscht. Das Wort „aufblicken“ kann man auch mit „aufmerksam hinschauen“ übersetzen, es ist ein Betrachten oder auch Spähen, jedenfalls ein ganz bewusstes Sehen und Schauen gemeint. Wer das Gott gegenüber tut, der wird „leuchten“. Er wird vor Freude strahlen, d.h. das Licht Gottes spiegelt sich auf seinem Gesicht wieder. Es ergreift ihn und macht seinen Geist hell, so dass Freude aufkommt. Er wird also nicht enttäuscht und muss sich nicht schämen wie einer, der falsche Hoffnungen hatte. Was er glaubt und hofft, wird von Gott vielmehr beantwortet. Er hat auf die richtige Karte gesetzt.
V.7: Hier bekennt der Beter noch einmal seine eigene Erfahrung der Schutzlosigkeit und Hilflosigkeit. Er hatte sich elend und verloren gefühlt. Aber er hat zu Gott „gerufen“ oder auch „geschrien“, wie man das Wort ebenfalls übersetzen kann, und das hat Gott gehört. Er hat ihn aus seinen Ängsten befreit und erlöst. Seine Bedrängnis fand ein Ende, seine Seele konnte zur Ruhe kommen und sich wieder entspannen.
V.8: Der Beter gehört zu denjenigen, die „Gott fürchten“, d.h. er ist fromm und möchte sein Leben mit Gott führen. Das hatte er am Anfang des Psalms ja schon zum Ausdruck gebracht. Er hat erlebt, dass Gott ihn hört. Das bringt er in Vers acht nun mit der Vorstellung vom „Engel des Herrn“ zum Ausdruck. Das ist der Bote oder Gesandte Gottes. Er „lässt sich um ihn herum nieder“, er „lagert“ dort, wo der Beter ist, er schlägt da sein Zelt auf, das ist hier das Bild. Er umgibt den Beter also von allen Seiten und schenkt ihm Geborgenheit und Sicherheit.
V.9: Den nächsten Vers kennen wir aus der Abendmahls-liturgie: Mit diesen Worten wird zum Empfang des Abendmahls eingeladen, weil wir dabei ja wirklich etwas „schmecken“. Ursprünglich ist es bildlich gemeint. Der Beter bringt zum Ausdruck, dass die Gegenwart Gottes genauso wirklich ist, wie das, was wir durch die Sinne wahrnehmen: Gott ist uns so nahe, dass wir ihn „schmecken und sehen“ können, denn er ist gut zu uns. Er schenkt uns das, was heilsam und wohltuend ist. Deshalb preist der Beter den Menschen selig, der auf Gott vertraut. „Wohl dir“ heißt: „Glück und Segen ist mit dir!“
V.10: Wer Ehrfurcht vor Gott hat, d.h. regelmäßig in den Tempel geht, sich dort reinigen und heiligen lässt, seine Sünden bekennt und in den Lobpreis Gottes einstimmt – all das beinhaltet das Wort „fürchtet den Herrn“ – der wird keinen Mangel erleiden. Er wird nichts brauchen, was Gott ihm nicht schenkt. Er ist erfüllt und gestärkt, er wird reich an inneren und äußeren Gütern. Denn er hat das wichtigste, was es gibt: die Nähe und den Schutz Gottes. Wenn die Gottesbeziehung lebendig bleibt, kann das Leben gelingen.
V.11: In der Lutherübersetzung, die wiederum auf dem griechischen Text basiert, steht in Vers 11, dass „Reiche darben und hungern müssen“. Dahinter steht die kritische Einstellung gegenüber dem Reichtum, die wir auch in der Weisheit finden, und davon ist der Psalm ja durchaus inspiriert. Im Urtext finden wir hier aber ein Bild, und zwar heißt es: „Junge Löwen müssen darben und hungern“. Die beiden hebräischen Wörter für „Reiche“ und „Löwen“ sind nicht ähnlich. Die Übersetzung beruht also nicht auf einem Versehen, sondern dahinter steht eine inhaltliche Entscheidung. Ursprünglich drückt der Beter hier den Gedanken aus Vers zehn noch einmal mit einem Vergleich aus: Er stellt sich einen jungen Löwen vor, der auf Raub ausgeht. Er braucht manchmal lange, bis er Erfolg hat, und muss oft „darben und hungern“. Die Kreatur, die sich selbst überlassen ist, leidet häufig Not. Anders ist es dagegen mit denen, die sich an Gott wenden, um Hilfe und Rat zu suchen, die ihn befragen und nach ihm forschen. Sie wenden sich an die richtige Adresse und müssen keinen Mangel leiden. Was es an Gutem gibt, wird ihnen zuteil. Sie entbehren nichts, was sie brauchen. Die Gemeinschaft mit Gott lohnt sich also. Der Mensch ist nicht mehr sich selber überlassen, er wird versorgt und beschenkt.
- Anwendung
Zu dieser Erfahrung will der Psalm uns einladen. Er will uns dazu inspirieren, ebenfalls zu Gott zu rufen, zu ihm zu schreien. Der Beter möchte uns mit der Gottsuche anstecken, so dass wir in das Gotteslob einstimmen, ihn ebenfalls fürchten und uns seiner rühmen. Denn dann geht es uns gut, das ist die Erfahrung, die uns hier vermittelt wird.
Wir sind deshalb ja auch hierhergekommen, und die Stille ist in der Tat ein gutes Mittel, um diese Erfahrung zu machen. Sie dient dazu, dass wir mal alles andere lassen, uns nicht mehr ablenken und in uns gehen. Der äußere Schritt in die Stille ist das erste, was wichtig ist, und den haben wir bereits gemacht. Damit es allerdings auch innerlich still wird und wir wirklich „Gott schmecken und sehen“, ist noch ein bisschen mehr nötig, denn das stellt sich nicht sofort ein. Wir brauchen dafür Zeit und auch Geduld.
Denn wir sind normalerweise von allem möglichen angefüllt, es ist laut in uns. Das merken wir oft nicht, aber in der Stille kann es uns ganz schön plagen: Alle unsere Nöte und Freuden, die wir so mitbringen, beschäftigen uns, Pläne und Wünsche, Erinnerungen und Sorgen. Um da etwas Ordnung und Ruhe reinzubringen, ist es als erstes wichtig, dass wir uns das bewusst machen und es auch annehmen. Es ist sinnlos, dagegen zu kämpfen. Besser ist es, wenn wir uns das einfach anschauen und uns fragen: In welcher Situation bin ich gerade? Was bedrängt mich? Was beschäftigt mich? Wovor habe ich Angst? Worauf freue ich mich? Was tue ich, um zu Lösungen zu kommen? Dadurch, dass wir uns das bewusst machen, uns selber wahrnehmen, gewinnen wir schon mal etwas Abstand, und das tut gut.
Wir hören dann als nächstes ganz bewusst auf, unsere üblichen Strategien weiter zu verfolgen. Wir lassen Gedanken los, legen sie ab, und sagen uns: Wir brauchen das alles jetzt nicht. Sondern jetzt brauchen wir nur Gott.
Wenn wir ihn haben, geht es uns gut, und das nicht weil er uns einzelne Güter oder Antworten schenkt. Gott macht uns keine Lösungsvorschläge, er erfüllt nicht unsere Pläne und Wünsche, sondern entscheidend ist, dass er selber sich zu uns neigt, uns hört und sieht und sich „um uns lagert“. Er ist die Antwort und das Ziel, die „Speise“, die wir brauchen, der Freund, nach dem wir uns sehnen.
Wir müssen nur das tun, was der Psalmbeter tut: auf ihn vertrauen, zu ihm „schreien“, ihn „suchen“, zu ihm „aufblicken“. Guckt euch das einmal in Ruhe an, was hier alles an Aktivitäten gegenüber Gott genannt wird, und macht es nach. Und dann wartet einfach ab, was passiert. Ihr werdet dabei von selber ruhiger, werdet Sorgen los, und irgendwann spürt ihr die Gegenwart Gottes. Sie kann euch ganz erfüllen und befreien. Es ist wohltuender als alles andere, einfach in der Nähe Gottes zu weilen. Dafür ist die die Zeit und die Stille hier da.
Zweite Einführung: Vers 12- 23: Mahnung zum Frieden und zur Furcht des Herrn
- Hinführung
Wir wollen unseren Psalm jetzt weiter betrachten. Man kann ihn wie gesagt gut in zwei Teile teilen. Der erste Teil, den wir heute Morgen bedacht haben, ist hauptsächlich ein Bekenntnis der Zuversicht. Der zweite Teil enthält Mahnungen, u.a. zum Frieden und zur Gottesfurcht. Es ist ein Weisheitspsalm. Davon gibt es durchaus mehrere (z.B. Psalm 37), und sie gehören zu einer ganz bestimmten literarischen Gattung im Alten Testament, nämlich der Weisheitsliteratur. Das sind außerdem die Sprüche Salomos und das Buch des Predigers Salomo, auch das Buch Hiob kann man dazu zählen.
Es sind Textsammlungen, die alle irgendwie davon handeln, wie das Leben gelingen kann. Sie stammen aus sogenannten Weisheitsschulen, in denen junge Menschen in Lebenskunde unterrichtet wurden. Es sind Beobachtungen und Ermahnungen, mit denen ein älterer Mensch seine Lebenserfahrung und seine Einsichten an Schüler weitergibt. Er ist davon überzeugt, dass im ganzen Dasein eine bestimmte Ordnung herrscht, die man beachten muss. Wenn man sie erkennt und danach handelt, kann das Leben gelingen, man wird mit Glück und Wohlergehen belohnt. Der Glaube an Gott spielt dabei auch eine große Rolle. Er gehört dazu und wird nirgends in Frage gestellt. Gott ist vielmehr der Lenker hinter allem, dessen Wille man erkennen und tun sollte. Das alles finden wir nun auch im zweiten Teil von Psalm 34. Es wird gleich an den ersten beiden Versen deutlich, mit denen dieser Teil beginnt.
- Auslegung
V.12+13: Die Anrede „Kinder“ oder auch „Söhne“ ist in der Weisheitsliteratur üblich. Das Wort bezeichnet in diesem Zusammenhang die Schüler oder Zöglinge. Sie sollen zuhören, das Thema ist die „Gottesfurcht“, d.h. die Frömmigkeit. Der Verfasser beginnt dann mit einer Frage, die einen pädagogischen Charakter hat: Er setzt ein bei der Lebensfreude und Glückserwartung, die ja besonders bei der Jugend vorausgesetzt werden darf. Sie ist aber auch reiferen Menschen nicht unbekannt, sondern bleibt ein Leben lang aktuell: Jeder Mensch wartet auf sein Glück. Und dafür, wie man das erlangt, folgen nun ein paar Ratschläge.
V.14: Der erste besteht darin, dass man auf seine Worte achtet und sich davor hütet, Böses zu reden. Die Werkzeuge des Sprechens müssen bewacht werden, das sind die Zunge und die Lippen, denn sie können viel anrichten und zerstören. Das möchte Gott aber nicht. Ein Leben mit ihm zeichnet sich dadurch aus, dass man mit seinen Worten sorgfältig umgeht und versucht, keinen Schaden anzurichten. Dabei wird hier speziell die Möglichkeit erwähnt, jemanden zu verraten oder zu betrügen. Das ist besonders gefährlich und gehört nicht zu einem gottesfürchtigen Leben.
V.14: Der nächste Ratschlag besteht darin, bestimmte Dinge zu meiden, anderes dagegen bewusst zu suchen. Man sollte sich vom Bösen entfernen, von dem, was man selber längst als schlecht und unrecht erkannt hat. Es gilt, davon abzulassen und ihm auszuweichen. Es lauert leider überall, vielleicht steckt man sogar darin, dann muss man heraustreten und es hinter sich lassen. Stattdessen gilt es, den „Frieden“ zu suchen. Im Hebräischen steht hier das Wort „Schalom“, das kennen wir und übersetzen es normalerweise mit „Frieden“. Aber es bedeutet noch mehr als das, nämlich allgemein das Heilsame und Förderliche, das Rechte und Richtige. Das sollen wir suchen und danach „jagen“, d.h. danach verlangen und es immer wieder fordern. Es ist flüchtig wie ein Tier, das man erbeuten will. Wir müssen uns stets darum bemühen und dabei schnell und geschickt sein.
V.16: In den folgenden Versen ist wiederholt vom „Gerechten“ die Rede, viermal wird er erwähnt. Damit sind diejenigen gemeint, die sich nichts zu Schulden kommen lassen haben, die das Recht auf ihrer Seite haben und tun, was Gott gefällt. Es sind die Treuen und Rechtschaffenen, die Frommen, die sich unter die Macht Gottes beugen und ihn anbeten. Sie wurden auch schon im ersten Teil erwähnt, denn es ist dieselbe Gruppe, die dort als „die Elenden“ (Vers drei und sieben) bezeichnet wird, was genau übersetzt diejenigen sind, die sich beugen und sich als Knechte gegenüber Gott verstehen. In Vers acht sind es die, die „den Herrn fürchten“. Um sie geht es in diesem Psalm also hauptsächlich. Der Beter zählt sich dazu, und er lädt seine Hörer ein, ebenfalls diesen Weg einzuschlagen. Dann werden sie nämlich von Gott „gesehen und gehört“, d.h. er nimmt sie wahr und kümmert sich um sie. Sie sind ihm viel wert. Gott reagiert auf ihr Schreien und ihr Gebet. Und das ist wichtig für ein Leben mit Gott: Es besteht nicht nur im richtigen Tun des Menschen, sondern führt zu einer lebendigen Beziehung mit Gott, bei der auch und vor allem Gott etwas tut. Es ist nicht einseitig, sondern beruht auf Gegenseitigkeit.
V.17: Hier haben wir nun einen der Verse, die es uns oft schwer machen mit den Psalmen: Der Hass gegenüber den Feinden kommt zum Ausdruck, und die Bitte, dass Gott sie vernichten möge. Auch Vers 22 hat diesen Inhalt.
Es gibt drei Möglichkeiten, damit umzugehen. Erstens können wir das überspringen. Ich finde, das müssen wir weder mitbeten noch meditieren. Es ist ein Denken, das wir als Christen so nicht teilen. Wenn wir es doch beachten wollen, weil es nun mal in der Bibel steht, dann sollten wir zweitens darin aber nicht irgendwelche Personen sehen, sondern das Böse als eine allgemeine Macht verstehen, die Gott vernichten möge. Danach sehnen wir uns ja durchaus alle, nach einer Welt ohne Krieg und Bosheit. Wenn wir es so auslegen, werden solche Aussagen erträglicher. Und eine dritte Möglichkeit, diese Äußerungen zu verstehen, besteht darin, dass wir in denen, die „Böses tun“, unsere inneren Feinde erkennen. Dann äußert sich in der Bitte um ihre Vernichtung der Wunsch, dass Gott uns davon befreien möge, von allem, was uns hindert, seinen Willen zu tun. Aber wir können diese Verse wie gesagt auch auslassen – das ist mein Vorschlag, weil es das einfachste ist – und zum nächsten Vers übergehen.
V.18: Ich sagte ja am Anfang, dass sich durch die alphabetische Anordnung der Verse auch Wiederholungen ergeben, hier haben wir eine, denselben Gedanken hatte der Beter bereits in Vers sieben zum Ausdruck gebracht, auch mit Vers 16 gehört er zusammen. Dabei meint der Beter ein Schreien, das aus Seelennot heraus entsteht, ein Aufschrei aus tiefstem Herzen, das verzweifelte Flehen desjenigen, der allein nicht mehr weiter weiß. Es kommt jetzt also noch einmal das Leid zur Sprache, in das ein Mensch geraten kann.
V.19: In Vers 19 geschieht das ganz ausdrücklich, denn nun ist von denjenigen die Rede, die „ein gebrochenes Herz und ein zerschlagenes Gemüt“ haben. Niemand wird vor diesem Zustand bewahrt, auch der „Gerechte“ nicht. Er geht wir alle anderen durch Zeiten der inneren und äußeren Not. Alles scheint auseinander zu brechen, er fühlt sich wie zermalmt. Aber auch, wenn es so scheint, als sei Gott dann fern, so ist das ein Irrtum: Gott ist auch dann nahe, wenn wir ihn nicht spüren.
V.20: Hier wird der Gedanke fortgesetzt, dass auch ein „Gerechter“ viel erleiden muss. Aber es hat irgendwann ein Ende. Der Fromme muss nie seine Hoffnung verlieren. Er kann darauf vertrauen, dass Gott auf seiner Seite ist und ihn aus dem Ungemach wieder herausholt, ihn seinen Feinden entreißt und ihn rettet. Es gibt also keinen Grund, die Zuversicht zu verlieren, das ist der Rat, der hinter der Aussage steht.
V.21: Der „Gerechte“ wird niemals ganz zerstört, seine Existenz wird nicht ausgelöscht. Gott kennt den Beter, und zwar jeden einzelnen seiner Knochen, das ist hier die Vorstellung. Die Gegenwart und Hilfe Gottes wirkt sich also nicht nur seelisch aus, sondern auch körperlich. Seine Kraft durchdringt alle Glieder, sie heilt uns schützt. Es lohnt sich also in jeder Hinsicht, ein frommes Leben zu führen.
V.22: Dazu hatte ich bereits etwas gesagt (s.o.) Hier kommt mildernd zum Ausdruck, dass die Bösen sich durch ihre Bosheit letzten Endes am meisten selber schaden. Es muss gar nicht Gott sein, der sie tötet. Ihre eigene Bosheit wird das so oder so tun.
V.23: Das ist der Schlusssatz, der noch einmal zusammenfasst, was insgesamt die Aussage ist: Gott wird „seine Knechte“ loskaufen und befreien, diejenigen, die ihm dienen und seinen Willen tun. Falls sie eine Schuld auf sich geladen haben, müssen sie nicht dafür büßen, sie müssen keine Strafe fürchten, denn Gott wird sie auslösen und erretten. Alles, was sie tun müssen, ist, beim ihm Zuflucht zu suchen, auf ihn zu vertrauen und sich bei ihm zu bergen. Gott ist nicht eine Gott des Zornes, sondern der Liebe und Barmherzigkeit gegenüber den Menschen, die ihn wirklich suchen und ihr Leben in seine Hand leben. Sie müssen sich vor nichts fürchten, sie werden angenommen und von allem befreit, was sie belastet. Der Psalm endet also fast neutestamentlich, mit der Zusage der Vergebung, die ja für unseren christlichen Glauben zentral ist. Es ist schön, dass sie auch schon im Alten Testament vorkommt und darin bereits angelegt ist. Es zeigt, dass wir es mit demselben Gott zu tun haben.
- Anwendung
Wir hatten heute Morgen bedacht, dass es im Leben reicht, wenn Gott darin die Mitte ist. Mehr brauchen wir eigentlich nicht, damit es gelingt. Doch was heißt das nun? Es liegt ja der Gedanke nahe, dass wir dann gar nichts mehr machen sollen, fatalistisch und schicksalsergeben einfach alles hinnehmen, was uns wiederfährt.
So ist es aber nicht gemeint, das erkennen wir am zweiten Teil des Psalms. Dort wird uns gesagt, was aus einem Leben mit Gott folgt, wie wir es führen sollen und worauf wir achten müssen. Fromm zu sein bedeutet nicht, dass uns alles egal wird und wir nur noch passiv sind. Im Gegenteil: Die Versuchung uns nicht auf Gott zu verlassen, bleibt ständig da. Wir müssen uns immer wieder für ihn entscheiden und achtsam leben. Wir werden gerade nicht aus der Verantwortung für unser Leben entlassen.
Es ist ja auch eine Aktivität, sich Gott anzuvertrauen, sich fallen und loszulassen, sich ganz in seine Arme und seine Fürsorge zu begeben. Der Gedanke, dass man damit faul oder nachlässig wird, zeugt von einem verkürzten Wirklichkeitsverständnis. Menschen, die so denken, gehen davon aus, dass nur das wirklich ist, was der Mensch selber plant und durchführt. Und das ist unrealistisch, denn es gibt noch viel mehr zwischen Himmel und Erde, als nur das. Es ist dumm, diese unsichtbare Wirklichkeit zu missachten, und weise ist, wer sich danach ausstreckt. Man kann das Leben nur dann ganz erfassen, wenn man auch die unverfügbare Wirklichkeit mit ein bezieht und das beachtet, was der Mensch nicht sieht und selber gestaltet. Er muss bedenken, dass Gott da ist, und es ist wie gesagt ratsam, sich ihm auch anzuvertrauen. Man gibt sich dann nicht selber auf, sondern begibt sich auf einen sicheren Grund, man bekommt einen Halt, der sich nicht erschüttern lässt. Man wird begleitet und getragen. Dazu dienen die Ermahnungen, und es lohnt sich, sie zu befolgen.
Sie zeigen uns auch, dass mit der Stille, wie wir sie hier im Kloster praktizieren, nicht eine gefühlsmäßige Ruhe oder seelische Erholung gemeint ist. Wir suchen hier keine fromme Romantik oder geistliche Wellness, sondern Buße und Umkehr. Es ändert sich etwas, wenn wir uns auf Gott einlassen. Das Ziel ist ein Sinneswandel und der Empfang des Heiligen Geistes. D.h. wir bekommen eine neue Perspektive, die sich im Alltag fortsetzen soll, in der Welt, in der wir leben, gegenüber unseren Mitmenschen, bei unseren Aufgaben und allen Verrichtungen.
Es ist deshalb gut, wenn ihr einmal gründlich nachschaut, was eventuell in eurem Leben anders werden kann und euch fragt: Wann mache ich vielleicht zu viele Worte? Wie sehr achte ich überhaupt auf „meine Zunge und meine Lippen?“ Steht „eine Wache davor“ wie es in einem anderen Psalm heißt? (Ps. 141,3) Wem gegenüber habe ich schlechte oder sogar vernichtende Gedanken? Das Schweigen, das wir hier praktizieren, kann auch eine Lebenshaltung sein, d.h. wir leben vom Schweigen her, machen keine unnötigen Worte und achten auf unsre Zunge.
Und dann ist noch ganz wichtig: Wie gehe ich mit leidvollen Situationen um? Wie groß ist dann mein Gottvertrauen?
Das Leid wird hier ja auch thematisiert, und indirekt werden wir zur Geduld und zur Hoffnung ermahnt. Oft haben wir die nicht. Wir lehnen uns vielmehr auf, wenn das Leben schwierig wird, wollen schnell etwas ändern, haben keinen Glauben und sind manchmal der Verzweiflung nahe. Doch das lohnt sich nicht und ist nicht nötig. Besser ist es, das Leid anzunehmen, es Gott zu überlassen, wann und wie er es beenden wird, und auf ihn unsere Zuversicht zu setzen. Jede leidvolle Situation gibt uns dazu die Möglichkeit. Anstatt sie als Störfaktor zu verstehen, wie wir es meistens tun, können wir sie auch als eine Möglichkeit begrüßen, zu Gott zu rufen, seine Nähe zu suchen und mit seiner Kraft zu rechnen. Dann kommen wir seinen Weisungen nach und werden auf jeden Fall getröstet.
Denn er erhört uns. Wir sind bei ihm in guten Händen. Es ist schön, dass am Ende unseres Psalms die Zusage steht, dass er uns vergibt und loskauft. Es geht hier also nicht um Gesetze, um Vorschriften und Anordnungen, sondern um Tipps und Hinweise, wie der liebende Gott unser Leben prägen und gestalten kann. Wenn wir sie beachten, wird seine Kraft in uns wohnen, dann wird der Heilige Geist unsere Seele verändern und uns zur Ruhe und zum Glück führen.
Betrachtungen zu einer Predigt von Johannes Tauler
Drei Einführungen in die Stille Zeit
Stilles Wochenende im Gethsemanekloster Riechenberg, 24.-27.1.2019: Beten mit Johannes Tauler
zur Predigt über Epheser 4, 1- 3 von Johannes Tauler
Erste Einführung: „Ertragt einander in Liebe“
- Hinführung
a. Allgemeine Bemerkungen zu den Predigten von J. Tauler
Johannes Tauler gehört neben Meister Eckhart und Heinrich Seuse zu den drei Großen der sogenannten Deutschen Mystik. Ungefähr 80 Predigten in deutscher Sprache sind von ihm überliefert. Hauptsächlich predigte er vor Frauen in den sogenannten Beginenkonventen in Straßburg, das waren Angehörige einer christlichen Gemeinschaft, die zwar keine Ordensgelübde ablegten und nicht in Klausur lebten, aber ein religiöses, eheloses Leben in Gemeinschaft führten, in sogenannten Beginenhöfen oder -häusern. Auch vor den Mönchen aus anderen Dominikanerklöstern predigte Tauler und ebenso vor dem allgemeinen Volk. Seine Predigten wurden schon zu seinen Lebzeiten gesammelt und geschlossen herausgegeben und werden bis heute gelesen, und zwar mehr als die Texte der anderen deutschen Mystiker. Auch im protestantischen Bereich, angefangen von Luther bis hin zu Gerhard Tersteegen, fanden seine Schriften Beachtung und prägten das Denken und die Frömmigkeit.
Denn was er beschreibt, ist eine Erfahrung, die über Konfessionsgrenzen hinaus gültig ist. Sie helfen auch denjenigen, die sich mit der fernöstlichen Erfahrungsweise angefreundet haben und diese gerne in unser abendländisches Denken integrieren möchten, denn es geht um den Weg der geistigen Versenkung. Dabei sind Taulers Ausführungen immer sehr stark auf die Praxis bezogen. Er wollte den Menschen aufzeigen, wie sie ihre Frömmigkeit leben konnten, im Kloster, im Alltag und in der Arbeitswelt. Für den Weg nach innen und zu Gott gibt er allen, die ihn gehen möchten, ein sicheres Geleit
Dabei geht er von der Überzeugung aus, dass Gott im „Grund“ der menschlichen Seele anwesend ist und dort erreicht werden kann. Um seine Gegenwart im Inneren zu erfahren, muss der Mensch nur die Hindernisse aus dem Weg räumen, die der Begegnung mit Gott entgegenstehen. Tauler lädt deshalb zur „Einkehr“ ein, mit der man sich von weltlichen Bestrebungen abwendet, seinem Inneren zuwendet und Gelassenheit erlangt. Das bedeutet aber keineswegs eine Vernachlässigung der im Alltagsleben zu erfüllenden Aufgaben. Vielmehr sollen tätiges und beschauliches Leben eine unauflösliche Einheit bilden. Das wird auch an der Predigt deutlich, die ich für unser Stilles Wochenende ausgesucht habe.
b. Zu der Leseordnung und zum Kirchenjahr
Tauler hat sie für den „17. Sonntag nach Pfingsten“ geschrieben. Vom Kirchenjahr her gesehen gehört sie also in die sogenannte festlose Zeit. In der evangelischen Kirche beginnt die nach Trinitatis, das ist der Sonntag nach Pfingsten. Wir zählen dann einfach die „Sonntage nach Trinitatis“. Die Katholiken beginnen mit dieser Zählung bereits nach Pfingsten und nennen sie heutzutage die „Sonntage im Jahreskreis“. Der „17. Sonntag nach Pfingsten“ bzw. „im Jahreskries“ ist demnach auf dem Kalender unser „16. Sonntag nach Trinitatis“, in diesem Jahr fällt der auf den 6. Oktober, also in den Herbst. Aber das ist nicht von so großer Bedeutung. Interessant ist, dass an diesem Sonntag immer noch in etwa dieselben Lesungen gehalten werden, wie vor 700 Jahren. Epheser 4,1-3 gehört nach wie vor in eine der Lesereihen zum „17. Sonntag im Jahreskreis“, und bei uns tauchte sie bis vor kurzem – das Lektionar wurde gerade geändert – am 17. Sonntag nach Trinitatis ebenfalls als Predigttext auf. Das ist zeitlich ja ungefähr gleich. Der Wochenspruch an diesem Sonntag lautet bei uns: „Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat.“ Es geht also um einen „sieghaften Glauben“, und das ist durchaus auch Thema in der Predigt von Johannes Tauler über Epheser 4,1-3.
c. Zu Epheser 4, 1- 3
Dieser Abschnitt ist im Epheserbrief ein Teil der Ermahnungen von Paulus zu einem christlichen Lebenswandel. Sie beginnen in Kapitel vier, unsre Verse bilden also den Anfang seiner „ethischen Weisungen“. Sie lauten in der Lutherübersetzung:
„So ermahne ich euch nun, ich, der Gefangene in dem Herrn, dass ihr der Berufung würdig lebt, mit der ihr berufen seid, in aller Demut und Sanftmut, in Geduld. Ertragt einer den andern in Liebe und seid darauf bedacht, zu wahren die Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens. “
Paulus versteht seinen ethischen Aufruf als Ergebnis der bisherigen Belehrung, die in den ersten drei Kapiteln des Briefes steht. In denen geht es um Christus und um den Glauben an ihn. Er verändert das Leben, es bekommt eine ganz neue Grundlage und Ausrichtung. In den Kapiteln vier bis sechs beschreibt der Apostel nun die Folgen, die sich daraus für das Verhalten ergeben, die Normen, nach denen die Christen leben sollen. Dabei hat Paulus sehr stark das Leben der Gemeinde vor Augen. Jeder und jede hat da bestimmt konkrete Pflichten. Denn die Gemeinde ist kein anonymes Gebilde, sondern man kennt sich und soll einander beistehen. Die Weisungen des Apostels sind Regeln für das Zusammenleben, und die leitenden Begriffe sind dabei: „Liebe, Friede und Einheit“. Außerdem führt Paulus den „Geist“ noch besonders ein.
All das hat Johannes Tauler in seiner Predigt beachtet.
Sankt Paulus sagt: „Als der Gefangene im Herrn ermahne ich euch: Wandelt würdig der Berufung, die euch zu Teil wurde, in aller Demut, Sanftmut und Geduld. Ertragt einander in Liebe, und seid bestrebt, die Einheit des Geistes zu wahren durch das Band des Friedens. Ein Leib und ein Geist, wie auch eure Berufung euch eine Hoffnung gegeben hat.“
Diese liebevollen Worte sollte ein jeder Mensch sich vorhalten; wo er wäre, was er täte, sollte er dieser liebreichen Mahnung des liebenswerten Apostelfürsten niemals vergessen und allzeit seines Rufes wahrnehmen in aller Demut und Sanftmut mit Geduld.
Liebe Schwestern! Nehmt diese Lehre zu Herzen, und ertraget eine der anderen Mängel in Liebe; darum bitte ich euch um all der Zuneigung und Liebe willen, die ihr zu Gott habt; und wenn ich euch um eines bitten darf oder euch dienen kann (so ist es das), dass ihr euch darin übet und es mit allem Eifer beachtet, denn all die guten Werke, die ihr etwa tut, innerlich oder äußerlich, der eifrige Empfang des heiligen Altarsakramentes, oder was immer und wie groß es sei, das ist vor Gott wertlos oder unlieb, falls euch diese Tugenden fehlen. Sie (aber) erwirbt der Mensch nur, wenn ihm Dinge begegnen, die ihm zuwider sind. Dass ein Mensch viel an Demut denke, ohne erniedrigt, viel an Geduld, ohne angefochten zu werden, und dergleichen mehr: das will nichts heißen; das hat keinen Kern; es fällt (wieder) ab; es ist übertüncht und steht nicht auf (festem) Grund. Geschieht einem Menschen Schande und Schmach, in Worten oder durch die Tat, so sollte ein Mensch in gütiger Sanftmut, freundlich und besonnen sich beeilen, dem, der ihn beleidigt, einen Liebesdienst zu erweisen. Verschmäht jener (diese Absicht) so, als ob er ihn geringschätze, so soll der Mensch darum nicht davon ablassen, ihm einen besonderen Dienst zu erweisen, sosehr er nur immer kann.
Sanftmut und Geduld, diese beiden wollen stets durch Widerwärtigkeiten erkämpft werden. Tritt mir einer nicht entgegen, wie könnte ich in einem solchen Fall mich in der Tugend üben? Besonders sollte dem Menschen viel daran liegen, sich in der Sanftmut zu üben. Sie zielt mehr ins Innere, in den Grund, als die Geduld; diese hat es mehr mit der Übung in der Tätigkeit des nach außen blickenden Menschen zu tun. Würde ich also ein falscher Mensch genannt, meine Unterweisung für nichts geachtet, mir Schande angetan, wem das leid täte und wer mir diese Beglückung nicht gönnte, der wäre mir um nichts lieber, ja sogar weniger lieb. Ach, wie wenig wäre ich (dächte ich anders) wert, in die Fußstapfen meines Herrn und Gottes zu treten, dessen Lehre und Leben verfälscht und für nichts geachtet wurden. Und darum, meine Lieben, bitte ich euch um alles dessen willen, worum ich euch bitten kann, dass ihr euch in diesen Tugenden übt, auf euren Geist achthabt und nie einem Menschen weder in eurem Benehmen noch in euren Mienen oder in euren Worten jemals Leid zufügt, was man euch auch tue oder erzeige. Ertraget eine der anderen Mängel in allseitiger Liebe.
- Auslegung
Tauler bezeichnet die Worte der Bibel gleich am Anfang als „liebreiche Mahnung des liebenswerten Apostelfürsten“, die „ein jeder Mensch sich vorhalte möge; wo er wäre, was er täte.“ Er soll sie „niemals vergessen“. Sie sind also gut und liebevoll gemeint und für das Leben von großer Bedeutung, sie helfen überall und immer, im Alltag und vor allem im Miteinander, denn sie rufen zu einem tugendhaften Verhalten auf, zu „Demut, Sanftmut und Geduld“. Die Schwestern sollen sich das zu Herzen nehmen und einander ertragen. Natürlich ist keine von ihnen vollkommen, jede hat ihre „Mängel“, und drüber könnte man sich aufregen. Doch das wäre kein christliches Verhalten. Wer „Gott liebt“, soll auch seinen Mitmenschen mit Zuneigung und Liebe begegnen. Das geschieht nicht von allein, man muss es „üben“ und „mit allem Eifer beachten“.
Tauler hält das für das wichtigste „gute Werk“, das es gibt. Natürlich führten seine Hörerinnen davon viele aus, sie hatten sich schließlich für ein frommes Leben entschieden. So gehörte z.B. „der eifrige Empfang des heiligen Altarsakramentes“ zu ihrem Alltag und vieles mehr. Doch ohne die „Demut, Sanftmut und Geduld“ ist nach Taulers Auffassung alles andere „vor Gott wertlos oder unlieb“.
Er erklärt deshalb, wie man diese Tugenden erwirbt und geht auf die vielen Dinge ein, die einem eigentlich „zuwider sind“. Das können Erniedrigungen und Anfechtungen sein, „Schande und Schmach, in Worten oder durch die Tat.“ Jede und jeder erlebt das ja irgendwann, gerade wenn sie bzw. er in einer Gemeinschaft lebt. Auch Tauler kannte das. Weiter unten spricht er davon, dass er „ein falscher Mensch genannt“ werden kann oder seine „Unterweisung für nichts geachtet“ wird. Er weiß, es gibt im menschlichen Miteinander oft Ungerechtigkeiten, Missverständnisse, Ignoranz, Neid, Beleidigungen und wahrscheinlich auch Intrigen. Sie tun weh und eigentlich möchte man aufbegehren. Doch genau davon rät Tauler ab, denn gerade dann beginnt die wahre Demut. Es heißt überhaupt nichts, wenn man nur an die Demut „denkt“, d.h. sie als eine fromme Idee versteht. „Das hat keinen Kern; es fällt wieder ab; es ist übertüncht und steht nicht auf festem Grund.“ Entscheidend ist, sich wirklich in „gütiger Sanftmut zu üben“, wenn man angegriffen wird, in einem Konflikt „freundlich und besonnen“ zu bleiben. Man soll sich sogar beeilen, „dem, der einen beleidigt, einen Liebesdienst zu erweisen“, selbst wenn derjenige das „verschmäht“. Und auch wenn sich dadurch nichts ändert, wenn die Geringschätzung vonseiten der anderen Person da bleibt, „so soll der Mensch nicht davon ablassen, ihm einen besonderen Dienst zu erweisen, sosehr er nur immer kann.“
Denn „Sanftmut und Geduld, diese beiden wollen stets durch Widerwärtigkeiten erkämpft werden.“ Wir können uns in diesen Tugenden sogar nur dann wirklich üben, wenn uns jemand entgegentritt.
Nach diesen Ausführungen, vergleicht Tauler die Tugenden miteinander und nimmt eine Wertung vor. „Besonders sollte dem Menschen viel daran liegen, sich in der Sanftmut zu üben.“ Das Wort Sanftmut benutzen wir ja kaum noch. Es kommt von „sanft“, d.h. weich und vorsichtig, fein und gutmütig. Tauler sieht darin eine innere Fähigkeit. „Sie zielt mehr ins Innere, in den Grund, als die Geduld.“, sagt er. Es geht um eine Beschaffenheit des Herzens. Die Geduld ist mehr nach außen gewandt.
Beide sind aber hohe Güter, die auf jeden Fall zu begrüßen sind. Es muss also niemandem leidtun, wenn er gedemütigt wird. Im Gegenteil, Tauler bewertet es sogar als eine „Beglückung“, die man einander gönnen soll. Denn damit treten wir in die Fußstapfen unseres Herrn und Gottes. Jesus hat selber so gelebt. Am Ende wurde seine „Lehre und Leben verfälscht und für nichts geachtet“. Darin können wir ihm also ähnlich werden, wenn wir ihm folgen. Darum lohnt es sich, sich „in diesen Tugenden zu üben“, „auf den Geist acht zu haben und nie einem Menschen jemals Leid zuzufügen, weder im Benehmen, noch in den Mienen oder in Worten.“
Der Abschnitt lässt sich gut mit dem letzten Satz zusammenfassen: „Ertraget eine der anderen Mängel in allseitiger Liebe.“
- Anwendung
Wir können das sehr gut auf unser Leben anwenden, denn wovon Tauler hier spricht, kennen wir ebenfalls alle. Es gibt kein Leben ohne Konflikt, kein Miteinander ohne Probleme. Es kann der Ehepartner sein, eine Kollegin, ein Nachbar. Wir erfahren es immer wieder, dass etwas nicht so läuft, wie wir uns das wünschen. Es geht uns gegen den Strich, wir ärgern uns, sind verletzt oder enttäuscht. Meistens mündet das dann in Streit und Auseinandersetzung. Zu einem gewissen Grad ist das auch berechtigt, vor allen Dingen ist es wichtig, dass wir miteinander reden.
Aber oft hilft das nicht, und es gibt auch noch ganz andere Möglichkeiten, damit umzugehen. Tauler beschreibt das hier. Und zwar rät er uns, gerade in diesen Situationen eine geistliche Haltung einzunehmen. Indirekt macht er uns darauf aufmerksam, dass das Übel gar nicht von den anderen kommt, sondern in uns selber liegt. Und zwar sind wir alle von unserem Eigenwillen gesteuert, von Selbstbehauptung und einer gewissen Portion Hochmut. Wir fühlen uns in einem Konflikt automatisch im Recht, wollen uns durchsetzen und verachten die anderen ein Stück weit. Uns fehlen die „Demut, Sanftmut und Geduld“.
Die zu erlangen wäre viel besser, als alles andere. Sie sind hohe Güter, die uns ruhig und friedlich machen, uns ausgleichen und innerlich heilen. Und die erlangen wir nicht, indem wir sie meditieren oder darüber etwas lesen. Wir können uns das auch nicht als frommes Programm vornehmen. Erst wenn es im menschlichen Miteinander wirklich hart auf hart kommt, haben wir dafür eine Chance. Und so sollten wir die Widrigkeiten deshalb verstehen: Als gute Möglichkeiten, innerlich zu wachsen und zu reifen. Das ist natürlich eine grundlegende Umwertung all dessen, was uns widerfährt. Wir beurteilen bestimmte Geschehnisse völlig neu. Was wir vorher abgelehnt haben, können wir nun begrüßen.
Dabei ist mit „Demut“ nicht eine unterwürfige Haltung gemeint, bei der wir uns selber aufgeben und immer schwächer werden. Das denken wir ja leicht. Uns gefällt dieses Wort oder diese Haltung deshalb heutzutage auch nicht mehr. Doch das ist schade, denn richtig verstanden, ist damit lediglich der Verzicht auf Widerworte und Ärger gemeint, Überheblichkeit und Zorn. Anstatt mit diesen Verhaltensweisen zu reagieren, sagen wir lieber erst einmal nichts, gehen auf Abstand und überdenken alles. Wir lassen uns von ganz anderen Kräften leiten und bestimmen, als von den eigenen Trieben. Und das macht uns stark, es führt uns innerlich weiter, wir verändern uns und entdecken ganz neue Möglichkeiten.
Dabei hilft es tatsächlich, demjenigen, der uns zu schaffen macht, etwas Gutes zu tun. Das schlägt Tauler ja auch vor. Es geht zwar gegen unsre Natur und möglicherweise klingt es sehr anstrengend. Aber wir sind dabei nicht allein. Wir können uns an Jesus Christus orientieren, uns sein Leben vor Augen halten und auch zu ihm beten. Dann hilft er uns, er zieht in uns ein und schenkt uns seinen Geist. Auf ihn dürfen wir uns verlassen, ihn in uns hineinlassen. Dann ist das, was uns hier vorgeschlagen wird, keine Leistung, sondern wirkt erlösend und befreiend.
Ihr könnt euch also mal fragen, was eure Konflikte sind, unter welchen Menschen ihr leidet, und wie ihr normalerweise darauf reagiert.
Dann macht euch bewusst, wie Jesus Christus gelebt hat und bittet ihn euch Sanftmut, Demut und Geduld zu schenken.
In Gedanken ändert sich dadurch eure Einstellung, ihr kommt zur Ruhe und findet Frieden mit euch und den anderen.
Zweite Einführung: „Kehre dich in das Allerinnerste deines Herzens“
- Hinführung
Tauler behandelt in der vorliegenden Predigt die Bibelstelle, Epheser 4,1-3, in der das Thema „Frieden“ vorkommt. Ich habe sie genau deshalb ausgesucht, denn die Jahreslosung für 2019, die auch als Thema für das Kloster übernommen wurde, lautet: „Suchet Frieden und jaget ihm nach.“ (Psalm 34,15) In dem ersten Teil seiner Predigt ermahnt Tauler seine Hörerinnen dazu, das zu tun: Friedfertig zu sein. Dazu gehört es, einander in „Demut, Sanftmut und Geduld“ zu ertragen.
Wenn wir das heutzutage hören, kommen uns natürlich ein paar Fragen. Eine lautet: Reicht das, um einen Konflikt zu lösen? Ist es nicht auch gut und sinnvoll, miteinander zu reden und gemeinsam nach Wegen aus dem Konflikt zu suchen? Sonst bleibt vieles unter dem Teppich, wir verdrängen unseren Ärger vielleicht nur, und irgendwann kommt er doch wieder hoch. Es gibt für eine Konfliktbewältigung ja gute Methoden, die oft helfen, sowohl im persönlichen Leben als auch in der Politik oder in der Wirtschaft. Sollen wir die nun alle ablehnen? Das würde Tauler sicher verneinen. Natürlich können wir alles Sinnvolle versuchen, um einen Konflikt zu lösen. Sein Vorschlag ist keine Alternative zu einem konstruktiven Gespräch.
Es geht ihm letzten Endes auch um etwas anderes: Er will, dass wir uns grundsätzlich in „Demut, Sanftmut und Geduld“ üben, denn das bringt uns Gott näher. Seine Weisungen sind nicht in erster Linie Methoden zur Konfliktlösung, sondern er zeigt Wege auf, wie wir die Liebe Gottes empfangen und verwirklichen können. Sein Thema ist das innere Leben, die Herzensschulung und der Empfang des Heiligen Geistes. Und seine Adressatinnen sind Menschen, die sich für dieses Ziel entschieden haben. Sie können es in jeder Situation verfolgen, das sagt Tauler ihnen hier. Eine besonders gute Chance bieten dafür die Widerwärtigkeiten im menschlichen Miteinander, denn wir können sie als Herausforderung verstehen, unsere Ichhaftigkeit abzubauen. Dass sich dadurch eventuell Frieden im Miteinander einstellt, ist nur ein Nebeneffekt. So müssen wir Tauler verstehen.
Die andere Frage, die wir stellen, ist dann eventuell die, dass das, was er vorschlägt, alles sehr nach geistlicher Leistung klingt. Ist das nicht total anstrengend und viel zu viel verlangt? Wer bekommt das schon hin? Und wird es uns nicht vergeben, wenn wir mal zornig und ärgerlich sind? Außerdem muss das doch alles mal irgendwann raus! Das denken wir heute, und das ist ebenfalls richtig. Natürlich dürfen wir sündigen, das können wir auch gar nicht vermeiden. Es passiert immer wieder, wir sind nicht vollkommen und das müssen wir auch nicht sein. Uns wird alles vergeben, was wir verkehrt machen, wenn wir damit zu Jesus gehen. Seine Gnade kennt keine Grenzen.
Aber bei dieser Erfahrung bleibt das geistliche Leben nicht stehen, es geht weiter, und zwar indem die Gnade sich auswirkt. Der Glaube an die Liebe und Barmherzigkeit Christi hat Folgen. Das Leben verändert sich dadurch, es wird umgestaltet und bekommt eine neue Form. Die Gnade macht uns stark und sie macht uns heil, denn wir empfangen durch sie den Heiligen Geist. Und wie der wirkt und wirken kann, darauf lenkt Tauler sein Augenmerk.
Das wird in dem nächsten Abschnitt seiner Predigt sehr schön deutlich. Da verlässt er nämlich die konkrete Situation der zwischenmenschlichen Probleme und geht auf den „Seelengrund“ und den Empfang des Heiligen Geistes ein:
Nun spricht Sankt Paulus: „Bewahret die Einheit des Geistes im Band des Friedens.“ Diese Tugenden sind wahrlich ein Band, womit man (sich) zusammenbindet; also bindet euch zusammen in Frieden und in der Einheit des Geistes. Wie aber gelangt man zu dieser Einheit? Die beste Hilfe für diese Mühe findet man des Nachts nach den Metten, wenn die Nacht lang ist. Die Menschen, die diese Einheit erlangen wollen, sollen sich des Abends zeitig zur Ruhe begeben, damit sie den nötigen Schlaf (vor den Metten) finden können. Nach den Metten soll der Mensch auf seinen Grund achten und sich in das Allerinnerste seines Herzens kehren, das ist das Allerinnerste seines Grundes, und sollte beachten, was ihn am allermeisten anreizen kann. Wer daran gewöhnt und dazu geneigt ist, der möge das Leben unseres Herrn Punkt für Punkt betrachten. Ist es ihnen nur gegeben, Betrachtungen anzustellen über eine besondere Seite (des Lebens und Leidens) unseres Herrn, so mögen sie in Gottes Namen mit ihrer guten Übung beginnen, doch ohne allen Eigenwillen, und das ehrwürdige Leiden unseres Herrn oder seinen heiligen Tod, seine heiligen Wunden oder sein heiliges Blut zum Gegenstand ihrer Betrachtung nehmen, dabei aber stets ihres Grundes gedenken. Auf diese Weise wird der Mensch seine Liebe erwecken; wie aus viel Kohlen und Holz ein großes Feuer entsteht und die Flamme nach außen dringt und in die Höhe schlägt, so werden diese guten Übungen den Seelengrund entzünden. Dann aber soll man die Bilder bald fahrenlassen und mit flammender Liebe durch den mittleren in den allerinnersten Menschen hindurch dringen; dieser besitzt keine Tätigkeit, denn die Wirksamkeit in ihm ist allein Gottes; er hält ihn (auf eigene Tätigkeit) verzichtend unter dem Wirken Gottes. Es mag sein, dass schnelle Bilder der guten Übungen, die er früher vorgenommen, vor ihm erscheinen, sei es das Leiden unseres Herrn oder des Menschen Fehler oder Gebete, die es für irgendeinen Toten oder Lebenden zu verrichten gilt.
- Auslegung
Tauler setzt hier neu ein und zitiert den nächsten Gedanken aus seinem Predigttext, Epheser 4,2. Paulus sagt da weiter: „Bewahret die Einheit des Geistes im Band des Friedens.“ Er führt also den Heiligen Geist ein. Durch ihn entsteht „ein Band, womit man sich zusammenbindet“. Die Frage ist also, wie wir den erlangen, und dazu gibt Tauler zunächst ein paar ganz konkrete Hinweise, die die geistliche Praxis und den Tagesablauf der Schwestern betrifft. Er schlägt vor, sich in der Nacht dafür bereit zu halten, wenn jede allein in ihrer Zelle ist, nach „den Metten“, d.h. den nächtlichen gemeinsamen Gebeten, „wenn die Nacht lang ist“. Zu den Nachtgebeten stehen Mönche und Nonnen mitten in der Nacht auf, so gegen zwei Uhr, und unterbrechen ihren Schlaf. Danach ist dann noch viel Zeit bis zur Laudes, dem ersten Morgengebet, und die kann man gut für die Meditation nutzen, für die eigene innere Übung und den Empfang des Heiligen Geistes. Um diese Zeit aber in dieser Weise zu füllen, ist es sinnvoll, „sich des Abends zeitig zur Ruhe zu begeben“, also schon vor der Mette ausreichend zu schlafen. Danach „soll der Mensch auf seinen Grund achten und sich in das Allerinnerste seines Herzens kehren, das ist das Allerinnerste seines Grundes, und sollte beachten, was ihn am allermeisten anreizen kann.“
Es ist in Klöstern allgemein üblich, dass zu dieser Zeit am Tag bzw. der Nacht jede und jeder für sich allein ist und „Stille Zeit“ hält. Das hat schon Benedikt in seiner Regel so vorgeschlagen, und es ist eine uralte Tradition. Bereits aus Qumran wird etwas Ähnliches überliefert. Benedikt empfiehlt die „geistliche Lesung“ und das „Einüben von Psalmen“ (Regel Kapitel 8,3) in dieser Zeit. Tauler greift das auf und macht ebenfalls ganz konkrete Vorschläge: „Wer daran gewöhnt und dazu geneigt ist, der möge das Leben unseres Herrn Punkt für Punkt betrachten.“ Wir nennen das „das betrachtende Gebet“, bei dem wir uns eine Geschichte aus der Bibel vorstellen, geistig durchdringen und nach einer Umsetzung in unserem Leben fragen. Dabei kann man getrost auch mal an „einer besonderen Seite des Lebens und Leidens unseres Herrn“ hängen bleiben bzw. sie bevorzugen. Das darf sich ergeben, wie es den Neigungen und Begabungen der Einzelnen entspricht. Wichtig ist nur, dass es „ohne allen Eigenwillen“ geschieht, d.h. ohne etwas für sich selber dabei zu wollen, ohne sich selber verwirklichen zu wollen.
Die Schwestern sollen „dabei aber stets ihres Grundes gedenken.“ Das ist bei Tauler ein wiederkehrender Gedanke. Er meint damit den „Seelengrund“, oder auch den „Grund ihres Ursprungs“. Zu ihm soll man sich „hinabneigen“, denn da ruht das Bild, das Gott von der Seele hat. Dieser „Grund“ ist in jedem Menschen der Ort, an dem er Gott begegnen kann. Da hört er seine „liebevolle Stimme“, die ihn in einem Fort ruft. „Auf diese Weise wird der Mensch seine Liebe erwecken.“ In der Stille und in der Einsamkeit entstehen also die Tugenden. Tauler verdeutlicht diesen Vorgang mit dem Bild des Feuers: „Wie aus viel Kohlen und Holz ein großes Feuer entsteht und die Flamme nach außen dringt und in die Höhe schlägt, so werden diese guten Übungen den Seelengrund entzünden.“ Durch die innere Betrachtung des Lebens und Leidens Jesu oder anderer Geschichten in der Bibel und durch die Versenkung entstehen also Kraft, Wärme und Energie. Und wenn das geschieht, soll man es einfach zulassen und alle „Bilder bald fahrenlassen“. Man soll vielmehr „mit flammender Liebe durch den mittleren in den allerinnersten Menschen hindurch dringen.“ D.h. der Mensch muss nur noch geschehen lassen. Er darf sich selber vergessen und findet zu einer tiefen Ruhe. Was er erlebt, ist das „Wirken Gottes“. Es kann dann nach einer Weile oder zusätzlich sein, dass „schnelle Bilder vor ihm erscheinen, sei es das Leiden unseres Herrn oder des Menschen Fehler oder Gebete, die es für irgendeinen Toten oder Lebenden zu verrichten gilt.“ Der Geist bleibt nicht dauerhaft in dieser totalen Passivität, die Phantasie arbeitet weiter und gibt dem Menschen Bilder, Einsichten und Gebete. Das ist ganz natürlich und darf dann gerne ebenfalls empfangen und zugelassen werden.
- Anwendung
Wir merken bei der Lektüre der Predigten Taulers, warum er als der „Praktiker“ unter den Mystikern gilt. Was er predigt, ist wirklich sehr praxisbezogen und konkret. Jede und jeder, der es möchte, kann das umsetzen, bis jetzt. Es ist erstaunlich, wie zeitlos seine Ausführungen und Vorschläge sind, sie gelten heute ebenso wie vor 700 Jahren. Und das ist schön. Was Tauler uns hier vorschlägt, können wir selber durchführen.
Dabei geht es heute Morgen um den inneren Vorgang, der zur „Demut, zur Sanftmut zur Geduld“ und damit zum Frieden führt. Tauler legt dar, worauf wir innerlich achten müssen, wenn wir diese Tugenden erlangen wollen. Dabei wird deutlich, dass es keineswegs um ein Verdrängen von schlechten Gefühlen geht oder ein äußeres Stillhalten. Das sind vielmehr nur die ersten Schritte. Sie helfen zwar zur Deeskalation, die Gemüter können sich beruhigen und wir gehen auf Abstand zueinander. Aber das ist noch lange nicht alles, was zum geistlichen Leben gehört. Wenn wir in einem Konflikt nicht direkt reagieren, so ist das lediglich ein bestimmtes äußeres Verhalten. Die eigentliche innere Arbeit, um die es Tauler geht, kommt erst noch. Und worin die besteht, beschreibt er in dem weiteren Verlauf seiner Predigt.
Denn danach sollen wir uns mit uns selber beschäftigen, uns selber spüren und kennen lernen. Und dafür müssen wir uns auch Zeit nehmen und die Stille und Einsamkeit suchen. Es ist ratsam, dass wir jeden Tag die Möglichkeit dazu schaffen, es in unseren Tagesablauf einbauen. Tauler schlägt die ganz frühe Zeit am Morgen vor, und die ist dafür in der Tat gut geeignet. Wir können dann verarbeiten, was gestern war, und uns für den neuen Tag bereiten. Dabei ist es ebenfalls ein guter Rat, bereits früh genug ins Bett zu gehen. Am Abend entscheidet sich, wie der nächste Tag wird, und es ist gut, für die Stille Zeit am Morgen ausgeschlafen zu sein.
Doch das sind nur äußere Tipps, viel wichtiger ist, was dann in der Stillen Zeit passiert. Wenn wir sie gefunden haben, geht es darum, dass wir in uns hineinschauen und zunächst ehrlich mit uns selber sind. Wir dürfen uns alles anschauen, was in uns vorgeht: Unsere Erfahrungen, unsere Geschichte, unsere Veranlagung. Wir können uns bewusst machen, wie wir uns fühlen, was wir uns wünschen, was uns stört und was uns freut. Es darf alles vorkommen und da sein. Wichtig ist dabei nur, dass wir uns nicht selber festhalten, uns nicht größer machen, als wir sind. Wir müssen auf jeder Art der Selbstbehauptung oder Rechthaberei verzichten. Wir werden einfach und klar, üben uns im Verzicht und in der inneren Askese.
Das fällt uns im ersten Moment vielleicht schwer, es führt uns aber weiter und tiefer in uns selbst hinein. Wir entspannen uns, werden befreit und erlöst und kommen zur Ruhe.
Denn wir sind nicht allein. Wir tun das alles vielmehr im Glauben an Jesus Christus und im Vertrauen auf ihn. Er zeigt uns diesen Weg und schenkt uns seinen Geist. Dazu dient die geistliche Lesung und Betrachtung. Das ist eine alt bewährte Methode, die Tauler ebenfalls kannte und hier erwähnt. Wir halten uns dabei vor Augen, was wir von Jesus wissen, suchen uns eine Geschichte aus, die zu uns passt, die uns gerade einfällt oder die durch eine bestimmte Leseordnung vorgegeben ist. Wir malen uns in unserer Phantasie aus, was da geschieht, tauchen in das Bild und lassen es wirken. Wir öffnen uns für das Evangelium, durchdringen es und lassen uns davon inspirieren.
Dann wird Gott selber uns anrühren und wir erleben: Er ist da, auf dem Grund meiner Seele und wartet bereits auf mich. Er liebt mich und spricht zu mir. Seine Gegenwart erwärmt mich von innen her, seine Liebe breitet sich in mir aus wie ein Feuer. Es ist die Kraft des Heiligen Geistes, die mich durchströmt.
Und wenn ich die empfange, begegne ich meinen Mitmenschen ganz von selber in Liebe. Es ist nicht meine Leistung, wenn der Friede sich ausbreitet, sondern das Werk Gottes und Jesu Christi. Doch deshalb ist es auch wirksamer als jede andere Methode. Die Ruhe, die einkehrt, ist dauerhafter und haltbarer, weil sie viel tiefer geht und auf einer wahren Veränderung auf dem „Grund der Seele“ beruht.
Dritte Einführung: „Werde ein Geist mit Gott“
- Hinführung
Im letzten Teil der Predigt von Tauler geht es um die Einswerdung mit Gott.
In gewisser Weise ist es ungewöhnlich, wie die Themen hier angeordnet sind: Tauler beginnt mit den zwischenmenschlichen Beziehungen und Vorkommnissen, mit der Übung der Tugenden und der Heiligung im Alltag. Danach beleuchtet er die seelischen Hintergründe und Möglichkeiten, die dazu gehören. Er geht auf die inneren Vorgänge ein und erklärt, woher wir die Kraft bekommen, uns in Demut, Sanftmut und Geduld zu üben. Am Ende kommt er dann zu der Botschaft, dass Gott der Ursprung aller Dinge ist. Er spricht zum Schluss über die eine absolute Wahrheit, erwähnt die „Wunden“ Christi und sein Heilswerk, und beschreibt die Einswerdung des menschlichen Geistes mit Gott.
In den Briefen von Paulus, bei Luther und auch in unseren Predigten heute ist es meistens genau umgekehrt: Wir beginnen mit dem Evangelium von der Gnade und Gegenwart Gottes, die uns erlöst. Wir laden dazu ein, daran zu glauben und sich dafür zu öffnen. Erst am Ende beschreiben wir dann, wie sich das im Miteinander und im Handeln auswirkt.
Wie kommt es, dass Tauler es genau anders herum anordnet? Das fragen wir uns vielleicht. Es liegt zum Einen natürlich an dem Bibeltext, den er auslegt, in dem geht es nun mal hauptsächlich um bestimmte Tugenden. Aber es gibt auch noch einen anderen Grund und der ist allgemeiner Art: Die verschiedenen Themen des Glaubens lassen sich gar nicht voneinander trennen. Im Gegenteil, es hängt immer alles miteinander zusammen und bedingt sich auch gegenseitig. Unser Glauben und Handeln bewegen sich wie in einem Kreislauf: Wir vertrauen darauf, dass Christus uns erlöst und uns Frieden schenkt. Das führt dazu, dass wir auch miteinander in Frieden leben können. Gleichzeitig gilt es jedoch, darauf auch aktiv zu achten, sich im Frieden und in den Tugenden bewusst zu üben, sich selber loszulassen und sich auf Christus zu gründen. Je mehr wir das wiederum tun, umso mehr erfahren wir, dass Christus wirklich gegenwärtig ist und uns alles schenkt, wonach wir uns sehnen. Oft tut er es im Vollzug, wie Tauler am Anfang beschreibt.
Und das hängt damit zusammen, dass Christus das A und das O ist, wie es in der Offenbarung heißt, der „Anfänger und Vollender des Glaubens“, (Offenbarung 22,13) der Ursprung und das Ziel. Diese Einheit lässt sich nicht auflösen. In der Bibel und in den Gebeten der Christenheit gibt es dafür viele Formulierungen, weil das die Erfahrung ist, die wir alle auf dem Weg der Nachfolge machen.
Damit hängt es auch zusammen, dass wir mit dem geistlichen Weg nie an ein Ende kommen, wir sind nie fertig, sondern fühlen uns manchmal noch nach Jahren der geistlichen Praxis so, als stünden wir am Anfang. Wir sind immer auf dem Weg, von Christus her und zu ihm hin. Es kann höchstens sein, dass wir dabei immer tiefer in das Geheimnis der Gegenwart Gottes eindringen, tiefer in seiner Liebe geborgen sind und den Heiligen Geist noch stärker wirken lassen.
Letzten Endes bleibt dieser Vorgang aber ein Geheimnis. Tauler und unzählige andere sind zwar nicht müde geworden, darüber zu reden und zu predigen, aber was eigentlich gemeint ist, ist unaussprechlich und unbegreiflich. Auf den „Grund der Seele“ kann sich nur jeder und jede selber hinabneigen, und was das wirklich ist, lässt sich gar nicht beschreiben. Man muss das erfahren. Worte können davon lediglich eine Ahnung vermitteln.
Das gilt für den zweiten Teil der Predigt von Tauler und erst recht für den letzten, den wir nun lesen und bedenken wollen.
Durch (all) das soll man hindurch und in Gott dringen, schlicht, lauter, befreit (von allem Fremdartigen). Werden all diese Anblicke durchbrochen in edler, entsagender Weise, dann kommt die Wahrheit, blickt in sich selbst und zieht den Grund entsagend in sich selbst hinein; das geschieht in einem Nu oder in kürzerer Zeit oder wie das Kommen und Gehen der Engel, das noch rascher vor sich geht: je rascher es geschieht, um so edler. Hier soll man in einem Augenblick alles wieder in den Grund tragen und ein Geist mit Gott werden – denn Gott ist ein Geist –, ein Geist mit ihm. Das sind die wahren Anbeter, die „den Vater anbeten im Geist und in der Wahrheit“. Hier wird der wahre und wesentliche Friede geboren, und die Tugenden, von denen wir zuvor gesprochen haben, führen dahin. Und wenn der Mensch diese Übung vornimmt, bleibt seine Natur arm und trocken; für sich selbst hat sie nichts; so denkt sie: „Gott segne mich! Wohin ist es mit deinen Kniefällen gekommen, mit den Übungen der Frömmigkeit, warum bleibt dein Psalmbuch ungenutzt liegen!“ Die Natur besäße, wüsste und wollte gerne etwas; und es kommt die Natur hart an, dieses dreifache „etwas“ in ihr sterben zu lassen.
Meine Lieben! Das geht nicht an einem Tag und auch nicht in kurzer Zeit: man muss sich damit quälen und daran gewöhnen mit emsigem Fleiß; man muss dabei aushalten: so wird es zuletzt leicht und erfreulich. Es ist, wie man von den Heiligen liest: „Ein wenig und in kleinen Dingen mussten sie leiden, aber in vielen Dingen wird ihnen wohl sein.“ Wenn die Natur nun erkaltet ist, soll man, wie Sankt Bernhard spricht, unseren Herr mit den liebevollsten und freundlichsten Worten anreden, die man sich nur ausdenken kann: „Ach allerliebstes, einziges Gut wäre ich doch würdig, einer deiner liebsten Freunde zu sein, und könnte ich doch in meiner Seele dich umarmen und mit tausend Küssen bedecken! Und dich so umfassen und in mich schließen dass ich dich nie mehr verlöre!“ Das soll man aus dem Grund des Herzens denken und sprechen.
Liebe Schwestern! Wendet eure Herzen ganz zu Gott, in welcher Weise auch immer. Denn irgendetwas von Gott, wo durch der Mensch sich am meisten angezogen fühlt und die besten Gnaden erhält, ist Gott ganz und gar. Wisset, sich in die heiligen Wunden unseres Herrn aufzuschwingen ist Gott lieber als aller Orgel- und Glockenklang, alle die schönen Gesänge und die Messgewänder mit den Schilden. Kehrtet ihr euch von Grund aus mit allem Eifer zu Gott, so hörte die Versuchung, die euch entstellt, auf; euer vieles Beichten hörte gänzlich auf; und alles käme in Ordnung durch innere Übung, derart, dass man sich innerlich zu Gott wendete, seine Fehler bekennte und sich ihm schuldig gäbe: da fiele alles ganz ab, und käme man zur Beichte, so wüsste man nichts mehr zu sagen.
Gebe uns Gott allen, dass wir ihm durch Übung in den Tugenden so nachfolgen, dass wir ihn erlangen können. Dazu helfe uns Gott.
Amen
- Auslegung
Tauler beschreibt nun das Ziel, um das es ihm geht: „Durch (all) das soll man hindurch und in Gott dringen“. Der Mensch kann mit Gott eins werden, er kann ihm näher kommen. Es gehört dazu, dass sein Geist „schlicht, lauter, befreit von allem Fremdartigen“ ist. D.h. die Bilder und Gedanken hören auf, der Geist kommt zur Ruhe und „bricht“ zur eigentlichen Wahrheit „durch“. Er „entsagt“ allem eigenen und allem Fremden. Die Wahrheit „zieht [dann] den Grund in sich selbst hinein“, d.h. es kommt zu einer tiefen Übereinstimmung zwischen Geist und Seele, Wollen und Erkennen. Dieses Geschehen lässt sich nicht planen und schon gar nicht machen. Man kann es sich nicht vornehmen und eigentlich auch nicht darauf hinarbeiten. Es „geschieht [vielmehr] in einem Nu oder in kürzerer Zeit“, wie Tauler sagt. Er vergleicht es mit dem „Kommen und Gehen der Engel, das noch rascher vor sich geht.“ Engel sind Wesen, die nicht zu der greifbaren Realität gehören. Sie entspringen dem religiösen Empfinden. Oft sagen wir erst im Nachhinein: Das muss ein Engel gewesen sein. Sie sind Boten des Himmels, göttliche Erscheinungen, die „rasch vergehen“. Damit sagt Tauler, dass das Erleben der Gegenwart Gottes etwas Augenblickliches ist. Und es ist eine „Einswerdung“: Der Geist vergisst sich selber und wird eins mit Gott. Tauler erinnert in diesem Zusammenhang an eine Stelle aus dem Johannesevangelium, indem er sagt. „Das sind die wahren Anbeter, die ,den Vater anbeten im Geist und in der Wahrheit‘“. Jesus sagte das zu der Samariterin am Brunnen (Joh.4, 23) und erklärte ihr damit seine Sendung: Wer an ihn glaubt, braucht keinen Tempel und kein Heiligtum, denn er wird „im Geist und in der Wahrheit angebetet“. Und wo das geschieht, „wird der wahre und wesentliche Friede geboren.“, wie Tauler weiter sagt. Er erinnert damit noch einmal kurz an den Bibeltext, um den es ja geht, und auch an den Anfang seiner Predigt, indem er sagt, dass auch „die Tugenden, von denen er zuvor gesprochen hat, dahinführen.“
Im Anschluss daran beschreibt Tauler nun etwas, das in der geistlichen Praxis sehr wichtig ist. Es geht um den Zusammenhang zwischen dem eigenen Empfinden und dem Erweis der Gnade Gottes. Tauler sagt; „Und wenn der Mensch diese Übung vornimmt, bleibt seine Natur arm und trocken; für sich selbst hat sie nichts.“ Wir dürfen das innere Gebet nicht mit einem seelischen Höhenflug, einer Verzückung oder Ekstase verwechseln. Es geht nicht um wohlige Gefühle und schon gar nicht um großartige Erkenntnisse, auf die wir dann heimlich stolz sind. Wir haben keinerlei Grund, uns selber dabei gut zu finden und uns auf unsere geistlichen Leistungen oder unsere Heiligkeit etwas einzubilden. Das wünschen wir uns zwar, Tauler sagt: „Die Natur besäße, wüsste und wollte gerne etwas.“ Aber das ist ungeistlich. „Besitzen, Wissen und Wollen“ müssen vielmehr in uns sterben, selbst wenn uns das „hart angeht“. Auch die Anzahl der „Kniefälle, die Übungen der Frömmigkeit und das Psalmbuch“ sind unbedeutend. Es ist im Gegenteil viel besser, wenn der Mensch einfach nur seine Nichtigkeit spürt.
Das geschieht allerdings „nicht an einem Tag und auch nicht in kurzer Zeit: man muss sich damit quälen und daran gewöhnen mit emsigem Fleiß; man muss dabei aushalten.“ So predigt Tauler weiter. Keine und keiner möchte gerne „nichts“ sein, das entspricht nicht der Natur des Menschen. Aber es ist letzten Endes die Realität unseres Daseins: Wir haben viel weniger Bedeutung, als uns lieb ist. Wenn wir uns trotzdem dieser Erkenntnis stellen, kann uns das allerdings befreien. Es wird „uns zuletzt leicht und erfreulich“, so Taulers Formulierung. Und er führt an, was seine Hörerinnen offensichtlich aus der Heiligenlektüre wissen: „Ein wenig und in kleinen Dingen mussten sie leiden, aber in vielen Dingen wird ihnen wohl sein.“ Und dann zitiert er den Heiligen Bernhard von Clairvaux (11./12. Jhrh). Er schlägt vor, dass wir „unseren Herr mit [folgenden] Worten anreden: „Ach allerliebstes, einziges Gut wäre ich doch würdig, einer deiner liebsten Freunde zu sein, und könnte ich doch in meiner Seele dich umarmen und mit tausend Küssen bedecken! Und dich so umfassen und in mich schließen dass ich dich nie mehr verlöre!“ Tauler empfiehlt dieses Gebet, das er die „liebevollsten und freundlichsten Worte, die man sich nur ausdenken kann“ nennt, und das heißt: Wir können uns zwar selber nicht heilig machen, unsere geistlichen Fähigkeiten bleiben unvollkommen, aber wir können uns in Liebe und Freundlichkeit an Christus wenden und ihn um Hilfe anflehen. Er kann uns helfen, dass wir ihn nicht verlieren, ihm immer näher kommen und ihn „umarmen“.
Im letzten Abschnitt seiner Predigt macht Tauler noch einmal Mut, den Weg, den er aufgezeigt hat, einzuschlagen, und er bewertet ihn: Er sagt, es lohnt sich mehr als alles andere, die Herzen in dieser Weise zu Gott zu wenden. Auch wenn die Einzelne damit eventuell nur bestimmte Teile des Evangeliums betrachtet, wenn sie sich dadurch „angezogen fühlt und die besten Gnaden erhält, ist [das Erleben völlig ausreichend, denn es ist] Gott ganz und gar.“ In dem Augenblick, in dem wir die Gegenwart Gottes erfahren, gibt es keinen Mangel mehr, es fehlt nichts, Gott ist dann ganz da. Es gibt deshalb auch nichts, das diese Erfahrung übertrifft, und nichts, das „Gott lieber ist“. Es ist besser, als „aller Orgel- und Glockenklang, alle die schönen Gesänge und die Messgewänder mit den Schilden“. Ein äußerer Gottesdienst ohne die „Hinkehrung zu Gott von Grund auf“ ist dagegen bedeutungslos. Selbst die übliche Praxis der Beichte, bei der man regelmäßig vorträgt, welchen Versuchungen man erlegen war und sich dafür die Vergebung zusprechen lässt, wird überflüssig. „Alles käme [vielmehr von selber] in Ordnung“. Denn durch die innere Übung erkennt jede ihre Fehler und weiß sich vor Gott schuldig. Und dabei fällt das, was sie belastet, ganz von alleine von ihr ab.
Der Schlusssatz der Predigt ist dann das kurze, noch einmal auf den Anfang und den Predigttext bezogene und zusammenfassende Gebet: „Gebe uns Gott allen, dass wir ihm durch Übung in den Tugenden so nachfolgen, dass wir ihn erlangen können. Dazu helfe uns Gott. Amen.“
- Anwendung
Tauler gibt uns hier noch einmal ein paar wichtige Hinweise zum geistlichen Leben bzw. zum inneren Gebet. Wir sind ja hier im Kloster, weil wir das üben wollen. Wir sind in die Stille gekommen, weil wir Gott suchen und finden wollen. Das haben wir uns vorgenommen.
Allerdings ist es nicht so einfach, dieses Ziel auch zu erreichen, weil sich das nicht machen lässt. Es verhält sich mit dem Erleben der Gegenwart Gottes nicht so, wie mit anderen Vorhaben: Heute planen wir es und morgen führen wir es dann durch. Denn Gott ist nicht erst morgen oder nachher da, sondern in jedem Augenblick. Wir können ihn nur in der Gegenwart erleben, und das heißt, wir müssen alles Wollen aufgeben und den Augenblick erfassen. Dazu gehört es, dass wir radikal akzeptieren, was jetzt gerade ist, selbst wenn es uns nicht gefällt, sei es, dass unser Gebet trocken ist, dass wir müde sind, uns etwas weh tut, wir unzufrieden sind oder was auch immer. Es ist wichtig, dass wir diesen unseren natürlichen Zustand jetzt so annehmen, nichts daran verändern oder beschönigen.
Wir werden die Gnade Gottes nie besitzen oder festhalten können. Das „schlichte, lautere und befreite Weilen auf dem Grund unserer Seele“ wird niemals ein Dauerzustand sein. Wir werden es nur momenthaft erleben, in einem Nu ist es da und im nächsten vergeht es wieder. Wir dürfen also nicht auf morgen oder die nächste Zeit warten, sondern müssen jetzt ganz offen sein. Dann kann unverhofft und unerwartet eintreten, was wir uns wünschen, und zwar überall und jederzeit. Es kann im Kloster geschehen, aber genauso in unserem Alltag. Wir können es nicht beabsichtigen oder planen, sondern uns nur immer wieder neu für Gott bereit halten und uns von ihm überraschen lassen.
Dann kann er kommen und wir werden „ein Geist mit ihm“. Das Zeitgefühl hebt sich dabei auf, es gibt in dem Moment, wo wir ganz bei Gott sind, kein gestern und kein morgen mehr. Diese Augenblicke sind erfüllter und nachhaltiger als alles andere.
Doch das heißt nicht, dass es keine Entwicklung diesbezüglich im Leben gibt. Solche Momente können sich vielmehr aneinander reihen, und die Abstände dazwischen können im Laufe der Zeit kleiner werden, so dass sie mehr und mehr unser Fühlen und Denken und Handeln prägen.
Trotzdem wir dürfen nie vergessen, dass es letzten Endes im Gebet um Gott geht, und nicht um uns. Er selber ist das Ziel. Nicht unsere Heiligkeit ist entscheidend, auch nicht unsere Konzentrationsfähigkeit oder Tugendhaftigkeit. Ebenso wenig geht es um bestimmte Gaben, die wir uns wünschen oder bekommen. Was wir empfangen, wenn wir innerlich zu ihm beten, ist vielmehr Gott selber. Er möchte, dass wir „ihn erlangen“ und nur er allein kann uns helfen, dass das auch gelingt. Deshalb ist es auch für uns gut, wenn wir ihn einfach immer wieder darum bitten.
verwendete Literatur:
- Johannes Tauler, Predigten Band II, vollständige Ausgabe, übertragen und herausgegeben von Georg Hofmann, Einsiedeln, 1987, S. 511ff
- Johannes Tauler, der Meister in dir, herausgegeben und eingeleitet von Emmanuel Jungclausen (OSB), kleine Bibliothek spiritueller Weisheit, Freiburg im Breisgau, 1999
Betrachtung von Psalm 42
Zwei Einführungen in die Stille Zeit vom Wochenende:
Beten mit den Psalmen, 14.-16.9.2018
verwendete Literatur:
- Erich Zenger, Ich will die Morgenröte wecken, Psalmenauslegungen Band 2, Freiburg i. Br. 2006, S. 252ff
- Artur Weiser, Die Psalmen 1, ATD 14, Göttingen 1987
Psalm 42, Einheitsübersetzung
1 Für den Chormeister. Ein Weisheitslied der Korachiter
2 Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, / so lechzt meine Seele, Gott, nach dir.
3 Meine Seele dürstet nach Gott, / nach dem lebendigen Gott.
Wann darf ich kommen / und Gottes Antlitz schauen?
4 Tränen waren mein Brot bei Tag und bei Nacht; / denn man sagt zu mir den ganzen Tag: / „Wo ist nun dein Gott?“
5 Das Herz geht mir über, wenn ich daran denke. / wie ich zum Haus Gottes zog in festlicher Schar, / mit Jubel und Dank in feiernder Menge. –
6 Meine Seele, warum bist du betrübt / und bist so unruhig in mir?
Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, / meinem Gott und Retter, auf den ich schaue. –
7 Betrübt ist meine Seele in mir, darum denke ich an dich / im Jordanland, am Hermon, am Mizar-Berg
8 Flut ruft der Flut zu beim Tosen deiner Wasser, / all deine Wellen und Wogen gehen über mich hin.
9 Bei Tag schenke der Herr seine Huld; / ich singe ihm nachts und flehe zum Gott meines Lebens.
10 Ich sage zu Gott, meinem Fels: / „Warum hast du mich vergessen?
Warum muss ich trauernd umhergehen, / von meinem Feind bedrängt?“
11 Wie ein Stechen in meinen Gliedern / ist für mich der Hohn der Bedränger;
denn sie rufen mir ständig zu: / „Wo ist nun dein Gott?“
12 Meine Seele, warum bist du betrübt / und bist so unruhig in mir?
Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, / meinem Gott und Retter, auf den ich schaue. –
Hinführung
Das Thema im Kloster für 2018, das sich durch die Jahreslosung ergeben hat, ist der „Durst des Lebens“. Gott hat in der Offenbarung des Johannes verheißen: „Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst.“ (Off.21,6)
Das Bild von der „Quelle des Lebens“, die Gott ist oder die Gott uns schenkt, taucht an vielen Stellen in der Bibel auf. In Psalm 42 ist es sehr deutlich ausgeführt, er handelt insgesamt davon und beginnt gleich mit den Worten: „Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so lechzt meine Seele, Gott, nach dir.“ Der Beter geht davon aus, dass nur Gott seinen „Durst nach Leben“ stillen kann, und sein Psalm beschreibt, wie das geschieht. Deshalb haben wir ihn an einem der Stillen Wochenenden im Gethsemanekloster betrachtet.
Der Kontext
Innerhalb des Psalters gehört Psalm 42 zu den „Psalmen der Söhne Korach“, wie die Überschrift sagt. Das war eine Gruppe von Tempelsängern, denen die Psalmen 42 bis 49 und 84 bis 88 zugeschrieben wird. (Außer Psalm 86, der fällt merkwürdiger Weise aus dieser Gruppe heraus und gehört unvermittelt zu den Davidpsalmen.) Außerdem beginnt mit Psalm 42 das „zweite Buch“ innerhalb des Psalters, insgesamt gibt es fünf. Diese Gliederung und auch die Zuordnung zu Verfassen geschahen allerdings erst in nachexilischer Zeit (nach 538 v.Chr.) durch die sogenannten Redaktoren. Sie haben die vielen Lieder und Gesänge, die im Laufe der Jahrhunderte in Israel entstanden waren, in einem Buch zusammengestellt, geordnet und mit Namen von Autoren versehen. In Wirklichkeit sind die Dichter anonym, und die einzelnen Psalmen sind aus ganz verschiedenen Anlässen entstanden.
Der Aufbau
Psalm 42 gehört mit Psalm 43 zusammen, die beiden bilden zusammen ein Lied, das aus drei Strophen besteht. Das ist hauptsächlich an dem Kehrvers zu erkennen, der am Ende jeder Strophe steht: Er lautet: „Meine Seele, warum bist du betrübt / und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, / meinem Gott und Retter, auf den ich schaue.“
Die erste Strophe handelt vom Hunger nach Leben, die zweite von der Lebensangst und die dritte von der Bedrängnis. Es geht also immer um eine tödliche Bedrohung, in der Wüste, durch chaotische Wassermassen, durch menschliche Gewalt. In allen drei Situationen will der Psalm die Seele zur Ruhe und Gelassenheit führen und rät zum geduldigen Warten auf Gott ein. Er ist der Lebendige, ein Halt gebender Fels und eine rettende und schützende Zuflucht. Der Beter führt dabei ein Selbstgespräch im Inneren, die Seele redet mit ihrem Ich. Gleichzeitig soll Gott dieses Selbstgespräch aber natürlich hören und darauf eingehen
Wir betrachten nur die beiden Strophen von Psalm 42, da die Botschaft und die Antwort in der dritten Strophe, also in Psalm 43, dieselbe ist. Außerdem unterscheidet sie von den beiden ersten doch etwas: Während Psalm 42 eine Klage ist, ist Psalm 43 eine Bitte. Und der Hoffnungsgrund ist ebenfalls unterschiedlich: In Psalm 42 schaut der Beter nach hinten auf seine gemachten Gotteserfahrungen und beschwört die herauf, in Psalm 43 erhofft er sich die Wende von einem zukünftigen Handeln Gottes.
Das sind wohl auch die Gründe, warum die beiden Psalmen getrennt wurden, und wir können uns ruhig auf Psalm 42 beschränken.
Die Gattung
Psalm 42 ist der Klage- und Vertrauenspsalm eines Einzelnen, der sich allerdings nicht auf eine bestimmte Lebenssituation festlegen lässt. Es ist die „Unruhe des Herzens“ an sich, die dieser Psalm zum Thema hat. Man kann ihn deshalb auch als „Herzberuhigungsgebet“ bezeichnen. (Zenger, s. 256) Er enthält viel allgemeine Weisheit. Ebenso psychologische Kenntnisse sind darin verarbeitet. Er verheißt dabei die Ruhe von Gott her. Es ist ein inniger Psalm, der den Wunsch zum Ausdruck bringt, von Gott erkannt zu werden. „Im Licht seines Angesichtes zu leben, ein Gedanke Gottes zu werden – das ist der wahre Beruf des Menschen.“ Diese Einsicht hat ein Kommentator einmal in Psalm 42 wiedergefunden. (Zenger, S. 256). D.h. der Psalmbeter weiß das zwar, hat aber offensichtlich vorübergehend den Anschluss an diese Gewissheit verloren.
Und das ist ganz menschlich. Es gibt Situationen, in denen kommt es uns so vor, als hätte Gott uns vergessen. Während im ersten Teil diesbezüglich hauptsächlich die Gottessehnsucht und eine wehmütige Erinnerung an schöne Erlebnisse zum Ausdruck kommen, wird es im zweiten Teil heftiger und schlimmer: Der Beter fühlt sich regelrecht von Gott verlassen. Er hat Angst und ist einsam und verloren.
Erste Einführung: Vers 1- 6: Sehnsucht nach Gott
Auslegung
V.2: Der Beter beginnt mit einem Vergleich, einem Bild: Er stellt sich eine Hirschkuh vor, die in der Sommerhitze vergeblich nach Wasser sucht. Es gab damals in einer Region Palästinas tatsächlich Hirsche, und im Sommer waren dort die Wasserbäche ausgetrocknet. Die Tiere hatten Durst und waren am Ende ihrer Kräfte, sie stießen schmerzvolle Klagelaute aus. Das kannte der Beter, er hat es sicher öfter gehört. Und mit so einem Hirsch vergleicht er nun seine Seele, sein Innerstes: Sie schreit und weiß genau, was sie braucht, um am Leben zu bleiben. Der Beter verspürt einen Lebensdurst, und er weiß, den kann nur Gott stillen. Die Nähe Gottes ist für ihn wie das Wasser, das den Durst löscht. Sie gibt ihm Lebenskraft und Ruhe, sie stillt sein tiefstes Bedürfnis und seine tiefste Sehnsucht.
V. 3a: Im nächsten Vers sagt er das ausdrücklich und geht noch einmal auf den Durst ein. Jeder kennt das, wie der Mund trocken wird und die Kräfte nachlassen. Durst ist lebensbedrohlich, das Wasser ist dagegen das Grundelement zum Überleben. Das Trinken ist deshalb der elementarste Ausdruck dafür, dass man leben möchte. Und genauso wie der Körper das Wasser braucht und trinken muss, genauso braucht die Seele Gott. Ohne ihn kann sie nicht überleben, ohne ihn trocknet sie aus und verkümmert. Deshalb wird Gott auch im gleichen Atemzug der „lebendige Gott“ genannt. Er ist kein toter Götze, keine Idee, keine Einbildung und erst recht keine vernichtende Macht. Er ist vielmehr lebendig und schafft dadurch auch Leben. Man kann mit ihm rechnen, mit ihm reden, zu ihm rufen, und er antwortet. Dabei besteht seine Antwort darin, dass er in die Seele einzieht, so wie das Wasser in den Leib fließt. Er erfrischt und gibt der Seele immer wieder neue Kraft.
V. 3b: Der folgende Satz ist eine Frage, die eine gewisse Ungeduld erkennen lässt: „Wann darf ich kommen / und Gottes Antlitz schauen?“ Der Beter ist aufgebracht, die Seele bestürmt das Ich und fragt nach einer unmittelbaren Gotteserfahrung. Dabei denkt der Beter wahrscheinlich an eine Wallfahrt nach Jerusalem. Die Teilhabe an der Liturgie im Tempel war für die Frommen wie das „Schauen des Angesichtes Gottes“. Es war ein befreiendes und beglückendes Erlebnis, ein echtes Gottesgeschenk, das den Lebensdurst der Seele stillen konnte. Vielleicht war dieser Beter aus irgendwelchen Gründen verhindert, so eine Wallfahrt anzutreten, aus Krankheit, sozialer Not oder politischen Gründen möglicherweise. Darüber führt er hier ein Selbstgespräch, das indirekt aber an Gott gerichtet ist. Er geht davon aus, dass Gott ihn hört und wünscht sich, dass der dieser Not ein Ende machen möge. Er möchte endlich wieder das „Angesicht Gottes schauen“, d.h. ihn ganz konkret spüren und erleben und die Gemeinschaft mit ihm genießen.
V. 4: In Vers vier wird deutlich, dass der Beter durchaus unter seiner Situation und seiner Sehnsucht nach Gott leidet. Gott scheint fern zu sein, und andere verspotten ihn deshalb sogar. Er ist den Schmähungen von gottlosen Menschen ausgesetzt, die nur sehen, dass ihm etwas fehlt. Sie halten sein Leiden für ein Zeichen der Abwesenheit Gottes, und auch der Beter empfindet das so. Aber anstatt Gott wie sie zu verhöhnen und ihn zu verleugnen, ruft er zu ihm. Er hält ihm seine Klage vor und erwartet etwas von ihm. Er geht davon aus, dass Gott etwas ändern kann. Er kann sich zeigen und ihn trösten, das glaubt der Beter. Gott kann sein Leid wenden, diese Zuversicht hat er.
V. 5: Er erinnert sich noch einmal etwas genauer an vergangene schöne Erlebnisse: Wie er einmal in einem dichten Gedränge, umgeben von edlen Freunden zum Haus Gottes zog. Er erinnert sich an eine Wallfahrt nach Jerusalem, die ihn glücklich und froh gestimmt hatte. Es war eine Feier, in der er nicht allen war, sondern einer den anderen angesteckt hatte mit der festlichen Stimmung. Bei dieser Erinnerung „schüttet er gleichzeitig sein Herz aus“, wie Luther übersetzte. In der Einheitsübersetzung steht: „Das Herz geht mir über, wenn ich daran denke. / wie ich zum Haus Gottes zog in festlicher Schar, / mit Jubel und Dank in feiernder Menge.“ Sein ganzes Inneres war daran beteiligt. Die Erinnerung ist nicht nur ein Gedanke, sondern ein seelischer Vorgang, bei dem er sich ganz öffnet und hingibt. Sein Herz wird davon ergriffen. Er hatte ja auch in Jubel und Dank eingestimmt, der Gottesdienst hatte praktisch schon auf dem Weg zum Tempel begonnen, mit freudigem Gesang waren die Menschen dorthin gepilgert. Und die Erinnerung daran tut dem Beter gut. Das hilft ihm, die trockene Gegenwart auszuhalten, die Leere zu ertragen und noch einmal zu erleben, dass Gott doch da ist.
V. 6: Und nun kommt der Kehrvers, den man auch übersetzen kann: „Was bist du aufgelöst, meine Seele, und was tobst du gegen mich? Warte auf Gott! Denn ich werde ihn wieder loben können, die Rettung meines Angesichts und meinen Gott.“ (Zenger, S. 252) Die Seele seufzt und ist betrübt, sie ist aufgeregt und unruhig, niedergebeugt und gedrückt. Aber der Beter weiß genau, dass es nicht hilft, wenn er sich dieser Stimmung hingibt, wenn er dem Seufzen und Stöhnen zu viel Raum gibt, denn das führt ihn aus dem Leiden nicht heraus. Die Antwort muss vielmehr heißen: „Harre auf Gott!“ D.h.: Warte auf ihn, sei geduldig, er wird schon etwas tun. Er wird dich retten und dir helfen, dich herausziehen aus deinem Elend. Es wird er Tag kommen, an dem der Beter deshalb Gott loben und preisen wird. Das glaubt er ganz fest, dessen vergewissert er sich. Er wird Heil und Glück empfangen, und dieser Glaube kann ihn jetzt schon beruhigen. Er rüttelt seine Seele also wach und ermahnt sie zu einem Glauben, der zwar noch nichts sieht, aber doch schon weiß, dass die Hilfe nicht ausbleibt. In diesem Kehrvers liegt auch die Antwort auf all die Fragen, die der Beter stellt, und die sicher auch unsere Fragen sind. Wir können das gut auf unser Leben anwenden
Anwendung in der Stillen Zeit
Das Gefühl der Sehnsucht und Unerfülltheit kennen wir sicher alle. Auch wir haben innerlich oft Durst, aus ganz unterschiedlichen Gründen. Wir vermissen etwas in unserem Leben. Das kann ein Mensch sein, der uns verlassen hat. Wir sehnen uns nach vergangenen glücklichen Tagen. Manchmal verbinden wir das auch mit einem bestimmten Ort, an dem wir nicht mehr leben, wir haben Heimweh. Es kann auch eine Krankheit sein, die uns Kummer bereitet, materielle Probleme oder was auch immer.
Macht euch das in der Stille einmal klar: Was fehlt mir am meisten? Welche Sehnsucht in meinem Leben ist unerfüllt?
Letzten Endes ist das unsere Ursituation, die des Mangels und der Unzufriedenheit. Das treibt uns an und führt zu vielen guten aber auch unguten Vorgängen. Denn meistens suchen wir die Erfüllung in irgendetwas Weltlichem. Macht und Gier haben hier ihren Ursprung, Unterdrückung und Ausbeutung anderer und unserer Umwelt, Kriege und Hungersnöte. Wir sind immer Getriebene. Das könnt ihr euch dann als nächstes bewusst machen: Was tue ich, damit meine Sehnsucht erfüllt wird? Wo treibt sie mich normaler Weise hin?
Der Psalm gibt uns auch eine Antwort, und zwar ist es die, die Augustin so klassisch formuliert hat: „Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir!“ Wir sind eingeladen, unsere Sehnsucht von Gott stillen zu lassen.
Damit das geschieht, gehen wir in die Stille, und das ist tatsächlich nötig. Wir müssen uns schon einmal aus allem herauslösen, Abstand nehmen und einfach nur auf Gott „warten“. Wir wissen dabei sicher genauso wie der Beter aus früheren Erfahrungen, wie gut es tut, wenn wir mit Gott Gemeinschaft haben.
Doch so ganz einfach ist es natürlich nicht, dass sich dieses Erleben nun auch wieder einstellt. Wir brauchen Geduld. Es ist wichtig, dass wir die Stille nicht gleich mit allen möglichen Gedanken füllen, mit Lesen oder Schreiben. Die Versuchung liegt nahe, denn wir wollen Lösungen haben. So grübeln wir und planen vielleicht sogar irgendetwas.
Der Psalm lädt uns ein, auch damit aufzuhören und stattdessen einfach nur da zu sein. Wir konzentrieren uns auf den Augenblick, ertragen unseren Zustand und warten auf den lebendigen Gott. Er selber ist die Antwort auf unser Suchen und Sehnen, er möchte in unserer Seele gegenwärtig sein. Er ist unser Lebenslied, und wir sind eingeladen, es zu singen. (Zenger S. 261) Herbeizwingen lässt sich das nicht, aber es kann sich einstellen, wenn wir auf Gott „harren und ihm danken, unserem Gott und Retter, und auf ihn schauen.“
Zweite Einführung: Vers 7- 12: Rettung in Not
Auslegung
V.7: Der Beter sagt uns am Anfang, wo er ist und wie es ihm dort geht: Er weilt im hohen Norden des Landes, im Gebirge Hermon, wo der Jordan entspringt. Das ist weit entfernt von Jerusalem, und genauso weit entfernt fühlt er sich von Gott. Denn die schönsten Stunden hatte er bei einer Wallfahrt zum Tempel erlebt. Da war Gott ihm nahe gewesen, und das hatte ihn getröstet. Es tröstet ihn auch, daran zu denken, geduldig auszuharren und zu Gott zu beten. Aber er fällt immer wieder zurück in seine Traurigkeit und das Gefühl der Verlassenheit. Sein Problem ist mit einem einzigen Gebet nicht gelöst. Er bleibt niedergedrückt und betrübt und muss regelmäßig neu Anlauf nehmen, um sich an Gott anzuschließen, die Wunden sind noch lange nicht geheilt.
V.8: Im nächsten Vers beschreibt er seinen Zustand mit einem Bild: Es ist wieder das Wasser, aber nun benutzt er als Vergleich nicht die lebensspendende Kraft, die das Wasser hat, sondern seine bedrohliche Seite. Man kann auch im Wasser untergehen. Es ist nicht das Element, in dem wir leben. Wir sind Landwesen, und große Wassermassen können uns vernichten. Hier ist von „einer Flut nach der anderen“ die Rede: „Flut ruft der Flut zu“. heißt es. Das ist unheimlich und chaotisch. „Wasser und Wellen gehen über mich hin.“ sagt der Beter, er droht also zu ertrinken. Und er wirft das sogar Gott vor, dass es ihm so geht: Es sind „seine Wasser und Wellen“, er steckt dahinter, das ist das Gefühl des Beters. Er klagt Gott praktisch an
V.9: Aber er bleibt dabei nicht stehen, das ist nicht sein letztes Wort. Es setzt sich etwas anderes in seinem Bewusstsein durch, und das ist die Hoffnung, dass Gott trotzdem helfen kann. Seine Möglichkeiten gehen weit über die Not hinaus. Er hilft am Tag und in der Nacht, und das wünscht der Beter sich. „Er sende seine Huld“, sagt er. Dahinter steht die Vorstellung, dass Gott seine Güte beauftragen kann zu kommen, so wie er auch dem Morgen befiehlt, heraufzuziehen, große Ereignisse anordnet und seine Gewalt zeigt. So kann er es fügen, dass seine Liebe und Gnade den Menschen erreicht, jeden Tag aufs Neue. Und auch nachts ist Gott nicht untätig. Da schickt er dem Beter einen Gesang, er erinnert ihn an seine Lieder, die wie ein Gebet zu dem Gott des Lebens sind. Wenn der Beter also nicht schlafen kann, dann stimmt er diese Lieder an und die lassen ihn ruhig werden.
V.10: Trotzdem ist er mit der Schilderung der Not noch nicht fertig. Im nächsten Vers geht das Hadern weiter. Er fragt sich: „Warum ist das alles so? Warum ist mein Leben traurig, warum hilft mir keiner?“ Er fühlt sich auch von Gott verlassen. Doch interessanter Weise bezeichnet er ihn gleichzeitig als „Fels“. Das ist ein Bild, das gut zu den tosenden Wassermassen passt: „Der Fels in der Bandung“, das sagen wir oft, wenn wir etwas Festes in allem Chaos meinen. Er geht nicht unter, an ihm prallen die Wassermassen ab, auf einen Felsen kann man sich retten. Und damit sagt der Beter: „Ich spüre zwar deine Nähe nicht, Gott, aber ich halte mich dennoch an dich.“ Seine Seelenkämpfe sind wie die Wellen, die ihn zu dem Felsen bringen, der Gott ist.
V.11: Dabei ist sein Gebet genauso, wie das Bild, das er malt: Es kommt immer noch eine Welle. Gerade ist die letzte abgezogen, schon kommt die nächste heran gerollt. In Vers elf steigert sich die Schilderung seines Leids sogar noch einmal erheblich. Luther übersetzt: „Es ist wie Mord in meinen Gebeinen“. Die Einheitsübersetzung ist nicht ganz so drastisch und spricht von einem „Stechen in meinen Gliedern“. Wörtlich heißt es „Zermalmung der Knochen.“ Der Beter leidet also körperliche Schmerzen, fühlt sich geschlagen und dem Tod nahe. Denn zu dem Gefühl der totalen Verlassenheit kommt auch noch der Hohn seiner Feinde. Das sind Menschen in seiner Nähe, die nicht an Gott glauben und sich durch sein Schicksal bestätigt sehen. „Gott ist nicht da, du hast dich geirrt.“ scheinen sie zu sagen. Sie beruhigen ihn also nicht, sondern unterstützen seine eigenen Zweifel noch. Doch er lässt sich nicht unterkriegen. Er bäumt sich gegen die Schmerzen auf, indem er das alles vor Gott thematisiert. Er glaubt gegen jeden Augenschein, gegen besseres Wissen, er vertraut sich in der dunklen Nacht blind dem an, von dem er trotz allem noch eine Antwort erwartet, dem lebendigen Gott.
V.12: So folgt der Kehrvers, dessen Gehalt nun noch klarer hervortritt: Der Beter lehnt sich gegen sein Elend auf. Er lässt nicht zu, dass die Traurigkeit ihn ganz ergreift, sondern setzt ihr mit aller Leidenschaft Geduld und Beharrlichkeit entgegen. Er ist sich gewiss, dass es zur Begegnung mit Gott kommen wird. Alles in ihm drängt in diese Richtung. Sein Gebet bewegt sich nach vorn, es ist dynamisch und eindringlich. Er bekämpft dadurch seine innere Unruhe und Angst, er kontrolliert seine Gefühle und verlässt sich ganz auf seinen Glauben. Er hält sich an der Gewissheit fest, dass Gott größer ist als seine Not, und dass er ihm helfen wird. Es ist ein Glaube, der sich an nichts hält, der ihn aber gerade dadurch trägt und selber zum Halt wird.
Anwendung in der Stillen Zeit
Ich hoffe zwar, dass es von euch niemanden z.Zt. so schlecht geht, wie diesem Beter, aber sicher kennt ihr alle solche Seelenkämpfe. Angst und Qual. Zweifel und Anfechtung gehören zu unserem Leben. Es gibt immer wieder Zeiten, da werden wir davon heimgesucht. Wir sind auch nicht jedes Mal so fest im Glauben, dass wir die Not sofort überwinden. So können uns z.B. Konflikte manchmal lange beschäftigen, in der Ehe und in der Familie, im Beruf oder in der Gemeinde, in der Nachbarschaft oder in der Gesellschaft usw. Andere Menschen machen uns oft das Leben schwer. Wir können ihnen nicht entkommen oder ihnen etwas entgegensetzen.
Weiteres Leid wird durch Krankheit verursacht, besonders wenn sie lebensbedrohlich oder unheilbar ist. Dann müssen wir uns umstellen, uns von vielem verabschieden, wir fühlen uns ausgeliefert.
Diese Liste der Nöte und des Leidens ließe sich noch unendlich fortsetzen. Und auch wenn es keine persönlichen Katastrophen sind, so hat bestimmt jede und jeder von euch irgendetwas mitgebracht, was sie oder ihn belastet.
Leider werden die Probleme in der Stille zunächst oft auch noch größer, weil wir Zeit haben, uns damit zu beschäftigen. Außerdem ist unsere normale Haltung die der Auflehnung. Wir wollen das alles nicht, es soll verschwinden, wir wünschen uns ein schönes und ruhiges Leben, Frieden und Harmonie. Wir träumen uns in die Vergangenheit oder in die Zukunft hinein.
Doch je mehr wir das tun, umso schlimmer wird es eigentlich. Und noch schwieriger wird es, wenn wir Gott dabei Vorwürfe machen. Die Frage stellen wir ja gegen besseres Wissen oft: „Warum lässt du das zu, Gott? Warum trifft es gerade mich? Bist du überhaupt da? Hörst du mich noch?“ Auch wir kennen das Gefühl der Gottverlassenheit. Wir beten dauernd, aber nichts geschieht.
Und zu all dem sagt der Beter des Psalms uns etwas sehr Weises. Er bringt zwar seine Not in der Stille und im Gebet vor Gott, aber letzten Endes verabschiedet er sich von seinen Träumen und Wünschen. Er lässt sie los und überlässt sich selber Gott. Und dazu sind auch wir eingeladen, wenn wir in die Stille gehen.
Gott ist größer als alles, was wir denken und wollen. Die Wirklichkeit besteht aus noch viel mehr, als wir erleben. Unser Dasein auf dieser Erde ist nicht alles, was es gibt. Vor uns und nach uns ist der lebendige Gott, dem wir uns hingeben können. Und nur, wenn wir das tun, kommen wir zur Ruhe. Es geht darum, dass wir weder an gestern noch an morgen denken, sondern uns in der Gegenwart aufhalten. Wir dürfen uns nicht von uns selber weg bewegen, sondern müssen uns spüren, so wie wir jetzt sind, und dazu ja sagen. Darin besteht die Geduld, von der hier die Rede ist. Sie ist nicht nur eine Tugend, sie ist auch ein Heilmittel, besonders dann, wenn wir uns darin vor Gott und um seinetwillen üben. Dann macht sie uns wirklich ruhig.
Dabei dürfen wir diese Geduld und Ruhe nicht mit Schicksalsergebenheit verwechseln. Vielleicht klingt das alles jetzt so, als sollten wir passiv werden, die Hände in den Schoß legen und die Verantwortung abgeben. Doch so ist es nicht gemeint, wenn es heißt „Harre auf Gott“. Dieses Warten ist vielmehr etwas höchst Aktives. Wir übernehmen gerade damit sehr viel Verantwortung, denn wir glauben und vertrauen. Wir überlassen uns ja nicht dem Nichts, sondern gehen davon aus, dass Gott da ist. Es gibt kaum eine stärkere Tätigkeit des Bewusstseins, als sich in der Dunkelheit und gegen jede Vernunft daran zu halten. Der Geist schwingt sich auf, er hofft und bleibt trotz allem zuversichtlich.
Und so ist auch der „Lohn“ dieser Aktivität größer als alles andere, das wir erreichen können. Denn wir werden wirklich von Gott selber erfüllt. Er reicht uns das lebensnotwendige Wasser seiner Liebe und Gegenwart. Wir müssen es nur trinken.
Betrachtungen zu dem Lied
„Herr Christ, der einig Gotts Sohn“
von Elisabeth Cruciger (1524)
Evangelisches Gesangbuch Nr. 67
Stilles Wochenende im Gethsemanekloster Riechenberg, 25.-28.1.2018
Das Epiphaniaslied „Herr Christ, der einig Gotts Sohn“ enthält viele Anregungen für die Stille Zeit. An dem Stillen Wochenende haben wir es in drei Schritten betrachtet:
Strophe 1+2
Strophe 3+4
Strophe 5.
Erste Einführung: Strophe 1 und 2
- Hinführung
a. Elisabeth Cruciger
Elisabeth Cruciger wurde 1505 auf dem Adelssitz Meseritz in Ostpommern geboren. Als Kind wurde sie dem Kloster Marienbusch bei Treptow in Pommern übergeben. Es gehörte zu dem Orden der Prämonstratenserinnen.
Durch Johannes Bugenhagen, Lektor im benachbarten Mönchskloster, wurde sie mit der Reformation bekannt gemacht. 1522 floh sie aus dem Kloster und folgte Bugenhagen nach Wittenberg, wo er seit 1523 Stadtpfarrer war. 1524 heiratete sie den Magdeburger Prediger und späteren Professor Caspar Cruciger, ein Kollege Luthers an der Universität Wittenberg. Elisabeth Cruciger war die erste Liederdichterin der evangelischen Kirche. Sie starb 1535 in Wittenberg.
b. Geschichte des Liedes „Herr Christ der einig Gotts Sohn“
Elisabeth Cruciger hat dem Lied die Überschrift gegeben: „Ein Lobgesang von Christus“. Für sie war es also schlicht ein Loblied. Zum Epiphaniaslied wurde es wohl erst später, weil Christus darin als „Morgenstern“ bezeichnet wird, ein Bild, das zur Tradition der Epiphaniaszeit gehört. Das ist die Zeit nach Weihnachten, in der es um das Aufleuchten des Sterns von Bethlehem geht, um die Erscheinung Christi als Licht Gottes.
„Herr Christ, der einig Gotts Sohn“ ist eines der ältesten evangelischen Kirchenlieder und gehört zum Kernbestand der reformatorischen Choräle. Martin Luther nahm es bereits 1524, also im Jahr seiner Entstehung, in sein „Geistliches Gesangbüchlein“ auf, „ein Enchiridion oder Handbüchlein mit 25 Liedern und 15 Melodien“. Es war das zweitälteste evangelische Gesangbuch, das in Erfurt erschien und auch viele Lieder von Martin Luther enthielt.
Es dauerte allerdings ein paar Jahre, bis man wusste, von wem der Text dieses Liedes stammte, die Verfasserin wurde nicht genannt, „anonym“ stand darunter. Denn es war für Luther und viele andere Männer damals zunächst unvorstellbar, eine Frau als Schöpferin eines Kirchenliedes in das Blickfeld der Öffentlichkeit zu rücken. Erst 1531 wurde das Lied in einem anderen Gesangbuch – von einem gewissen Rauscher – unter ihrem Namen gedruckt.
c. Aufbau des Liedes
Das Lied beinhaltet in seinen ersten beiden Strophen die Heilsgeschichte in Leben und Werk Jesu Christi für die Menschheit. Sie sind eine Art Glaubensbekenntnis. Die letzten drei Strophen wollen das von der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus ausgehende Heil für die Menschen vertiefen: Die Redeform ist jetzt eine Bitte. Es wird der Wunsch formuliert, die Heilstat Jesu zu verstehen und im Glauben beständig zu sein und zu wachsen. Darin kommt echte gelebte Herzensfrömmigkeit zum Ausdruck, wie sie Elisabeth Cruciger aus dem Kloster kannte. Die Strophen spiegeln ihre Lebenserfahrung wider. Das Lied verbindet also sehr schön reformatorische Verkündigung des Evangeliums mit der innigen, mystischen Spiritualität des mittelalterlichen Klosterlebens.
d. Melodie und Bearbeitungen
Die Melodie des Liedes geht auf eine weltliche Vorlage aus dem 15. Jahrhundert zurück, ist jedoch umgearbeitet worden. Nord- und mitteldeutsche Kirchenmusiker des Barock haben das Lied für verschiedene Besetzungen bearbeitet. Die bedeutendsten Werke sind Johann Sebastian Bachs gleichnamige Kantate und seine Bearbeitung für Orgel im Orgelbüchlein.
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Auslegung
Strophe 1:
„Herr Christ, der einig Gotts Sohn, Vaters in Ewigkeit, aus seim Herzen entsprossen, gleichwie geschrieben steht, er ist der Morgensterne, sein Glänzen streckt er ferne vor andern Sternen klar;“
Elisabeth Cruciger bekennt am Anfang ihren Glauben, dass Jesus Christus der Sohn Gottes ist. Ihre Formulierung erinnert an das nizänische Glaubensbekenntnis: „Wir glauben an den einen Herrn Jesus Christus, Gottes eingeborenen Sohn, aus dem Vater geboren vor aller Zeit: Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott.“
Jesus ist der einzige Sohn Gottes, es ist also keiner wie er, er ist ausgesondert, weil er in geheimnisvoller Weise von Gott kommt und dem Vater in Ewigkeit angehört. In ihm offenbart sich etwas, das größer ist als Zeit und Raum, er bleibt und wird leben, auch weit über diese Zeit hinaus. Denn er kommt vom Höchsten selber und gehört wesentlich mit ihm zusammen. Er ist „eines Wesens mit dem Vater“, wie es im Glaubensbekenntnis heißt, oder wie EC formuliert: „aus seinem Herzen entsprossen“. D.h. er ist aus dem Innersten Gottes, aus dem Zentrum von Himmel und Erde hervorgegangen und er ist selber Gott.
„gleichwie geschrieben steht“, heißt es weiter, d.h. das ist in der Schrift belegt, wie z.B. im Johannesevangelium, wo es in Kapitel eins heißt: „Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit. Niemand hat Gott je gesehen; der Eingeborene, der Gott ist und in des Vaters Schoß ist, der hat ihn uns verkündigt.“ (Johannes 1,14.18)
EC hat sich das, was sie dichtet, also nicht selber ausgedacht, sondern sie formuliert die Glaubensaussagen und biblischen Inhalte, die bereits da sind, neu.
Und dann geht sie in das Lob über, das dem Lied die Überschrift gegeben hat und wodurch es zum Epiphaniaslied wurde. „Er ist der Morgensterne“. Generell wird als Morgenstern das hellste vor Sonnenaufgang hervortretende Gestirn bezeichnet. Dieser Stern ist von überall her sichtbar, er leuchtet länger und heller als die anderen Sterne. „Sein Glänzen streckt er ferne vor andern Sternen klar“. So endet die erste Strophe. Damit greift EC ein uraltes Bild für Christus auf. Schon im NT taucht es auf, in der Offenbarung 22,16, wo Jesus die Worte in den Mund gelegt werden: „Ich bin die Wurzel und das Geschlecht Davids, der helle Morgenstern.“ Diese Bild wurde dann in der christlichen Tradition vielfach in Form von Hymnen entfaltet, das bekannteste ist für evangelische Christen wahrscheinlich das Lied von Philip Nicolai: „Wie schön leuchtet der Morgenstern“. (EG 70)
Strophe 2:
„für uns ein Mensch geboren im letzten Teil der Zeit, dass wir nicht wärn verloren vor Gott in Ewigkeit, den Tod für uns zerbrochen, den Himmel aufgeschlossen, das Leben wiederbracht:“
Nachdem EC in der ersten Strophe die göttliche Seite Jesu besungen hatte, seine himmlische Herkunft und Heimat, sagt sie jetzt etwas über seine Menschwerdung. Auch damit greift sie das Glaubensbekenntnis auf, das folgendermaßen weitergeht: „Für uns Menschen und zu unserm Heil ist er vom Himmel gekommen, hat Fleisch angenommen durch den Heiligen Geist von der Jungfrau Maria und ist Mensch geworden.“
Dass EC sich daran anlehnt, wird auch an dem Originaltext deutlich. In ihm taucht nämlich ebenfalls noch die Jungfrauengeburt auf. Das wurde später – ich weiß leider nicht wann und durch wen – abgewandelt. Sie dichtete: „der Mutter unverloren ihr jungfräulich Keuschheit.“ D.h. Maria hat durch die Geburt Jesu ihre Jungfräulichkeit nicht verloren.
Interessant ist bei EC die Zeitangabe: Jesus wurde im „letzten Teil der Zeit“ geboren. Darin kommt die Vorstellung zum Ausdruck, dass diese Zeit ihrem Ende entgegengeht, dass es eines Tages etwas ganz neues geben wird, was diese Zeit ablöst, eine neue Welt, ein neues Leben. Und wir befinden uns bereits im „letzten Teil“ dieser Zeit. D.h. Jesus ist der letzte Gesandte von Gott, bevor dieses Neue anfängt, er ist bereits ein Vorbote. Er wird etwas Neues bringen und uns in dieses Neue hinüberretten.
„Dass wir nicht wärn verloren vor Gott in Ewigkeit“. So geht die Strophe weiter. Das ist nun die Umformulierung der ursprünglichen Aussagen über die Jungfräulichkeit Marias von EC, die wir heute in unserem Text finden. Und das ist auch aussagekräftiger, als der Originaltext: Wir sollen nicht untergehen, wenn diese Zeit zu Ende geht, Gott wird uns aufnehmen und retten.
Denn Jesus hat „den Tod zerbrochen.“ Der Tod ist das Hauptkennzeichen dieser Zeit, aber er hat durch das Werk Jesu keine Macht mehr über uns. Denn Jesus „wurde für uns gekreuzigt unter Pontius Pilatus, hat gelitten und ist begraben worden, ist am dritten Tage auferstanden nach der Schrift und aufgefahren in den Himmel.“ wie es im Glaubensbekenntnis heißt.
EC macht daraus: Er hat „den Himmel aufgeschlossen“. Wir werden also nicht in den Abgrund stürzen, sondern nach oben gezogen wie von einer starken Hand. Die Türen zum Reich Gottes stehen uns offen, schon jetzt, schon in diesem Leben. Wir können von wo anders her leben und unseren Halt ganz bei Gott finden. Wir können leben, ohne Angst und Sorge, ohne Schrecken oder Grauen.
Denn er hat „das Leben wiederbracht“. So der letzte Satz in Strophe zwei.
- Anwendung
Wenn wir die beiden Strophen nun in der Stille betrachten, so können wir uns vorstellen, was EC hier beschreibt. Sie lädt uns dazu ein, uns Christus vor Augen zu halten, zu ihm aufzublicken, an ihn zu glauben, auf ihn zu vertrauen.
Es ist ein schönes und positives Bild, das sie malt, hell und überwindend. Jesus Christus ist Gott und Mensch zugleich. Er ist stark und liebend, er ist herrlich und uns trotzdem zugewandt, ganz für uns da, an unserer Seite und zu unserem Heil. Heute Nachmittag kann unsere Übung darin bestehen, das einfach nur anzuschauen und uns daran zu freuen.
Wir bringen ja vieles mit auf dieses Wochenende, das uns beschäftigt: Sorgen und Ängste, aber vielleicht auch Wünsche und Pläne. Wir können unseren Alltag nicht so schnell hinter uns lassen, wir stecken in unserer Haut, in unseren Gedanken und Gefühlen, auch in unseren Beziehungen und Aufgaben. Sie verfolgen uns bis hierher.
Vielleicht suchen einige von euch nach Lösungen für bestimmte Probleme oder Konflikte. Die Stille verleitet dann dazu, dass wir darüber nachdenken. Wir fangen an zu grübeln, und manchmal drehen sich die Gedanken im Kreis. Wir werden sie nicht los und zu Lösungen kommen wir ebenfalls nicht. Das kann dann sehr quälend werden.
Hier im Kloster ist die Stille allerdings so auch nicht gedacht. Sie soll nicht dazu da sein, dass wir nachdenken und unseren Kopf anstrengen, sie soll vielmehr dazu dienen, dass wir loslassen, uns selber, unsere Gedanken, unsere Vorhaben, und einfach nur vor Gott stehen. Vor ihm relativiert sich alles. Es wird kleiner, denn eigentlich ist nur er wirklich groß und wichtig. Letzten Endes ist er auch genug. Wir sind seinetwegen hier, um Gottes willen, und wenn wir ihn haben, dann beruhigt sich das meiste von selber.
Wir dürfen also nicht versuchen, irgendetwas zu erzwingen, zu wollen, selber zu machen. Wir können uns nicht selber retten oder beruhigen. Es gilt stattdessen, zu schauen und abzuwarten, einfach da zu sein.
Bei dieser Übung hilft auch der Gedanke, den EC formuliert hat, dass wir „im letzten Teil der Zeit“ leben. Die Zeit vergeht und danach kommt etwas Neues und Großes. Wir dürfen das, was uns widerfährt, also nicht überbewerten. Es ist nicht die letzte und einzige Wirklichkeit, sondern nur das Vorletzte, etwas Vorübergehendes. Selbst der Tod ist nicht die letzte Wahrheit über unser Leben, er wurde von Christus vielmehr „zerbrochen“. In ihm wird sichtbar, fühlbar und erlebbar, was danach kommt. Er hat „den Himmel aufgeschlossen“.
Wir vertrauen deshalb darauf, dass er da ist, dass er schön ist und uns retten kann. Dann entstehen langsam Zuversicht und Hoffnung, es wird heller in uns, der Geist weitet sich. Wir entspannen uns und werden ruhiger, denn wir werden nach oben gezogen, das Dunkle verliert seine Macht, Ängste lösen sich auf, Sorgen werden kleiner.
Lasst einfach den hellen Morgenstern in euren Geist und in eure Seele hineinleuchten.
Zweite Einführung: Strophe 3 und 4
- Hinführung
Elisabeth Cruciger war wie Katharina von Bora und andere wichtige Frauen der Reformation, eine „entlaufene Nonne“, d.h. sie hatte sich selbst aus dem Kloster befreit und war geflohen. Schon als Kind war sie dem Kloster übergeben worden, sie hatte sich für diese Lebensform also wahrscheinlich nicht selber entschieden. Später hat sie dann geheiratet. Mehr wissen wir über ihre Geschichte kaum.
Natürlich haben wir dadurch nun die Phantasie, dass es ihr im Kloster nicht gefiel, dass sie sich unfrei gefühlt hat und sich nicht entfalten konnte. Aber das bleibt Spekulation, wir wissen darüber nichts. So ganz schlimm kann es auch nicht gewesen sein, denn in ihrem Lied kommt die klösterliche Lebenserfahrung durchaus vor, und zwar nicht in negativer Weise, sondern ganz selbstverständlich und sogar sehr schön. EC ist dort also geprägt worden und hat das, was sie im Kloster gelernt hat, ihre Frömmigkeit und ihre Theologie, keinesfalls abgelegt.
Der Orden, zu dem sie gehörte, waren die Prämonstratenser, bzw. Prämonstratenserinnen. Der war von Norbert von Xanten im Jahr 1120 gegründet worden, auf der Grundlage der Regel des Heiligen Augustin. Er wuchs und blühte schnell, und es gab bald auch Frauen, die dazu gehören wollten. So entstand ebenfalls der weibliche Zweig.
Wie in allen Klöstern war die Lebensweise von persönlicher Armut, Ehelosigkeit, d.h. Keuschheit und Gehorsam geprägt. Auch Elisabeth hatte dafür sicherlich ein feierliches Gelübde abgelegt. Christusnachfolge und geschwisterliche Liebe waren das Lebensziel. Sie führte also ein Leben des Gebetes und der Buße. Bei den Prämonstratensern waren außerdem die Mission und die Seelsorge wichtige Aufgaben. Elisabeth war also möglicherweise daran gewöhnt, ihren Glauben auch auszudrücken, ihn zu kommunizieren und Worte für das zu finden, was sie dachte und erlebte. Das wäre dann auch eine Erklärung für den Traum, von dem wir gehört haben, in dem sie selbst auf der Kanzel zu Wittenberg gestanden und die Predigt gehalten hat.
Dazu ist es natürlich nicht gekommen, aber ihr Lied fand immerhin Anerkennung und Verbreitung. Es zeugt auch von gediegener theologischer Kenntnis und einem fundierten Glauben. Heilsgeschichtliche Aussagen verbinden sich darin mit dem Ausdruck unmittelbarer, gefühlsbetonter Innigkeit.
Das wird im weiteren Verlauf besonders schön deutlich. Nachdem in den ersten beiden Strophen hauptsächlich Glaubensaussagen vorkamen, folgt nun die Bitte um eine persönliche Erfahrung.
- Auslegung
Strophe 3:
„Lass uns in deiner Liebe und Kenntnis nehmen zu, dass wir am Glauben bleiben, dir dienen im Geist so, dass wir hier mögen schmecken dein Süßigkeit im Herzen und dürsten stets nach dir.“
EC formuliert hier eine persönliche Bitte, d.h. in das erhabene Bild von Christus, dem Sohn Gottes, kommt nun der Mensch hinein. EC sagt, was sie sich wünscht, was für sie wichtig ist und wonach sie sich sehnt, wenn sie Christus betrachtet. Sie steht in einer Beziehung zu ihm, und die soll ihren Ausdruck finden. Ihre Bitte lautet: „Lass mich in deiner Liebe und Kenntnis zunehmen.“
Die angemessene Reaktion auf das Erscheinen und die Gegenwart Christi ist also als erstes die Liebe. Sie ist die Antwort des Menschen, sie ist die Kraft, mit der die Beziehung zu Jesus Christus lebendig wird. Zur Liebe gehören immer Vertrauen und Zuneigung. Wenn man liebt, fühlt man sich zu jemandem vom Herzen her hingezogen.
Das zweite, was EC sich wünscht ist „Kenntnis“ Christi. D.h. auch der Geist ist einbezogen. Die Beziehung zu Jesus soll nicht nur von Liebe geprägt sein, sondern außerdem vom geistigen Durchdringen, von Klarheit und Erleuchtung des Verstandes.
Und all das ist nicht auf einmal da und bleibt dann für immer so, sondern es entwickelt sich. Es ist einem Wachstum unterworfen. So wie Paulus das im Epheserbrief formuliert hat (Eph.4,15): „Lasst uns aber wahrhaftig sein in der Liebe und wachsen in allen Stücken zu dem hin, der das Haupt ist, Christus.“ Das ist auch ECs Wunsch und ihre Bitte, dass Liebe und Kenntnis, Treue und Wahrheit „zunehmen“ mögen.
Damit sie „am Glauben bleibe“, wie es weiter heißt, sich also nicht beirren lasse und nicht abgezogen werden möge, sondern „Christus im Geist dienen kann“, d.h. nach seinem Willen fragen und ihm zur Verfügung stehen kann.
Auf dass sie „seine Süßigkeit im Herzen schmecken“ möge. Die Wirkung des Dienstes an Christus, die Wirkung der Liebe und des Glaubens ist ein „Geschmack“. Das ist natürlich bildlich gemeint, aber dieses Bild kommt bei vielen Mystikern vor. So haben sie die Nähe Christi wohl erlebt, wie einen süßen Geschmack im Herzen. D.h. Hingabe und Liebe zu Christus, Glauben und Vertrauen wirken sich im Inneren aus, in der Seele und in den Gefühlen, und diese Wirkung ist schön und erfüllend. Sie befriedigt und stillt die Sehnsucht des Herzens.
Das sagt EC am Ende dieser Strophe und sie fügt dem Bild von dem Geschmack, also dem Essen, noch das des Durstes hinzu: „und dürsten stets nach dir“. Damit bittet EC darum, dass ihre Sehnsucht nie erlöschen und sie immer wieder zu Christus hingetrieben werden möge.
In der nächsten Strophe setzt sie sowohl mit der Anrede an Christus als auch mit ihrer Bitte noch einmal neu an:
Strophe 4:
„Du Schöpfer aller Dinge, du väterliche Kraft, regierst von End zu Ende kräftig aus eigner Macht. Das Herz uns zu dir wende und kehr ab unsre Sinne, dass sie nicht irrn von dir.“
EC erwähnt nun noch weitere Eigenschaften Christi und nennt ihn „Schöpfer aller Dinge und väterliche Kraft“. Damit erinnert sie an den ersten Artikel des Glaubensbekenntnisses: „Wir glauben an den einen Gott, den Vater, den Allmächtigen, der alles geschaffen hat, Himmel und Erde, die sichtbare und die unsichtbare Welt.“ Alles kommt von Gott, und weil Christus aus ihm hervorgegangen ist, genauso von Christus. Er ist das „Wort Gottes“, durch das „alles geschaffen wurde“, wie es im Prolog des Johannesevangeliums heißt. (Joh.1,3) Auch im Kolosserbrief finden wir einen Hymnus, in dem Christus als „Ebenbild des unsichtbaren Gottes“ besungen wird, in dem „alles geschaffen ist“ (Kol.1,15ff) Christus ist wie Gott der Ursprung und die Mitte des Kosmos. Wenn wir an ihn glauben, haben wir den Herrn der Welt vor uns, von dem alle Dinge abhängen, der aber selber ganz frei und unabhängig ist. „Er regiert aus eigner Kraft“, d.h. er braucht niemanden, er ist niemandem untergeordnet, frei und souverän sitzt er auf dem Thron.
Und nun wiederholt EC noch einmal die Bitte, dass er unser „Herz zu ihm wenden und unsere Sinne abkehren“ möge, d.h. sie von allem weglenken, was uns von ihm trennen könnte.
Diese Gefahr besteht durchaus. Vielleicht merkte EC das nach ihrem Austritt aus dem Kloster ja: Sie hatte nicht nur etwas gewonnen, ihre Freiheit und die Welt, sondern auch etwas verloren: Den Schutz der Klostermauern nämlich, die geholfen haben, dass ihre „Sinne“ vom äußeren „abgekehrt“ und zu Christus hingekehrt waren. Sie merkte: Sie könnte theoretisch nun ihr Leben ohne Christus führen, von ihm abgewandt, und sich mit ganz anderen Dingen befassen. Sie konnte sich anderen Eindrücken und Einflüssen hingeben. Aber das wollte sie nicht, und um dem Sog zu widerstehen, bittet sie Christus um Hilfe. Sie merkte wohl: Aus eigener Kraft heraus schafft sie das nicht. Christus selber muss dafür sorgen, dass sie auch an ihm hängen bleibt.
- Anwendung
Und damit ist sie uns sehr nah, in dieser Situation sind wir auch. Wir haben die gleiche Sehnsucht des Glaubens, leben aber in der Welt und wissen, wie leicht wir vom Glauben abgelenkt werden können. Deshalb sind wir hier. Wir haben uns vorübergehend in ein Kloster begeben, um uns all diesen Einflüssen einmal zu entziehen, damit Christus „unsere Sinne zu ihm kehren“ möge.
Die Geschichte von EC und die beiden Strophen unseres Liedes geben uns wichtige Hinweise, worauf es dabei ankommt.
Zunächst wird uns gesagt, dass es dabei in erster Linie darum geht, dass wir in „Liebe und Kenntnis Christi zunehmen“.
Darin steckt ein reformatorischer Gedanke, denn wir können das als Alternative zur Werkgerechtigkeit verstehen: Nicht die Werke sind entscheidend in der Beziehung zu Gott, sondern die Liebe zu ihm, und dass wir ihn kennen. Und das ist durchaus auch für uns heute noch ein Thema, denn von der Werkgerechtigkeit sind wir leider nie ganz frei, auf diese Versuchung müssen wir immer wieder unsere Aufmerksamkeit lenken. Gerade im Kloster liegt es nahe, dass wir uns heimlich selber retten wollen: Wir investieren ja schließlich etwas: Wir haben uns auf den Weg gemacht, Geld ausgegeben, uns Zeit genommen. Und nun halten wir uns an die Klosterregeln, verzichten auf äußere Eindrücke, schweigen und lenken uns nicht ab. Wir versuchen, uns zu konzentrieren, zu beten und Gott näher zu kommen. Bei so einem Vorhaben entsteht dann oft – ohne dass wir es wirklich merken – das Bewusstsein, durch all diese Übungen irgendwie Gott wohlgefällig zu werden, ihm zu gefallen. Wir sind insgeheim stolz auf unsere Taten, wir üben uns in Friedfertigkeit und Geduld und finden uns irgendwie heilig.
Und das ist auch alles nicht schlecht, es gehört durchaus dazu, aber diese Übungen sind nicht das Entscheidende. Sie sind lediglich Hilfsmittel. Worum es eigentlich geht, ist, uns in Liebe Christus anzuvertrauen. Wir tun hier einmal gar nichts mehr, legen die Hände buchstäblich in den Schoß und halten die Situation einfach nur aus. Es ist wichtig, so wenig wie möglich zu wollen. Stattdessen senden wir immer wieder eine Regung der Liebe in Richtung Christus und genießen ihn in unserem Herzen. Den Rest tut er dann. Denn er hat schöpferische Kraft, er kann uns neues Leben schenken, in uns einziehen und unseren inneren Durst löschen. Nicht unsere Werke sind entscheidend in der Beziehung zu Gott, sondern unser Leben, unser Sein, unser Denken und Fühlen. Wir lassen es von ihm anrühren und erfüllen.
Dann entsteht ganz von selber das, wonach wir uns sehnen: Wir gewinnen innere Klarheit und Einfachheit, wir werden ruhig und getröstet, entspannt und gelassen, friedfertig und geduldig. Das ist Erlösung. Und die ist dann auch unabhängig vom Kloster, das können wir überall leben, in jeder Lebensform, in jeder menschlichen Beziehung.
Das ist der eine Gedanke, den wir den Strophen von EC entnehmen können. Dazu kommt dann noch die Einsicht, dass wir damit nie fertig werden. Wir begeben uns vielmehr auf einen inneren Weg. Wenn wir dabei bleiben, d.h. es immer wieder tun, wachsen wir langsam zu Christus hin unsere „Liebe und Kenntnis nehmen zu“. Es ist ein Prozess, bei dem wir uns verändern. Unsere Sehnsucht wird gestillt, wir werden im Laufe der Zeit reifer und zuversichtlicher.
EC lädt uns ein, diesen Weg einzuschlagen.
Dritte Einführung: Strophe 5
- Hinführung
Wenn wir das Lied von EC näher betrachten und kennenlernen, merken wir, wie viel es mit der Reformation zu tun hat: Zu seiner Geschichte gehört die Auflösung der Klöster, die Rolle von „entlaufenen Nonnen“ und ihre Eheschließungen. Dazu spielen Glaube und Theologie in diesem Lied eine wichtige Rolle. Die Werkgerechtigkeit wird in Frage gestellt, und das Denken paart sich mit Frömmigkeit und Gebet.
Ein weiterer Aspekt ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass es überhaupt ein geistliches Lied mit einem deutschen Text ist. Das kam nämlich in der Reformation erst auf. Ohne ihre Lieder ist sie nicht denkbar. Luther selber liebte die Musik und das Singen sehr. 35 Kirchenlieder sind von ihm überliefert, und er gab das erste evangelische Gesangbuch heraus. In seiner Vorrede dazu sagt er: „«Singet dem Herrn ein neues Lied, singet dem Herrn alle Welt!» Denn Gott hat unser Herz und Mut fröhlich gemacht durch seinen lieben Sohn, welchen er für uns gegeben hat zur Erlösung von Sünden, Tod und Teufel. Wer solchs mit Ernst gläubet, der kanns nicht lassen, er muss fröhlich und mit Lust davon singen und sagen, dass es andere auch hören und herzukommen.“ Und 1538 schreibt er in einer „Vorrede auf alle guten Gesangbücher“: „Vor allen Freuden auf Erden / kann niemandem eine schönere werden, / denn die ich geb mit mei’m Singen / und mit manchem süßen Klingen. / Hier kann nicht sein ein böser Mut, / wo da singen Gesellen gut. / Hier bleibt kein Zorn, Zank, Hass noch Neid; / weichen muss alles Herzeleid. / Geiz, Sorg und was sonst hart anleit / fährt hin mit aller Traurigkeit.“ Luther schätzte die Musik also sehr hoch ein – sie soll in der Schule auch sein Lieblingsfach gewesen sein –, und diese Wertschätzung erstreckte sich ebenso auf jene Menschen, denen die Musik ähnlich viel bedeutete wie ihm. Elisabeth Cruciger gehörte zu diesen Menschen. Sie war eine verwandte musikalische Seele.
Der Orden, zu dem sie gehört hatte, die Prämonstratenserinnen, war auch ein Chorherren bzw. Chorfrauenorden, d.h. der Gesang wurde dort besonders gepflegt, ein Schwerpunkt lag auf der musikalischen Gestaltung von Gottesdiensten, auf Liturgie und Psalmengesang.
In ihrer Ehe hat sie möglicherweise dann auch viel gesungen und musiziert. Es ist überliefert, wie Luther einmal mit Doktor Jonas, Philipp Melanchthon und Caspar Cruciger, also Elisabeths Mann, nach Leipzig fuhr, und wie die Herren im Wagen in einem überaus fröhlichen Wettstreit nach dem Alphabet Lieder vortrugen. Die Reformatoren auf der Reise beim gemeinsamen Singen! Sie fanden dabei wahrscheinlich Erholung und Gemeinschaft, und das ging Elisabeth möglicher Weise ganz ähnlich.
Dazu muss man noch bedenken, dass ein Liedtext nicht einfach so auf die Schnelle entsteht. Er ist auch keine Schreibarbeit. Gültige Verse entspringen vielmehr einer bestimmten Weise, das Leben zu führen. Entscheidend ist nicht, was man tut, sondern was man zulässt. Gedichte entstehen in der Stille, durch das Lesen und Meditieren anderer Texte, die dann zu einer neuen Form finden. Und sind die Verse dann da, entfalten sie ihre Wirkung auch bei denjenigen, die sie lesen bzw. singen.
Das alles müssen wir uns klar machen, wenn wir ECs Lied betrachten, es gewinnt dann an Lebendigkeit und Tiefe. Dabei müssen wir heutzutage natürlich 500 Jahre sprachliche Entwicklung überbrücken. Wir merken, dass ECs Lied sehr alt ist. Für Konfirmanden ist es heutzutage wahrscheinlich ungeeignet. Wir müssen uns dafür öffnen, uns darauf einlassen und in unseren Geist aufnehmen, wenn wir es für uns gewinnen wollen.
Mit der fünften Strophe ist das eventuell besonders schwierig. Sie lautet folgendermaßen:
Strophe 5:
„Ertöt uns durch dein Güte, erweck uns durch dein Gnad. Den alten Menschen kränke, dass der neu’ leben mag und hier auf dieser Erden den Sinn und alls Begehren und G’danken hab zu dir.“
- Auslegung
Das klingt unbequem und ungemütlich, denn die ‚Strophe fängt gleich mit einem abschreckenden Wort an: „ertöt uns“, d.h. mach etwas in uns tot, bring etwas zu Ende, damit es nicht mehr da ist. EC formuliert das wieder als Bitte, und das können wir sicher nicht einfach so mit beten. Solche Wünsche haben wir nicht. Es klingt nach Selbstkasteiung, Askese und Weltverneinung. Hatte EC das mit dem Austritt aus dem Kloster nicht hinter sich gelassen? Hatte sie sich nicht dem Leben, der Welt und der Freude zugewandt? Das fragen wir uns.
Im weiteren Verlauf wird diese Frage beantwortet, denn nun wird deutlich, dass sie nicht das Leben verneint. Es geht ihr vielmehr um die „Gnade“, durch die etwas Neues in ihr erwachen soll: „erweck uns durch dein Gnad“. Die Vorstellung, die hinter ihren Worten steckt, ist also die vom „alten und neuen Menschen“, das sagt sie dann auch: „Den alten Menschen kränke [d.h. schwäche], damit der Neue leben mag.“ (etwas freier umformuliert) Und dieser Gedanke ist biblisch. Bei Paulus finden wir dieses Thema mehrfach.
Eine Stelle ist Römer 6, wo Paulus entfaltet, was die Taufe für die Christen bedeutet (Röm. 6,1-4): „Was sollen wir nun sagen? Sollen wir denn in der Sünde beharren, damit die Gnade umso mächtiger werde? Das sei ferne! Wie sollten wir in der Sünde leben wollen, der wir doch gestorben sind? Oder wisst ihr nicht, dass alle, die wir auf Christus Jesus getauft sind, die sind in seinen Tod getauft? So sind wir ja mit ihm begraben durch die Taufe in den Tod, damit, wie Christus auferweckt ist von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters, auch wir in einem neuen Leben wandeln.“
Paulus stellt sich vor, dass der Christ nicht einfach nur an Christus glaubt oder an ihn denkt, sondern mit ihm stirbt und aufersteht. Er wird neu geschaffen, d.h. mit neuer Kraft erfüllt. Langsam setzt sich im Leben etwas Neues durch, es ist wie eine neue Geburt. Dieses Motiv taucht wie gesagt an vielen Stellen im NT auf. Es beinhaltet immer die Vergebung der Sünden, befähigt den menschlichen Verstand, die geistliche Wirklichkeit zu erkennen und befreit den Willen zur Heiligung, d.h. zum freiwilligen Gehorsam gegenüber Gott. Die neue Geburt ist ein göttliches Geschenk, ein Mysterium, das die „Gotteskinder“ von der Welt unterscheidet und schon jetzt ihr Handeln bestimmt. So formuliert auch EC am Ende ihres Liedes den Wunsch, dass der neue Mensch: „hier auf dieser Erden den Sinn und alles Begehren und Gedanken hab zu dir.“
- Anwendung
Wenn wir diese Strophe nun betrachten und auf unser Leben anwenden, so müssen wir als erstes fragen, ob wir das alles so wollen. Der Gedanke der freiwilligen „Abtötung“ erregt wie gesagt unseren Widerstand: Wozu brauchen wir das? Wir haben so ein Leben nicht gewählt, und auch EC hat sich doch offensichtlich davon distanziert.
Sie lädt allerdings auch nicht dazu ein, dass wir uns selbst kasteien. Sie hat wahrscheinlich nur gemerkt, dass auch in der Welt das Leben nicht einfach so gelingt. Mit dem Schritt aus dem Kloster waren noch längst nicht alle Fragen geklärt. Und das trifft auch auf uns zu. Wir müssen nur einmal ehrlich in unser Leben hineinschauen.
Es ist ja leider von vielerlei Schmerz angefüllt, je älter wir werden, umso mehr. Keine Lebensgeschichte verläuft ohne Leid oder Trauer, Gewalt oder Unrecht, Angst oder Einsamkeit. Konflikte machen uns zu schaffen, Krankheiten, Schwäche und Unvollkommenheit. Wir wollen das alles nicht und tun viel, damit es nicht die Oberhand gewinnt. Aber gelingt das auch? Bleiben nicht trotz all unserer Versuche, das Leben heil zu machen, Wunden und ungelöste Fragen zurück? Das Schwere lässt sich nicht einfach so auslöschen. Auch das Böse nicht. Es ist da und es ist auch in uns. Oft verstärkt sich das Leid sogar dadurch, dass wir es loswerden wollen. Und das fühlt sich ganz von selber wie ein Sterben an.
„Ertöt uns durch dein Güte“ kann demnach einfach nur heißen: Hilf uns, das Leid anzunehmen, den Schmerz des Lebens zu bejahen. EC will gar nicht aktiv Askese üben, die Gnade und Güte Christi sollen vielmehr in ihrem Leben wirken, das will sie geschehen lassen, und dazu sollen andere Regungen in ihr zur Ruhe kommen. Wenn wir diesem Wunsch folgen, lassen wir uns selber demnach los. Wir geben zu, dass wir allein nicht weiter kommen, dass wir schwach und unvollkommen sind. Wir sagen „Ja“ und halten das Leben, so wie es ist, und uns selber aus. „Radikale Akzeptanz“ ist dafür ein schöner Begriff aus der Psychologie.
Einfach ist das nicht. Es ist ein schmaler Pfad, den wir nicht so gerne gehen. Wir suchen normalerweise breitere Wege. Davon gibt es ja viele.
Einer könnte darin bestehen, dass wir uns auflehnen. Wir klagen Gott und andere an, fragen nach dem Warum und werden bitter. Wir merken zwar selber, dass wir so keine Lösung finden, aber viele Menschen ziehen das trotzdem vor.
Eine etwas konstruktivere Möglichkeit besteht darin, dass wir uns ablenken und zerstreuen. Wir verdrängen das Schlimme. Ein Vergnügen folgt dann dem nächsten, Reisen, Filme, Bücher usw. Wie verlieren uns in der Welt. Allerdings verlieren wir uns dabei auch selber aus den Augen. Eine Antwort, geschweige denn Überwindung finden wir bei dieser Methode genauso wenig.
Das sinnvollste ist deshalb immer noch der Weg zu anderen Menschen. Normaler Weise sind wir ja von vielen Menschen umgeben. Zu ihnen gehen wir gern, wenn wir Hilfe brauchen, und oft bekommen wir die auch.
Mit der Vorstellung von der „neuen Geburt“ wird das auch nicht verurteilt. Wir sollen uns nicht vom Leben abwenden, wir dürfen ruhig alles ausprobieren. Aus eigener Kraft heraus können wir auch gar nichts anderes, jedenfalls nicht so, dass dabei etwas Neues eintritt.
Doch darum geht es hier, und das wäre sozusagen der Königsweg: Wir sollen zu neuem Leben „erweckt“ werden. Und das geht nur durch den, der etwas Neues in uns schaffen kann, „den Schöpfer aller Dinge, die väterliche Kraft“: durch Jesus Christus, den „einig Gotts Sohn“.
Zu ihm können wir immer rufen „erweck uns durch deine Gnade“. Wir sind zum Glauben an ihn eingeladen, zum Vertrauen, dazu, auf ihn zu schauen und alle „Gedanken zu“ ihm zu lenken.
Jesus Christus ist da und er ist für uns gekommen. Wir sind nicht allein in der dunklen Welt, sondern werden von Gott geliebt und gerettet. Wir müssen nur die Gegenwart Christi genießen, dann werden wir zu neuem Leben „erweckt“.
Und darum geht es in diesem Lied. Es ist insgesamt deshalb auch fröhlich und hell. Nicht umsonst ist es ein Epiphaniaslied geworden. Es enthält die Freude über das neue Leben im Geist, das Glück des Neuanfangs, so wie alle Lieder der Reformation. Sie war nicht umsonst eine singende Bewegung.
Denn durch den Glauben an Christus können wir Altes abwerfen und bekommen neue Kraft. Wir werden mit Ruhe und Zuversicht ausgerüstet, vor uns liegt ein Weg voller Licht und Liebe. Unsere Lebensgeister erwachen, uns durchströmt eine neue Energie. Ungeahnte Kräfte werden mobilisiert und wir verspüren frischen Tatendrang. Wir bekommen Anteil an Gottes Gegenwart, an seinem Geheimnis und an seiner Liebe. Unsere Seele wird geweitet, sie öffnet sich ins Grenzenlose, und unser Geist erhebt sich mit Christus über diese Zeit hinaus.
Das hat die Reformatoren erfüllt, und ich stelle mir vor, dass auch EC so ein fröhlicher Mensch war. Sie hat gerne gesungen und kann uns mit ihrer Glaubensfreude immer noch anstecken, wir müssen das nur zulassen.
verwendete Literatur:
Evangelisches Gesangbuch, Ausgabe für die nordelbische Kirche, 1994, Nr. 67
Sylvia Weigelt, Die Liederdichterin, in: Frauen in der Reformation, Sonntagsblatt Thema 1/2017, München, S. 40f
Georg Schwaiger, Manfred Heim, Orden und Klöster, Das christliche Mönchtum in der Geschichte, München, 2008, S. 37ff
Johann Hinrich Clausen, Martin Luther – der Poet, in: Luthers Lieder, Beiheft zur gleichnamigen CD, Stuttgart, 2016
Klaus-Martin Bresgott, Martin Luther – der Liedermacher, ebd.
Auslegung und Betrachtungen
zu Psalm 51
Stilles Wochenende in Riechenberg, 15.-17.9.2017
Beten mit den Psalmen
Erste Einführung: Vers 1- 11: Befreiung von Sünde
1. Hinführung
a. zum Thema
Wir betrachten heute Psalm 51. Das Thema hat sich aus zwei Gründen ergeben. Zum einen geht es in diesem Jahr auf Grund der Jahreslosung um die „Neuschaffung des menschlichen Herzens durch den Geist Gottes“. Gott hat durch den Propheten Hesekiel angekündigt: „Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch.“ (Hes.36,26) Die Einkehrtage im Kloster, die für Gruppen angeboten und inhaltlich gestaltet werden, greifen dieses Thema alle in bestimmter Weise auf.
Zum anderen werden hier ja viele Psalmen gesungen und gebetet, und da liegt es nahe, auch mal den einen oder anderen näher zu betrachten. Deshalb gibt es jetzt diese Reihe: „Beten mit den Psalmen“. In Psalm 51 geht es nun um genau dasselbe, wie in der Ankündigung des Propheten, nämlich um die Neuschaffung des Herzens, der Psalm ist von dieser Vision wahrscheinlich sogar inspiriert.
b. Kontext
Innerhalb des Psalters gehört Psalm 51 zu drei Gruppen: es ist ein Davidpsalm, ein Bußpsalm und das Bittgebet eines Einzelnen. Dazu muss man ein bisschen etwas über den Psalter wissen.
Er ist das Gebetbuch Israels mit einer sehr komplexen Entstehungsgeschichte. Es sind gesammelte Lieder und Gebete von ganz unterschiedlichen Verfassern: charismatische Männer und Frauen, Priester, Weisheitslehrer, Propheten, Hofdichter, Gesunde, Kranke, Alte, Junge, Fröhliche und Leidende. Man unterscheidet auch gerne zwischen den Psalmen des Volkes, also einer Gruppe, und den Gebeten Einzelner. Auch die Anlässe, aus denen die einzelnen Psalmen entstanden sind, sind sehr unterschiedlich. Es gibt Klagepsalmen und Lobpsalmen, Volkslieder, Schilderungen von Lebenserfahrungen, liturgische Gesänge, Lehrstücke, Meditationen.
Jetzt sind sie alle in einem Buch versammelt, und die sogenannten Redaktoren, also die, die das Buch zusammengestellt haben (wahrscheinlich in nachexilischer Zeit), haben sich über den Aufbau durchaus Gedanken gemacht, er ist höchst plan- und kunstvoll. Es sind programmatische Kompositionen entstanden, so dass das Psalmenbuch zu einem geistlichen Lesebuch geworden ist. Es ist in fünf Bücher aufgeteilt, übergreifend sind darin sind vier Bücher mit Psalmen Davids enthalten.
Das geht ebenfalls auf die Redaktoren zurück: Sie haben eine ganze Reihe von Psalmen im Nachhinein David zugeschrieben. Der erste Davidpsalter geht z.B. von Psalm 3-41, der zweite von Psalm 51-72.
In der christlichen Überlieferung wurden dann sieben Palmen zu Bußpsalmen erklärt und als kirchliche Beichtgebete eingerichtet: Psalm 6, 32, 38, 51, 102, 130, 143). Psalm 51 ist also der vierte Bußpsalm.
Insofern gehört er (a) zu den Bußpsalmen, (b) zu den Psalmen Davids und als Gattung ist er (c) das Gebet eines Einzelnen, der unter seiner Sünde leidet.
2. Auslegung
a. Einleitung
In Vers 1 und 2 wird wie gesagt erwähnt, dass der Psalm von David stammt, und auch, auf welche Situation er sich bezieht. Ihr kennt die Geschichte sicher alle: Sie steht im zweiten Buch Samuel, Kapitel 11 und 12 und trägt die Überschrift: „Davids Ehebruch und Blutschuld.“
Eines Abends sah David von dem Dach seines Palastes aus eine schöne Frau, Batseba, die sich gerade wusch. Er begehrte sie, und obwohl sie verheiratet war, ließ er sie holen und schlief mit ihr. Sie wurde daraufhin schwanger. Ihr Ehemann, der Feldherr Uria, war gerade nicht zu Hause, der konnte also nicht der Erzeuger sein. David versuchte zwar, es so aussehen zu lassen, indem er ihn zu seiner Frau schickte um dort zu übernachten, aber Uria wollte bei den anderen Soldaten im Feld bleiben und schlief wie sie weiter im Zelt. Daraufhin veranlasste David, dass er in der nächsten Schlacht ganz vorne stand und so durch das Schwert der Gegner getroffen wurde und starb. Nach einer Zeit des Trauerns holte David Batseba zu sich und heiratete sie.
Seine Schuld hätte also unentdeckt bleiben können, aber er hat nicht mit Gott gerechnet. Der hatte das alles natürlich gesehen und schickte seinen Propheten Nathan zu ihm. Der hielt ihm eine Bußpredigt, woraufhin David seine Sünde bekannte und um Vergebung bat. Diese Bitte wurde erhört, David wurde nicht bestraft, nur das Kind, das er gezeugt hatte, starb. Das nächste Kind von Batseba und ihm wurde dann allerdings zum Thronfolger auserkoren, es war Salomo.
Diese Geschichte wird in Vers eins und zwei unseres Psalms angedeutet mit den Worten: „Ein Psalm Davids, vorzusingen, da der Prophet Nathan zu ihm kam, als er war zu Batseba eingegangen.“
In Vers drei beginnt dann der eigentliche Psalm:
3 Gott, sei mir gnädig nach deiner Güte,
und tilge meine Sünden nach deiner großen Barmherzigkeit.
4 Wasche mich rein von meiner Missetat,
und reinige mich von meiner Sünde;
5 denn ich erkenne meine Missetat,
und meine Sünde ist immer vor mir.
6 An dir allein habe ich gesündigt
und übel vor dir getan,
auf dass du Recht behaltest in deinen Worten
und rein dastehst, wenn du richtest.
7 Siehe, ich bin als Sünder geboren,
und meine Mutter hat mich in Sünden empfangen.
8 Siehe, dir gefällt Wahrheit, die im Verborgenen liegt,
und im Geheimen tust du mir Weisheit kund.
9 Entsündige mich mit Ysop, dass ich rein werde;
wasche mich, bdass ich schneeweiß werde.
10 Lass mich hören Freude und Wonne,
dass die Gebeine fröhlich werden, die du zerschlagen hast.
11 Verbirg dein Antlitz vor meinen Sünden,
und tilge alle meine Missetat.
12 Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz,
und gib mir einen bneuen, beständigen Geist.
13 Verwirf mich nicht von deinem Angesicht,
und nimm deinen Heiligen Geist nicht von mir.
14 Erfreue mich wieder mit deiner Hilfe,
und mit einem willigen Geist rüste mich aus.
15 Ich will die Übertreter deine Wege lehren,
dass sich die Sünder zu dir bekehren.
16 Errette mich von Blutschuld, /
Gott, der du mein Gott und Heiland bist,
dass meine Zunge deine Gerechtigkeit rühme.
17 Herr, tu meine Lippen auf,
dass mein Mund deinen Ruhm verkündige.
18 Denn Schlachtopfer willst du nicht, /
ich wollte sie dir sonst geben,
und Brandopfer gefallen dir nicht.
19 Die Opfer, die Gott gefallen, sind ein geängsteter Geist,
ein geängstetes, zerschlagenes Herz wirst du, Gott, nicht verachten.
20 Tu wohl an Zion nach deiner Gnade,
baue die Mauern zu Jerusalem.
21 Dann werden dir gefallen rechte Opfer, /
Brandopfer und Ganzopfer;
dann wird man Stiere auf deinem Altar opfern.
b. Aufbau
Man kann den Psalm gut in zwei Teile teilen: Teil 1 (Vers 3-11): Bitte um Vergebung, Teil 2 (Vers 12-21): Neuschaffung des Herzens. Beide Teile sind thematisch eingerahmt. So steht in Vers 3 und 11, also am Anfang und am Ende von Teil 1 „lösche aus meine Verbrechen“, und in Vers 12 und19- d.h. am Anfang und am Ende von Teil 2 – tauchen jeweils die Begriffe „Herz“ und „Geist“ auf.
Die letzten beiden Verse (20 und 21) sind angefügt und enthalten die Bitte und eine endzeitliche Erneuerung des Zion. Wir werden aber noch sehen, dass sie gut zu dem ganzen Psalm passen.
c. Gattung
Noch ein Wort zum Charakter des Psalmes: Er hat ein sehr individuelles Profil und war wahrscheinlich von Anfang an das Bittgebet eines Einzelnen: Er wird mit der Anrufung Gottes eröffnet. Er weiß um das Dunkel der Sünde, aber noch mehr um den Lichtstrahl der Gnade. Insofern passt es gut, ihn David nach dessen sündhaften Verhalten zuzuschreiben
d. der Inhalt
Wir wollen uns jetzt den einzelnen Versen zuwenden.
3: Der Beter leidet unter dem Gefühl, vor Gott nicht bestehen zu können, von ihm getrennt zu sein. Die Beziehung zu Gott ist gestört oder sogar zerbrochen, und er möchte, dass Gott sie wieder herstellt. Darum bittet er hier. Er vertraut darauf, dass Gott das tun kann, denn Gott ist gut, davon ist der Beter überzeugt. Er kann und will sich dem Beter zuwenden, denn er hat großes Mitgefühl und Erbarmen. Deshalb bittet der Beter darum, dass Gott alles austilgen und vernichten möge, was zwischen ihm und Gott steht. Alle Vergehen und Frevel, die er begangen hat.
4: Dabei weiß er, dass er eigentlich Strafe verdient hat, dass er vor Gott nicht bestehen kann, und davor hat er auch Angst. Aber er verkriecht sich deshalb nicht, er läuft nicht weg, sondern er bereut seine Sünde und ruft zu Gott. Er glaubt, dass Gott gnädig und barmherzig ist, dass er den Beter erhört und auf seine Bitte eingeht. Davon war der Glaube Israels auch geprägt. Es gab die Möglichkeit, dass Sünden vergeben wurden. Im Kultus gehörten dazu bestimmte Waschungen, und darauf bezieht der Beter sich hier: Er gebraucht das Bild einer Reinigung: So wie Schmutz abgewaschen werden kann, so können auch Sünden getilgt werden. Der Geist und die Seele werden durch die Gnade Gotte gereinigt, sie werden frisch und neu. Das Alte fällt ab und belastet die Seele nicht mehr.
5 und 6a: Dabei macht der Beter sich nichts vor, er weiß, dass er Gott nicht gerecht wird. Doch bei diesem Wissen allein bleibt er nicht stehen. Er wendet sich damit vielmehr an Gott, er gibt es zu. Dabei grübelt er nicht über die vielen Dinge nach, die er falsch gemacht hat, sondern er vertraut sich einfach Gott an, denn es geht ihm letzten Endes um den Empfang der Gnade Gottes. Er kann sie in ihrer Tiefe nur dann erfahren, wenn er auch die Tiefe seiner Sünde erkennt.
6b: Entscheidend ist also der Aufblick zu Gott. Der Beter erkennt, dass nur Gott vollkommen ist, gerecht und gut. Er fühlt hinter seiner seelischen Erschütterung und seinem Leid sogar eine göttliche Absicht: Gott will ihn aufrütteln und ihm bewusst machen, worauf es letzten Endes ankommt: auf die Wirklichkeit Gottes, die ihm gerade dadurch umso klarer vor Augen steht. Er kann sich neu an das Wort und den Willen Gottes binden.
7: Der Beter weiß auch, dass seine Sünde ihm von Geburt anhaftet. Das menschliche Wesen steht unter dem Vorzeichen der Sünde. Das ist die Tragik des Menschen, dass er in eine böse Welt hineingeboren wird. Damit geht die Erkenntnis einher, dass der Mensch sich daraus selber auch gar nicht befreien kann. Er wäre vielmehr zum Untergang verdammt, wenn Gott ihm nicht gnädig wäre.
8: So folgt auf die Erkenntnis über die eigene Sündhaftigkeit die Einsicht, dass Gott längst um den Beter längst weiß und die Wahrheit über ihn kennt. Er leuchtet in die innersten Winkel seine Seele hinein. Gott deckt verborgene Zusammenhänge auf. Es ist deshalb gut, vor Gott von vorne herein ehrlich zu sein. Mit der Hilfe Gottes ist das auch möglich, denn es bleibt nicht dabei, dass der Mensch seine geheimen Schwächen und Fehler zugibt, Gott zeigt ihm gleichzeitig, wie er leben kann. Er schenkt ihm Einsichten in die Wirklichkeit, die er vorher nicht hatte. Er gewinnt Klarheit und Weisheit. Durch die Selbsterkenntnis lernt er, die Dinge richtig zu beurteilen und die förderlichen Mittel zu finden, um innerlich weiter zu kommen. Er lässt sich selber los und gewinnt gerade dadurch neuen Halt und neue Sicherheit. Das Gebet der Reue ist wie eine verborgene Quelle, aus der Kraft und Erkenntnis fließen.
9: Erneut setzt eine Bitte um die Befreiung vom Makel der Sünde ein, dieses Mal mit einem Bild aus der rituellen Reinigung von Aussätzigen. Sie wurden u.a. mit Ysopbüscheln, einer bestimmten Pflanze, berührt. Und der Beter erwähnt die Farbe Weiß, die nur dann schön ist, wenn sie wirklich sauber ist. Es ist deshalb auch die Farbe der Reinheit, und nach der sehnt der Beter sich: Seine Seele soll „weiß sein wie Schnee“.
10: Auch körperlich hat die Sünde Folgen. Der Beter spricht von „zerschlagenen Gebeinen“, d.h. es geht ihm schlecht, er fühlt sich krank und ist niedergeschlagen. Und er sagt: Das hast du Gott getan, du hast meine Gebeine zerschlagen. Aber er weiß auch, dass das nicht so bleiben muss, denn letzten Endes ist Gott gnädig. Gott kann ihn wieder herstellen, er kann ihn aufrichten und ihm Freude und Fröhlichkeit schenken. Der Beter stellt sich dabei eine Festfreude vor, die von Ausgelassenheit gekennzeichnet ist. Das wünscht er sich, denn so ist das Leben eigentlich gemeint.
11: Am Ende des ersten Teil drückt der Beter seine Bitte um Vergebung noch einmal anders aus: Er sagt: „Verbirg dein Antlitz vor meinen Sünden.“ D.h., sieh nicht so genau hin, leg mich nicht fest auf meine Sünden, lass sie nicht das sein, was du an mir betrachtest. Sieh lieber darüber hinweg, mach sie nicht zum Thema zwischen mir und dir. Der Blick eines anderen kann ja treffen und strafen und verletzen. Er kann einen durchbohren, wenn der andere nämlich immer auf das starrt, was mir an mir selber sowieso nicht gefällt. Daran denkt der Beter hier und er bittet Gott darum, das nicht zu tun.
3. Anwendung
Wenn wir das alles nun in der Stille betrachten und nachbeten, geht es nicht darum, dass wir uns selber verurteilen. Wir müssen auch nicht bei jedem Vers in gleicher Weise verweilen. Sucht euch am besten eins der Bilder heraus, eine Bitte, einen Gedanken, der euch dabei hilft, mit euch selber ehrlich zu sein. Denn das will der Psalm: Er lädt zur Selbsterkenntnis ein. Keiner von uns ist frei von Makel, von Fehlern und Schwächen. Auch das Böse haftet uns allen an.
Normaler Weise verdrängen wir das gerne. Wir stellen uns am liebsten besser dar, als wir sind, spielen Theater, machen uns und anderen etwas vor. Denn wir schämen uns und haben Angst vor unseren eigenen Fehlern und Schwächen. Doch auf die Dauer ist das anstrengend und macht uns auch krank. Es führt in die Lüge und den Selbstbetrug, in Tod und Untergang. Und davor will der Psalm uns bewahren.
Er will uns sagen, dass es nicht nötig und auch nicht ratsam ist, wenn wir unser Fehler verdrängen und uns selber und anderen etwas vormachen. Denn Gott kennt uns, und wir müssen uns vor ihm nicht fürchten. Im Gegenteil, wenn wir ihm näher kommen wollen, dann dürfen wir unsere Schuld und unsere Vergehen nicht verharmlosen, dann müssen wir in uns hineinschauen, und zwar genau.
Deshalb fragt euch einmal ganz konkret:
Wo liegen meine Schwächen? Was gefällt mir an mir selber nicht? Wofür schäme ich mich? Wann und wie tendiere ich zum Bösen? Wodurch vernachlässige ich meinen Nächsten? Wann und wie verletze ich die Würde anderer? Womit beschneide ich ihnen ihre Rechte?
Fragt euch auch: Was hält mich von dieser Ehrlichkeit normaler Weise ab? Wovor habe ich Angst, wenn ich es tue? Was meine ich zu verlieren?
Wir müssen nicht von uns aus gut werden, aber wir dürfen das alles vor Gott ausbreiten und ihn um Vergebung bitten. Dann kann er uns helfen und „seine Gnade wird unser Trost sein“. Es ist wohltuend, wenn wir zugeben dürfen, dass wir nicht vollkommen sind, das wirkt bereits entspannend und heilsam.
Es rührt auch an eine tiefe Sehnsucht, die jeder und jede von uns hat, der Sehnsucht nach Frieden mit mir selber, und Ruhe und Heil. Der erste Schritt, um es zu empfangen, ist die Selbsterkenntnis und die Selbstannahme, und zu der will der Psalm uns führen. Nehmt ihn also ruhig als Spiegel für eure Seele und als ein Gebet, das euch in Übereinstimmung mit euch selber und mit Gott führen kann.
Zweite Einführung: Vers 12- 21: Neuschaffung
1. Hinführung
a. Die Davidisierung von Psalmen
Ich sagte ja schon, dass Psalm 51 nachträglich zu einem Davidpsalm erklärt wurde. Wer ihn wirklich geschrieben hat, wissen wir nicht. Diese sogenannte Davidisierung geschah mit vielen Psalmen. Psalm 51 bot sich dafür nun besonders an, denn die Überlieferer sahen in David eine Identifikationsfigur und einen Hoffnungsträger: Dem David, der seine Sünde weder beschönigt noch verdrängt, sondern vor Gott bekennt und bereut, verzeiht Gott. Damit stiftet er Hoffnung für jeden Menschen, der den Weg der Sünde verlässt und zu Gott zurückkehrt. Für die Redaktoren der Psalmen ist David eine messianische Gestalt, der die Sünder zur Umkehr ruft.
Das ist sowieso das Schöne an den Geschichten aus dem Alten Testament. Es sind keine Heldensagen, die uns ideale Menschen vor Augen halten. Die Hauptpersonen werden vielmehr alle in ihrer ganzen Menschlichkeit dargestellt. Gerade an David kann man lernen, „dass der, der steht, fallen kann, aber auch dass, wer gefallen ist, von der Barmherzigkeit Gottes wieder aufgerichtet werden kann, mehr noch: ,neu geschaffen werden kann.‘“ (Zenger, S. 180, s.u. )
b. Hintergrund
Der Psalm inspiriert sich gleichzeitig an den großen prophetischen Verheißungen der Neuschaffung des Herzens (vgl. Hes.36,24-27) und der Vergebung der Sünden durch den bundeswilligen Gott. Er spielt außerdem auf die Sinaiüberlieferung an, also die Gebote Gottes und den Bundesschluss, und er enthält die sogenannte Opferkritik der Propheten, wie wir noch sehen werden.
c. Begrifflichkeit
Mit unterschiedlichen Begriffen wird in diesem Psalm die Vielschichtigkeit der Sünde beschrieben. Es ist von „Verbrechen“ die Rede, womit die Auflehnung und der Verstoß gegen die grundlegende Lebens- und Heilsordnung Gottes gemeint sind. Das Wort „Schuld“ taucht auf, das die Zerstörung und den Schaden bezeichnet, die man anrichtet und die einen dann selbst bedrohen. Und das Wort, das wir normaler Weise mit „Sünde“ übersetzen, bedeutet das Abweichen vom rechten Lebensweg und die Verfehlung der aufgetragenen Ziele. Der Begriff bezeichnete zunehmend dann auch den Verstoß gegen Gott.
Und dann sind die Verben interessant, mit denen der Beter Gott um Befreiung von seiner vielschichtigen Schuld bittet. Er qualifiziert sie in mehrfacher Hinsicht als Schmutz, der seinen Lebensraum, seine Kleider, ja sein Inneres verunreinigt. Dementsprechend bittet er Gott darum, diesen Unrat „wegzuwischen“, wie man eine Schüssel auswischt. Er soll den Beter gründlich „abwaschen“, wie man Kleider auswäscht, und ihn im Innersten reinigen, wie man Metalle durch einen Schmelzprozess läutert. (Zenger, S. 183f, s.u.)
Er verspricht sich dadurch eine „Neuschaffung des Herzens“, wovon nun der zweite Teil des Psalms handelt.
12 Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz,
und gib mir einen bneuen, beständigen Geist.
13 Verwirf mich nicht von deinem Angesicht,
und nimm deinen Heiligen Geist nicht von mir.
14 Erfreue mich wieder mit deiner Hilfe,
und mit einem willigen Geist rüste mich aus.
15 Ich will die Übertreter deine Wege lehren,
dass sich die Sünder zu dir bekehren.
16 Errette mich von Blutschuld, /
Gott, der du mein Gott und Heiland bist,
dass meine Zunge deine Gerechtigkeit rühme.
17 Herr, tu meine Lippen auf,
dass mein Mund deinen Ruhm verkündige.
18 Denn Schlachtopfer willst du nicht, /
ich wollte sie dir sonst geben,
und Brandopfer gefallen dir nicht.
19 Die Opfer, die Gott gefallen, sind ein geängsteter Geist,
ein geängstetes, zerschlagenes Herz wirst du, Gott, nicht verachten.
20 Tu wohl an Zion nach deiner Gnade,
baue die Mauern zu Jerusalem.
21 Dann werden dir gefallen rechte Opfer, /
Brandopfer und Ganzopfer;
dann wird man Stiere auf deinem Altar opfern.
2. Auslegung
12: Mit diesem Vers setzt die Bitte um eine Erneuerung im Innersten ein: Gott möge ein „neues Herz“ in dem Beter schaffen und ihm einen neuen Geist geben, damit er ihm gemäß leben kann. Damit erfleht der Beter eine derart fundamental ansetzende und tief greifende Rettung aus der beklagten Schuldverstrickung, dass er dafür zu Recht die beiden Verben „schaffen“ und „erneuern“ gebraucht. Angesichts der den Menschen vom ersten Augenblick seiner Existenz an bedrohenden tödlichen Krankheit „Sünde“ bittet er Gott darum, dass er ihn von der Mitte seiner Existenz her neu schaffen möge.
„Herz“ und „Geist“ sind nach alttestamentlichem Denken die beiden Grundkräfte, aus und mit denen der Mensch lebt. Das „Herz“ ist dabei das Organ, mit dem der Mensch die Welt- und Lebensordnung erfasst. Mit dem Herzen hört er Gott und öffnet sich ihm. Der „Geist“ ist dagegen das Zentrum der Lebenskraft und des Willens. Am „Geist“ hängen gewissermaßen Leben und Tod. Wer „Geist“ hat, hat Anteil an Gottes „Geist“, der durch den „Geist“ den Menschen befähigt, an seiner Stelle zu reden und zu handeln. Propheten, Könige und Charismatiker sind dafür Beispiele. Es ist also nichts Geringes, um das der Beter angesichts seiner leidvollen Erfahrung mit seinem Menschsein bittet: Er möchte, dass Gott ihm ein reines Herz schaffen möge, damit er die Lebensordnungen, ja das Gottesgeheimnis voll erfassen kann. (Zenger, s. 185, s.u.)
13: Gott möge ihn nicht verstoßen oder verächtlich hinter sich werfen, wie man das mit unnützen Dingen tut. Darum bittet er dann im nächsten Vers. Und er wiederholt die Bitte um den rechten Geist. Er tut das insgesamt dreimal, hier, bei der zweiten Erwähnung bittet er um den „heiligen Geist“. D.h. er möchte heilig leben, in einer intensiven Lebensgemeinschaft mit dem heiligen Gott, damit die Sünde unmöglich wird. Er denkt sich das neue Leben, das Gott ihm schenken möge, also als eine Gemeinschaft mit Gott. Er möchte immer in Gottes Gegenwart stehen und mit neuer Kraft ausgerüstet werden.
14: Der Beter bittet dann weiter darum, dass die Freude in sein Leben zurückkehren möge. Dabei soll Gott ihm helfen. Ja, die Hilfe Gottes ist für ihn Freude. Es würde ihn umstimmen, wenn er erlebt, dass Gott ihm nahe ist und ihm vergibt. Bei der dritten Bitte um den rechten Geist, die hier auftaucht, versieht er ihn mit dem Zusatz „willig“. D.h., er möchte den Willen Gottes konsequent, mit Liebe und mit Hingabe tun. Seine Seele soll von Gottes Kraft gespeist werden.
15: Im nächsten Vers blickt der Beter nun über sein eigenes Leben hinaus und denkt an andere „Verbrecher“ und „Sünder“. Er weiß durchaus, dass er mit seinem Vergehen nicht allein ist, und er möchte gerne etwas dazu beitragen, dass die Gnade Gottes überall Wirklichkeit wird. Der Bund Gottes mit den Menschen soll insgesamt erneuert werden, auch in der Gesellschaft, im Volk und in der ganzen Welt. Was er dazu beitragen kann, will der Beter gerne tun.
16: Im nächsten Vers setzt der Beter noch einmal mit seiner Bitte um Befreiung von der zerstörerischen Macht der Sünde an. Er möchte von „Blutschuld“ errettet werden. Diese Rede ist für uns eigenartig. Sie spielt auf die alte israelitische Rechtspraxis an, die ein schweres Vergehen mit der Todesstrafe ahndete. Eine andere Wurzel dieser Rede ist die urtümliche Vorstellung, dass das gewaltsam vergossene Blut nach Vergeltung schreit. Errettung aus „Blutschuld“ meint hier also einmal die Errettung aus „blutigem Strafgericht“, und außerdem die Rettung vor allem Tun, das zu einem solchen Strafgericht führen könnte. Der Beter möchte aus dem tödlichen Kreislauf der Lebensvernichtung, in den die Sünde stürzt, herausgerissen werden. Letztlich zielt die Bitte auf die Rettung vor der tödlichen Knechtschaft der Sünde und auf die Erlösung von dem Bösen. Wo solches geschieht, begegnet der Mensch dem „Gott des Heils“ und „Gottes Gerechtigkeit“, er erfährt Gott als den, der nicht den Tod des Sünders will, sondern der sich zu ihm wendet, so dass er Leben und Freude findet. (Zenger, S. 186f, s.u.)
17-18: Im nächsten Vers beginnt das Versprechen des Beters, Gott zu danken und ihm die Ehre zu geben. Er will das mit seinen „Lippen“ und mit dem „Mund“ tun, denn er weiß, dass das besser ist als Schlacht- und Brandopfer. Diese Aussage bezieht sich auf die sogenannte „Opferkritik“, die wir bei den Propheten finden. Sie prangern an vielen Stellen die Verlogenheit des Volkes an, das Gott zwar Tiere opfert, dabei aber das Recht und die Gerechtigkeit vernachlässigt. Die Propheten fordern statt der Opfer den Gehorsam gegen Gott, die Nächstenliebe und die Demut.
19: Unser Psalm sagt dazu sehr kühn, dass Gott an den üblichen Opfern keinen Gefallen hat. Er möchte vielmehr, dass der selbstgefällige, hartherzige und hochmütige Sünder sich von ihm „zerbrechen“ lässt und vor ihm klein und arm wird. Das Gottesverhältnis muss innerlich sein, die äußeren Opfer bringen letzten Endes nichts. Denn Gott will keine materiellen Gaben, er beansprucht vielmehr den ganzen Menschen. D.h. der Mensch soll nicht versuchen, sich vor Gott zu behaupten, er muss im Gegenteil gerade auf jeden Anspruch verzichten, seine Kleinheit und Hilflosigkeit eingestehen, Buße tun und ganz auf Gott vertrauen. Wer „zerbrochen“ vor Gott steht und sich auf ihn angewiesen weiß, den wird Gott nicht verachten oder gering schätzen. Er wird ihn vielmehr annehmen, so wie er auch Opfer angenommen hat.
20-21: Der Psalm schließt nun mit der Vision von der eschatologischen, d.h. endzeitlichen Erneuerung des Zion. Dieses Thema finden wir an vielen Stellen im Alten Testament. Es ist die Vision, dass das bedrängte und zerstreute Gottesvolk Israel eines Tages wieder zu einem Ort des Heils und der Gerechtigkeit wird. Es geht also um mehr als um einen Aufbau der Stadtmauern von Jerusalem.
Und obwohl dieses Thema nachträglich an den Psalm angehängt wurde, bildet es einen guten Schluss. Denn die Menschen, die durch Sündenvergebung neu geschaffen wurden, werden die Bewohner dieses neuen Jerusalems sein. Wo Sünder sich mit Gottes Geist ausrüsten lassen, wird das Gottesvolk erneuert. Der Psalm lebt aus der Verheißung, dass Gott eines Tages aus den Bedrückten und Zerschlagenen ein heiles Volk machen wird, dass er als rettende und neuschaffende Sonne über ihnen aufgeht und ihre Herzen zu ihm bekehrt. (Zenger, S.189f, s.u.)
3. Anwendung
Um diese Verse nun in der Stille und in unserem Leben anzuwenden, möchte ich euch gerne auf zwei Umsetzungen aufmerksam machen.
a. EG 230: „Schaffe in mir Gott ein reines Herze“
Einmal gibt es dazu ein Lied, das in unserem Gesangbuch steht, und das ihr sicher alle kennt, Nr. 230. Es beinhaltet die Verse 11 und 12 aus unserem Psalm, d.h. es beginnt mit den Worten: „Schaffe in mir, Gott, ein reines Herze“ Wir singen sie gerne vor dem Abendmahl, wenn wir uns auf den Empfang von Brot und Wein vorbereiten. Wir glauben beim Abendmahl daran, dass Christus zu uns kommt und in uns einzieht, dass Brot und Wein sein Leib und Blut sind. Dieser Gesang bringt zum einen zum Ausdruck dass wir dafür gern offen und innerlich rein sein möchten, zum anderen wird das durch das Abendmahl auch bewirkt: Es „schafft in uns ein neues Herz“, versichert uns, dass Gott uns „nicht verwirft“ und den „Heiligen Geist nicht von uns nimmt“.
Und das können wir gut auf das Gebet übertragen, da geschieht dasselbe: Wir lassen dabei die Kraft Gottes an uns wirken.
Und das ist wichtig. Wenn wir hier im Kloster sind, dann wollen wir zwar genau das, aber oft stehen wir uns selber im Weg, denn wir wollen zu viel. Wir strengen uns an, konzentrieren uns, erforschen unser Inneres und nehmen uns bestimmte Dinge vor. Deshalb wirkt Vieles störend: Vielleicht können wir nicht richtig schlafen, sind müde, Schmerzen oder Verspannungen plagen uns. Eventuell irritiert uns auch der eine oder andere Mensch, den wir hier treffen, es ist uns zu kalt oder zu warm, was auch immer. Es läuft oft nicht so, wie wir uns das wünschen. Wir würden das am liebsten ändern, aber das geht nicht.
Anstatt nun allerdings unzufrieden zu werden oder enttäuscht zu sein, gilt es einzusehen, dass es gar nicht anders laufen kann, und dass das sogar gut so ist. Denn wir wollen ja nicht durch die Stille gerettet werden, nicht durch das Kloster, die Entspannung, Andachten und Übungen, sondern durch Gott. Er soll uns neu machen, und das heißt, wir lassen es alles so sein, wie es ist. Wir lassen ihn wirken und empfangen seinen Geist. Wir können uns selber nicht loswerden, wir nehmen uns überall hin mit, auch ins Kloster. Wir sind hier, mit allem, was an uns haftet. Nur, wenn wir es annehmen und bejahen, kann Gott an uns wirken. So wie wir ihn beim Abendmahl empfangen, ohne selber etwas dazu zu tun, so empfangen wir ihn und seine Kraft im Gebet. Wir müssen uns nur vorbehaltlos und ganz der reinigenden, rettenden und schöpferischen Liebe des barmherzigen Gottes aussetzen.
b. Bild „Misere“
Die andere Umsetzung, auf die ich noch mal aufmerksam machen möchte, ist das Bild von dem Künstler und Grafiker Georges Rouault, das ich euch auf die Einladung kopiert habe.
Es ist auch im Original schwarz-weiß und trägt die Innschriften, die ihr oben und unten seht. Es stammt aus einem 57 Blatt umfassenden Zyklus zum Thema „Misere“, d.h. „erbarme dich“.
Passend zu den beiden Teilen des Psalms ist es in zwei Hälften aufgeteilt, die übereinander stehen. Unten ist der niedergeschlagene Mensch, der unter seine Sünde leidet. Sein Haupt ist gebeugt und er ist praktisch eingeschlossen. Er sieht nicht, was über ihm geschieht, er sieht gar nichts mehr.
Aber die Wirklichkeit ist größer, als das, was er erlebt. Was ihn beschäftigt, ist nur die eine Hälfte dessen, was geschieht. Über ihm sieht man ein erlöstes Angesicht, das Ruhe und Frieden ausstrahlt. Es ist der neugeschaffene Mensch, der durch die Barmherzigkeit Gottes gerettet wurde. Er hat Frieden mit sich selber, er hat den Heiligen Geist empfangen. Dabei passt es zu unserem Wochenende und zum Kloster, dass beide Figuren schweigen. Sie sind still und in sich gekehrt. Und sie sind beide einfach nur da, tun selber nichts, sondern lassen geschehen
Ihr könnt euch fragen: Wo stehe ich gerade? Wer von den beiden bin ich? Wie geht es mir damit? Wonach sehne ich mich? Was soll Gott für mich tun? Was ist der nächste Schritt, den ich gehen möchte?
Psalm 51 lädt euch dazu ein, an die Kraft Gottes zu glauben, die alles neu macht. Ihr müsst euch nur ihm anvertrauen und ihn darum bitten, dass er euch erlösen möge. Dann wird das auch geschehen, die Verheißung wird wahr, dass der heilige Gott bei den Zerschlagenen und Bedrückten wohnt und sie neu beleben wird.
verwendete Literatur:
Erich Zenger, Psalmen Auslegungen, Band 2: Ich will die Morgenröte wecken, Freiburg, Basel, Wien, 2006
Auslegungen und Meditationen zu Gebeten von Martin Luther
Stilles Wochenende in Riechenberg, 26.- 29.1.2017
Beten mit Martin Luther
Erste Einführung:
Luthers Morgen- und Abendsegen
- Hinführung
a. Allgemeine Bemerkungen zu den Gebeten von Martin Luther
Martin Luther war ein frommer Mann, d.h. er hat in einer unmittelbaren Beziehung zu Gott gelebt und regelmäßig mit ihm gesprochen. Schon zu seinen Lebzeiten gab es Hinweise auf die Bedeutung und die Kraft seines Betens. Es war daher naheliegend, dass man nicht lange nach Luthers Tod Gebetstexte aus seinen Schriften sammelte und in Luthergebetbüchern veröffentlichte. Die erste Sammlung dieser Art erschien bereits 1579. Die Herausgeber wollten Luthers Gebete dabei als gute Muster vorlegen, an denen man erkennt, wie man überhaupt beten kann. Denn viele Christen waren noch ungeübt darin, eigene persönliche Gebete zu formulieren. Das Ziel der Herausgeber war, dass die Leser mit freier Andacht und eigenen Worten, ohne Bücher und Anleitung beten lernten.
Das ist im Laufe der Zeit auch tatsächlich viel üblicher geworden. Gerade wir evangelische Christen sind es gewohnt, eigene Gebete zu formulieren. Trotzdem blieben die Gebete Luthers faszinierend, und es gab weitere Veröffentlichungen. So ist z.B. 1710 ein neues Luthergebetbuch entstanden, und in der Gegenwart ist 1976 schließlich eine Gesamtausgabe der Gebete Luthers erschienen (vgl. Frieder Schulz, Hrg., „Heute mit Luther beten“, eine Sammlung von Luthergebeten für die Gegenwart, Gütersloh 1978, Vorwort).
Daraus gibt es nun wiederum verschiedene neuere Sammlungen. Die jüngste ist von Margot Käßmann 2014 anlässlich des Reformationsjubiläums herausgekommen. (Margot Käßmann, Hrg. Beten mit Luther, Frankfurt, 2014) Die Gebete, die sie darin zusammengestellt hat, sollen zeigen, welcher Geist und welche Hoffnung Luther erfüllte. Er schwebte nicht nur in fernen theologischen Höhen, sondern seine theologischen Erkenntnisse durchdrangen seinen Alltag mitten in der Welt. Gerade durch das Beten blieb es ihm gegenwärtig, dass wir allein durch Christus, allein aus Gnade und allein aus Glauben leben (s. Beten mit Luther, S. 8ff).
Das Beten hat in der Reformation also eine viel größere Rolle gespielt, als wir oft meinen. Im Gebet, wie Luthers eigenen Gebete schön zeigen, kann der einzelne Christ, die einzelne Christin unmittelbar mit Gott ins Gespräch treten, ohne dass es der Vermittlung durch einen Priester oder Heilige bedarf. Das war das Anliegen Luthers.
Er hat auch durch Gebete seinen Tagesablauf strukturiert, so sind z.B. der Morgen- und Abendsegen und Tischgebete entstanden. Genauso hat er mitten im Alltag gebetet und den Gesprächsfaden zu Gott immer wieder aufgenommen. Die Beziehung zu Gott war für ihn wie eine Freundschaft, und die wird – wie jede Freundschaft – dadurch vertrauter, dass man miteinander redet. Dann hat sie Bestand in guten und in schweren Tagen. Es geht Luther also nicht um spontane Angstgebete – obwohl es die auch geben darf – , sondern um das Gebet als Lebenshaltung in Beziehung mit Gott. Er ging davon aus, dass das Gebet einen verändert und die Gläubigen zusammenführt. Denn wir beten ja nicht nur allein, sondern in einer Gemeinschaft und für andere.
Dabei ist noch wichtig, dass für Luther das Beten nicht das Ende allen Zweifels bedeutete. Gerade das „Amen“ sollen wir laut sprechen, sagt er, damit wir den Zweifel und die Anfechtung angehen. Im Gebet dürfen also auch Fragen ausgesprochen werden.
Für unser Stilles Wochenende habe ich nun aus dem Buch von Margot Käßmann drei Gebete herausgesucht, die ich schön und passend für die Stille finde. Sie stehen auch schon in einem Siebensterntaschenbuch, das 1978 erschien und den Titel trägt: „Heute mit Luther beten“. Dort – wie auch bei Frau Käßmann – sind zu jedem Gebet kurze Überschriften abgedruckt, die den Leser abholen und ihm helfen sollen, sich auf die Gebete Luthers einzulassen. Außerdem ist zu jedem Gebet eine Bibelstelle angegeben, aus dem es entstanden ist. Das hilft, den Gebeten Luthers mit dem Verstand und dem Herzen nachzusinnen und sie dann auch nachzusprechen.
Die Bekanntesten sind mit Sicherheit sein Morgen- und sein Abendsegen. Deshalb fangen wir damit an.
Morgensegen
Das Gebet für den Beginn des TagesDes Morgens, wenn du aufstehst, kannst du dich segnen mit dem Zeichen des heiligen Kreuzes und sagen:
Das walte Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist! Amen
Darauf kniend oder stehend das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser. Willst du, so kannst du dies Gebet dazu sprechen:
Ich danke dir, mein himmlischer Vater, durch Jesus Christus, deinen lieben Sohn, dass du mich diese Nacht vor allem Schaden und Gefahr behütet hast, und bitte dich, du wollest mich diesen Tag auch behüten vor Sünden und allem Übel, dass dir all mein Tun und Leben gefalle. Denn ich befehle mich, meinen Leib und Seele und alles in deine Hände. Dein heiliger Engel sei mit mir, dass der böse Feind keine Macht an mir finde.
Als dann mit Freuden an dein Werk gegangen und etwa ein Lied gesungen oder was dir deine Andacht eingibt.
Abendsegen
Das Gebet für den Schluss des TagesDes Abends, wenn du zu Bett gehst, kannst du dich segnen mit dem Zeichen des heiligen Kreuzes und sagen:
Das walte Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist! Amen.
Darauf kniend oder stehend das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser. Willst du, so kannst du dies Gebet dazu sprechen:
Ich danke dir, mein himmlischer Vater, durch Jesus Christus, deinen lieben Sohn, dass du mich diesen Tag gnädiglich behütet hast, und bitte dich, du wollest mir vergeben alle meine Sünde, wo ich Unrecht getan habe, und mich diese Nacht auch gnädiglich behüten. Denn ich befehle mich, meinen Leib und Seele und alles in deine Hände. Dein heiliger Engel sei mit mir, dass der böse Feind keine Macht an mir finde.
Alsdann flugs und fröhlich geschlafen.
(Evangelisches Gesangbuch, Ausgabe für die Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche, Hamburg, 1. Auflage 1994. Nr. 815 und 852)
b. Zum Morgen- und Abendsegen
Der Morgen- und Abendsegen heißen auch „Hausgebete“ oder „Bettgebete“, denn sie sollen zu Hause und im Bett gesprochen werden. Sie sind spätere Zusätze zum Kleinen Katechismus von 1529. Bei evangelischen Christen sind sie bis in die Gegenwart lebendig geblieben, viele kennen sie auswendig. Sie sind auch in alle Ausgaben des Evangelischen Gesangbuches in den Anhang aufgenommen worden.
Im Kleinen Katechismus stehen sie unter der Überschrift: „Wie ein Hausvater sein Gesinde soll lehren“. Das zeigt, dass die Hausgebete als geprägte und wiederholbare Texte zur Einübung in das tägliche Gebet dienen sollen. Luther stellte sie außerdem bewusst in den Kontext biblischer und kirchlicher Überlieferung. Er schlägt vor, auch noch das Vaterunser und das Glaubensbekenntnis zu sprechen. Und er erwähnt gottesdienstliche Sitten wie das trinitarische Votum am Anfang, das Bekreuzigen, das Hände Falten und Knien.
Dahinter steht bei Luther natürlich die monastische Gebetspraxis. Er war es von seinem Leben als Mönch her gewohnt, den Tag durch die Tageszeitengebete zu strukturieren. So ist erkennbar, dass hinter seinem Morgensegen die sogenannte Prim steht, das Gebet der Mönche vor dem Tagewerk, und hinter dem Abendsegen die Komplet, also das letzte Tageszeitengebet vor dem Schlafen. Luther hat seinen Morgen- und Abendsegen aus Elementen dieser beiden Stundengebete geformt und sie in den Raum der christlichen Familie übertragen.
(vgl. Albrecht Peters, Kommentar zu Luthers Katechismen, Band 5: Beichte, Haustafel, Traubüchlein, Taufbüchlein, Göttingen 1994, S. 191ff)
Wir wollen uns die Texte nun im Einzelnen anschauen.
- Auslegung
Auffällig ist zunächst die Gleichförmigkeit der beiden Gebete. Morgens und abends beginnt es jeweils mit dem Satz: „Ich danke dir, mein himmlischer Vater, durch Jesus Christus, deinen lieben Sohn.“
Luther spricht Gott also so an, wie wir es auch im Vaterunser tun, und er verlässt sich dabei bewusst auf Jesus Christus. Die erste Regung am Tag und die letzte am Abend ist dabei der Dank an Gott.
Im Morgensegen heißt es dann weiter: „dass du mich diese Nacht vor allem Schaden und Gefahr behütet hast“ und im Abendsegen entsprechend: „dass du mich diesen Tag gnädiglich behütet hast“. Es geht also um Gefahren, vor denen Gott behütet hat. Dabei verband Luther mit der Nacht offensichtlich das Gefühl, „Schaden und Gefahr“ ausgeliefert zu sein. Und das passt ja auch, denn wir liegen schutzlos da und brauchen deshalb die Hilfe Gottes. Für den Tag erwähnt Luther „den Schaden und die Gefahr“ nicht, wahrscheinlich, weil wir, wenn wir wach sind, dem selber ausweichen können. Trotzdem brauchen wir auch tagsüber die „Gnade Gottes“.
Und dann folgt das Thema „Sünden und Übel“. Auch hier ist die Lage je nach Tageszeit unterschiedlich. Morgens bittet Luther darum, „vor Sünden und allem Übel behütet zu werden, damit Gott all sein Tun und Leben gefalle“, abends bittet er um Vergebung der Sünden. Das ist ebenfalls logisch und nachvollziehbar. „Wer schläft, sündigt nicht“, das war offensichtlich Luthers Bewusstsein. Aber im wachen Zustand besteht überall die Möglichkeit, Unrecht zu tun. Aus eigener Kraft können wir dem allerdings kaum widerstehen, deshalb ist es gut, am Morgen um Hilfe zu bitten und am Abend um Vergebung für all die Male, wo es uns doch nicht gelungen ist.
Und dann folgt in beiden Gebeten der abschließende Satz: „Denn ich befehle mich, meinen Leib und Seele und alles in deine Hände. Dein heiliger Engel sei mit mir, dass der böse Feind keine Macht an mir finde.“
Dazu gibt es einen biblischen Hintergrund. Am bekanntesten ist der Vers aus Psalm 91: „Denn er hat seinen Engeln befohlen dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen, dass sie dich auf den Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest.“ (Ps. 91,11) Von den Engeln hat Luther oft gesprochen, die stellte er sich als Verkörperung der Gegenwart Gottes vor. Genauso glaubte er an Teufel und Dämonen, an Feinde Gottes, die gegen ihn streiten. In dem Lied „ein feste Burg“ erwähnt er „den altbösen Feind, der es jetzt ernst meint.“ (Evangelisches Gesangbuch, a.a.O., Nr. 362) Auch die Formulierung „ich befehle mich in deine Hand“ stammt aus dem Psalter. In Psalm 31 heißt es: „In deine Hände befehle ich meinen Geist.“ (Ps.31,6) Das wurde in den Klöstern im Schlafsaal zur Komplet gesungen.
- Anwendung
Die beiden Gebete haben sich wie gesagt durchgesetzt und sind zu Kernstücken evangelischen Betens geworden. Man kann sie genauso anwenden, wie Luther es vorschlägt, indem der Morgensegen das erste ist, das wir morgens sagen, und der Abendsegen unser letztes Wort. Denn sie enthalten alles, was wir zum Bestehen des Tages brauchen.
Es fängt schon damit an, dass wir unser Tageswerk im Namen des dreieinigen Gottes anfangen und beenden. Wir geben unserem Leben damit ein Vorzeichen. Nicht das Ich oder die Welt stehen im Vordergrund, sondern Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist. Das lenkt uns in wohltuender Weise auf das Wesentliche und Wirkliche.
Als nächstes kommt der Dank als erste bzw. letzte Regung des Tages, und das ist ebenso aufschlussreich. In den 80er Jahren hat Jürgen von der Lippe das lustige Lied gedichtet, das mit den Worten beginnt: „Guten Morgen, liebe Sorgen, seid ihr auch schon alle da?“ Und er beschreibt dann einen Tag, an dem so ziemlich alles schief läuft. Das spiegelt ein Lebensgefühl wider, das viele von uns haben: Uns fallen zuerst die Probleme und der Stress ein, den der Tag mit sich führen kann, und damit gehen wir dann auch ins Bett. Wir erleben in erster Linie, wie unvollkommen, anstrengend und mangelhaft alles ist. Es kommt wenig Freude auf, das Leben ist heimtückisch und unberechenbar.
Dagegen ist der Morgensegen Luthers wie Balsam. Auch darin werden all die Unwägbarkeiten erwähnt, aber Luther bedankt sich zuerst für das Gute, d.h. er denkt positiv, und dann bittet er darum, vor dem Schlechten bewahrt zu werden. Ihm ist klar, dass es ihm nicht unbedingt gelingen wird, aber das verdirbt ihm nicht die Freude, denn er weiß sich bei Gott geborgen, am Anfang genauso wie am Ende, bzw. er sucht bewusst bei Gott seine Zuflucht.
Und er wird von einem klaren Ziel durch den Alltag geleitet: Sein Tun und Leben sollen Gott gefallen. Er setzt sich zu Gott in Beziehung, er fühlt sich nicht als autonomes Wesen, das allein entscheidet, was gut und richtig ist. Für ihn gilt ein höheres Prinzip, ihn leitet eine tiefere Einsicht: Es ist das Wissen um die Gegenwart Gottes, um seine Liebe, aber auch um seinen Anspruch auf unser Leben.
Doch der beunruhigt Luther nicht. Im Gegenteil, er geht davon aus, dass sein Leben geborgen ist, wenn er es ganz in Gottes Hand legt.
Und das umfasst „alles“, das betont Luther hier. Er sagt: „Leib und Seele und alles“, d.h. nichts ist ausgenommen. Die Beziehung zu Gott ist kein Teilaspekt des Lebens, keine Regung unter anderen, sondern sie schließt den ganzen Menschen ein.
Wir können das nicht nur nachbeten, sondern auch meditieren. Dabei fallen uns bestimmt Dinge ein, die uns beschäftigen und beunruhigen. Wenn wir hierher ins Kloster kommen, bringen wir ja vieles mit, das unseren Alltag prägt. Vielleicht suchen wir nach Lösungen und Antworten. Wir denken nach und grübeln. Doch das hilft meistens nicht weiter. Wir finden am ehesten einen Ausweg, wenn wir gar nicht mehr lange über all unsere „Sorgen“ nachdenken, sondern sie abgeben und unser ganzes Leben in Gottes Hand legen, ihm danken und uns ihm anvertrauen. Wir können uns von ihm führen lassen, auf sein Wort hören und um Bewahrung bitten. Das reicht schon. Wenn wir das ernsthaft und vertrauensvoll tun, sortiert sich von selbst, was wichtig und was unwichtig ist. Wir bekommen einen anderen Blick auf unser Leben, werden aus Verstrickungen gelöst und entspannen uns. Und das kann zur täglichen Übung werden. Es ist immer wieder heilsam und wohltuend, den Tag mit so einem Gebet zu beginnen und abzuschließen.
Zweite Einführung: „Erfüllt werden“
- Hinführung
Wir kennen Martin Luther hauptsächlich als Theologen und Reformator der Kirche, als Verfasser unendlich vieler Schriften, als Streiter und Kämpfer. Dass er auch fromm war, geht dabei oft unter. Luther hat aber die Gewohnheit, viel zu beten, wie er sie aus dem Kloster kannte, nie abgelegt. Es ist kein Tag vergangen, ohne dass er mindestens drei Stunden gebetet hat. So berichten es Zeitgenossen, die ihn kannten. Wenn man dann bedenkt, wie viel er außerdem geschrieben hat, ist klar, dass seine theologischen Gedanken und Erkenntnisse direkt aus dem Gebet kommen, und umgekehrt, dass seine Lehre auch sein Gebet beeinflusst hat. Das eine war nicht ohne das andere möglich.
In der Schrift von Martin Luther, „Wie man beten soll“ – aus dem wir bei den Andachten immer etwas vorgelesen bekommen – wird das alles sehr schön dargelegt. ( Martin Luther, „Wie man beten soll, für Meister Peter den Barbier“, Hrg. Ulrich Köpf und Peter Zimmerling, Göttingen 2011) Dort wird eine „kleine Theologie des Gebetes“ nach Luther entfaltet und einige wichtige Punkte wurden herausgearbeitet. So ist unter anderem wichtig, dass Luther persönlich gebetet hat und alles vor Gott zur Sprache brachte, was ihn bewegte. Er reformierte nicht nur die Kirche, sondern auch das Beten, indem er das bloße Nachplappern von vorformulierten Gebeten ablehnte. Der Verstand und das Herz müssen beteiligt sein, und es muss im Glauben geschehen.
Dabei ist für Luther das Beten zunächst zwar menschliches Reden zu Gott, es geschieht dabei aber auch noch mehr. Es kommt oft vor, dass der Mensch beim Beten etwas empfängt. Luther sagt in der Schrift an den Barbier, dass ihm beim Beten manchmal Gedanken kommen, denen er dann Raum gibt. Er hört dann in Stille zu, es ist für ihn wie eine Predigt des Heiligen Geistes. Er kennt also auch das, was wir kontemplatives Beten nennen, oder was die Mystiker praktizieren. („Wie man beten soll,“ a.a.O., S. 16ff)
Und darum geht es uns hier ja auch. Ich habe deshalb als zweites Gebet einen Text ausgesucht, der uns zu dieser Erfahrung hinführen kann.
Erfüllt werden
Siehe, Herr, hier ist ein leeres Fass, das gefüllt werden muss.
Mein Herr, fülle es!
Ich bin schwach im Glauben – stärke mich!
Ich bin kalt in der Liebe – wärme mich, ja mache mich heiß,
dass meine Liebe auf den Nächsten strömt!
Ich habe keinen festen und starken Glauben,
ich zweifle immer wieder, kann Dir nicht vollkommen vertrauen.
Ach Herr, hilf mir, mehre meinen Glauben und mein Vertrauen,
in Dir ruht der ganze Schatz meiner Güter, ich bin arm,
Du bist reich und gekommen, Dich der Armen zu erbarmen.
Ich bin ein Sünder, Du bist gerecht!
Bei mir staut sich die Sünde, in Dir aber ruht die Fülle der Gerechtigkeit.
Darum bleibe ich bei Dir, von dem ich reichlich nehmen kann,
dem ich aber nichts zu geben vermag.
(Beten mit Luther, a.a.O., S. 94f)
- Auslegung
a. Kontext
Das Gebet steht in einer sogenannten „Sommerpostille“. In später so genannten „Postillen“ legt Luther die Evangelien und Epistel der jeweiligen Sonntage aus. Er hat damit 1520 begonnen. Seine Postillen sollen Predigern und später auch dem Volk dazu dienen, die Bibeltexte „recht“ zu verstehen, sie sollen Augen und Ohren und Herz öffnen für das Evangelium. Also übersetzt er zunächst den Urtext neu. Dann kommt „post illa verba“ also „nach diesen Worten“ die Erklärung der Textabschnitte. Luther folgt dabei immer einem gewissen Schema: Erstens legt er aus, was der Text zu glauben lehrt. Doch damit nicht genug: Zum zweiten legt er aus, was der Text zu tun lehrt.
Unser Gebet steht in einer „Sommerpostille“ – so werden die Auslegungen genannt, die Texte beinhalten, die im Sommer dran waren, im Unterschied z.B. zu den „Adventspostillen“. Der Text, den Luther behandelt, ist das Evangelium am 24. Sonntag nach Trinitatis, das ist auch heute noch Matthäus 9,18-26.
Matthäus 9, 18- 26
18 Als er dies mit ihnen redete, siehe, da kam einer von den Vorstehern der Gemeinde, fiel vor ihm nieder und sprach: Meine Tochter ist eben gestorben, aber komm und lege deine Hand auf sie, so wird sie lebendig.
19 Und Jesus stand auf und folgte ihm mit seinen Jüngern.
20 Und siehe, eine Frau, die seit zwölf Jahren den Blutfluss hatte, trat von hinten an ihn heran und berührte den Saum seines Gewandes. 21 Denn sie sprach bei sich selbst: Könnte ich nur sein Gewand berühren, so würde ich gesund.
22 Da wandte sich Jesus um und sah sie und sprach: Sei getrost, meine Tochter, dein Glaube hat dir geholfen. Und die Frau wurde gesund zu derselben Stunde.
23 Und als er in das Haus des Vorstehers kam und sah die Flötenspieler und das Getümmel des Volkes,
24 sprach er: Geht hinaus! Denn das Mädchen ist nicht tot, sondern es schläft. Und sie verlachten ihn.
25 Als aber das Volk hinausgetrieben war, ging er hinein und ergriff sie bei der Hand. Da stand das Mädchen auf.
26 Und diese Kunde erscholl durch dieses ganze Land.
Luther geht in seiner Auslegung auf die beiden Menschen ein, die hier etwas von Jesus erbitten. Sie sind bedürftig, und besonders die blutflüssige Frau hält sich für unwürdig, Jesus zu begegnen. Luther kommt deshalb auf das schlechte Gewissen, das uns quälen kann. Wir wissen oft nicht, ob wir überhaupt zu Gott beten dürfen, ob er uns ansieht und erhört.
Doch das ist nicht nötig, wir dürfen immer mit allem kommen, auch wenn wir uns für sündig halten. Und dann schlägt er das Gebet vor, das wir uns nun näher anschauen wollen.
b. Inhalt
Er bezeichnet sich selber zunächst als „leeres Fass“, das gefüllt werden muss. Das ist ein sehr anschauliches Bild. Dabei müssen wir unter „Fass“ sicher eher ein „Gefäß“ verstehen. Trotzdem passt die Vorstellung, ein Fass zu sein, ganz gut: Es ist groß, und es geht viel hinein. Wenn Luther nun sagt, dass er „leer“ ist, meint er, dass er Gott nichts bringen kann, er kann nur etwas von Gott empfangen.
Der Hauptgrund dafür ist sein schwacher Glaube. Luther thematisiert hier also nicht irgendeinen Mangel, nicht eine von vielen Nöten, die uns befallen können, er bringt seine Glaubensnot vor Gott. Er hat das Gefühl, von sich aus noch nicht einmal richtig glauben zu können, geschweige denn gerecht und gut vor Gott zu sein. Weiter unten erwähnt er die Zweifel, die ihn immer wieder befallen, das mangelnde Vertrauen Er fühlte sich also gar nicht wie der starke Mann, zu dem wir ihn oft machen, sondern schwach und hilfsbedürftig, kläglich und ohne Energie. Deshalb ist seine erste Bitte: „Stärke mich“, d.h. gib mir neue Kraft, richte mich auf.
Doch nicht nur der Glaube fehlt ihm, auch in der Liebe ist er oft „kalt“, wie er sagt. Neben dem Glauben ist die Liebe ja die zweite große Tugend, die einen Christen oder eine Christin auszeichnet. Sie macht uns lebendig und verbindet uns mit den Mitmenschen. Und sie ist auch notwendig. Wir wünschen uns alle, zu lieben und geliebt zu werden. Ohne Liebe würden wir eingehen. Aber auch sie ist nicht aus eigener Kraft möglich. So erlebt Luther es jedenfalls.
Er stellt sich den Empfang der Liebe dann bildlich vor: Sie ist wie Wärme, ja er will innerlich sogar „heiß“ werden, und das, was ihn dann an Wärme und Hitze erfüllt, soll auf den Nächsten überströmen. Wie ein Ofen Wärme abgibt, so möchte Luther, dass die Liebe Gottes von ihm auf andere übergeht, dass sie sie spüren und erleben, wenn sie mit ihm zusammen sind.
Ein weiteres Bild, mit dem Luther seine Wünsche gegenüber Gott dann beschreibt, ist das vom Reichtum und von der Armut: Er fühlt sich „arm“, Gott allein kann ihn „reich“ machen. Damit kommt gleichzeitig zum Ausdruck, dass andere, materielle und weltliche Güter nicht der wahre Reichtum sind. Gott zu vertrauen, seine Gegenwart, seine Liebe und Zuwendung sind ein viel größerer „Schatz“. Es ist für Luther das Wertvollste, was es gibt.
Natürlich hängt die Armut, die Luther empfindet, mit der „Sünde“ zusammen, von der kein Mensch frei ist. Das erwähnt er hier als Letztes. Er kommt damit auf die Rechtfertigungslehre, die für ihn ja A und O seiner ganzen Theologie ist. In dem Evangelium, das er auslegt, ist die blutflüssige Frau eine Sünderin, die sich nicht traut, direkt vor Jesus zu treten. Sie schämt sich. Doch das muss niemand, selbst wenn die „Sünde sich staut“, denn Gott wird dem, der ihm vertraut, die „Fülle der Gerechtigkeit“ zukommen lassen.
Das sind der Kontext und der Inhalt dieses Gebetes. Ich möchte jetzt etwas zu seiner Anwendung sagen.
- Anwendung
Wir können dieses Gebet schön nachsprechen und meditieren. Dabei ist die Bibelstelle , die in dem Taschenbuch „Heute mit Luther beten“ angegeben ist sehr nützlich. (a.a.O., 40) Sie soll ja dabei helfen, das Gebet zu erschließen. Sie stammt aus der Geschichte über den reichen Jüngling, der nicht in der Lage ist, alles aufzugeben, um Jesus zu folgen. Jesus sagt daraufhin zu seinen Jüngern: „Wie schwer werden die Reichen in das Reich Gottes kommen.“ (Markus 10, 23f) Und das heißt: Wir müssen erst mal leer werden, bevor wir glauben und nachfolgen können.
Sind wir das? Sind wir „leere Gefäße“? Das können wir uns als erstes fragen.
Unser Lebensgefühl ist normaler Weise sicher nicht so. Im Gegenteil, wir sind immer voll von irgendwelchen Gedanken, Erinnerungen, Erlebnissen, Wünschen, Plänen usw. Uns beschäftigt ganz viel, und das bringen wir auch mit hierher ins Kloster. Es können schöne oder schwere Dinge sein. Zu den schönen Dingen gehört z.B. ein toller Urlaub, ein schönes Fest, eine wunderbare Begegnung, ein Erfolg, ein Buch, das wir gelesen, ein Film, den wir gesehen haben, oder was auch immer es an Bereicherndem gibt. Das erfüllt uns dann, d.h. wir halten es meistens fest, denken viel daran und leben damit. Genauso ist es mit den schweren Dingen: Konflikte, Krankheiten, Niederlagen, Ängste, Zweifel, Unsicherheit. Davon können wir genauso voll sein. Die Probleme halten uns dann gefangen.
Hier im Kloster suchen wir nach Lösungen. Wir möchten frei und ruhig werden. Vielleicht denken wir nach, bitten Gott um Hilfe, reden mit jemandem. Aber hilft das auch?
Luther lädt uns mit seinem Gebet dazu ein, dass wir zunächst „leer“ werden, und das ist auch das Anliegen des Klosters. Wir haben uns bewusst der Zerstreuung und dem Lärm entzogen, um alles, was uns gefangen hält, einmal loszulassen. Im Gebet bzw. in der Meditation lassen wir die Gedanken also einfach vorüberziehen. Sie sind jetzt nicht mehr wichtig. Dabei können wir uns außerdem sagen: Letzten Endes ist es alles leer, was uns beschäftigt, vieles davon ist nichtig und flüchtig. Es beschäftigt uns zwar, erfüllt uns aber nicht. Es ist deshalb gut, wenn wir all diese Nichtigkeiten sozusagen auskippen, d.h. zu „leeren Fässern“ werden und Gott darum bitten, uns neu zu füllen.
Dafür brauchen wir keinen großen und starken Glauben. Das ist der nächste Gedanke. Vielleicht geht es uns ja so ähnlich wie Luther, dass wir gar nicht richtig auf Gott vertrauen können. Wir fühlen uns sündig und schwach, haben Zweifel und sind innerlich „arm“. Wir spüren Gottes Gegenwart und Liebe nicht und finden keinen Zugang zu ihm. Wir werden gar nicht ruhiger.
Dann ist es gut, das alles einfach zuzugeben und auszuhalten, auch in puncto Glauben zu „leeren Fässern“ werden. Wir können den Glauben und das Vertrauen nicht erzwingen, das gehört zum wahren Beten dazu. Wenn es echtes Beten ist, dann liegt unsere ganze Hilflosigkeit darin. Wir machen uns nicht selber stark, sondern warten darauf, dass Gott uns erfüllt. Wir müssen ihm nichts bringen, weder irgendwelche Opfer noch eine großartige Konzentration und schon gar keine Heiligkeit.
Selbst unsere Liebe muss nicht groß sein. Wenn wir uns „kalt“ fühlen, so wie Luther, dann darf das so sein. Es reicht, wenn wir einfach nur da sind, mit all unseren Sünden und Unvollkommenheiten, mit unseren Mängeln und Fehlern, und das alles vor Gott bringen. Luther empfiehlt dieses Gebet ja, wenn unser Gewissen uns zu schaffen macht. Und dann kann es wirklich helfen.
Denn Gott kann und will uns „reichlich“ geben, uns fest und stark machen, warm und liebend. Er will uns beruhigen und befreien, uns heilen und neu beleben. Wir müssen ihn nur gewähren lassen.
Dritte Einführung: „Gleichgewicht“
- Hinführung
Wir nennen Luther den großen Reformator, d.h. Erneuerer, und das war er auch. Er hat die Kirche erneuert und uns bis heute wichtige Impulse gegeben. Er hat sein eigenes Leben von Grund auf geändert, indem er das Mönchsein aufgegeben und geheiratet hat. Aber das bedeutet nicht, dass er alles neu gemacht hat. Eigentlich wollte er auch gar keine neue Kirche gründen, vieles daran ist ihm bis zum Ende lieb und wert gewesen.
So z.B. die Form des Gottesdienstes. Wir nennen ihn nicht umsonst „lutherische Messe“. Er hat die sogenannte Liturgie beibehalten, d.h. die festen Gesänge und Gebete vor dem Verkündigungsteil, das Kyrie und Gloria, und in der Feier des Abendmahls ist ebenfalls vieles geblieben. Die schlichteren und nüchternen Formen eines evangelischen Gottesdienstes sind erst bei den sogenannten reformierten Christen entstanden, in der Schweiz und in Holland.
Luther hat die alten Gesänge also nicht abgeschafft, weil sie den Leuten eventuell unverständlich waren, er hat sie stattdessen ins Deutsche übersetzt und erklärt. Ihm war wichtig, dass jeder Gottesdienstbesucher und jede Gotteseinstbesucherin mit Herz und Verstand nachvollziehen konnte, was da geschah. In seinen Erklärungen zu den einzelnen Stücken finden wir deshalb auch eine Erklärung des Segens, der am Ende erfolgt. Es ist der sogenannte aaronitische Segen, den wir bis heute der Gemeinde am Ende des Gottesdienstes zusprechen. Er lautet folgendermaßen: „Der Herr segne dich und behüte dich, der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig, der Herr erhebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden.“ Er steht im vierten Buch Mose im 6. Kapitel (V.24- 26) und ist eine Anweisung an die Priester. So sollten sie das Volk Israel segnen.
Das letzte Gebet, das wir betrachten wollen, stammt aus der Erklärung Luthers zu diesem Segen, und zwar zu dem letzten Satz „und gebe dir Frieden.“
Die Erklärung beinhaltet einen weiteren Punkt, der ein Missverständnis ausräumen kann, das wir eventuell haben, wenn wir an Luther denken. Er hatte ja etwas gegen „gute Werke“. Doch das bedeutete nicht, dass ihm der Lebenswandel eines Christen völlig gleichgültig war. Die guten Werke können lediglich nicht der Rechtfertigung dienen, sie können uns nicht retten und wir können sie nicht von uns aus vollbringen. Als Früchte des Glaubens sind sie aber durchaus wichtig und notwendig. Natürlich soll ein Christ weiter danach fragen, was Gott wohlgefällt, sein Leben nach den Geboten ausrichten, den Nächsten lieben, Gott fürchten und ehren usw. Luther liebte die zehn Gebote und empfahl sie sogar zur täglichen Meditation.
In der Schrift an den Barbier rät er, jedes Gebot in vier Schritten zu bedenken, ein „vierfaches gedrehtes Kränzlein“ daraus zu machen“ (Wie man beten soll, a.a.O., S.48): Erstens die Lehre zu bedenken, die es enthält, zweitens daraus eine Danksagung zu machen, drittens eine Beichte und viertens ein Gebet, d.h. Gott darum zu bitten, das jeweilige Gebot „täglich immer besser zu lernen und zu verstehen und mit herzlicher Zuversicht danach zu handeln.“ (S.49)
Auch das wird an dem Gebet deutlich, das wir heute betrachten wollen.
Gleichgewicht
Lieber Gott,
verleihe uns ein friedliches Herz
und Gleichmut im Kampf gegen das Böse,
dass wir nicht nur dulden und am Schluss siegen,
sondern auch mitten in Kampf und Unruhe Frieden finden,
Dich loben und Dir danken,
nicht ungeduldig werden gegen Deinen göttlichen Willen,
damit der Friede in unseren Herzen die Oberhand behält,
damit wir nichts gegen Dich, unseren Gott,
oder Menschen aus Ungeduld unternehmen,
sondern gegen beide, gegen Gott und gegen Menschen,
still und friedlich bleiben,
bis der endgültige und ewige Friede kommt.
(Beten mit Luther, a.a.O. S. 76)
2. Auslegung
Das Gebet steht wie gesagt in einer Auslegung Luthers zum aaronitischen Segen. Es ist ursprünglich auch nicht als ein Gebet formuliert, sondern als Segenswunsch, d.h. es enthält gar keine direkte Anrede an Gott, sondern Gott kommt in der dritten Person vor, der das alles, was dann kommt, tun möge. Aber es ist durchaus legitim, daraus ein persönliches Gebet zu machen und es in die Gebete Luthers aufzunehmen.
Es beinhaltet in erster Linie das friedliche Herz. D.h. Luther versteht die Bitte um Frieden innerlich: Er fängt im Inneren des Menschen an.
Das Gegenteil von Frieden ist Krieg und Zerstörung, Bosheit und Hass. Der Mensch bekämpft das gerne mit denselben Mitteln. Er wird ungeduldig und zornig und will den Frieden mit Gewalt herbeiführen. Das kritisiert Luther hier indirekt, indem er mit dem Gebet einen anderen Weg beschreibt: Frieden entsteht nicht, wenn wir äußerlich gegen das Böse kämpfen, sondern nur, wenn wir gegen unsere eigene Ungeduld kämpfen und „gleichmütig“ werden.
Das Wort „Geduld“ bzw. „Ungeduld“ durchzieht das Gebet wie ein roter Faden. Geduld bedeutet, dass man etwas „duldet“, d.h. erleidet und aushält. Für Luther ist das ein viel größerer Sieg als alles andere, denn es ist der Sieg des Friedens Gottes im Herzen. Er behält dabei die „Oberhand“.
Für Luther waren Gottes Gegenwart und Kraft in sich selber sinnvoll. Wo Gott ist, ist Frieden, er macht uns mitten im Kampf ruhig. Gott hebt uns heraus aus allen Wirren und macht uns still und friedlich, dankbar und froh.
Luther beendet das Gebet nicht umsonst mit dem Ausblick auf den „ewigen Frieden“. Er glaubte daran, dass es noch etwas viel größeres gibt, als die Welt, dass es einen „endgültigen“ Frieden gibt, den Gott eines Tages heraufführen wird. Auf den dürfen und sollen wir warten, darauf können wir hoffen.
Es war Luther wichtig, dass wir nicht aus Versehen gegen den Willen Gottes agieren. Das passiert schnell, wenn wir uns aufregen, in Konflikten stehen und angegriffen werden. Wir werden dann selber ungerecht und unternehmen eventuell Dinge, die zerstörerisch sind. Luther bittet darum, davor bewahrt zu werden.
Vielleicht nehmen wir ihm das nicht ganz ab. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal etwas zu all den schwierigen Seiten sagen, die wir über Luther wissen: Er hasste ja nicht nur die „Papisten“, wie er die Vertreter und Würdenträger der Kirche nannte, sondern auch die Türken – d.h. die Moslems – und die Juden, er war gegen die Bauernaufstände und gehorchte der Obrigkeit. D.h. er war keineswegs immer friedlich und ruhig. Er hat sehr hitzige Dinge gesagt und geschrieben, und wir haben damit heute ein Problem. Wo bleibt die Toleranz? Warum tat er nichts für den Frieden oder eine gerechtere Gesellschaftsordnung?
Ich will darauf jetzt nicht in aller Ausführlichkeit eingehen, das muss an anderer Stelle geschehen, sondern nur drei Dinge anmerken:
Erstens dürfen wir Luther nicht aus seiner Zeit herausreißen. Die Aufklärung erfolgte später, d.h. Toleranz und pluralistisches Denken, wie es heute für uns selbstverständlich ist, gab es in der Form zu Luthers Zeit noch nicht. Es gab ein allgemein gültiges Verständnis der Welt, das alle teilten, auch Luther.
Und zweitens ist wichtig: Er hasste die Papisten, Juden und Moslems nicht an sich, sondern weil sie der für ihn wichtigen Erkenntnis „allein aus Christus, allein aus Gnade“ nicht folgten. Sie verbreiteten eine Lehre, die seiner alles entscheidenden – der sogenannten reformatorischen – Erkenntnis widersprach. Er konnte eigentlich gar nicht anders, als gegen sie zu argumentieren.
Und als drittes ist dazu zu sagen, dass Luther nie den Anspruch erhob, ein Heiliger zu sein. Natürlich gab es Widersprüche in seinem Leben und in seiner Person, blinde Flecken, Unausgewogenheiten. Er hat sich immer als Sünder gefühlt. Wir müssen ihm deshalb auch nicht in allem folgen. Es steht uns frei, die Dinge heutzutage anders zu beurteilen, unseren Glauben anders zu leben.
Trotzdem – um wieder auf das Gebet zurückzukommen – stellt sich irgendwann schon die Frage, wie tolerant wir denn gegenüber der Intoleranz sein sollten. Gibt es nicht auch zerstörerische Kräfte, denen wir etwas entgegensetzen müssen? Wo fängt das Böse an, und wie sollen wir dagegen kämpfen? Vielleicht muss jeder und jede diese Frage selber entscheiden. Es wird da immer Unterschiede geben. Auch die Andeutungen in dem Gebet, das wir betrachten, werden wir nicht alle gleichermaßen umsetzen wollen.
Lasst uns trotzdem über seine Anwendung nachdenken.
- Anwendung
Ich finde es ganz schön, dass das Gebet bei Frau Käßmann und auch schon in dem Luthergebetbuch aus den siebziger Jahren die Überschrift „Gleichgewicht“ trägt. Darum geht es nämlich, um Ausgewogenheit und das richtige Maß.
Zunächst einmal ist es durchaus sinnvoll, sich in Geduld zu üben. Es gibt immer wieder Situationen, in denen das die beste Verhaltensweise ist. Und wir können damit auch sehr weit gehen.
Es wird in einer Konfliktsituation aktuell: Menschen tun uns Unrecht, sie verletzen oder enttäuschen uns. Spontan reagieren wir mit „Ungeduld“, d.h. wir werden ärgerlich oder zornig, werfen ihnen vor, was sie uns antun, handeln gegen sie, kämpfen um unser Recht usw. Jeder und jede kann hier ja einmal überprüfen und durchleuchten, wie er oder sie sich in solchen Situationen verhält.
Luther rät zur Geduld, d.h. er schlägt vor, zunächst einmal nicht direkt zu reagieren, auf Abstand zu gehen und ruhig zu bleiben. Vieles von dem, was uns stört, lässt sich nämlich ertragen. Wir können es aushalten und müssen gar nicht dagegen kämpfen.
Es lohnt sich viel mehr, gegen den eigenen Ärger zu kämpfen, sich anstatt nach außen nach innen zu wenden und gegen die eigene Ungeduld vorzugehen. Wir tragen dann einen viel größeren Sieg davon, der uns sehr weit führt.
Dabei ist wichtig, dass wir das nicht allein schaffen. Es geht hier nicht um Heldentum. Luther bittet vielmehr darum und bringt diesen Sieg unmittelbar mit der Gegenwart Gottes in Verbindung. Nur er kann uns dazu verhelfen, nur mit Gott ist dieser Sieg wirklich ein Sieg und von Dauer. Denn wir gewinnen Anteil an der Ewigkeit, wir werden herausgehoben aus den Niederungen der Welt und der Auseinandersetzungen und in eine andere Wirklichkeit versetzt.
Und das ist wichtig. Denn natürlich hat die Übung der Geduld ihre Gefahren und ihre Grenzen. Die Gefahr besteht darin, dass wir uns gar nicht in Geduld üben, sondern uns nur ducken, aus Schwachheit und Angst heraus nichts tun, passiv bleiben und uns selber klein machen. Wer dazu neigt, muss natürlich erst einmal üben, stark zu werden, sein Ich aufzubauen und eine gesunde Abwehrkraft entwickeln. Erst wenn das erfolgt ist, können wir mit der Übung der Geduld beginnen.
Und die Grenze setzt da ein, wo das, was wir ertragen, uns eventuell doch zerstören will. Es gibt das Böse in der Welt, es gibt Grenzen dessen, was wir aushalten müssen. Wo diese Grenze allerdings liegt, muss jeder und jede für sich selber herausfinden. In der Nazizeit z.B. gab es Menschen, die sind in den offenen Widerstand gegangen und wurden zu Märtyrern. Das war für sie richtig und gut. Andere waren auch gegen das Regime und die Verbrechen, haben sich aber für den Untergrund entschieden. Das war genauso gut, denn sie sind am Leben geblieben und konnten hinterher noch viele Jahre segensreich wirken. Es gibt dafür keinen einheitlichen Maßstab.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass es um ein inneres Gleichgewicht geht. Das gilt es zu finden. Wir sind „zum Frieden Christi berufen“ (Kol.3,15), wie es in der Stelle im Kolosserbrief heißt, die bei Frieder Schulz unter dem Gebet steht. (Heute mit Luther beten, a.a.O., Nr. 38). Das will Gott. Er sollte also in unseren „Herzen regieren“. Wir wissen selber, wann er eingezogen ist, wir können es spüren. Es bedeutet, dass wir ausgeglichen und „gleichmütig“ sind, dass wir mit uns selber übereinstimmen. Wir haben unsre Mitte gefunden. Das gehört zu jedem Gleichgewicht ja dazu: dass eine Mitte vorhanden ist, von der aus es entstehen kann. Dann kommt es zu einer Harmonie zwischen den vielen verschiedenen Kräften, die in uns und um uns wirken. Die gilt es anzustreben, Gott darum zu bitten. Wir finden unsere Gemütsruhe und empfangen dabei seinen Frieden.
Gott kann ihn schenken, wir müssen ihn nur darum bitten.
Betrachtungen zu dem Lied: „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ von Georg Neumark (EG 369)
Ora-et-Labora-Freizeit vom 29.8.- 2.9.2016
im Gethsemanekloster Reichenberg
Auf der Ora-et-Labora-Freizeit wurde der Klostertag 2016 vorbereitet. Inhaltlich orientierten sich die täglichen Einführungen in die Stille Zeit an dem Thema des Vortrages, der dort gehalten wurde.
1. Einführung: Auf Gott hoffen
Strophe 1 und 2
1. Hinführung
a. Thema des Klostertages: „Der Trost Gottes“
Das Thema des Klostertages lautet „Der Trost Gottes“. Es ist vom Jahresthema abgeleitet, und das wiederum ergibt sich aus der Jahreslosung. Sie wird von der Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen für jedes Jahr drei Jahre im Voraus ausgewählt, und es ist immer ein Vers aus der Bibel. Für viele Christen vor allem deutscher Sprache ist sie dann der Leitvers für das Jahr. Bruder Achim hat sich dieser Praxis angeschlossen und die Jahreslosung zum zweiten Mal auch für das Jahresthema des Klosters gewählt. Sie steht 2016 bei dem Propheten Jesaja und lautet: „Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“ (Jes. 66, 13)
Das sagt Gott durch den Propheten zu dem Volk Israel. Es ist ein Trostwort, denn das sah der Prophet als seine Hauptaufgabe an: Trost zu spenden. Es ist der sogenannte „dritte“ Jesaja, der nach dem babylonischen Exil lebte und wirkte. Zur der Zeit war eigentlich alles wieder gut. Trotzdem wurden die Menschen ungeduldig, denn das Heil, nach dem sie sich sehnten, kam ihnen nicht schnell genug. Das Leben blieb schwierig und konfliktgeladen, der Wiederaufbau ging nur schleppend voran. Der dritte Jesaja will seine Landsleute deshalb trösten und ermutigen. Davon handeln sein Buch und auch unser Vers.
Dabei wird gerade an diesem Vers sehr schön deutlich, dass Trost etwas ist, das wir schon als kleine Kinder brauchen. Die Mutter gibt ihn uns, wenn sie eine gute Mutter ist.
Doch wer tut das später? Es können natürlich andere Menschen sein, und es ist auch gut, wenn wir sie haben. Aber oft reicht der menschliche Trost nicht. Deshalb spielt er im Glauben eine große Rolle, in der Religion. Schon in der Bibel ist Gott immer wieder derjenige, der sein Volk tröstet. Und in unserer geistlichen Tradition gibt es dafür ebenfalls unzählige Zeugnisse: Menschen haben im Glauben Trost gefunden. Deshalb handeln z.B. viele Lieder in unserem Gesangbuch davon.
Ein Trostlied finde ich besonders schön, das möchte ich mit euch hier in dieser Woche Strophe für Strophe betrachten. Es trägt den Titel „Wer nur den lieben Gott lässt walten“. Text und Melodie stammen von Georg Neumark aus dem Jahr 1641.
Wer war das? Und wie kam es zu dem Lied?
b. Georg Neumark
Georg Neumark wurde am 16. März 1621 in Thüringen als Sohn eines Tuchmachers geboren und wuchs in Mühlhausen auf. Schon früh liebte er Musik und Poesie. 1640 wollte er an der Universität Königsberg Jura studieren und darüber hinaus den Poesieprofessor Simon Dach kennen lernen. Er fuhr mit Kaufleuten, die sich dafür zu einer Gruppe zusammengeschlossen hatten. Der Trupp wurde jedoch in der Altmark überfallen und ausgeplündert. Dabei verlor Neumark alle Studienmittel, der Plan vom Dichten und Musizieren in Königsberg war vorerst geplatzt. Das einzige, was er noch hatte, war sein Stammbuch, mit dem er sich ausweisen konnte. So war er völlig mittellos in fremder Umgebung.
Aber er verlor nicht den Mut. Er reiste weiter und fand in Magdeburg, Lüneburg und Hamburg immer mal wieder wohlgesonnene Menschen, die ihm Arbeit gaben, allerdings keine feste Anstellung. So konnte er sich auch keine neuen Studienmittel erwerben. Schließlich erhielt er eine Stelle eines Hauslehrers in der frommen Familie des Amtmanns Henning in Kiel. Und dort dichtete er im Januar 1641 das Lied „Wer nur den lieben Gott lässt walten“. Es verbreitete sich sofort von Mund zu Mund. Doch erst viele Jahre später, nämlich 1657 wurde es in der Sammlung „musikalisch-poetischer Lustwald“ in Weimar gedruckt.
1644 konnte Neumark dann seinen Traum verwirklichen und reiste weiter über Lübeck und Danzig nach Königsberg. Dort begann er tatsächlich mit einem Jurastudium und traf Simon Dach. Er schloss sich dessen Dichter- und Musikerkreis an und erfuhr dadurch viel Anregung und Förderung in poetischer und musikalischer Hinsicht. Er konnte auch ausgezeichnet Cembalo und Gambe spielen und war dadurch sehr beliebt.
Es zog ihn aber wieder in seine Heimat. Auf seinem Weg nach Thüringen traf er in Wedel noch auf Johann Rist, einem Pfarrer, der ebenfalls viele Lieder gedichtet hat, die noch heute in unserem Gesangbuch stehen. Von Hamburg aus stand Neumark dann in regem Briefverkehr mit Thüringen. Dadurch erfuhr Herzog Wilhelm II. von Weimar von ihm, ebenfalls ein frommer und dichtender Christ. Er war der Leiter der sogenannten „Fruchtbringenden Gesellschaft“, der damals angesehensten Vereinigung für Literatur und Kunst. 1652 ernannte er Neumark zu seinem Hofpoeten und stellte ihn als Bibliothekar und Kanzleiregistrator an. Dadurch kam Neumark auch mit vielen Künstlern und Dichtern in Kontakt.
Er heiratete in Weimar Catharina Werner und bekam zwei Söhne. Dreißig Jahre lang diente er dem Fürstenhaus und war zufrieden mit seinem Leben. 1681 starb er mit 60 Jahren an Altersgebrechen. (vgl. Wolfgang Herbst, Hrg., Wer ist wer im Gesangbuch? Göttingen, 2001, S.226f)
2. Betrachtung
a. Einleitung
Nun zu dem Lied. Neumark selber nannte es „Trostlied“, und es ist ja auch in so einer Situation entstanden. Sein Wahlspruch lautete: „Wie Gott es will, so halt ich still.“ Und davon handelt auch dieses Lied. Dabei enthält es allgemeine Lebensweisheit, biblische Motive kommen vor und die christliche Frömmigkeitstradition. Man kann erkennen, dass hinter dem Lied ein Schicksalsschlag steht, eine Not, eine leidvolle Erfahrung. Wo finden wir Trost? Worauf können wir vertrauen, wenn wir Angst haben und uns Sorgen machen? Worin besteht unsere Freude? Auf diese Fragen gibt er hier eine wunderbare Antwort, und es ist zu spüren, dass er dichterisch sehr begabt war. Ich finde das Lied ist künstlerisch und inhaltlich ausgesprochen gelungen. Die Melodie ist auch von ihm, und man merkt, es ist ein Guss.
b. Ausführung
Die erste Strophe lautet:
1. „Wer nur den lieben Gott lässt walten
und hoffet auf Ihn allezeit,
den wird er wunderlich erhalten
in aller Not und Traurigkeit.
Wer Gott, dem Allerhöchsten, traut,
der hat auf keinen Sand gebaut.“
Das ist eine Feststellung, ein Bekenntnis. Es beginnt mit einem Relativsatz, mit dem Pronomen „wer“, d.h. uns wird ein bestimmter Mensch vorgestellt. Dabei geht es um dessen Verhalten. Es ist jemand, der Gott „walten“ lässt.“
Das Wort „walten“ benutzen wir kaum noch, es ist veraltet und bedeutet laut Duden „gebieten, zu bestimmen haben, das Regiment führen“. In dem Wort „Gewalt“ kommt es vor, und auch die Bezeichnungen „Verwalter“ und „Anwalt“ sind aus diesem Wort zusammengesetzt. Jemand, der waltet, hat also viele Möglichkeiten. Er ist meistens höher gestellt und tut etwas. „Schalten und walten“ ist ein Ausdruck, den wir gelegentlich noch benutzen. Wir sagen es von jemandem, der einen Plan hat, eine Idee, ein Ziel. „Walten“ ist mehr, als einfach nur zu herrschen und mächtig zu sein. Es kommt etwas dabei heraus, es ist positiv gefärbt, konstruktiv. Auf jemanden, der waltet, kann man deshalb „hoffen“. Das ist das nächste Wort, das Neumark hier erwähnt.
Und er sagt das alles vom „lieben Gott“, den er glehzeitig den „Allerhöchsten“ nennt. Und zu Gott passt das in der Tat gut. Das glauben wir, er ist höher als alle anderen.
Wer nun Gott „walten“ lässt, den wird er „erhalten“, und zwar „in aller Not und Traurigkeit“. Das ist die Situation, auf die das Lied sich bezieht. Neumark hatte sie gerade erlebt. Aber er hat auch erfahren, wie ihm geholfen wurde. Das Gottvertrauen ist deshalb eine feste Grundlage für das Leben, darauf kann man bauen. Neumark führt das biblische Gleichnis vom Hausbau auf dem Sand aus der Bergpredigt an. (Mt.7,24ff) Da sagt Jesus, dass der, der seine Lehre hält, wie ein Mann ist, der sein Haus auf den Felsen baute. Wer dagegen seine Worte nicht tut, ist wie einer, der auf Sand baut. Sein Haus stürzt ein.
An diese Möglichkeit denkt Neumark also ebenfalls, an das Gegenteil von „Gott walten lassen“. Man kann ja auch selber in seinem Leben walten, d.h. autonom bestimmen und entscheiden, man kann andere Menschen „walten“ lassen, eine Sache, einen Plan, die Welt. Das ist auch das Normale, das wir alle zunächst tun. Doch das ist nicht ratsam. „Wer den lieben Gott walten lässt“, ist besser dran.
Das kommt in der zweiten Strophe nun sehr schön zum Ausdruck. Sie lautet:
2. „Was helfen uns die schweren Sorgen,
was hilft uns unser Weh und Ach?
Was hilft es, dass wir alle Morgen
beseufzen unser Ungemach?
Wir machen unser Kreuz und Leid
nur größer durch die Traurigkeit.“
Diese Strophe beginnt mit einer Frage, mit der Neumark auf ein allgemein verbreitetes Verhalten eingeht: Es ist das Seufzen und Klagen. Wenn das Gottvertrauen fehlt, sind bald Sorgen, Weh und Ach unsre Begleiter. Es beginnt jeden Morgen neu und vermiest das Leben. Natürlich haben wir dafür Gründe, Neumark nennt sie „Ungemach“. Das ist ebenfalls ein veraltetes Wort und bedeutet Unannehmlichkeit, Widerwärtigkeit, Ärger und Übel. Das kennen wir alle, wir erleben es regelmäßig.
Meistens hat es für uns eine absolute, feste Größe, denn oft ist es so, dass wir es nicht ändern oder beeinflussen können. Trotzdem hat es für Neumark keine uneingeschränkte Macht. Auf unsere Wahrnehmung können wir nämlich durchaus Einfluss nehmen. Wie wir mit dem „Ungemach“ umgehen, ist durchaus veränderlich. Und damit ist es flexibel und wandelbar: Wenn wir es jeden Morgen beklagen, wird es größer, wenn wir damit aufhören und auf Gott hoffen, wird es kleiner.
Der Trost, den Neumark hier vorstellt, besteht also nicht darin, dass wir nie mehr Leid erfahren werden. Wir werden aber „in aller Not und Not und Traurigkeit erhalten“.
3. Anwendung
Wenn wir das nun auf unser Leben anwenden und in der stillen Zeit betrachten, können wir uns fragen: Welche Sorgen habe ich? Was macht mir zu schaffen? Was tue ich morgens als erstes? Welche Gedanken kommen mir?
Wir können uns das bewusst machen, aber es dann einmal nicht weiter durchdringen. Normalerweise gehen mit Sorgen viele Gedanken einher. Wir lassen uns heute einmal sagen: Die meisten davon sind überflüssig. Sie entstehen, weil wir selber in unserem Leben walten. Oder wer ist es sonst? Das können wir uns auch fragen: Wer oder was „waltet“ eigentlich in meinem Leben? Wer führt das Regiment?
Wenn wir entdecken, dass es nicht Gott ist, vertrauen wir bewusst auf ihn, auf den Allerhöchsten. Das ist ein Superlativ, höher geht es nicht, d.h. auch nicht besser. Es ist dumm, jemand oder etwas anderes „walten“ zu lassen. Der Allerhöchste ist gleichzeitig der „liebe Gott“. Auf ihn lassen wir uns ein.
2. Einführung: Still halten
Strophe 3 und 4
1. Hinführung
Das Lied „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ steht in unserem evangelischen Gesangbuch unter der Rubrik „Angst und Vertrauen“. In einem anderen Gesangbuch, dem der Herrnhuter Brüdergemeine z.B., finden wir es bei dem Kapitel „Freude und Sorge“, das passt auch sehr schön. Der Dichter und Komponist Georg Neumark hat darin formuliert, was ihn selber getröstet hat. Er war ein gläubiger Mensch, und so ist es das Vertrauen auf Gott, durch das er ruhig und getrost wurde.
Dabei ist wichtig, dass er das Gottvertrauen an sich lobt. Er zählt nicht viele Einzelheiten auf, Geschenke, die Gott ihm macht, Güter, die er bekommt, Menschen, die ihm helfen. Das hat er zwar auch erlebt, aber es geht ihm hauptsächlich um Gottes Walten selber, darum Gott Gott sein zu lassen. Die Tatsache, dass er überhaupt da ist, und das Erleben seiner Gegenwart ist schon Antwort genug. Es ist in sich selber sinnvoll, denn wir sind „zu Gott hin geschaffen“, wie Augustinus gesagt hat, oder biblisch gesprochen: Wir sind „Kinder Gottes“ und sollen das leben. Das ist unsere Bestimmung.
Und die ist großartig, es ist eine wunderbare Sache, ein Privileg. Jeder, der es missachtet, ist eigentlich dumm und töricht. Es steckt auch eine gewisse Ironie in dem Lied, Neumark macht sich so ein bisschen lustig über jeden, der das nicht glaubt und lebt. „Was hilft uns unser Weh und Ach?“ ist keine neutrale Formulierung. Es liegt etwas Abwertendes und Entlarvendes darin.
Das ist auch in den nächsten Strophen so.
2. Betrachtung
Lasst uns die also betrachten. Heute soll es um die dritte und vierte gehen. Die dritte Strophe lautet folgendermaßen:
3. „Man halte nur ein wenig stille
und sei doch in sich selbst vergnügt,
wie unsres Gottes Gnadenwille,
wie sein Allwissenheit es fügt;
Gott der uns sich hat auserwählt,
der weiß auch sehr wohl, was uns fehlt.“
Diese Strophe beginnt mit einer Empfehlung, sie klingt fast wie ein Rezept. Das wird ja gerne eingeleitet mit den Worten „man nehme…“. Darin liegt die subtile Ironie: Es gibt einen ganz naheliegenden Trost, man muss ihn eben nur annehmen und dabei bestimmte Dinge beachten. Der Dichter verrät uns, was das ist.
Und zwar rät er uns, „ein wenig still zu halten“. „Still halten“, das müssen wir z.B. beim Arzt, wenn wir Schmerzen haben, oder auch in einer Gefahrensituation, wenn es stürmt oder regnet, wenn etwas Unangenehmes geschieht. Schön finde ich, dass er sagt: „ein wenig“, d.h. wir müssen das nicht lange tun, es geht vorüber, es ist eigentlich nicht schwer. Wir werden zu nichts Heldenhaftem aufgefordert, zu keinem Martyrium oder großartiger Konzentration. Wir sollen nur „ein wenig still“ halten. Es ist ein kleiner Einsatz, der aber eine große Wirkung hat.
Das ist das erste. Dazu kommt aber noch mehr: Wir sollen bei diesem „still halten“ „in uns selber vergnügt sein“, das ist die nächste Formulierung, die wieder sehr schön ist. Sie bedeutet, dass wir in uns gehen sollen, uns nach innen wenden und uns selber spüren. Das ist nicht selbstverständlich, denn wir lassen uns gerne von außen ablenken, zerstreuen uns, suchen die Lösung unsrer Probleme in unserer Umwelt, bei anderen Menschen, eben außerhalb von uns selbst. Davon wird uns hier abgeraten, und uns wird vorgeschlagen, einfach einmal mit uns selber „vergnügt“ zu sein, d.h. in uns selber Freude zu finden, zufrieden zu sein. In uns liegt auch eine ganze Welt, die wir nur entdecken müssen.
Denn in uns offenbart sich auch „Gottes Gnadenwille“, da erfahren wir ihn. So geht die Strophe weiter. Wir klagen vielleicht manchmal darüber, dass Gott nicht da ist, dass wir ihn nicht sehen, nichts von seiner Gegenwart merken, und geben ihm dafür die Schuld. Doch das liegt nicht an ihm, sondern an uns. Gott ist sehr wohl bei uns, bloß wir sind nicht bei ihm. Wir entziehen uns seiner Gegenwart mit unseren Lärm, unsren vielen Gedanken und Sorgen. Sein Gnadenwille ist in Wirklichkeit immer wirksam.
Neumark nennt dann ein Prädikat Gottes, das ihm schon seit alters her zugeschrieben wurde: die „Allwissenheit“. Sie steht im Zusammenhang mit seiner „Allgegenwart“ und „Allmacht“. Das sind Formulierungen aus der theologischen Tradition, die der Dichter sicher kannte. Es sind wieder Superlative, so wie „der Allerhöchste“. Sie besagen, dass Gott überall ist, alles kann und alles weiß. Warum sollten wir uns dem nicht anvertrauen?
Die beiden Worte, „Gnadenwille“ und „Allwissenheit“ besagen zusammen, dass wir vor Gott keine Angst haben müssen. Er ist voller Gnade, er meint es gut mit uns. Und er weiß am besten, was förderlich für uns ist, denn wir gehören ihm. „Er hat sich uns auserwählt“, wie der Dichter weiter sagt.
Das kommt in der nächsten Strophe zum Ausdruck. Sie lautet:
4. „Er kennt die rechten Freudenstunden,
er weiß wohl, wann es nützlich sei;
wenn er uns nur hat treu erfunden
und merket keine Heuchelei,
so kommt Gott, eh wir‘s uns versehn,
und lässet uns viel Guts geschehn.“
Gott „kennt die rechten Freudenstunden“, so beginnt diese Strophe, d.h. er weiß, was wirklich Freude macht, was wir zutiefst brauchen. Er beschert uns nicht nur ein vorübergehendes, billiges oder materielles Vergnügen, sondern dauerhafte und echte Freude. Denn er weiß am besten, was uns „nützlich“ ist, und wann es eintreten soll. Das kann ganz unerwartet geschehen. Plötzlich wendet sich unser Schicksal. Das Gute kommt aus einer Richtung, in die wir vorher gar nicht geblickt haben. Etwas Segensreiches passiert, womit wir nicht gerechnet haben.
Wichtig ist nur, dass wir ihm „treu“ bleiben und nicht „heucheln“. Das gibt es ja, eine Frömmigkeit, die gar keine ist, Menschen, die nur so tun, als würden sie glauben und als wären sie Gott treu. In Wirklichkeit sind sie eigenmächtig und handeln nach ganz anderen Kriterien, als nach dem Willen Gottes zu fragen. Sie lassen Gott nicht wirklich „walten“, vertrauen nicht wirklich auf ihn, sondern lieber auf sich selbst oder andere.
Wer dagegen dem lebendigen und „allwissenden“ Gott vertraut, der kann erleben, wie plötzlich etwas Gutes in seinem Leben geschieht. Vielleicht ist es ganz anders, als er erwartet hat, aber es ist „viel“ und segensreich.
3. Anwendung
Wenn wir das nun auf unser Leben anwenden, dann ist es zunächst die Einladung, stille Zeit zu machen. Dabei muss sie gar nicht großartig gestaltet werden, es ist bereits sinnvoll, einmal „still zu halten“, die Hände in den Schoß zu legen, sich nicht zu bewegen, nichts zu sagen, nichts zu wollen. Wir müssen nur in uns gehen, uns bescheiden, geduldig sein. Ausharren und Warten gehört dazu, Hoffen und Vertrauen.
Das Kloster ist dafür gut geeignet: Selbst wenn wir hier arbeiten, gibt es nicht viel Ablenkung, nicht viel Zerstreuung. Vieles, womit wir uns sonst umgeben, haben wir hier nicht. Menschen, mit denen wir sonst reden, sind nicht da. Und das ist gut, wir halten das einfach einmal aus und ziehen uns in uns selbst zurück.
Viele Probleme entstehen, weil wir das viel zu selten tun und uns selber dadurch aus den Augen verlieren, uns nicht mehr spüren, unser Inneres vernachlässigen. Wir haben hier die Möglichkeit, uns dem zuzuwenden, uns in Geduld zu üben, bescheiden und treu zu sein.
Dabei dürfen wir damit rechnen, dass Gott uns schon längst kennt. Er weiß um uns, er sieht uns. Wir setzen uns seinen Blicken aus, seiner „Allwissenheit“.
Oft sind wir ja zu stolz dafür. Wir lassen es nicht gerne zu, wenn jemand anders etwas besser weiß, besonders wenn es um unser Leben und unser Verhalten geht. Vielleicht schämen wir uns auch, es wirkt wie eine Niederlage. Bei Gott ist dieses Gefühl nicht nötig. Wir können ruhig zugeben, dass wir selber nicht alles wissen und oft ratlos sind. Wir legen unseren Stolz und unsere Autonomie ab und halten seinem „Gnadenwillen“ still. Wir warten einfach ab, was dann geschieht.
3. Einführung: Das scheinbare Glück der Gottlosen
Strophen 5 und 6
1. Hinführung
In dem Lied „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ lädt der Dichter und Komponist Georg Neumark uns dazu ein, „Gott walten zu lassen“, „still zu halten“ und geduldig zu sein. Dann wird Gott, „eh wir’s uns versehen, viel Gutes geschehen lassen“. So endet die vierte Strophe. Dazu noch ein kleiner Nachtrag:.
In der Einladung, „still zu halten“ steckt u.a. der Gedanke, dass Gottes Gegenwart reicht, um getrost zu sein, sie ist bereits die Antwort, sie ist in sich selber sinnvoll. Und damit geht gleichzeitig die Einladung einher, uns auf den Augenblick zu besinnen. Wir sind mit unseren Gedanken oft im Gestern oder im Morgen. Da kommen unsere Sorgen und Ängste her: Entweder erinnern wir uns an etwas Gutes, das nicht mehr da ist, und können uns nicht vorstellen, dass es in Zukunft jemals wieder besser wird. Oder wir denken an etwas Schlimmes, und haben Angst, dass es wieder kommt. Wir sind traumatisiert, unsicher, ungetröstet. Ungute Gefühle wie Neid, Zorn und Bitterkeit haben darin ebenfalls ihre Wurzeln. Das Hadern kommt daher, die Unzufriedenheit, Ärger und Wut. Und die helfen nicht im Leben. Das Leben kann so nicht gelingen, es wird vergiftet und hässlich.
Doch gegen all das gibt es ein Gegenmittel, es ist der Glaube an Gott. Und der zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass wir uns immer wieder auf die Gegenwart besinnen, einfach nur da sind, in Gott und „in uns selber vergnügt“ sind, als seine Kinder leben. Jetzt geschieht ganz viel, und es ist beileibe nicht alles schlecht. Denn in uns finden wir immer ein Stück Freude, ein Vergnügen, weil Gott immer da ist und sein „Gnadenwille“ unaufhörlich wirkt.
Das kann man von sonst nichts sagen. Im Gegenteil, alles andere ist dem ständigen Wandel unterworfen. So ist unser Leben nun einmal: Nichts lässt sich festhalten, alles vergeht und verändert sich immerfort. Die Zeit fließt dahin und mit ihr Erlebnisse, Menschen, Aufgaben, Ideen usw. Deshalb finden wir weder Trost in der Vergangenheit noch in der Zukunft. Wir finden ihn nur jetzt, nur wenn wir innehalten, „still halten“, wie der Dichter sagt.
In den nächsten beiden Strophen wird das deutlich. Sie zeigen, wo es hinführt, wenn wir etwas festhalten wollen, wenn wir mit unseren Gedanken zu sehr in der Zeit umherwandern, sie in alle möglichen Richtungen schweifen lassen. Die Strophen thematisieren das scheinbare Glück der Gottlosen, den Neid und die Ungeduld.
2. Betrachtung
Die fünfte Strophe lautet:
5. „Denk nicht in deiner Drangsalshitze,
dass du von Gott verlassen seist
und dass ihm der im Schoße sitze,
der sich mit stetem Glücke speist.
Die Folgezeit verändert viel
und setzet Jeglichem sein Ziel.“
Die Strophe beginnt mit einem uralten Problem, das schon im Psalter vorkommt, in Psalm 73 z.B. Da sagt eine Beter: „Es verdross mich, als ich sah, dass es den Gottlosen so gut ging.“ (V.3) Georg Neumark benutzt das Wort „Drangsalshitze“. Ich weiß nicht, ob er es erfunden hat, im Duden steht es nicht, aber es ist sehr schön. Die Ironie, die sein Lied durchzieht, kommt wieder zu Vorschein. Er meint einen Menschen, der sich „erhitzt“, d.h. sich aufregt und dabei heiß und rot wird. Der Zorn reißt ihn mit, negative Wallungen bringen seine Seele in Aufruhr, er wird vorwurfsvoll und negativ.
Er stellt sich vor, dass andere bei Gott auf dem Schoß sitzen, er aber nicht. Das kennt man von Geschwistern: Einer sitzt auf dem Schoß bei der Mutter oder dem Vater und der andere will es sofort ebenfalls. Er ist neidisch und ärgerlich.
Und so geht es uns Menschen auch, wenn wir andere sehen, die offensichtlich glücklicher sind. Wir fühlen uns benachteiligt, vernachlässigt und geben gerne Gott dafür die Schuld. „Wie konnte Gott das zulassen?“ Diese Frage ist so alt wie die Menschheit und sie wird immer wieder gestellt. In unserem Lied kommt sie an dieser Stelle vor: Ich bin „von Gott verlassen“ ist hier die Formulierung.
Dabei wird wieder deutlich, dass der Dichter sich subtil über diejenigen lustig macht, die so denken. Sie sind kurzsichtig und kleinkariert, ihnen fehlen der Weitblick und die Gelassenheit. Der Mensch vergisst gern, wie schnell sich alles ändern kann, wie flüchtig das irdische Glück ist, wie wenig man sich darauf verlassen kann. Das Leben wandelt sich ständig. „Die Folgezeit verändert viel“, sagt der Dichter, und jeder und jede von uns hat ein Ziel, das wir gar nicht kennen. Gott allein weiß es, er hat unser Leben in der Hand. Und es ist gut, daran immer mal wieder zu denken:
Es gibt noch eine ganz andere Realität als das irdische Leben. Das Ergehen innerhalb der Zeit, die wir haben, ist deshalb kein Kriterium dafür, ob Gott da ist oder nicht. Seine Gegenwart lässt sich daran nicht ablesen, denn sie ist unabhängig von allem. Gott ist frei und souverän, er bindet sich nicht an diese Welt, er wirkt nur in ihr. Er greift ein, wie und wann er will. „Er ist der rechte Wundermann, der bald erhöhn, bald stürzen kann.“
Das kommt in der nächsten Strophe zum Ausdruck. Sie lautet:
6. „Es sind ja Gott sehr leichte Sachen
und ist dem Höchsten alles gleich:
Den Reichen klein und arm zu machen,
den Armen aber groß und reich.
Gott ist der rechte Wundermann,
der bald erhöhn, bald stürzen kann.“
Gottes Macht übersteigt alle irdischen und menschlichen Möglichkeiten und bei ihm gelten ganz andere Werte als bei uns. Wir streben nach Reichtum, Macht, Gesundheit und Erfolg. Wir wollen nicht arm oder krank sein, unterdrückt werden oder scheitern. Wir leiden darunter, wenn es eintritt. Meistens ist es Selbstmitleid, und das wird hier in unserer Strophe entlarvt. Denn uns wird vor Augen geführt, wie flüchtig alles ist. Wir sind von vornherein verlassen und liegen verkehrt, wenn wir z.B. dem „Reichtum“ zu viel Gewicht geben. Es ist ungesund und führt zu nichts, sich daran zu hängen und traurig zu sein, wenn er vergeht. Es ist letzten Endes auch unrealistisch, denn für Gott ist ein Leichtes, das alles zu ändern: Er kann ganz schnell den Reichen arm und den Armen reich machen. Alles ist relativ, nur Gott allein ist absolut. Bei ihm zählen unsere Errungenschaften nicht viel.
Jesus hat das bereits zu seinen Jüngern gesagt. Als die Mutter von Jakobus und Johannes einmal zu ihm kam, um ihn zu bitten, ihre Söhne mit besonders viel Macht auszustatten, antwortete er: „Wer unter euch der Höchste sein will, der sei eurer Knecht.“ (Mt.20,27) Damit wirft er die gängigen Wertvorstellungen über den Haufen. Und das tut er an vielen Stellen im Neuen Testament. Vor der Szene mit Jakobus und Johannes hatte er im Gleichnis über die Arbeiter im Weinberg bereits gesagt: „Die Letzten werden die Ersten und die Ersten werden die Letzten sein.“ (Mt.20,16)
Daran erinnert der Dichter hier, und es ist schön, dass er Gott als „Wundermann“ bezeichnet. Gott kann mehr, als wir denken, wir werden uns mehrere Male wundern, wenn wir ihm vertrauen und unser Leben auf seine Gegenwart und Macht bauen.
3. Anwendung
Wenn wir das nun auf unser Leben anwenden, können wir einmal unsere „Drangsalshitze“ erforschen. Davon ist keiner und keine von uns frei: Wir ärgern uns oft, regen uns auf, sind neidisch und unzufrieden. Wenn wir in solchen Gefühlen drin stecken, können wir normaler Weise auch keinen klaren Gedanken fassen, denn wir sind auf irgendetwas fixiert, auf einen Menschen, der uns aufregt, ein Ereignis. Hier können wir uns das einmal anschauen und uns fragen: Warum löst das so viele negative Kräfte in mir aus? Und was machen die mit mir?
Wir lösen uns einmal bewusst aus unseren Beziehungen und den Strukturen, in die wir verflochten sind. Wir nehmen Distanz und schauen es uns einfach nur an. Viele Probleme, viel Ärger und Neid entsteht, weil wir uns ständig mit anderen vergleichen, von ihnen abhängig sind oder sie von uns. Wir sind deshalb auf sie fixiert, unser Fokus geht oft in ihre Richtung. Wir haben hier die Gelegenheit, das einmal zu ändern.
Anstatt auf andere Menschen zu starren, auf das, was sie können oder tun, was sie haben oder treiben, lenken wir unseren Blick auf Gott. Jeder und jede von uns ist sein Kind. Wir sind „auserwählt“ und geliebt. Im Kern sind wir alle eigenständig, von Gott gewollt und wertvoll. Ihm stellen wir uns deshalb anheim, legen unser Leben bewusst in seine Hand. Er ist der rechte „Wundermann“. Wir können also mit Wundern rechnen. Lasst uns das heute tun. Unsere „Drangsalshitze“ – wenn sie denn noch da ist – wird sich dadurch verflüchtigen. Wir werden getröstet und ruhig, und das ist wertvoller als alles andere. Der wahre Reichtum besteht darin, ganz bei sich selbst und ganz bei Gott zu sein.
4. Einführung: Gott loben und fröhlich sein
Strophe 7
1. Hinführung
a. biblische Inhalte
Dem Lied „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ liegen Inhalte aus der Bibel, aus der Theologie und der allgemeinen Lebensweisheit zu Grunde. An einige biblische Inhalte möchte ich noch einmal erinnern:
In Psalm 62 heißt es z.B.: „Meine Seele ist stille zu Gott, der mir hilft.“ (Ps.62,2) Das könnte als Überschrift über dem ganzen Lied stehen.
Ebenso spielt Psalm 73 eine Rolle, in dem das scheinbare Glück der Gottlosen beschrieben wird und der Beter seinen Neid zugibt. Er beruhigt sich aber im Verlaufe des Psalms und endet mit dem Vers: „Aber das ist meine Freude, dass ich mich zu Gott halte und meine Zuversicht setze auf den Herrn.“ (Ps.73,28)
Und auch Worte Jesu spielen eine Rolle, wie das Gleichnis vom Hausbau auf dem Sand bzw. Felsen, oder die Ansage: „Die Letzten werden die Ersten und die Ersten werden die Letzten sein.“ (Mt.20,16).
Mir sind außerdem die Seligpreisungen eingefallen, mit denen Jesus beschreibt, was seine Jünger auszeichnet, wie das Leben gelingt, wer glücklich wird. (Matthäus 5,3-10)
Jesus sagt uns damit, was für ihn wichtig ist und wie er selber auf jeden Fall gelebt hat. Wir verwirklichen es wahrscheinlich nie ganz, er hat das aber getan, und es ist gut, wenn wir uns an ihm orientieren. Unser Lied enthält viele Hinweise darauf, was das heißt und wie das gelingen kann.
b. zur letzten Strophe
Wir wollen heute die letzte Strophe betrachten, sie ist wie eine Zusammenfassung all dessen, was voraus ging. Man kann sie gut auch für sich alleine nehmen, sie aus dem Zusammenhang lösen, singen oder sich irgendwo hinhängen. Am besten ist es, sie auswendig zu lernen. Denn wir können sie auch als das Fazit verstehen, als „die Moral von der Geschichte“. Sie lautet:
7. „Sing, bet und geh auf Gottes Wegen,
verricht das Deine nur getreu
und trau des Himmels reichem Segen,
so wird Er bei dir werden neu.
Denn welcher seine Zuversicht
auf Gott setzt, den verlässt er nicht.“
2. Betrachtung
Die Strophe beginnt mit einem dreifachen Imperativ: Wir sollen „singen, beten und auf Gottes Wegen gehen“. Uns wird also gesagt, was wir tun sollen, was der Dichter uns rät und wozu er uns einlädt: Gottesdienst und Frömmigkeit schlägt er uns vor, und er meint damit diejenigen, die nach Trost verlangen, die gerne ruhig und gelassen sein möchten, die sich nach dem wahren Glück und einer echten und tiefen Freude sehnen. Das tun fast alle, aber die meisten wählen dafür nicht die passenden Mittel. Sie arbeiten, um reich zu werden und erfüllt zu sein, sie üben vielleicht Macht aus, streben nach Schönheit, suchen die Abwechslung und den Spaß. Viele suchen Trost in der Welt, bei anderen Menschen, in den Dingen, in ihren Plänen und Ideen. Doch sie irren sich, das hat der Dichter am eigenen Leib erfahren und er entfaltet das in seinem Lied. Was im Leben wirklich zählt, liegt auf einer ganz anderen Ebene. Es ist viel sinnvoller, einfach nur „das seine getreu zu verrichten“.
Jeder und jede von uns ist an einen ganz bestimmten Platz im Leben gestellt, wir haben Aufgaben, Menschen, die uns brauchen, die wir lieben, und das reicht. Es ist gut, wenn wir uns darauf konzentrieren, das so treu und gut wie möglich leben, und uns ansonsten bescheiden. Wir müssen das Glück nicht in der Zukunft suchen und auch nicht außerhalb von uns selbst. Es liegt in uns, und zwar deshalb, weil Gott in uns wohnt. Wir sind längst mit ihm verbunden, er ist uns ganz nah, wir müssen nur auf ihn vertrauen.
„Trau des Himmels reichem Segen“, sagt der Dichter hier zusammenfassend. Der „Himmel“ liegt über uns, er scheint unendlich weit zu sein, und er ist deshalb schon in der Bibel ein Bild für den Raum, in dem Gott wohnt und waltet. Das „Himmelreich“ ist bei Jesus das „Reich Gottes“. Er hat es verkündet und den Menschen nahe gebracht.
Und das Schöne an dieser Vorstellung liegt darin, dass er Himmel über uns ist. Wenn wir uns Gott als im Himmel wohnend vorstellen, entsteht eine vertikale Richtung. Wir sind nicht nur Teil dieser Welt, sondern es gibt auch noch eine Verbindung nach oben. Wir können uns danach ausstrecken, uns nach oben ausrichten. Dann werden wir aufgerichtet und gehen nicht mehr gebeugt durch das Leben.
Außerdem kommt der „Segen“ Gottes auf uns herab. Er wird bei uns „neu“, wie der Dichter sagt, d.h. es verändert sich etwas. Es ist sehr schön, dass sich in unserer Sprache das Wort „Segen“ auf „Regen“ reimt. Man kann das gut als ein Bild nehmen: So wie der Regen von oben die Erde bewässert, so fließt auch der Segen von oben auf uns herab und macht uns lebendig. Er ist „reich“, d.h. Gott spart nicht, er ist nicht geizig, sondern großzügig und freigebig. Gott liebt uns und will uns Gutes tun. Um es zu empfangen, müssen wir unser Leben nur mit ihm führen und auf ihn vertrauen, ihn „walten lassen“.
Das Lied endet dann wieder mit einem Relativsatz, so wie es angefangen hat: „Welcher seine Zuversicht auf Gott setzt“, das entspricht von der Form und auch vom Inhalt her dem ersten Satz: „Wer nur den lieben Gott lässt walten.“ Es schließt sich also ein Kreis. Man merkt, jetzt kommt der letzte Satz. Er lautet: „Den verlässt er nicht.“ Mit diesem Bekenntnis, dieser Zusage endet das Lied. Und es ist ein schönes Schlusswort: Gott verlässt dich nicht. Daran dürfen wir glauben, das kann uns trösten.
Und wem das schwerfällt, der muss nur in das neue Testament schauen: Jesus ist dafür das beste Beispiel. Er hat ganz auf Gott vertraut, und sein Leben war reich gesegnet. Er hat vielen Menschen geholfen und ihnen das „Himmelreich“ geöffnet. Er war leidensfähig, geduldig und gehorsam. Und am Ende stehen die Auferstehung, die Überwindung des Todes, das ewige Leben und die Himmelsherrschaft. An ihn können wir uns also halten. An seiner Hand wird der Segen des Himmels auch in unserem Leben immer wieder neu, so wie er es in den Seligpreisungen beschrieben hat.
3. Anwendung
Die letzte Strophe bietet sich wie gesagt dafür an, sie einfach immer wieder zu singen. Wir können sie auswendig lernen und vor uns hersagen, wenn wir z.B. spazieren gehen, anderweitig unterwegs sind oder einfache Tätigkeiten verrichten. Sie kann andere Gedanken vertreiben und das Wesentliche in den Mittelpunkt rücken.
Außerdem fragt sie uns nach unserer Frömmigkeitspraxis. Was zählt in meinem Leben am meisten? Was prägt meinen Alltag, mein Denken und Tun?
Hier im Kloster ist es Gottes Gegenwart, so soll es jedenfalls sein. Deshalb kommen wir ja auch hierher. Wir dürfen daran einmal wieder Anteil haben, werden in ein Leben mit Gott hineingenommen.
Aber das gilt eigentlich nicht nur hier. Lieder, Gebete und Gottvertrauen müssen nicht enden, wenn wir wieder zu Hause sind. Wir können sie mitnehmen: Singen, Beten und Gott ehren können in unserem Leben sogar an erster Stelle stehen, sie können für uns das Wichtigste sein, das wir immer wieder praktizieren. Dafür gibt es viele Möglichkeiten. Allein oder mit anderen, in der Kirche, in der Natur. Jeder und jede kann ja mal darüber nachdenken, wie er oder sie das am besten umsetzt, was der Dichter uns hier vorschlägt. Es ist auf jeden Fall ein guter Rat. Wenn wir ihn befolgen, kann das Leben viel besser gelingen.
„Sing, bet und geh auf Gottes Wegen“ – dieser Imperativ ist wie eine Lebensregel, mit der alles gesagt ist, was wichtig ist. „Gott loben und fröhlich sein“, so können wir sie noch kürzer zusammenfassen. Wenn wir sie befolgen, zieht Leichtigkeit in das Leben ein. Wir werfen schwere Gepäckstücke ab, üben uns in Genügsamkeit und gewinnen dadurch eine ganz große Freiheit. Wir konzentrieren uns auf das Wesentliche und gehen vergnügt unseren Weg, ganz gleich, was er mit sich führt.
Einen größeren und tieferen Trost gibt es nicht. Es wäre wirklich dumm, ihn nicht zu ergreifen.
Betrachtungen zu dem Lied „Befiehl du deine Wege“ von Paul Gerhardt
Stilles Wochenende im Gethsemanekloster Riechenberg
28.-31.1.2016
„Beten mit Paul Gerhardt“
1. Befiehl dem Herrn deine Wege (EG 361,1-5)
1. Befiehl du deine Wege
und was dein Herze kränkt
der allertreusten Pflege
des, der den Himmel lenkt.
Der Wolken, Luft und Winden
gibt Wege, Lauf und Bahn,
der wird auch Wege finden,
da dein Fuß gehen kann.2. Dem Herren musst du trauen,
wenn dir’s soll wohlergehn;
auf sein Werk musst du schauen,
wenn dein Werk soll bestehn.
Mit Sorgen und mit Grämen
und mit selbsteigner Pein
lässt Gott sich gar nichts nehmen,
es muss erbeten sein.3. Dein’ ewge Treu’ und Gnade,
o Vater, weiß und sieht,
was gut sei oder schade
dem sterblichen Geblüt;
und was du dann erlesen,
das treibst du, starker Held,
und bringst zum Stand und Wesen,
was deinem Rat gefällt.4. Weg hast du allerwegen,
an Mitteln fehlt dir’s nicht;
dein Tun ist lauter Segen,
dein Gang ist lauter Licht;
dein Werk kann niemand hindern,
dein Arbeit darf nicht ruhn,
wenn du, was deinen Kindern
ersprießlich ist, willst tun.5. Und ob gleich alle Teufel
hier wollten widerstehn,
so wird doch ohne Zweifel
Gott nicht zurücke gehn;
was er sich vorgenommen
und was er haben will,
das muss doch endlich kommen
zu seinem Zweck und Ziel.
In den folgenden Einführungen ist der Name „Paul Gerhardt“ jeweils mit „PG“ angeben.
„EG“ ist die Abkürzung für „Evangelisches Gesangbuch“ (1. Auflage 1994)
1. Hinführung
a. Allgemeine Bemerkungen zu den Liedern von PG
In unserem Gesangbuch stehen von PG mehr Lieder als von jedem anderen Liederdichter, nämlich 27. Das kommt, weil es ihm wie keinem Zweiten gelungen ist, unseren Glauben so in Lied- bzw. Gedichtform zu bringen, dass es unmittelbar zu Herzen geht. Seine Aussagen sind zeitlos und wahr, sie behandeln die Tiefen der menschlichen Seele, drücken allgemeine religiöse Gefühle aus, beinhalten unsere Hoffnung und unsere Sehnsucht, die Suche nach Trost und Halt, und immer auch die Frage nach dem Tod und der Ewigkeit. Sie sind Lob Gottes und Bitte, Ermahnung und Bekenntnis. Deshalb gibt es auch fast in jeder Rubrik im Gesangbuch mindestens ein Paul-Gerhardt-Lied.
b. Zu EG 361
Welches das bekannteste ist, weiß ich nicht. 1976 war der 300. Todestag Paul Gerhardts, da gab die Deutsche Bundespost eine Briefmarke heraus mit dem Beginn von „Befiehl du deine Wege“. Das ist also zumindest sehr bekannt und scheint repräsentativ für ihn zu sein.
Ich habe es für dieses Wochenende gewählt, weil es auf jeden Fall mein Lieblingslied ist. Außerdem passt es zu dem Thema dieses Jahres: „Ich will euch trösten.“, denn es ist ein Trostlied. Im Gesangbuch steht es unter der Rubrik „Angst und Vertrauen“ und ist hier das sogenannte charakteristische Leitlied. Für jede Rubrik wurde eins ausgesucht, das jeweils den Anfang bildet. Die folgenden sind dann immer chronologisch geordnet.
Wann es entstanden ist, weiß man nicht, es lässt sich keiner bestimmten Situation im Leben Paul Gerhardts zuordnen. 1653 gehörte es zu den 64 neuen Liedern, die in der 5. Auflage von Crügers Gesangbuch im Vergleich zur zweiten Auflage von 1647 dazu gekommen waren. Es ist also entstanden, nachdem PG Crüger kennen gelernt hatte, und auf jeden Fall vor 1653, also bevor er im Pfarramt war. (wikipedia zu „Befiehl du deine Wege“)
Aber die Entstehungszeit ist auch unbedeutend, aus den Gründen, die ich vorhin nannte: Es enthält eine zeitlose Wahrheit.
Zu Grunde liegt der Psalmvers: „Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn, er wird’s wohl machen.“ (Ps. 37,5) Die Anfangswörter der zwölf Strophen des Liedes bilden diesen Vers. Das ist eine bestimmte Dichtform, man nennt sie Akoristichon. Ich finde, das ist ein schöner Kunstgriff. Unter diesem Leitwort entfalten die Strophen das Thema Gottvertrauen mit immer neuen Bezügen und Vergleichen.
Dabei wechseln das Subjekt und die Aussageform häufig:
1+2: Anrede an den Hörer
3+4: Anrede an Gott
5: Aussage über Gott in der dritten Person
6-8: Anrede an den Hörer
9-10: Aussagen über Gott in der dritten Person
11: Anrede an den Hörer
12: Anrede an Gott.
Das Lied lässt sich übrigens auf verschiedene Melodien singen, wie z.B. „O Haupt.voll Blut und Wunden“, „Du meine Seele singe“ oder „Ich weiß, woran ich glaube“. Die in unserem Gesangbuch basiert auf einem alten Psalmlied von 1547 und wurde 1603 von Bartholomäus Gesius für ein deutsches Kirchenlied verwendet. 1730 hat Telemann sie so überarbeitet, wie wir sie heute kennen.
Wir gehen die Strophen jetzt einzeln durch, machen uns klar, was sie enthalten und wenden das auf unser eigenes Leben und unseren Glauben an.
2. Betrachtung
Str. 1: Das Lied beginnt mit einer Anrede an den Hörer oder Sänger: „Befiehl du deine Wege.“ Er soll also etwas tun, und zwar auf Gott vertrauen. Dabei wird Gott als derjenige vorgestellt, der „den Himmel lenkt und Wolken, Luft und Winden die Bahn gibt“. Das entspricht den Aussagen der Bibel und es veranschaulicht die Macht Gottes: Der Blick geht in den Himmel. Der ist bereits unendlich viel größer und weiter, als unser Dasein hier auf der Erde. Er kann uns beeindrucken. Aber es gibt jemanden, der ist noch größer: Er lenkt das alles, denn er ist der Schöpfer und Wächter der Welt und all ihrer Gewalten. Natürlich kann er deshalb auch für die Menschen Wege finden, auf denen sie gehen können. Vor seinem Angesicht relativiert sich alles, was in unserem persönlichen Leben geschieht, denn das ist viel kleiner. Es wäre lächerlich, „seiner Pflege“ nicht zu vertrauen.
Str. 2: Die Anrede und die Ermahnung gehen weiter, jetzt heißt es sogar ganz direkt. „Du musst“. Wenn wir wollen, dass es uns gut geht, gibt es nur diesen einen Weg, „dem Herrn zu trauen.“ Und das wollen wir natürlich alle, es ist unser tiefster Wunsch: dass es uns „wohl ergehen“ möge. Wenn das wahr werden soll, kommt alles darauf an, dass wir Gott vertrauen. Wenn „unser Werk bestehen soll“, müssen wir auf „sein Werk schauen“. Das ist seine Schöpfung, aber auch die Sendung seines Sohnes, die Ausgießung des Heiligen Geistes. „Darauf zu schauen“ heißt, darauf zu bauen, sich darauf zu verlassen. Sonst bleiben nämlich nur „Sorgen und Grämen und selbsteigne Pein“, und die nützen gar nichts, wenn das, was wir bewerkstelligen, Bestand haben soll. Gott lässt sich davon jedenfalls nicht beeindrucken, es führt ins Leere.
Str.3: Außerdem wissen wir gar nicht genau, was wirklich gut für uns ist, das weiß Gott viel besser. Damit beginnt die dritte Strophe. Da wird die „ewge Treu und Gnade Gottes“ dem „sterblichen Geblüt“ gegenüber gestellt, d.h. noch einmal macht PG auf das starke Gefälle aufmerksam, das zwischen Gott und der Menschheit besteht. Er spricht Gott nun an, d.h. er kleidet diese Aussagen in ein Gebet. Er nimmt also Kontakt zu Gott auf und bekennt ihm gegenüber, wie stark er ist. Er besingt seine „Treue und Gnade“ und erwähnt den göttlichen „Plan“ hinter allem. Es gibt einen großen Zusammenhang, in dem jeder und jede Einzelne steht. Gott handelt in der Geschichte, in der Welt und in jedem einzelnen Leben. Er hat einen Willen, und er hat die Möglichkeit, ihn umzusetzen. Dabei will er das, was gut ist, das Schädliche will er nicht.
Str.4: Davon handelt die nächste Strophe: „Gottes Tun ist lauter Segen, sein Gang ist lauter Licht.“ Und er hat „Wege und Mittel“, „sein Werk“ voran zu bringen. Seine „Arbeit“ dient den Menschen und sie „ruht“ nie. Gott macht keine Pausen, unermüdlich ist er am Wirken.
Str.5: Deshalb kann ihm letzten Endes auch keiner widerstehen, selbst wenn das vorübergehend so aussehen sollte. In der nächsten Strophe erwähnt PG „alle Teufel“, d.h. widergöttliche Mächte. Die gibt es natürlich. Das Gute will erkämpft sein, es muss sich immer wieder durchsetzen und zu seinem „Zweck und Ziel“ kommen.
3. Anwendung
Und damit sind wir nun bei dem letzten Schritt unserer Betrachtung, der Anwendung all dessen, was hier in den ersten fünf Strophen zum Ausdruck kommt. PG hat das natürlich gedichtet, weil er weiß: Selbstverständlich ist dieses Gottvertrauen nicht, wir müssen uns dafür entscheiden und es regelmäßig üben.
Dafür sind wir ja auch hier und haben viel Zeit. Als erstes sollten wir uns klar machen: Was beschäftigt mich gerade? Was sind meine Sorgen und Kümmernisse, was wünsche ich mir? Worunter leide ich? Was „kränkt mein Herz“? Oft läuft das Leben ja ganz anders, als wir es wollen: Verlust, Krankheit, Trauer – es gibt unzählige Nöte, die uns den Weg zum „Wohlergehen“ versperren.
Wir wissen dann nicht richtig weiter, kommen nicht voran, stecken in einer Krise. Wir dürfen uns gerne hier einmal ausführlich klar machen, was das bei uns gerade ist.
Als nächstes machen wir uns bewusst, welche Hilfsmittel wir dagegen ergreifen oder ergriffen haben. Irgendetwas tun wir ja, wenn es uns schlecht geht. Wir machen eine Therapie, ziehen um, trennen uns von bestimmten Menschen, bilden uns fort oder lenken uns einfach nur ab. Oft verbrauchen wir sehr viel Zeit und Energie mit all diesen Lösungsansätzen. Wir grübeln und führen Gespräche, und es ist auch viel „Sorgen und Grämen“ dabei.
PG kennt das, aber er wertet es hier ziemlich ab. Er nennt es „selbsteigne Pein“, d.h. wir vergrößern die Probleme oft noch, und zwar weil wir das Wesentliche dabei außer Acht lassen, und das sind die Möglichkeiten Gottes. PG lädt uns ein, unseren Blick darauf zu lenken.
Dafür ist es gut, wenn wir alle anderen Gedanken und Versuche der Selbsthilfe einmal beenden, dem keinen Raum mehr geben und stattdessen buchstäblich in den Himmel sehen. Wir können uns wirklich einmal die Wolken anschauen, die Luft und den Wind spüren und uns vorstellen: Das alles lenkt Gott, seine „Mittel und Wege“ sind unendlich viel größer als meine. Dann merken wir wahrscheinlich schon, wie sich alle unsere Probleme relativieren. Sie werden kleiner und verlieren ihre Macht.
Und wir merken: Es gibt noch eine Kraft in dieser Welt, die stärker ist als alle anderen. Ich muss nur einmal darauf vertrauen. Dann spüre ich sie auch, und ich werde sofort freier. Es gilt, sich Gott anzubefehlen, ihm alles zu übergeben, was uns bewegt, uns von ihm „pflegen“ zu lassen. Wir rühren also nicht mehr in unseren Problemen herum, hören auf zu grübeln und versuchen gar nicht erst, selber aus unseren Kümmernissen herauszukommen. Wir lassen stattdessen Gott walten, denn er weiß am besten Rat und Hilfe.
Möglicherweise spüren wir Widerstände in uns gegen dieses feste Vertrauen, „Teufel wollen widerstehen“, Zweifel mischen sich ein. Dann ist es umso wichtiger, dass wir dieses Lied singen und beten und meditieren. Es kann uns gewiss machen, uns die Sicherheit und Geborgenheit vermitteln, die wir suchen. Wir verlassen uns auf das Glaubenszeugnis von jemand anderem, in diesem Fall PG, und dadurch bahnt Gott sich einen Weg zu uns.
Für die Meditation empfehle ich, das Lied auswendig zu lernen. Bei der Betrachtung und Anwendung geht es dann allerdings nicht um ein Pensum, das es zu erfüllen gilt. Ihr müsst da nicht „durchkommen“ und es muss euch auch nicht alles ansprechen. Wenn eine Strophe oder eine Zeile euch besonders bewegt, dann verweilt dabei, betet sie immer wieder, oder sucht möglicher Weise sogar eigene Worte für das, was sie euch bedeutet. Erst wenn ihr merkt, dass ihr abdriftet und eure Gedanken wer weiß wo spazieren gehen, nehmt das Lied wieder zur Hand und geht zum nächsten Satz, zur nächsten Strophe über.
2. Hoff, o du arme Seele ( EG 361,6-10)
6. Hoff, o du arme Seele,
hoff und sei unverzagt!
Gott wird dich aus der Höhle,
da dich der Kummer plagt,
mit großen Gnaden rücken;
erwarte nur die Zeit,
so wirst du schon erblicken
die Sonn der schönsten Freud.7. Auf, auf, gib deinem Schmerze
und Sorgen gute Nacht,
lass fahren, was das Herze
betrübt und traurig macht;
bist du doch nicht Regente,
der alles führen soll,
Gott sitzt im Regimente
und führet alles wohl.8. Ihn, ihn lass tun und walten,
er ist ein weiser Fürst
und wird sich so verhalten,
dass du dich wundern wirst,
wenn er, wie ihm gebühret,
mit wunderbarem Rat
das Werk hinausgeführet,
das dich bekümmert hat.9. Er wird zwar eine Weile
mit seinem Trost verziehn
und tun an seinem Teile,
als hätt in seinem Sinn
er deiner sich begeben,
und sollt’st du für und für
in Angst und Nöten schweben,
als frag er nichts nach dir.10. Wird’s aber sich befinden,
dass du ihm treu verbleibst,
so wird er dich entbinden,
da du’s am mindsten glaubst;
er wird dein Herze lösen
von der so schweren Last,
die du zu keinem Bösen
bisher getragen hast.
1. Hinführung
Wir wissen, dass PG sehr viele Schicksalsschläge erlitten hat. Es ist kaum vorstellbar, wie ein Mann das alles verkraften konnte. Er hatte wirklich ein Leben voller Leid und Entbehrung, Verlusten, Krankheit und Tod. Wie hat er das ausgehalten?
Wenn wir seine Lieder lesen und singen, merken wir: Sein Glaube hat ihn getragen. Das Lied „Befiehl du deine Wege“ ist dafür ein sehr schönes Beispiel. Es ist aus Angst und Vertrauen heraus geschrieben, es handelt vom Leid und vom Trost.
In diesem Lied wird auch deutlich: Der Glaube von PG bestand nicht darin, dass Gott ihn durch konkrete Güter geholfen hat, Gesundheit, Wohlstand, Erfolg, Frieden oder ein anderes irdisches Glück. Das ist alles nicht gekommen, zumindest nicht überreich. Es war wohl zwischendurch mal da, hat sich aber immer wieder verzogen. Doch das erwartete PG auch nicht, und darum geht es in seinem Lied nicht. Die Hilfe Gottes besteht hier nicht in diesem oder jenem, sie besteht vielmehr darin, dass er überhaupt da ist. Gottvertrauen ist in sich selber sinnvoll. Es ist bereits das Heilmittel und die Hilfe. Wer die Gegenwart und Macht Gottes erlebt, dem geht es gut, ganz gleich, wie es um ihn steht.
Das wird in den folgenden Strophen noch deutlicher, als bisher.
2. Betrachtung
Str.6: Die sechste Strophe wendet sich wieder an den Hörer oder den Sänger, an die „Seele“, genauer gesagt. Sie wird als „arme Seele“ angesprochen, d.h. die Situation der Verzweiflung und des Kummers kommen jetzt noch deutlicher zur Sprache. Eine „arme Seele“ ist einsam und verlassen. Angstvoll sitzt sie wie in einer „Höhle“, in der sie der „Kummer plagt“. Es dort kalt und dunkel. Das ist ein Bild, das sehr drastisch den düsteren Seelenzustand verdeutlicht, in den der Mensch geraten kann. Er ist mit sich selbst beschäftigt, eingeschlossen in seinen Kummer und sieht kaum noch nach vorne. Eine Zukunft ist nicht erkennbar, die Hoffnung schwindet.
Doch dagegen soll er angehen, er soll bewusst hoffen und warten, dafür kann und soll er sich entscheiden. Denn es ist nicht alles aus, es gibt eine Zukunft, und die liegt bei Gott. Er kann noch etwas tun, er kann die Seele aus dieser Höhle heraus holen, die Zeit wird kommen, dass das geschieht. Mit großer Gnade wird Gott dann wieder alles hell machen, die „Sonne der größten Freude“ wird erscheinen. Das hat er uns verheißen und versprochen.
Str.7: Es wird zwar ein Handeln Gottes sein, d.h. der Mensch wird sich nicht selber retten, aber trotzdem kann er etwas dazu beitragen, dass das geschieht. Er muss nicht völlig tatenlos bleiben. In der nächsten Strophe wird er dazu sogar sehr klar aufgefordert: „Auf, auf, gib deinem Schmerze und Sorgen gute Nacht.“ So beginnt sie. PG kommt damit zu dem Selbstmitleid, das uns oft gefangen hält. Wir sitzen da und leiden und wollen gar nicht richtig, dass es weiter geht. Oft gefallen wir uns in der Rolle des Leidenden auch ein bisschen. Das lehnt PG ab. Wenn das so ist, kann nichts besser werden. „Auf, auf“ ist ein klarer Befehl, man sagt es zu Kindern oder Soldaten oder anderen Untergebenen, und es ist das Signal zum Aufstehen und Aufbrechen. Sei bereit, setz dich in Bewegung und sag „gute Nacht“ zu deinem Schmerz. Lass ihn schlafen, deck ihn zu und entfern dich von ihm. „Lass es fahren“, d.h. lass es los, „was dein Herz betrübt und traurig macht.“ Kummer und Not müssen uns nicht gänzlich beherrschen, sie haben immer auch etwas damit zu tun, wie wir auf Schicksalsschläge reagieren, wie viel wir festhalten wollen.
Wir sind gern die „Regenten“, wie PG es ausdrückt, d.h. wir versuchen zu steuern und zu bestimmen, wo es lang gehen soll. Doch das ist töricht, denn letzten Endes „sitzt“ nur einer „im Regimente“, und das ist Gott. Und er „führet alles wohl“ D.h. er ist ein weiser und guter Herrscher, er weiß, was uns bekommt, besser als wir selber. Unter seiner Herrschaft lässt es sich gut leben, wir müssen sie nur akzeptieren.
Str.8: Das wird in der nächsten Strophe weiter entfaltet. Sie beginnt wieder mit der doppelten Erwähnung eines Wortes. Eben war es „auf, auf“, jetzt heißt es „ihn, ihn lass tun und walten, er ist ein weiser Fürst.“ PG macht jetzt wieder Aussagen über Gott, er beschreibt, wie er ist und was er kann in der dritten Person. Doch natürlich steckt auch darin eine Aufforderung an den Hörer oder „die Seele“. Sie soll das zulassen, dann wird sie sich wundern. Denn Gott weiß und tut Dinge, auf die sie selber nicht kommt, die sie in Erstaunen setzen. Die Lösung der Probleme wird ganz anders geschehen, als der Mensch sich das selber ausmalt. Sein Rat ist „wunderbar“, d.h. dem Menschen wäre das nie eingefallen.
Str.9: In Strophe neun wird PG nun ganz seelsorgerlich. Er geht darauf ein, dass das alles Erfahrungen sind, die sich nicht automatisch einstellen. „Er wird zwar eine Weile mit seinem Trost verziehn.“ PG schwebt also nicht in irgendwelchen himmlischen Sphären, er driftet nicht ins Irreale ab, sondern bleibt sehr nüchtern und menschlich: Es fühlt sich oft so an, als würde sich nie etwas ändern, als ob Gott sich nicht für uns interessiert. Seine Hilfe kommt nicht automatisch, nur weil wir das wollen. Sie kann sich durchaus verzögern. Gott ist nicht kalkulierbar, er „funktioniert“ nicht wie eine Maschine, sondern er bleibt Gott, und das heißt frei und souverän. Wir haben ihn nicht in der Hand, sondern er hat unser Leben und die ganze Welt in seiner Hand.
PG spricht damit über so etwas wie geistliche Trockenheit, die Erfahrung, dass trotz Glaube und Gebet sich nichts ändert und nichts bewegt. Es besteht dann die Gefahr, dass wir vom Glauben abfallen, das Ganze lassen. Doch davon rät er eindringlich ab.
Str.10: In der nächsten Strophe lobt er diejenigen, die trotzdem „treu“ bleiben. Er meint damit eine zweckfreie Treue, eine Treue um ihrer selbst willen, die sich auf nichts stützt, gerade dadurch aber eine große Verheißung hat. Wer sich nur noch blind auf Gott richtet, kann erleben, dass er plötzlich „entbunden“ und frei wird. Das Herz wird ohne eigenes Zutun „gelöst von der schweren Last.“
PG fügt dem an. „die du zu keinem Bösen bisher getragen hast.“ Damit entkräftet er den Gedanken, dass das Leid eventuell eine Strafe für etwas Böses ist, das ein Mensch getan hat. Dieser Zusammenhang wird oft konstruiert, damit man sich das Leid vielleicht besser erklären kann, er ist aber in Wirklichkeit nicht da. PG tut das deshalb nicht, er weiß, es gibt unerklärliches Leid, für das wir keine nachvollziehbaren Gründe finden. Es ist einfach da und kann deshalb auch nur von Gott aufgehoben werden. Für sein Handeln gibt es ebenso wenig eine rationale Erklärung, es kommt und es ist wunderbar.
3. Anwendung
Wenn wir das nun auf unser Leben anwenden, dann heißt das zunächst: Wir müssen unsere Armseligkeit erkennen und auch annehmen. Für viele Nöte gibt es keine schnellen Lösungen. Wir müssen sie zunächst aushalten. Sie gehören zum Leben dazu. Wir fühlen uns oft hilflos und klein, sitzen in einer „Höhle, in der uns der Kummer plagt“. Es ist wichtig, dass wir uns das nicht selber verbieten, uns auch nicht verstellen, sondern zugeben: Ja, so geht es uns oft. Wir müssen ehrlich sein und dürfen uns nichts vormachen.
Darin sind wir oft nicht besonders gut. Entweder überspielen wir es, oder wir verfallen in Selbstmitleid. Beides sind Zeichen von Ungeduld und Selbstherrlichkeit. Und die werden hier entlarvt, besonders in der Strophe sieben. Da wird das „Festhalten“ thematisiert. Wir können uns ja mal fragen, was es denn ist, das wir gerne festhalten wollen. Es kann ein Mensch sein, ein Ort, eine Tätigkeit, bestimmte Wünsche…Und dann gilt es zu erkennen, dass dahinter oft das Bestreben steht, selber zu bestimmen, wo es lang gehen soll. Wir sind eben nicht geduldig und treu, sondern regieren lieber. Allerdings ist unsere Herrschaft oft eine „Zwangsherrschaft“. Wir unterdrücken uns, pressen uns in ein Bild, wollen etwas sein, das wir gar nicht sind. Wir überfremden uns gern, verzerren die Wirklichkeit, ohne dass wir das merken.
Das wird hier aufgedeckt und wir werden eingeladen, damit aufzuhören. Dabei weiß PG, dass das nicht ganz einfach ist. Es geht uns gegen den Strich. Deshalb hilft die Vorstellung, dass Gott ein „weiser Fürst“ ist. Wir stellen uns einfach vor seinen Thron und lassen ihn walten. Dafür können wir das Gebet sprechen „nicht wie ich will, sondern wie du willst“. So hat Jesus in Gethsemane gebetet (Mt. 26,39). Und er steht uns auch zur Seite, wenn wir auf diese Weise auf Gott „hoffen“.
Er ist der Grund für unsere Hoffnung. An seinem Weg dürfen wir denken, da ist es alles genauso geschehen, wie PG es in diesem Lied zum Ausdruck bringt. Deshalb enthält es auch das Evangelium, ohne dass das direkt gesagt wird. Jesus kommt hier nicht vor, aber er ist für all das eine lebendiges Beispiel und eine Garantie. Er hat gelitten und war geduldig, er hat mit seinem Schicksal gehadert und ist trotzdem Gott treu geblieben. Seine Treue hat sich bewährt, auf wunderbare Weise hat Gott „sein Werk hinausgeführt“. Jesus kann uns deshalb die Hoffnung vermitteln, von der hier die Rede ist. Durch ihn haben wir immer ein Ziel vor Augen, einen Ausblick. Deshalb kann es mit der Hilfe Jesu auch gelingen, Durststrecken im Glauben durchzustehen. Auf die müssen wir uns immer gefasst machen, wenn wir den Weg des Gottvertrauens gehen. Wir dürfen uns davon nicht irritieren lassen. Es gilt fest nach vorne zu schauen, dann werden wir erlöst, d.h. irgendwann löst sich die Dunkelheit und Trockenheit auf und wir erblicken die „Sonn der schönsten Freud.“
3. Ausblick auf die Ewigkeit (EG 361,11.1)
11. Wohl dir, du Kind der Treue,
du hast und trägst davon
mit Ruhm und Dankgeschreie
den Sieg und Ehrenkron;
Gott gibt dir selbst die Palmen
in deine rechte Hand,
und du singst Freudenpsalmen
dem, der dein Leid gewandt.12. Mach End, o Herr, mach Ende
mit aller unsrer Not;
stärk unsre Füß und Hände
und lass bis in den Tod
uns allzeit deiner Pflege
und Treu empfohlen sein,
so gehen unsre Wege
gewiss zum Himmel ein.
1. Hinführung
Das Lied „Befiehl du deine Wege“ ist ein Trostlied. Es beschreibt den Trost des Glaubens, den Weg des Gottvertrauens, durch den die Seele ruhig werden kann. Dabei ist eine Sache interessant:
Oft wird der Glaube ja für irrational gehalten. Wir beschäftigen uns dabei mit Dingen, die man nicht beweisen kann, die man eben „glauben“ muss. Es gibt deshalb oft den Einwand, dass die Glaubenden sich etwas vormachen. Sie konstruieren sich eine Wirklichkeit, die es gar nicht gibt, sie postulieren einen Gott und halten sich damit an eine Scheinrealität. Sie werden für schwach und nicht ganz lebensfähig gehalten.
In dem Lied von PG kommt genau das Gegenteil zum Ausdruck. Er sagt: Wer nicht an Gott glaubt, irrt sich und macht sich lächerlich. Er verschließt sich gegenüber einer Realität, die alles umfängt, die längst vor uns da ist, und die über dieses Leben hinausweist. Es ist töricht, das auszuklammern, das Leben kann dann gar nichts anderes als sinnlos und leer werden. Es wird misslingen, denn der Ungläubige hat eine stark verkürzte Wirklichkeitswahrnehmung. Er leidet an einem selbstgemachten Mangel, an „selbsteigner Pein“. Er verschließt sich gegenüber der Wahrheit und missachtet das Wesentliche. PG stellt den Unglauben mit dem Lied bloß, er beschämt und entlarvt ihn und zeigt uns, dass nur derjenige realistisch ist, der sich auf Gott verlässt.
Und wie in allen seinen Liedern endet auch dieses mit dem Ausblick auf die Ewigkeit. Die gehört zur göttlichen Wirklichkeit dazu. PG hat den Tod zur Genüge erlebt. Vier seiner Kinder sind gestorben, im 30-jährigen Krieg wurde ein großer Teil der Bevölkerung ausgelöscht, es gab Krankheiten und Seuchen, die die Menschen dahin rafften. Es blieb ihnen deshalb kaum etwas anderes übrig, als an ein Leben nach dem Tod zu glauben. Diese Vorstellung gehörte deshalb noch viel stärker zum allgemeinen Lebensgefühl als heutzutage.
Und auch da kann man natürlich sagen wir haben inzwischen dazu gelernt, wir wissen es besser, die Ewigkeit gibt es möglicher Weise gar nicht, und wie sollten sich die Menschen früher denn auch anders trösten. Dann singen wir diese Strophen nicht mehr, die davon handeln.
Aber es geht auch anders herum: wir können uns davon inspirieren lassen. Was die Menschen von damals uns zu sagen haben, ist uns verloren gegangen, es kann uns bereichern und es ist gut, dass sie ihren Glauben formuliert und überliefert haben. Sie können uns zurückführen zu einer Wahrheit, die nie überholt sein wird, die wir zwar verdrängen und ignorieren können, die sich aber niemals auslöschen lässt: Dass unser Leben vergänglich und endlich ist, dass wir alle irgendwann sterben werden und dass es gut ist, wenn wir an die Ewigkeit glauben.
Lasst uns die beiden letzten Strophen unsres Liedes deshalb betrachten und uns davon an die Hand nehmen lassen.
2. Auslegung
Str.11: Die Strophe 11 beginnt mit einer Seligpreisung: „Wohl dir, du Kind der Treue“. Von der Treue hatte PG schon in der vorigen Strophe gesungen, jetzt vertieft er dieses Thema noch einmal und stellt es in einen biblischen Zusammenhang. Er führt Bilder an, die dort im Zusammenhang mit Tod und Ewigkeit stehen, wie die „Sieg- und Ehrenkrone“ z.B. Dahinter steht der Gedanke, dass das irdische Leben wie der Lauf in einer Bahn ist, dem des Wettkämpfers vergleichbar, der am Ende den Sieg davon trägt und mit Ehren gekrönt wird. Übertragen auf den Glaubensweg ist das der Eintritt in den Himmel. In der Offenbarung wird das mehrfach so dargestellt. Dort wird die Vision vom Thorn Gottes entfaltet, vor dem die Erlösten mit Palmenzweigen in ihren Händen stehen. Die kommen in unsere Strophe ja auch vor: „Gott gibt dir selbst die Palmen in deine rechte Hand und du singst Freudenpsalmen dem, der dein Leid gewandt.“ Das ist an Offenbarung sieben angelehnt, wo der Thron Gottes beschrieben wird und wo es heißt: „Danach sah ich und siehe, eine große Schar, die niemand zählen konnte, aus allen Heiden und Völkern und Sprachen, vor dem Stuhl stehend und vor dem Lamm, angetan mit weißen Kleidern und Palmen in den Händen, schrien mit großer Stimme und sprachen: Heil sei dem, der auf dem Stuhl sitzt, unserm Gott und dem Lamme.“ (Offb.7,9.10)
PG sieht am Ende seines Liedes also auf das, was uns erwartet, wenn wir hier auf Erden „treu“ geblieben sind. Wir werden dann auch schon zu Lebzeiten immer wieder getröstet, werden ruhig und zuversichtlich, der endgültige Sieg über das Leid erfolgt aber erst nach dem Tod.
Str.12: PG bittet deshalb in der letzten Strophe, dieses Ende bald heraufzuführen. „Mach End, o Herr, mach Ende mit aller unserer Not.“ So beginnt er. D.h.: Lass das Ende dieses Lebens bald kommen, lass uns nicht für immer in diesem Jammertal, sondern führe irgendwann einmal etwas Neues herauf.
Das klingt so ein bisschen lebensmüde, vielleicht sogar depressiv. Litt PG an einer Todessehnsucht? War er schwermütig? Das vermuten wir, wenn wir solche Sätze hören. Es ist uns etwas fremd, wir empfinden das als negativ.
Aber wir können auch etwas anderes da heraus hören. PG sehnte sich nicht nach dem Tod, er sehnte sich vielmehr nach der Ewigkeit, nach dem Himmel und einem ungetrübten Glück. Und diese Sehnsucht kennen wir alle, wir tragen sie alle in uns. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, dass auch bei noch so viel Zufriedenheit und Wohlstand, den wir hier auf der Erde erreichen können, immer eine Restsehnsucht zurückbleibt. Unser Leben bleibt ein Weg, wir durchwandern es, wir sind Pilger, die hier nie ganz zu Hause sind. Wir bleiben tief in unserer Seele Gäste und Fremdlinge.
Es ist deshalb wichtig, dass wir bei der Wanderung nicht müde werden, dass unser „Füße und Hände gestärkt“ werden, damit wir den Weg wirklich gehen können.
PG ging davon aus, dass das Schönste noch vor ihm lag, dass er dem eigentlichen Ziel immer näher kam. Seine Bitte ist also nicht lebensverneinend, sondern zutiefst lebensbejahend und durch und durch positiv. Das Ende dieses Lebens war für ihn nicht einfach nur ein Ende, es war vielmehr der Anfang von etwas Neuem und Schönem, der Eingang in den Himmel. Er glaubte an eine wunderbare Verheißung. Die Zukunft stand für ihn immer offen, und die Hoffnung darauf hat ihn getragen.
3. Anwendung
Wenn wir diese Strophen meditieren, fragen wir als erstes: Ist das nicht eine Flucht? Verschließen wir uns damit nicht gegenüber der Realität, die nun mal schrecklich und vergänglich ist? Was kann die Verheißung des Himmels für uns denn bedeuten?
Ich sagte schon, dass es für PG positiv gefüllt war und ihm Mut machte. Und so kann es auch uns gehen. Es ist immer noch sinnvoll, an die Verheißung der Ewigkeit zu glauben und von daher sogar zu leben. Denn damit öffnet sich ein Ausblick, der allem anderen erst Sinn verleiht. Es fällt sozusagen von vorne ein Lichtstrahl in unser Leben, es erwartet uns immer noch etwas. Wir können immer getrost nach vorne blicken.
„Kind der Treue“ heißt „Kind der Ewigkeit“, und es ist heilsam und befreiend, wenn wir uns so verstehen. Wir leben dann noch von etwas anderem her, als nur von dieser Welt, uns trägt eine verborgene Wirklichkeit. Das Lebensgefühl verändert sich dadurch, alles erhält eine andere Gewichtung. Wir erleben auch hier schon etwas von dem himmlischen Jubel. Es gibt immer wieder mal einen Grund, jetzt bereits Freudenpsalmen zu singen.
Letzten Endes ist das Gottvertrauen, das PG in dem Lied beschreibt, auch nur durch den Ausblick auf die Ewigkeit möglich. Er verleiht uns Ausdauer und Zuversicht und wirkliche Treue. Wir wissen immer, die Mühen lohnen sich, sie sind nicht umsonst und behalten nicht das letzte Wort über unser Leben. Das letzte Wort ist vielmehr die Verheißung des Himmels.
Wir verlieren dadurch auch die Angst vor dem Tod. Die haben wir alle, wir werden nicht gerne älter, das Schrumpfen der Lebenszeit hat etwas Bedrohliches. Wenn wir an die Ewigkeit glauben und uns daran orientieren, verschwindet diese Furcht. Dann ist das Älterwerden plötzlich kein Abstieg mehr, sondern ein Aufstieg. Die Perspektive dreht sich um. Wir verlieren nichts, wenn wir älter werden und sterben, wir gewinnen vielmehr etwas, denn wir kommen dem Ziel näher, unserer eigentlichen Bestimmung. Der Verlust der Jugend und der Lebenskraft ist schwer, weil wir meinen, dass wir uns dadurch vom Leben entfernen. Wenn wir uns auf die Ewigkeit ausrichten, verändert sich diese Sorge. Sie schlägt um in die Freude darüber, dass wir uns dem wahren Leben immer mehr annähern.
Die Bitte, mit der das Lied endet, enthält also das, was letzten Endes wahr und wesentlich ist. Wenn wir darum bitten, darauf bedacht sind, dann haben wir im Leben und im Tod etwas, das uns durchträgt, dann ist der Tod nicht das Ende von allem, sondern der Eingang in den Himmel. Wir verlieren nicht das, worum wir uns im Leben bemüht haben, sondern wir gewinnen es. Am Ende kommt es zum Tragen, dann zahlt es sich aus. Wir können ruhig und mit Anstand sterben.
Es lohnt sich also, das Lied ernst zu nehmen, es auswendig zu lernen und immer wieder zu singen und nachzubeten. Ganz gleich, wo wir sind, wir können damit alle unsere Wege Gott anbefehlen und uns zu jeder Zeit und überall mit seiner Gnade beschenken lassen.
Jedes Jahr Anfang September bereitet im Gethsemanekloster Riechenberg eine Gruppe von Freiwilligen den sogenannten Klostertag vor. Das ist ein Nachmittag, zu dem alle Freunde und Interessierten eingeladen werden. Im Mittelpunkt steht ein Vortrag zu dem Jahresthema des Klosters. Im Anschluss gibt es Gesprächsgruppen in verteilten Räumen, die sich dann wieder im Plenum treffen.
Die Veranstaltung findet in einer ehemaligen Sommerscheune und anderen kleineren Gebäuden und Räumen auf dem Gelände statt. Sie müssen dafür geputzt und hergerichtet werden. Außerdem fallen im Garten und auch in den übrigen Gebäuden und Räumen diverse Arbeiten an.
Doch nicht nur das gemeinsame Arbeiten bestimmt die Woche, sie ist ebenso durch die Stille und das Gebet geprägt und steht deshalb unter der Überschrift „Ora-et-Labora“. Zum Beten gehören dabei sowohl die Andachten als auch die persönliche Stille der Einzelnen. Dafür bekommen die Teilnehmenden jeden Morgen einen geistlichen Impuls, der sich an dem Thema des Klostertages orientiert.
Es lautete: „Nichts kann uns scheiden von der Liebe Gottes“.
So ergaben sich die folgenden Betrachtungen:
Betrachtungen zu dem Lied:
„Jesu, meine Freude“ von Johann Franck
(EG 396)
Ora-et-Labora-Woche vom 31.August bis 4.September 2015
1. Glauben und Vertrauen
Strophe 1
1. Hinführung
a. Thema des Klostertages: Rm.8
Es lautet in diesem Jahr: „Nichts kann uns scheiden von der Liebe Gottes.“ Das ist ein Vers aus Römer acht (39). Bruder Achim hat es gewählt, weil wir in diesem Jahr den 100. Geburtstag von Olav Hanssen feiern, und für ihn war dieses ein zentrales Bibelwort. Er hat es im Krieg immer wieder memoriert, an der Front, in Russland, in der Gefangenschaft, als er täglich den Tod vor Augen hatte. Das hat er mir auch einmal erzählt, und ich sehe ihn im Geist immer, wenn ich diese Stelle aus dem Römerbrief lese.
Seiner Meinung nach ist der Römerbrief das zentrale Buch des Neuen Testamentes, und in ihm bildet Kapitel acht den Höhepunkt. Dieses Kapitel wiederum mündet dann in das fulminante Glaubensbekenntnis: „Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.“ Wir stehen mit dieser Bibelstelle also auf dem Gipfel des Neuen Testamentes, der ultimativen Glaubensaussage.
Paulus bezeugt damit, was ihn selber im Innersten trägt und erfüllt. Er hat ja auch ziemlich viel durchgemacht. In Vers 35 nennt er „Trübsal, Angst, Verfolgung, Hunger, Blöße, Gefahr und Schwert“. Das hat er selber erlebt, und zwar nicht zu wenig. Seitdem er Missionar war, hatte er ein sehr hartes und entbehrungsreiches Leben. Er wurde immer wieder festgenommen, er kannte Krankheit und Verleumdung, Misserfolg und Verzweiflung. Für ihn war es tatsächlich so, wie er hier sagt, dass sein Glaube ihn durch das alles hindurch getragen hat. Er hat sich darin sogar bewährt, denn Paulus hat gerade in der Bedrängnis erlebt, wie unerschütterlich Gottes Macht und Liebe war. Er hat sich von Gott nicht verlassen gefühlt. Auch in Todesgefahr behielt er seine Hoffnung und seine Zuversicht.
Denn er hatte Christus vor Augen und im Herzen, der selber gestorben und wieder auferstanden ist. Paulus verweist hier auf das Heilswerk und den Sieg Jesu Christi, und er erinnert daran, dass in Christus die Liebe Gottes ein für alle Mal zu uns gekommen ist. In Ihm haben wir das Leben, davon war Paulus überzeugt und durchdrungen. In den vorhergehenden Kapiteln des Römerbriefes hatte er über Rechtfertigung, Vergebung und Überwindung geschrieben. Diese letzten Verse sind wie gesagt der krönende Abschluss all seiner Ausführungen. Sie sind ein jubelnder Lobgesang auf Gottes Liebe in Jesus Christus. Sie klingen feierlich und bedeutungsschwer, sie wirken absolut und unwiderlegbar. Die Gewissheit, die Paulus erfüllt hat, schwingt in ihnen mit, man kann sie heraushören. Und man kann es in der Tat kaum besser formulieren: Keine Macht auf Erden oder im Himmel kann uns von der Liebe Gottes trennen.
Und dazu gibt es nun auch ein Kirchenlied: „Jesu, meine Freude“, im Gesangbuch Nr. 396. Bach hat dazu eine Kantate geschrieben, in die er Verse aus Römer acht eingefügt hat, und im bayrischen Gesangbuch ist diese Bibelstelle daneben abgedruckt. Es gibt also einen Zusammenhang. Ob der Dichter selber, Johann Franck, das ebenfalls so verstanden hat, weiß ich nicht, aber das spielt auch keine Rolle. Er hat mit seinem Lied diese Bibelstelle in der Tat sehr schön umgesetzt. Deshalb wollen wir es in diesen Tagen betrachten.
b. Johann Franck
Über Johann Franck steht bei Wikipedia folgendes:
„Johann Franck (* 1. Juni1618 in Guben; † 18. Juni 1677 . ebenda) war ein deutscher Jurist und Dichter bekannter Kirchenlieder, aber auch weltlicher Gedichte. Er war der Sohn eines Advokaten, der schon 1620 starb. Sein Onkel, der Stadtrichter Adam Tielckau, nahm sich seiner an. Nach dem Besuch der Lateinschule in Guben besuchte er die Schulen in Cottbus und Stettin sowie das Gymnasium in Thorn. Ab dem 28. Juni 1638 studierte er die Rechte in Königsberg. Dort wurde er von dem volkstümlichen Liederdichter Simon Dach beeinflusst. Auf Wunsch seiner Mutter kehrte er Ostern 1640 nach Guben zurück, das damals im Dreißigjährigen Krieg stark unter schwedischen Truppen zu leiden hatte. Nach der Rückkehr von einer Reise nach Prag im Mai 1645 war er als Advokat tätig. 1648 wurde er Ratsherr und 1661 Bürgermeister in Guben. Seit 1671 vertrat er als Landesältester seine Heimatstadt im Landtag der Niederlausitz.
Johann Franck schuf 110, vor allem geistliche Lieder, die in die meisten evangelischen deutschen Kirchengesangbücher aufgenommen wurden Die meisten seiner Werke haben an Bedeutung verloren; im Evangelischen Gesangbuch finden sich nur noch zwei seiner Lieder: „Schmücke dich, o liebe Seele“ und „Jesu, meine Freude“. Sie wurden von seinem Freund von Johann Crüger vertont. In seinem Werk zeigt er Verwandtschaft mit Paul Gerhardt. Seine weltlichen Gedichte sind zumeist Gelegenheitsdichtungen, aber auch Liebesgedichte und natur- und heimatbezogene Verse.“
2. Betrachtung
a. Einleitung:
Johann Franck wurde in dem Jahr geboren, in dem der 30-jährige Krieg begann. Er kannte also gar nichts anderes, als dass die Welt um ihn herum tobte. Was die Kirchenlieder betrifft, so bildet diese Zeit ein eigenes Zeitalter, denn es gibt ein verbindendes Thema: Es ist die starke persönliche Glaubensgewissheit, die sich in Anfechtung, Leid und Not bewährt. Die Lieder enthalten die persönlichen Anliegen des Einzelnen und sind meistens zunächst für die Hausandacht, also den privaten Gebrauch gedacht. Von da fanden sie Eingang in die Gesangbücher der Gemeinden.
Der bekannteste Liederdichter aus dieser Zeit ist Paul Gerhardt, ein anderer Johann Rist. Sie waren Vorläufer des Pietismus.
Im Gesangbuch steht unser Lied nun unter dem Abschnitt „Geborgen in Gottes Liebe“. Dabei ist das Gesangbuch so aufgebaut, dass jede Rubrik mit einem charakteristischen Leitlied beginnt, die folgenden Lieder sind dann nach dem Zeitpunkt der Entstehung ihres Textes geordnet. „Jesu meine Freude“ ist in diesem Fall das Leitlied. Und das ist eine gute Wahl, denn es macht in der Tat deutlich, was es heißt, „in Gottes Liebe geborgen“ zu sein.
Die erste Strophe lautet:
1. Jesu, meine Freude,
meines Herzens Weide,
Jesu, meine Zier:
ach wie lang, ach lange
ist dem Herzen bange
und verlangt nach dir!
Gottes Lamm, mein Bräutigam,
außer dir soll mir auf Erden
nichts sonst Liebers werden.
b. Ausführung
Das Lied beginnt mit dem Namen Jesu. Das ist eine Anrede, und entsprechend sind die folgenden Sätze in der zweiten Person formuliert. Das Lied ist also ein Gebet. Der Dichter spricht mit Jesus, er hat zu ihm eine persönliche Beziehung, und er geht davon aus, dass er gehört und wahrgenommen wird. Dabei bekennt er sich zu ihm, er sagt, wer Jesus für ihn ist, was er mit ihm erlebt, was er ihm bedeutet.
In der ersten Strophe braucht er dafür zunächst drei Ausdrücke bzw. Bilder: „meine Freude, meines Herzens Weide, meine Zier.“ Er trägt Jesus also in sich, er wirkt in seinem Inneren, in seiner Seele und seinem Geist. Jesus ist für Johann Franck nicht nur ein Gedanke, keine historische Person, keine Idee, sondern er lebt mit ihm und empfängt von ihm Freude und Kraft. Er „schmückt seine Seele“.
Doch das ist gleichzeitig mit einem Seufzer verbunden: „Ach wie lang, ach lange“ heißt es weiter, und man könnte fortsetzen: „…dauert es noch, dass ich dich ganz habe?“ Das Gefühl und die Gewissheit der Nähe Jesu sind also noch nicht vollkommen. Johann Franck erwartet noch mehr, es bleibt noch etwas offen, er ist nach vorn ausgerichtet. Solange er noch auf der Erde und in dieser Zeit weilt, ist „dem Herzen immer wieder bange“. D.h. er ist nicht völlig frei von Angst und Unsicherheit, von Sehnsucht und Verlangen. Aber er lebt darauf hin, dass Jesus immer mehr das Liebste auf Erden für ihn wird.
Im zweiten Teil der Strophe tauchen dann noch zwei weitere Bilder für Jesus auf, die aus der Bibel, genauer gesagt aus der Offenbarung stammen: „Gottes Lamm“ und „mein Bräutigam“. Der Ausdruck „Lamm Gottes“ erinnert an das Leiden und Sterben Jesu. Die Bezeichnung „Bräutigam“ bedeutet, dass der Dichter sich mit Jesus verlobt fühlt. Die Hochzeit steht nahe bevor, durch die die endgültige Verbundenheit besiegelt wird.
Johann Sebastian Bach lässt nach dieser Strophe aus Römer acht die Verse singen:
„Es ist nun nichts Verdammliches an denen, die in Christo Jesu sind, (Rm.8,1) die nicht nach dem Fleische wandeln, sondern nach dem Geist.“ (Rm8,4b)
Wer in dieser Weise zu Jesus betet und „in ihm ist“, der ist gerettet. Es hat ein neues Leben, das sich von den Gesetzmäßigkeiten der Welt gelöst hat, das im Geist vollzogen wird und von dort Freiheit und Freude empfängt.
3. Anwendung
Wir wollen uns heute auf diese erste Strophe beschränken. Am besten ist es, wenn ihr sie auswendig lernt und im Geiste immer wieder singt. Das Ziel ist dabei, dass Jesus auch unsere „Freude und Herzens Weide“ wird.
Dazu gehört es allerdings, dass wir uns auch mit uns selber beschäftigen und uns klar machen: Welche Freuden erfüllen mich außerdem, woran „weidet sich mein Herz“ am liebsten? Was schmückt mich, was erfüllt mich, was trägt und beflügelt mich?
Das ist normaler Weise nicht nur Jesus, sondern auch noch alles Mögliche andere. Es ist gut, wenn wir uns das anschauen, es uns bewusst machen. Es sind bei jedem und jeder von uns andere Dinge: Menschen, Ideen, Ereignisse…
Wenn wir entdecken, was uns alles so erfreut, müssen wir es nicht verurteilen, geschweige denn auslöschen, sondern einfach nur wahrnehmen. Es geht darum, uns selber zu spüren. Dabei merken wir sicher, dass auch wir von einer starken Sehnsucht erfüllt sind, dass nie alles gut ist, dass dem Herzen immer wieder „bange“ ist, ihm etwas fehlt.
Mit dieser Sehnsucht können dann auch wir zu Jesus beten: „Werde du das Liebste, was ich habe, sei meine Freude.“ Wir können unser Herz auf die „Weide“ schicken, die Jesus ist, und uns mit seiner Gegenwart schmücken.
Es geht heute also um die einfache Übung des Glaubens und Vertrauens auf Jesus. Wir bekennen uns zu ihm und verbinden uns mit ihm, so wie wir sind, mit allem, was unser Leben und Denken und Fühlen ausmacht.
2. Versuchung und Anfechtung
Strophe 2 und 3
1. Hinführung
Das achte Kapitel im Römerbrief trägt in der Lutherbibel die Überschrift: „Das Leben im Geist“. Das beschreibt Paulus hier. Dabei sind mit „Geist“ nicht in erster Linie unsere Gedanken gemeint, nicht der Verstand oder die Vernunft, sondern etwas Umfassenderes. Für Paulus ist der „Geist“ das Gegenteil zu „Fleisch“. Dabei bezeichnen diese beiden Kräfte zwei verschiedene Ebenen des Bewusstseins im Menschen, zwei Daseinsmöglichkeiten, zwei Zugänge zur Wirklichkeit. Das „Fleisch“ bleibt der Welt verhaftet, es kennt nur diese Welt, während der Geist sich mit Höherem verbinden kann. Er kann sich zu Gott aufschwingen, mit ihm ihn Beziehung treten und schon hier die Gesetzmäßigkeiten der Welt durchbrechen. Im Geist können wir aussteigen aus allem, was uns gefangen hält, und frei werden. Im Geist ereignet sich die Überwindung, die Jesus uns schenkt, im Geist haben wir Anteil an seiner Auferstehung. Er ist eine Kraft, die uns zu Gott treibt und uns zu „seinen Kindern“ macht. Dabei ist im Neuen Testament – und somit auch hier bei Paulus – der Geist Christi gemeint. Er wird uns geschenkt, wenn wir an ihn glauben.
Das muss auch Johann Franck so empfunden und erlebt haben. In seinem Lied „Jesu, meine Freude“ beschreibt er den Glauben an Jesus nämlich genauso. Er malt aus, was es bedeutet, den Geist Christi zu haben und darin zu wandeln. Denn er bekennt sich mit diesem Lied zu Jesus und schildert sein Leben mit ihm.
Dabei erwähnt er bereits in der ersten Strophe, dass dem Herzen trotz aller Freude, die Jesus bringt, immer noch oft „bange“ ist. Wir sind noch in dieser Welt, und die bringt oft genau das Gegenteil mit sich: Angst und Schrecken, „Stürme“ und „Gewitter“. Das sind die Bilder, die Johann Franck in der zweiten Strophe gebraucht, um zu beschreiben, wie ungemütlich das Leben oft sein kann. Sie lautet folgendermaßen:
2. Unter deinem Schirmen
Bin ich vor den Stürmen
Aller Feinde frei.
Lass den Satan wittern,
Lass den Feind erbittern,
Mir steht Jesus bei.
Ob es jetzt gleich kracht und blitzt,
Ob gleich Sünd und Hölle schrecken:
Jesus will mich decken.
2. Betrachtung
Johann Franck setzt mit dem ersten Satz der zweiten Strophe sein Gebet fort. Er spricht weiter zu Jesus, redet ihn an, und er sagt jetzt noch konkreter, was Jesus für ihn bedeutet: Er beschirmt ihn und steht ihm bei. Dabei wird es jetzt ernst. Die Welt ist nicht nur etwas, das ihn nie ganz erfüllt, sie ist auch gefährlich: Es gibt in ihr Stürme, die zerstörerisch sein können. „Feinde“ stehen dahinter, Gegner, die ihn bedrängen und möglicherweise vernichten wollen. Er muss vor ihnen fliehen, er braucht Rettung und Beistand, und den findet er bei Jesus. Unter seiner Obhut ist er frei und sicher.
Wir können uns das Bild ausmalen: Da steht im Sturm ein fester und sicherer Schirm, es gibt ein Dach, einen Unterschlupf, der nicht wegweht, dem die Stürme nichts anhaben.
Johann Franck malt dieses Bild im nächsten Satz noch weiter aus. Da wechselt er allerdings die Aussageform, denn nun spricht er nicht mehr mit Jesus, sondern mit sich selbst. Er ermahnt sich selbst zum Vertrauen und zum Glauben: „Lass den Satan wettern…“ heißt es, und damit benennt Johann Franck, wen er mit „den Feinden“ meint. Es sind nicht nur widrige Umstände oder unfreundliche Menschen, sondern in dem allen erkennt er den Gegenspieler Gottes, eine metaphysische Kraft, die böse ist, die das Gute zerstören und vernichten will. In der Bibel wird sie „Satan“ genannt. Sie ist dort personifiziert. Das stammt schon aus dem Alten Testament, und im Neuen Testament taucht er ebenfalls auf. Jesus hat sich mit ihm auseinandergesetzt, und wir glauben als Christen bis heute daran, dass es ihn gibt, den Teufel. Er tobt in der Welt, sein Treiben ist wie ein Gewitter, das „kracht und blitzt“. Er will uns erschrecken, indem er die Sünde groß macht und uns die Hölle zeigt.
Für Johann Franck ging es also um sehr viel. Er verharmlost das Negative in der Welt und im Leben nicht, er erkennt die Gefahren und hat auch Angst davor. Das hängt sicher u.a. mit den Erlebnissen aus dem 30-jähringen Krieg zusammen.
Aber er kennt einen Zufluchtsort, und das ist Jesus Christus. Der will ihn „decken“, ihn beschützen und versorgen. Und dadurch ist er frei.
In der Motette von Bach singt der Chor nach dieser Strophe:
„Denn das Gesetz des Geistes, der da lebendig machet in Christo Jesu, hat mich frei gemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes.“ (Rm.8,2)
In der nächsten Strophe unseres Liedes wird das Selbstgespräch fortgesetzt und die Macht des Bösen, gegen die Jesus uns schützen will, noch drastischer ausgemalt:
3. Trotz dem alten Drachen,
Trotz des Todes Rachen,
Trotz der Furcht dazu!
Tobe, Welt, und springe –
Ich steh hier und singe
In gar sichrer Ruh.
Gottes Macht hält mich in acht;
Erd und Abgrund muss verstummen,
Ob sie noch so brummen.
Das Bild vom Drachen stammt auch aus der Bibel. Es taucht im Alten Testament auf und dann wieder in der Offenbarung. Der Drachen ist seit alters her ein Wesen aus der Mythologie, das den Tod bringt. Er sperrt seinen Rachen auf, speit Feuer und löst Furcht und Schrecken aus. Nur Helden mit übernatürlichen, göttlichen Kräften können ihn besiegen
Doch so sehr die Welt auch „tobt und springt“, der Mensch, der sich von Jesus decken lässt, kann ihm trotzen. Dreimal betont Franck das, drei Verse beginnen mit dem Befehl „trotz“, so dass es richtig trotzig klingt. Wer sich diesen Trotz im Namen Jesu aneignet, steht da und singt „in gar sichrer Ruh“. Denn „Gottes Macht hält ihn in acht“, und dagegen kommt keine Macht der Welt mehr an. Alle anderen Gewalten müssen „verstummen“, d.h. sie werden leise, geben irgendwann auf und verziehen sich.
Das Leben im Geist ermöglicht also eine ungeahnte Ruhe und Sicherheit. Wenn der Geist Gottes in uns wohnt, können wir diese Ruhe gewinnen, sie wird uns von Christus geschenkt.
3. Anwendung
Wenn wir das jetzt auf unser eigenes Leben anwenden, so gilt auch für uns, den Ernst der Lage zu erkennen. Ich sagte gestern, dass wir alle noch in dieser Welt leben und auch an weltlichen Dingen hängen. Das ist an sich nicht schlimm, aber es kann schlimm werden. Es ist eine Illusion, zu glauben, dass das Leben sanft verläuft, dass diese Welt uns frei und glücklich machen kann. Es lauern überall Gefahren, und sie können uns auch zerstören.
Das kann alles Mögliche sein, es kommt von außen und von innen. Andere Menschen bedrängen uns vielleicht, verstehen uns nicht, enttäuschen uns, lassen uns allein oder verleumden uns. Auch schlimme Umstände wie Krieg oder Hunger, Ungerechtigkeit und Willkür können wie „Stürme“ sein, die alles durcheinander bringen. Jederzeit kann ein Gewitter losbrechen, Kräfte des Bösen können sich entladen und uns bedrängen.
Und sie lauern nicht nur außerhalb von uns, wir haben sie auch in uns: Traurigkeit, Wut, Zorn oder Neid, es gibt viele negative Seelenkräfte, die in uns toben können, die alles aufwühlen und zerstören wollen, was es an Gutem gibt.
Oft kämpfen wir aus eigener Kraft dagegen. Wir versuchen, uns zu wehren, nehmen den Feind ins Visier und treten gegen ihn an. Dafür gibt es unzählige Methoden. Doch häufig gelingt das nicht, es wird nicht ruhiger, nicht besser, der Sturm und das Gewitter legen sich nicht. Im Gegenteil: Meistens wird es sogar schlimmer durch unsere eigenen hilflosen Versuche, dagegen zu kämpfen. Wir wollen die Stürme gerne abstellen, ihnen Einhalt gebieten, sie sollen verschwinden und verstummen, aber dazu ist unsere eigene Macht viel zu klein. Wir stehen hilflos da und wissen nicht weiter. Der Abgrund bleibt offen und droht uns zu verschlingen.
Und das müssen wir zugeben und uns eingestehen. Wenn wir wirklich frei werden wollen, gilt es zu erkennen: Allein schaffen wir es nicht. Das, was uns entgegenweht oder in uns tobt ist stärker als wir, und es ist auch gefährlich. Anstatt dagegen an zu kämpfen, ist es besser, zu fliehen, und zwar unter den Schutzschirm Jesu. Das klingt vielleicht im ersten Moment feige, aber das ist es nicht, denn die Flucht zu Jesus ist ein echter Ausweg, weil er allein stärker ist als der Satan: Er hat ihn besiegt, darauf können wir uns verlassen, deshalb sind wir bei ihm ganz und gar sicher. Es gilt, innerlich auszusteigen aus dem Sturm und dem Gewitter, im Geist auf Jesus zuzugehen und uns von ihm zudecken zu lassen.
Dann kommt der Sieg ganz anders zu Stande, als wir denken. Wir haben das Böse nicht zerstört, aber es kann uns nicht mehr schaden. Es „brummt“ vielleicht weiter um uns herum, aber wir stehen auf einem sicheren Grund und können in aller Ruhe singen.
Das wollen wir deshalb jetzt tun:
3. Entscheidung und Kampf
Strophen 4 und 5
1. Hinführung
In dem Lied und in Römer acht geht es um die Freiheit, die der Christ im Glauben geschenkt bekommt, den Schutz und den Beistand Christi, der ihn frei und froh macht.
In Strophe vier und fünf beschreibt Johann Franck nun noch genauer, was wir im Geist vollziehen müssen, wenn wir zu Jesus fliehen, was innerlich nötig ist, was in unserer Seele geschehen muss. Obwohl der Glaube darauf hinausläuft, dass Jesus alles für uns tut, geht es nicht ohne unsere Beteiligung. Unsre Mitwirkung ist gefragt. In jeder Verheißung steckt auch eine Ermahnung, nämlich die, die Verheißung auch anzunehmen.
Das wird an dem Vers aus Römer acht deutlich, den Bach vor der vierten Strophe singen lässt. Er lautet:
„lhr aber seid nicht fleischlich, sondern geistlich, wenn denn Gottes Geist in euch wohnt. Wer aber Christi Geist nicht hat, der ist nicht sein.“ (Rm. 8,9) Das ist eine Zusage, aber auch eine Warnung. Paulus sagt: Es ist entscheidend, dass ihr den Geist Christi empfangt. Nehmt ihn also an, kümmert euch darum, dass ihr ihn habt, seid nicht nachlässig, passt vielmehr auf, seid wachsam und beweglich, offen und empfangsbereit.
Und davon handeln die nächsten beiden Strophen des Liedes, von dem, was wir als Christen einbringen müssen, wenn wir frei im Geist werden wollen. Die vierte Strophe lautet.
4. Weg mit allen Schätzen!
Du bist mein Ergötzen,
Jesu, meine Lust!
Weg, ihr eitlen Ehren,
Ich mag euch nicht hören,
Bleibt mir unbewusst!
Elend, Not, Kreuz, Schmach und Tod
Soll mich, ob ich viel muss leiden,
Nicht von Jesus scheiden.
2. Betrachtung
Im Glauben empfangen wir nicht nur etwas, es muss auch etwas „weg“. Der Ausdruck „weg damit“ steckt hinter dieser Formulierung. Franck gebraucht ihn zweimal, denn er will etwas loswerden, etwas wegwerfen, was er nicht braucht und nicht mehr will. Es stört und belastet ihn, es ist wertlos und hinderlich. Es sind „alle Schätze“ und „eitlen Ehren“, d.h. Dinge in der Welt, an denen er wahrscheinlich hängt. Er sagt ihnen den Kampf an. Denn das Anhäufen von Reichtum und das Streben nach Ansehen bilden seinem Empfinden nach den eigenen Anteil an den Gewittern des Bösen, das, was er selber zu den „Stürmen“ beiträgt. Es ist nicht nur Schicksal, wenn er in der Welt gefangen und ihren Gefahren ausgeliefert ist, er will das oft gar nicht anders.
Doch es steht im Widerspruch zu der Freude, die Jesus ihm schenken will. Es verstellt ihm den Blick, macht ihn taub und blind für seine Nähe. Sein Bewusstsein ist gefüllt mit Nichtigem. Er muss es leeren, damit der Geist Jesu Platz findet, weghören, wenn die Stimmen der Welt auf ihn einreden, damit er seine Stimme hören kann.
Möglicherweise bedeutet das „Elend, Not, Kreuz, Schmach und Tod“ und „viel Leid“. Es ist kein einfacher Weg, sich von den Schätzen der Welt zu verabschieden, Askese zu üben, sich selbst zu beherrschen, aber es ist der Weg, den Jesus selber gegangen ist. Wer seinen Geist gewinnen will, muss diesen Weg auf sich nehmen und darauf achten, dass ihn die „Schätze der Welt“ nicht von ihm scheiden.
Denn darauf liegt die Verheißung, die in Vers zehn aus Römer acht zum Ausdruck kommt:
„So aber Christus in euch ist, so ist der Leib zwar tot um der Sünde willen; der Geist aber ist das Leben um der Gerechtigkeit willen.“ (Rm.8,10).
Diesen Vers singt der Chor in der Motette vor der fünften Strophe. Darin setzt Franck die Ermahnung zur Askese fort. Sie lautet:
5. Gute Nacht, O Wesen,
das die Welt erlesen,
Mir gefällst du nicht!
Gute Nacht, ihr Sünden,
Bleibet weit dahinten,
Kommt nicht mehr ans Licht!
Gute Nacht, du Stolz und Pracht!
Dir sei ganz, du Lasterleben,
Gute Nacht gegeben.
Der Adressat ist hier – wie auch schon in der vorigen Strophe – nicht mehr Jesus und auch nicht mehr er selbst, sondern das, was den Dichter stört. Viermal wünscht er ihm „gute Nacht“. Das ist wieder ein sehr schönes Bild. Wir sagen es zueinander, wenn wir uns schlafen legen, wenn wir aufhören, aktiv zu sein, wenn die Ruhe der Nacht kommt. Es wird auch im übertragenen Sinn gebraucht, so wie hier, wenn jemand oder etwas verstummen oder verschwinden soll. Franck sagt es zu dem „Wesen, das die Welt erlesen“ hat. Das ist ein Bewusstsein, das sich in dieser Welt verliert. Es „gefällt ihm nicht“. Denn mit ihm kommen die „Sünden“. Sie sollen „weit dahinten“ bleiben, ihn nicht mehr erreichen. Der Abstand zwischen ihm und ihnen soll so groß wie möglich sein. Er will sie nicht mehr sehen.
Von allen Sünden, die es geben kann, nennt er dann in der zweiten Hälfte der Strophe „Stolz und Pracht“. Das erinnert noch einmal an die „Schätze“ und „eitlen Ehren“ aus Strophe vier. Zusammengefasst werden sie mit dem Wort „Lasterleben“. Das ist ein Leben, das den niederen Trieben folgt, der Lust und Nachlässigkeit. Es soll sich „schlafen legen“.
3. Anwendung
Die Strophen haben wie gesagt einen etwas anderen Tenor als die vorhergehenden. Sie enthalten nicht nur Verheißung und Trost, sondern eine deutliche Ermahnung. Und die ist nicht gerade gemütlich. Möglicherweise gefällt sie uns nicht. Wir lassen uns zwar alle gerne aufrichten und trösten, aber dafür wollen wir eigentlich auf nichts verzichten. Wir halten es auch nicht für nötig.
Glaube und Leben-in-der-Welt bilden für uns keinen Gegensatz, wir können gut beides miteinander vereinbaren. Schließlich hat Gott uns ja auch die Schätze der Welt geschenkt, die Lust und den Spaß. Warum sollen wir darauf verzichten? Was soll diese Weltverneinung und Askese? Sie entspricht doch nicht dem, was Gott wollte, als er die Welt erschuf.
Das ist richtig, Natürlich ist das Schöne in der Welt nicht an sich schlecht. Wir dürfen und sollen uns durchaus daran erfreuen. Aber trotzdem müssen wir aufpassen, und zwar auf uns selber. Wir können nicht im Glauben leben und den Geist Christi empfangen, wenn wir uns dafür nicht öffnen und bereit halten. Und dazu gehört eine ehrliche Selbsterkenntnis. Es ist nicht alles gut, was wir denken und tun und genießen, wir sind nicht völlig rein, die Sünden sind da, sie leben in jedem und jeder von uns, und tragen zu vielen Nöten bei, in die wir hineingeraten. Denn wir leben nicht nur in dieser Welt, wir kleben auch oft an ihr, halten uns an vielem fest, was uns nicht bekommt, und können nur schwer etwas loslassen. Unser Ich und unsere Eigenliebe sind groß, wir sind nicht neutral und allem gegenüber gelassen, sondern versuchen für uns so viel wie möglich herauszuschlagen. Wir suchen unseren Vorteil und handeln dadurch oft gewaltsam.
Und das widerspricht dem, was Gott will. Wir sollen zwar in dieser Welt leben und sie auch genießen, aber wir sollen uns nicht von ihr gefangen nehmen lassen und einseitig werden. Doch das passiert eben ganz leicht, denn das Trachten nach Schätzen und Ehren beherrscht uns. Es hält uns gefangen. Wir meinen zwar, die Kontrolle über unser Leben zu haben, wenn wir der Lust folgen, aber in Wirklichkeit haben wir sie längst verloren. Ungeordnete Triebe kontrollieren und beherrschen uns, wir sind viel weniger frei, als wir denken.
Das gilt es, zu erkennen. Ich sagte schon zu Anfang, dass wir uns selber spüren müssen, wenn wir mit Jesus leben wollen. Und das ist nicht immer angenehm. Denn wir entdecken nicht nur Schönes, sondern auch viel Hässliches, etwas, das wir loslassen müssen. Das sind nicht unbedingt „Schätze“ oder „eitle Ehren“. Jeder und jede wird von etwas anderem beherrscht. Es können auch Erwartungen an andere sein, Ideen, Überzeugungen, Orte oder Erlebnisse. Wir hängen alle an irgendetwas, das uns nicht gut tut, das uns im Griff hat und uns den Blick verstellt.
Es ist gut, wenn wir das entdecken, es aufdecken und ihm dann „gute Nacht“ sagen. Dabei hat dieser Ausdruck etwas sehr hilfreiches. Er ist sanft und rücksichtsvoll, milde und freundlich. „Gute Nacht“ sagen wir in friedlicher Absicht. Und wir gehen auch nicht davon aus, dass derjenige, zu dem wir es sagen, sofort schläft. Es dauert eine Weile. So müssen wir auch mit unseren Lastern umgehen: Wir können sie nicht ausmerzen, es ist sinnlos, brutal vorzugehen, und das will Jesus auch nicht. Wir sollten einfach nur „gute Nacht“ sagen und warten, bis sie von alleine schlafen.
4. Freude und Freiheit
Strophe 6
1. Hinführung
Es fällt auf, dass die Aussageform in den einzelnen Strophen sich verändert. Am Anfang ist das Lied ein Gebet. Da spricht der Dichter mit Jesus, er redet ihn an: „Jesu, meine Freude“. Dann geht er zu einem Selbstgespräch über, oder auch zu Selbstermahnungen: „Lass den Satan wittern“ oder „trotz dem alten Drachen“, sagt er, und damit meint er sich selbst: Er nimmt sich vor, gegen die Sünden und das Böse im Namen Jesu anzutreten, zu ihm zu fliehen und die Welt zu lassen.
In den Strophen vier und fünf spricht er diesen Feind direkt an. Er entdeckt ihn auch in sich selber, und sagt ihm „gute Nacht“.
In der letzten Strophe setzt er diese Form der Aussage fort. Sie lautet:
6. Weicht, ihr Trauergeister,
Denn mein Freudenmeister,
Jesus, tritt herein.
Denen, die Gott lieben,
Muss auch ihr Betrüben
Lauter Freude sein.
Duld ich schon hier Spott und Hohn,
Dennoch bleibst du auch im Leide,
Jesu, meine Freude.
2. Betrachtung
Die Strophe beginnt wieder mit einem Befehl, der an das „weg“ aus Strophe vier erinnert: „Weicht“, sagt er, d.h. verschwindet, verzieht euch, macht euch aus dem Staub „ihr Trauergeister“. Mit diesem Ausdruck gibt er noch einmal zu, dass das Leid nicht nur von außen kommt, sondern auch von innen: Der Geist und die Seele können sich eintrüben, sie können ihre Kraft verlieren. Denn es gibt „Trauergeister“, die den Menschen gern befallen und ihn heimsuchen. Äußere Bedrängnis führt oft zum Klagen und Weinen, zu Gram und Bitterkeit, Verzweiflung und Kummer. Das sind die „Trauergeister“. Mit ihnen reagieren wir gerne auf das Elend, das uns getroffen hat.
Doch das ist nicht nötig und auch nicht gut. Es ist keine zwingende Folge. Die Trauergeister können auch weichen, wir können sie verscheuchen, und zwar mit der Hilfe Jesu. Denn er ist der „Freudenmeister“ und er „tritt herein“. Das heißt, jemand stärkeres taucht auf und betritt den Schauplatz. Man kann sich das gut vorstellen: Hier die „Trauergeister“, da der „Freudenmeister“. Wenn er kommt, können sie nicht bleiben, sie sind machtlos, werden klein und unbedeutend, müssen das Feld räumen oder den Raum verlassen. Denn Jesus ist der „Meister der Freude“, und die ist stärker als die Trauer. Sie ist sein Metier, sein Auftrag, das, was er bringt und wovon er erfüllt ist.
Dabei hat die Freude, die Jesus bringt, einen besonderen Charakter: Sie ist unabhängig von den äußeren Gegebenheiten, denn sie kommt nicht von dieser Welt. Mit Jesus kommt Gott in das Leben und dadurch verändert sich alles. Die Werte drehen sich um. „Auch das Betrüben kann zur Freude werden“, und zwar dadurch, dass es den Menschen in die Arme Gottes treibt. Er ist die einzige Rettung, die gerade dann geschieht, wenn es keinen anderen Ausweg mehr gibt. Die Freude, die das bedeutet, ist dadurch umso größer.
Vielleicht bringt es dem Menschen, der sich darauf verlässt, von anderen „Spott und Hohn“. Wenn sie nicht erkennen, was den Gläubigen erfüllt, schütteln sie wahrscheinlich den Kopf, halten ihn für feige oder verrückt, aber das alles spielt keine Rolle: Auch „im Leid bleibt Jesus seine Freude“. Das Lied endet mit demselben Satz, mit dem es beginnt: „Jesu, meine Freude“, und es ist damit auch wieder ein Gebet. Es schließt sich also ein Kreis. Man könnte es jetzt wieder von vorne singen.
Der Vers aus Römer acht, der dieser letzten Strophe voranging, lautet:
„So nun der Geist des, der Jesum von den Toten auferwecket hat, in euch wohnet, so wird auch derselbige, der Christum von den Toten auferwecket hat, eure sterbliche Leiber lebendig machen, um des willen, dass sein Geist in euch wohnet.“ (Rm.8,11). Die Freude, die Jesus bringt, ist Auferstehungsfreude. Uns wird ein Leben geschenkt, das nicht mehr dem Tod verfallen ist. Selbst der schlimmste Feind ist besiegt. Christus zieht uns durch seinen Geist in das ewige Leben hinein, das er für uns erworben hat. Und die Freude darüber ist größer als alles, was es auf der Welt gibt.
3. Anwendung
Wenn wir das auf unser eigenes Leben anwenden, dann steckt darin zweierlei.
Zunächst einmal wird uns noch einmal gesagt, wie wir zur Freude vordringen können, selbst wenn das Leben hart und entbehrungsreich ist. Normalerweise lehnen wir solche Zeiten ja ab. Wir wollen nicht leiden. Die „Trauergeister“ kommen und nisten sich ein. Wir wehren uns nicht gegen sie, sondern begrüßen sie sogar. Denn sie sind im ersten Moment das einzige, das wir kennen. Wir fühlen uns ihnen ausgeliefert, können und wollen sie nicht verscheuchen. Sie scheinen die logische Folge jeder Bedrängnis zu sein.
Doch das ist ein Irrtum. Die Auflehnung gegen das Leid, der Gram und die Trauer, das Klagen und Weinen und das Selbstmitleid sind nur eine Möglichkeit, auf Ungemach zu reagieren, und es ist nicht die klügste und beste.
Wir können darauf auch ganz anders antworten, und zwar indem wir in jeder Krise eine Chance sehen, eine gute Gelegenheit, um weiter zu kommen und etwas ganz Neues und anderes zu entdecken: Wenn wir die „Trauergeister“ als solche entlarven und ihnen im Namen Jesu befehlen, zu weichen, dann tun sie das irgendwann auch, dann können sie sich nicht halten. Der Freudenmeister ist stärker und übernimmt die Führung. Und für dieses Erleben und Geschehen brauchen wir die Krisen sogar. Es ist deshalb gut, wenn wir sie annehmen, denn dann können wir eine Freude finden, die uns „auch im Leide“ noch erfüllt. Das ist der eine Gedanke, der in der Strophe steckt.
Außerdem wird uns gesagt: Der Glaube und das Vertrauen auf Jesus lohnen sich. Es geht in dieser letzten Strophe um die Folgen des Gottvertrauens, um die Auswirkung und die Früchte im Leben, die Jesus uns schenkt. Durch seine Nähe bleibt das Leben nicht, wie es ist, es ändert sich etwas, und zwar zum Guten.
Es kann ja sein, dass uns dieses und ähnliche Lieder zu innerlich sind, zu persönlich und damit eventuell zu egoistisch. Hier scheint sich ein Mensch nur um sein eigenes Seelenheil zu kümmern, er schaut nur nach innen, vergisst die Welt um sich herum, treibt Nabelschau und gibt sich zufrieden, wenn er getröstet wird. Das ist ein Einwand, den man oft hört, wenn es um Frömmigkeit geht. Sie kommt uns schwächlich und weltfremd vor. Wo bleiben die Aktivität und das Handeln? Wo bleiben unsere Mitmenschen, die Verantwortung des Christen für und in der Welt?
Die letzte Strophe unseres Liedes gibt darauf eine Antwort, indem sie sagt: Wenn du als Einzelner Gott vertraust, dann tritt der Freudenmeister auf den Plan, dann kommt er wirklich und ist da. Du wirst nicht schwach, wenn du nach innen gehst, sondern empfängst Kraft. Du wirst nicht weltfremd, sondern kommst der Realität viel näher. Denn zur Wirklichkeit gehört nicht nur diese Welt und das Leid, Gott ist da und nur wenn wir ihn lieben, kommen wir an die ganze Wirklichkeit heran. Das Ziel und der Sinn des Lebens sind er und seine Gegenwart, die nichts als Freude bedeutet. Für sie sind wir geschaffen. Wir sollen eine ewige und tiefe Freude empfangen und in die Welt tragen.
Wenn wir anderen Menschen etwas bringen sollen, dann ist sie es, denn das brauchen sie am allermeisten. Wir sind als Christen dafür verantwortlich, dass die Freude bleibt, und zwar eine tiefe und dauerhafte Freude, die sich nicht so schnell verzieht. Doch um diese Freude wirklich bringen zu können, müssen wir bei uns selber anfangen. Jede Aktivität der Christen muss innerlich abgedeckt sein, sonst ist sie bloß Geschäftigkeit. Unser Handeln muss von innen nach außen gehen. Wir können nur die Früchte weitergeben, die wir selber empfangen haben, wenn wir wirklich helfen wollen. Mit der Freude ist es so, dass sie andere ansteckt. Sie springt über und vertreibt auch bei ihnen die Trauergeister. Jesus wirkt durch uns hindurch, wir werden durchlässig für seine Freude.
Dafür ist dieses Lied ein wunderbares Beispiel. Der Dichter hat damit ja einen unvergesslichen Beitrag für die Freude geleistet. Sie ist in seinem Lied enthalten. Auch 360 später singen wir es noch, und es entfaltet seine Wirkung, kann uns trösten und aufrichten. Denn es beschreibt in wunderbarer Weise den Weg, der zur Freude führt. Es lädt uns ein, ihn zu gehen, uns ganz auf Jesus zu verlassen und die Erfahrung zu machen, dass „nichts uns scheiden kann von der Liebe Gottes“.
„Beten mit den Vätern und Müttern des Glaubens“ – unter dieser Überschrift stehen seit über zwanzig Jahren Einkehrzeiten im Gethsemanekloster Riechenberg bei Goslar (www.gethsemanekloster.de) am Anfang des Jahres, zu denen Heidrun Baumgarten und ich einladen. Wir beschäftigen uns jedes Mal mit einem Beter oder einer Beterin aus der langen Tradition der kirchlichen Frömmigkeit. Viele von ihnen zählen zu den „Klassikern der Meditation“, wie Augustin, Teresa von Avila, Thomas Merton und viele andere. Auch das Gethsemanekloster lebt von der spirituellen Weisheit, die sie uns hinterlassen haben.
Die folgenden Einführungen habe ich auf diesen Einkehrzeiten gehalten.
Januar 2015
Auslegungen und Gedanken zu dem Gedicht „Nada te turbe“ von Teresa von Avila
Einleitung
In diesem Jahr haben wir uns mit dem Gedicht „Nada te turbe“ von Teresa von Avila beschäftigt. Anlass war das 500-jährige Jubiläum ihres Geburtstages am 28. März 1515.
Obwohl Teresa von Avila schon früh in den Karmel in Avila eintrat, hat sie sich erst spät zu einer radikalen Nachfolge durchgerungen. Eines Tages brach Gott in ihr Leben ein, und sie schloss eine tiefe Freundschaft mit ihm. Sie wurde die Triebfeder eines leidenschaftlichen Gebetslebens. Teresa hat mit ihrem Leben um eine Antwort auf die Liebe Gottes gerungen. Sie wurde „Doktorin der Mystik“. Ihre Äußerungen zum Gebetsleben wollen zu Gott hinführen, denn allein bei ihm kommt das menschliche Herz zur Ruhe. Das kommt besonders schön mit dem berühmten Gedicht zum Ausdruck:
„Nichts soll dich verwirren, nichts soll dich beirren alles vergeht. Gott wird sich stets gleichen, Geduld kann erreichen, was nicht verweht. Wer Gott kann erwählen, nichts wird solchem fehlen: Gott nur besteht.“
Wir haben es an dem Wochenende in drei Abschnitten betrachtet. Ergänzend haben wir dazu noch weitere Texte von Teresa gelesen, die zeigen, wie Teresa sich sonst ausgedrückt hat, welche Gedanken und welches Lebensgefühl den Hintergrund bilden.
Als „Gedicht“ kann man den Text „Nada te turbe“ dabei kaum bezeichnen, denn weder reimt er sich im Spanischen, noch ist ein klares Versmaß zu erkennen. Die Spanischwissenschaftlerin Erika Lorenz hat es trotzdem im Deutschen in Reimform gebracht, damit wir einen Eindruck davon bekommen, wie schön Teresa formulieren konnte. Ich habe ihre Übersetzung als Grundlage gewählt, auch weil es passend war, das Gedicht in drei Strophen einzuteilen. Um die ganze Bandbreite der Bedeutungen der Wörter darzustellen, habe ich außerdem das Lexikon und andere Übersetzungen zu Rate gezogen.
Erste Einführung: „Nichts soll dich verwirren“
(zur ersten Strophe von „Nada te turbe“)
Auslegung
Die ersten drei Zeilen lauten: „Nada te turbe, nada te espante, todo le pasa.“ Auf Deutsch: „Nichts soll dich verwirren, nichts soll dich beirren, alles vergeht.“ So übersetzt Erika Lorenz diese Zeilen. Walter Nigg, ein Schriftsteller sagt: „Nichts soll dich ängstigen, nichts dich erschrecken, alles vergeht.“ Und in einem dritten Buch heißt dieser Satz: „Nichts sei dir Trübung, nichts dir Erschrecken! Alles verflüchtigt.“
Das Gedicht beginnt also mit dem Wort „Nichts“, das taucht insgesamt dreimal auf, und dem steht ein zweimaliges „Alles“ gegenüber. Und so war Teresa auch strukturiert, sie wollte „alles oder nichts“, es gab für sie keine Kompromisse, kein Dazwischen. Das schreckt uns vielleicht ab, denn so fühlen die meisten von uns nicht, aber durch ihre Radikalität entsteht Klarheit, sie fordert uns heraus und setzt Geist und Seele in Bewegung.
Teresa denkt hier an alles, was uns Menschen zu schaffen macht, was uns stört und in Unruhe versetzt, aufregt, bestürzt und durcheinanderbringt. Dabei meint sie auch die Angst und den Schrecken, der uns oft überfällt. Ob der Mensch es will oder nicht, ganz oft steht er einer unheimlichen Situation gegenüber, der er nicht entfliehen kann.
Der Grund dafür liegt in allem, was vergänglich ist. Wenn wir es zu sehr beachten, uns daran festhalten und darauf fixiert sind, macht es uns unruhig, angstvoll und betrübt. Das kommt in einem weiteren Gedicht von Teresa sehr schön zum Ausdruck. Es ist sehr viel länger und besteht aus insgesamt sieben Strophen mit jeweils sieben Zeilen. Zwei der Strophen lauten:
„Gib mir den Tod – gib mir das Leben! Gesundheit oder Siechtum gib! Ehre und Schmach sind mir gleich lieb. Lass Krieg, lass Frieden mich umgeben; wolle mich werfen oder heben – zu allem sag ich ja vor dir. Befiehl! Was soll geschehn mit mir?
Bedrück mit Armut mich – mit Schätzen! Trübsal und Trost, sie sind mir gleich. Gib Traurigkeit, gib mir Ergötzen – gib Hölle oder Himmelreich! Du Leben, Sonne, niemals bleich – so ganz verlor ich mich in dir! Befiehl! Was soll geschehn mit mir?“
Hier zählt Teresa auf, was zum Leben alles dazu gehört, und zwar immer in Gegensatzpaaren: Tod und Leben, Gesundheit und Krankheit, Ehre und Schmach, Krieg und Frieden, Reichtum und Armut, Freude und Trauer, Dunkel und Licht, Himmel und Hölle.
Sie nennt also immer etwas Negatives und etwas Positives. Spontan wollen wir immer nur eins davon: Wir streben nach Reichtum und Gesundheit, Freude und Frieden usw. Und das relativiert Teresa. Denn alles ist für sie vorübergehend, es zieht vorbei, es vergeht wieder. Und deshalb lohnt es sich nicht, sich daran zu orientieren, dem vermeintlich Guten zu viel Bedeutung beizumessen.
Entscheidend ist vielmehr die Wirklichkeit, die alles durchdringt, die allein bleibt, und das ist Gott. Er allein zählt, wie sie am Ende sagt.
Deshalb sind ihre Worte auch nicht lebensverneinend. So klingen sie vielleicht für den einen oder die andere. Wer zu sehr die Vergänglichkeit alles Irdischen betont, der ist möglicherweise depressiv und weltverneinend. Der erkennt nicht die Schönheit des Lebens, für den hat nichts einen Wert. Das denken wir gern.
So dürfen wir die Worte Teresa aber nicht hören. Sie sagt ja nicht, alles sei wertlos oder schlecht, sondern „vergänglich“, und damit ist sie einfach nur realistisch. Es ist keine Bewertung, sondern eine Feststellung der Tatsachen, eine Erinnerung daran, wie es in Wirklichkeit ist. Wir vergessen das nämlich gerne oder verdrängen es. Es geht also nicht um die Dinge an sich, sondern um unsere Einstellung ihnen gegenüber. Wie gehen wir mit dem Leben um? Woran halten wir uns fest, wonach streben wir, was erfüllt uns, was gibt uns Halt? Diese Frage stellt Teresa uns hier, und über die sollten wir tatsächlich einmal nachdenken, denn das lohnt sich.
Anwendung
Die Dinge selber, Menschen und Erfahrungen, Erlebnisse und Situationen müssen uns nicht verwirren oder in Unruhe versetzen. Das können sie nur, wenn wir zu viel von ihnen erwarten, ihnen einen Wert geben, den sie in Wirklichkeit nicht haben. Das Problem ist also letzten Endes unser Wollen und Trachten, alles, was wir uns wünschen und erhoffen. Wir sind damit auf Menschen fixiert, auf die Welt, auf unsere Pläne und Ideen. Wir stecken immer in irgendetwas drin, sind verstrickt in Beziehungen und Abhängigkeiten. Dadurch entstehen dann Enttäuschungen und Verletzungen, Unzufriedenheit und Frustration, Verdrossenheit und Niedergeschlagenheit. Auch Angst und Sorgen gehen mit unserem Wollen und Wünschen einher, Unruhe und Trübsal. Denn wir wissen nie, ob das, wonach wir trachten, auch eintritt. Wir sind ständig von Erfolglosigkeit und Verlust bedroht. Außerdem ist so eine Lebenseinstellung anstrengend und kräftezehrend. Sie sorgt für Spannungen, sie macht uns gereizt und aggressiv und letzten Endes krank. Auf jeden Fall lohnt es sich nicht, wenn wir auf das, was die Welt und die Menschen uns bieten, fixiert sind. Es ist zu wechselhaft und unbeständig, eben letzten Endes vergänglich.
Deshalb ist es gut, eine ganz andere Frage zu stellen, als die nach Ehre und Erfolg, Liebe und Zuwendung. Wir sollten uns mit Teresa an Gott wenden und stattdessen fragen: „Was begehrst du, Herr von mir? Was soll mit mir geschehen?“
Mit diesen Fragen werden wir herausgelöst oder herausgehoben. Wir kommen der Wirklichkeit näher, wachen aus unseren Illusionen auf, die Trübung weicht, wir sehen klarer und werden ruhiger.
In der Stillen Zeit können wir also einmal das eigene Leben anschauen und uns fragen: Was macht mir im Moment am meisten zu schaffen? Was passt mir nicht? Was beunruhigt mich? Was macht mir Angst? Welcher Mensch, welcher Umstand ist es? Solche Fragen kommen in der Stille wahrscheinlich sowieso hoch, und wir müssen uns entscheiden, wie wir darauf reagieren wollen, was das alles mit uns machen soll. Wir können unsere Einstellung ändern und dem allen weniger Bedeutung geben. Wir lassen es vorbeiziehen, an uns vorübergehen. Es wird sowieso vergehen, ob es gut oder schlecht ist, alles hat irgendwann ein Ende. Und das ist eine heilsame, beruhigende Erkenntnis. Wenn wir sie zulassen, kommen wir der Wirklichkeit näher und können uns entspannen.
Zweite Einführung: „Geduld kann alles erlangen“
(zur 2. Strophe)
Auslegung
Erika Lorenz übersetzt die Strophe folgendermaßen: „Gott wird sich stets gleichen, Geduld kann erreichen, was nicht verweht.“ Walter Nigg übersetzt: „Gott bleibt derselbe. Geduld erreicht alles.“, und Irene Behn sagt: „nicht wandelt sich Gott. Es kann Geduld alles erlangen.“
Teresa erwähnt jetzt also Gott. Doch wie tut sie das? Was sagt sie hier über ihn? Es ist ja nicht leicht, über Gott zu reden, denn mit jedem Wort, das wir über ihn verlieren, bleiben wir auf jeden Fall hinter dem zurück, was er wirklich ist. Es ist deshalb ganz sinnvoll, dass sie zunächst sagt, was er nicht ist, bzw. was er nicht tut: Er wird sich nicht ändern, nicht wechseln, nicht mutieren oder umziehen. Und das kann man so über nichts auf dieser Welt sagen, denn alles unterliegt dem Wandel, selbst das, was für uns ewig zu sein scheint, wie Berge oder Felsen. Sie verändern sich auch, bloß eben so langsam, dass wir es kaum merken. Alles, was Raum und Zeit unterworfen ist, ist dem Wandel unterworfen. Wenn „Gott sich nicht wandelt“, ist er also außerhalb von Raum und Zeit, und deshalb wird er „sich stets gleichen“. Das kann man dann positiv über ihn sagen. „Er bleibt derselbe“. Es geht Teresa also nicht um die Verneinung alles Weltlichen, sondern um diese Gegenüberstellung, diesen Vergleich. Sie gewinnt ihre Einsicht, weil sie um die Ewigkeit Gottes weiß und umgekehrt.
Doch wie kann man Gott nun „erreichen“, wenn er so ganz anders ist als die Welt und außerhalb von Raum und Zeit steht? Wie können wir überhaupt sinnvoll leben, wenn doch alles vergeht? Macht uns das nicht völlig passiv? Diese Frage kennt Teresa auch, und sie gibt hier eine Antwort darauf, die lautet: mit Geduld, „la paciencia“ ist das spanische Wort. Es gibt also eine Aktivität, die wichtig ist, die sich aus der Erkenntnis der Vergänglichkeit der Welt und der Ewigkeit Gottes ergibt. Teresa reduziert alles, was wir tun sollen, auf diese eine Tugend, jedenfalls in diesem Gedicht. Die Geduld ist der Schlüssel zum Leben und zu Gott.
An anderen Stellen lässt sie sich natürlich weitschweifend darüber aus, wie wir beten und Gott erkennen können. In ihrem Buch „Weg der Vollkommenheit“, das von dem inneren Gebet handelt, gibt es dazu einen schönen Abschnitt. Teresa geht darin vom Vaterunser aus, das für sie der Keim für alles Beten ist, und unter den Ausführungen zur Bitte „dein Wille geschehe“ sagt sie:
„Alle Ratschläge, die ich euch in diesem Buch gegeben habe, zielen auf einen einzigen Punkt: dass wir uns von allem gelöst ganz dem Schöpfer schenken und unseren Willen in den seinen fügen. Dann wird der Weg kurz, auf dem wir zum Quell lebendigen Wassers gelangen. Aber nur der wird daraus trinken, der seinen Willen so ganz dem Herrn übergibt, dass dieser ihn gänzlich mit dem seinen in Übereinstimmung bringen kann. Das ist die vollkommene Kontemplation, meine Töchter, nach der ihr mich gefragt hattet.
Wir selbst können dabei gar nichts tun, da helfen weder Geschick noch Bemühen, und es ist auch nichts weiter nötig (weil alles andere nur hindert und stört), als dass wir sagen: ,Dein Wille geschehe.‘ Ja, Herr, mir geschehe dein Wille, alles, was du möchtest und wie du es wünschst. Sollen Leiden über mich kommen, gib mir Kraft, sie zu tragen. Sind es Verfolgungen, Krankheiten, Entbehrungen, Not – hier bin ich, Vater, ich wanke nicht und sehe keinen Grund zur Flucht. Denn dein Sohn hat für uns alle, also auch für mich, den Willen in deine Hände gelegt, wie sollte ich mich da verweigern?“
Das beschreibt schön, worum es bei der Geduld geht: um die Hingabe des eigenen Willens in den Willen Gottes, um Gehorsam, Schweigen, Demut und Leidensbereitschaft. Auch Standhaftigkeit, Ausharren und Warten gehören dazu.
Dabei benutzt Teresa ein Bild, das oft in ihren Texten vorkommt: das „lebendige Wasser“. Teresa vergleicht die Seele gern mit einem Garten, der bewässert werden oder einem Baum, der am Wasser stehen muss. Dieses Wasser ist Gott, ohne den die Seele nicht überleben kann. Sie kann es aber bekommen, sie kann zu der Quelle hingehen, indem sie sich in das fügt, was Gott ihr auferlegt. Das erklärt Teresa hier. Und es ist schön, dass sie am Ende die Geduld Jesu erwähnt. Er ist diesen Weg vorangegangen und hat uns das vorgelebt. Wenn wir ihm nachfolgen, sehen wir, was auch von uns erwartet wird, und wir werden gleichzeitig dazu befähigt.
Anwendung
Es geht also darum, dass wir geduldig werden. Und das ist ein guter Ratschlag. Wir kommen tatsächlich weit, wenn wir ihn befolgen. Allerdings müssen wir auch dazu ermahnt werden, denn selbstverständlich ist es nicht, dass wir uns in Geduld üben. Im Gegenteil, genau das fällt uns oft schwer. Einen Zustand, der uns nicht gefällt, würden wir am liebsten so schnell es geht beenden, und dafür veranstalten wir alles Mögliche: Wir hängen uns an andere Menschen wie Partner, Freunde, Ärzte oder Therapeuten. Wir gehen auf eine Reise, kaufen etwas Schönes, essen und trinken und vieles mehr. Wir versuchen auf jeden Fall, innerhalb der Welt dem Leid zu entkommen, und wollen es so schnell es geht wieder loswerden. Leider gelingt das nie so ganz.
Das Gegenstück zum Trinken ist ja der Durst. Und das ist ein ebenso gutes Bild. Es gibt nicht nur den körperlichen, sondern auch einen seelischen Durst: Er führt dazu, dass wir immer mehr haben wollen und doch nie ganz zufrieden sind. Er verstärkt sich sogar, wenn wir ihn mit Dingen versuchen zu stillen, die wir innerhalb der Welt finden. Der Aufstand gegen das Leid führt uns oft in noch mehr Leiden hinein, weil wir den Mangel, den alles Weltliche an sich hat, nur umso mehr erleben. Alles ist defizitär, nichts reicht wirklich aus und kann uns ganz befriedigen. Wir können uns nicht selber erlösen.
Frei werden wir erst, wenn wir damit aufhören, wenn wir uns nicht mehr selber glücklich machen oder retten wollen. Und dazu gehört es, dass wir das Leid zunächst einmal akzeptieren, dass wir unseren inneren Durst aushalten, ohne ihn gleich mit etwas Vergänglichem zu stillen. Es gehört zu unserem Leben, dass wir oft nicht richtig klar kommen, dass vieles zerbricht, dass wir leiden und sterben. Wir müssen die Brüchigkeit und Unvollkommenheit des Lebens ertragen, ja dazu sagen und auf uns nehmen, was Gott von uns will. Wir müssen uns in Geduld üben.
Nur dann sind wir offen für das, was Jesus uns gibt. Denn dann können wir innerlich zu ihm gehen, zu ihm rufen und um seine Hilfe bitten. Sie ist sofort da, wenn wir das tun. Wir müssen uns um sonst nichts mehr bemühen, nichts bezahlen und uns noch nicht einmal anstrengen. Es ist nichts weiter nötig, als dass wir ihn anrufen und uns von ihm lieben lassen.
Wenn Leiden über uns kommen, können wir sagen: „Gib mir Kraft, sie zu tragen.“ Sind es Krankheiten, Enttäuschungen oder Verletzungen, können wir beten: „Hier bin ich, Jesus, ich halte das jetzt aus und sehe keinen Grund zur Flucht. Denn du hast dich für uns alle, also auch für mich, Gott hingegeben.“ Wenn wir so beten, müssen wir nicht darauf warten, dass Jesus in uns einzieht. Es ist bereits wie ein Trinken des Wassers, das er uns gibt. In vollen Zügen fließt seine Kraft und Liebe in uns hinein. In demselben Moment, in dem wir uns ihm hingeben, wird „unser Durst ganz gelöscht“. Und wenn das geschieht, brauchen wir nicht mehr. Auch von anderen Menschen werden wir unabhängiger, von Erfolg oder Spaß. Denn Jesus erfüllt unser Inneres mit seiner Liebe, so dass sie in uns sprudelt.
Die tiefen Schichten in unserer Seele werden angerührt, wir bekommen Leben und Kraft. Wir können plötzlich lieben, wo wir vorher vielleicht wütend waren. Wir werden gelassen und mit Freude erfüllt. Wir sind ganz von selber zufrieden und glücklich, auch im Leid, auch dann, wenn wir das eine oder andere, was die Welt so bietet, vielleicht nicht haben, und sich nicht alle unser Wünsche erfüllen. Denn Jesus stillt unseren Durst ganz.
Wir können das in der Stille also einmal üben. Dabei machen wir uns klar, was uns gerade aufregt. Worauf will ich nicht mehr länger warten? Was will ich nicht mehr aushalten? Was macht mich rappelig? Wir schauen uns das in Ruhe an und fragen uns, was daran so schlimm ist. Was wollen wir stattdessen? Und ist das wirklich besser?
Das Beste wäre, wenn wir gar nichts mehr wollen, wenn wir leidensfähig werden, uns Gott hingeben und bei ihm unsere Ruhe suchen. Damit erreichen wir mehr als mit allem anderen, „wir erreichen letzten Endes alles“, wonach wir uns sehnen.
Dritte Einführung: „Gott allein genügt“
(zur 3. Strophe)
Auslegung
Die letzten drei Zeilen lauten bei Erika Lorenz: „Wer Gott kann erwählen, nichts wird solchem fehlen: Gott nur besteht.“ Walter Nigg sagt: „Wer Gott besitzt, dem kann nichts fehlen. Gott nur genügt.“ Und Irene Behn übersetzt: „Wer Gott nicht loslässt, kennt kein Entbehren, Gott nur genügt.“
Gott und die Seele werden hier also in Beziehung zueinander gesetzt. Der Mensch kann Gott „haben“ und sich „an ihm festhalten“. Das spanische Wort, das hier steht, „tiene“ kann auch „aufbewahren“ heißen. Und dazu ermahnt Teresa hier, das rät sie sich selber und anderen. Denn dann „fehlt uns nichts“ mehr, mit Gott haben wir alles, was wir brauchen. Er ist unser Ursprung und unser Ziel, „er allein genügt“, „solo dios basta“ auf Spanisch.
Bei diesem Satz müssen wir unwillkürlich schmunzeln, denn das Wort „basta“ ist in unseren Sprachgebrauch eingegangen. Wir sagen es, wenn wir keine Widerrede mehr haben wollen, wenn ein Gespräch beendet werden soll, wenn alles gesagt ist. Es bekräftigt auch unsere Aussage, wir unterstreichen sie sozusagen und geben ihr ein Gewicht, das andere anerkennen sollen. Und so können wir den letzten Satz von Teresas Gedicht durchaus hören: Wenn wir Gott haben, muss dem nichts mehr hinzugefügt werden, wir können uns zufrieden geben, schweigen und genießen.
Ich habe dazu noch fünf weitere Zeilen von Teresa gefunden, von denen ich leider nicht weiß, wo sie in ihren Schriften stehen. Ich habe sie irgendwann einmal abgeschrieben und seitdem behalten. Sie entfalten sehr schön, was „solo dios basta“ für den Lebenswandel bedeutet. Sie lauten: „Dein Verlangen sei, Gott zu schauen; deine Furcht, ihn zu verlieren; dein Schmerz, noch nicht bei ihm zu sein; deine Freude, dass er dich zu sich führen kann. Dann wirst du in großem Frieden leben.“
Teresa nennt hier vier seelische Vorgänge. Verlangen, Furcht, Schmerz und Freude. Das kennen wir alle, und zwar in vielfältigen Zusammenhängen. So verlangen wir z.B. immer nach allem Möglichen: nach Liebe und Zuwendung, Erfolg oder Macht, Dingen und Erlebnissen und vielem mehr. Unsere Motivation, etwas zu tun, ist ganz oft ein bestimmtes Verlangen, ein Wollen und Trachten.
Oder es ist Furcht, dann wollen wir nicht etwas erreichen, sondern eher etwas vermeiden. Furcht hindert uns oft dran, unserem Verlangen nachzugehen, sie versetzt uns in Spannung, verursacht Konflikte.
Mit dem Schmerz ist es ähnlich, sowohl dem körperlichen als dem seelischen. Er blockiert und lähmt uns, macht uns traurig und kann uns quälen. Furcht und Schmerz können uns sogar zur Verzweiflung führen, an den Abgrund treiben und uns das Gefühl geben, dass nichts mehr geht.
Denn eigentlich suchen wir die Freude, sie macht uns lebendig und schenkt uns Kraft und Hoffnung. Freude entsteht, wenn unser Verlangen gestillt ist, wenn Furcht und Schmerz aufhören und alles gut ist. Doch leider erleben wir sie immer nur vorübergehend, wir können sie nicht festhalten, und dadurch sind wir oft unruhig und ohne Frieden.
Und das liegt daran, dass bei diesen Vorgängen letzten Endes unser Ich im Mittelpunkt steht, das ist das Hauptproblem. Wir sind natürlicherweise egozentrisch veranlagt. Das wusste auch Teresa, und dem setzt sie die Theozentrik entgegen.
Das heißt nun allerdings nicht, dass das Ich geschwächt werden soll. Menschen, deren Ichstärke aus irgendwelchen Gründen nicht ausgeprägt ist, müssen zunächst lernen, ihr Ich aufzubauen. Wer darunter leidet, dass er immer zurücksteht, sich nicht durchsetzen kann, isoliert wird und am Rand steht, der muss sich darum natürlich kümmern und sein Ich entfalten. Dieses Problem hat Teresa nicht im Blick. Sie dachte an reife und psychisch stabile Menschen, denn so erlebte sie sich selber, und die sollen sich natürlich nicht selber zerstören. Sie schlägt nicht vor, dass wir unser natürliches Verlangen, den Schmerz, die Furcht und die Freude bekämpfen, um endlich Ruhe zu haben, es unterdrücken oder ignorieren. Es gilt vielmehr, diese Vorgänge in der Seele umzulenken, sie zu bündeln und auf Gott zu konzentrieren. Und das ist etwas ganz anderes.
Anwendung
Anstatt nach diesem und jenem zu verlangen, sollten wir danach trachten, „Gott zu schauen“, nach ihm Ausschau zu halten, ihn zu sehen, ihm zu begegnen. Denn „er genügt“, d.h. er ist die Mitte und das Ziel unseres Lebens, der Sinn und die Grundlage. Wenn wir ihn „schauen“ wollen, geben wir unserem Leben einen tiefen Sinn, wir suchen nach Wahrheit, nach dem, was wirklich zählt und hält. Und allein diese Richtung einzuschlagen, wirkt sich schon aus, denn alles andere, wonach wir verlangen könnten, verblasst dagegen. Selbst wenn das Ziel noch weit entfernt ist, es tut bereits gut, sich auf den Weg zu machen. Es ist heilsam und befreiend.
Genauso können wir unsere Furcht umlenken. Es gibt eigentlich nichts wirklich Schlimmes. Was können wir schon verlieren, wenn wir Gott haben? Nur wenn er uns verloren geht, sind wir wirklich arm dran. Jeden anderen Verlust können wir verkraften. Es ereignet sich darin zwar ein Stück Sterben, wir spüren den Tod, aber wenn wir Gott vor Augen haben, muss der uns nicht erschrecken.
Es muss uns deshalb auch nichts wirklich traurig machen. Der größte Schmerz, den wir ertragen müssen ist der, dass wir Gott noch nicht ganz haben, dass wir noch nicht ganz bei ihm sind, dass wir noch in dieser Welt ausharren müssen, ohne ganz erlöst zu sein.
Doch dieser Schmerz führt uns nicht in die Verzweiflung, denn uns kann geholfen werden: Gott kann und will uns zu sich führen. Er nimmt uns an die Hand, er hat selber ein Interesse an uns, er kennt und liebt uns und möchte gerne Gemeinschaft mit uns haben. Das wird uns im Evangelium verheißen, das ist durch das Kommen Jesu Christi deutlich geworden. Im Glauben an ihn werden wir zu Gott geführt, und darin kann unsere Freude liegen.
Wenn wir uns innerlich so ausrichten, Verlangen, Furcht, Schmerz und Freude immer wieder bündeln und zu Gott hinlenken, dann „werden wir in großem Frieden leben“. Alles andere relativiert sich und wird klein, es verliert an Bedeutung und damit an Macht. Konflikte und Spannungen lösen sich auf, es wird hell und ruhig in uns. Es gibt keine Verzweiflung mehr, denn wir haben immer ein großes Ziel vor Augen: Es ist die Gegenwart Gottes, seine Liebe und seine Ewigkeit, und die „allein genügt“.
Diese Erfahrung können wir alle machen, und die wirkt sich natürlich auch auf unsere Umwelt aus. Der Friede, der in uns entsteht, breitet sich aus, er verändert unsere Beziehungen und unser Handeln, er wirkt in die Gesellschaft und in die Kirche hinein. Die Theozentrik schließt alles andere mit ein, weil Gott alles umfängt. Und Gott will diese Welt, er hat sie geschaffen, also ist ihm auch etwas daran gelegen, dass sie weiter besteht und die Menschen in Frieden miteinander leben. Wir können dazu beitragen, wenn Gott die Mitte unseres Lebens wird. Auch Teresa hat das getan, sie hat die Welt mitgestaltet und bleibende Spuren hinterlassen. Nicht umsonst wurde sie zur Kirchenlehrerin ernannt, und zwar im 20. Jahrhundert. Sie kann auch heute noch Menschen zu Gott führen, so denn aus allem, was sie tat und sagte und aufschrieb, spricht eine tiefe und echte Liebe zu Gott und den Menschen. Und darum geht es letzten Endes, um ein Leben in Liebe und aus Liebe. Das ist es, was Gott ist und schenkt. Um dahin zu gelangen, gehen wir in die Stille und geben uns ihm hin.
Dabei können wir dieses Mal in zwei Schritten vorgehen: Zunächst machen wir uns bewusst, was wir verlangen bzw. fürchten, was unser Schmerz, was unsere Freude ist. Und wenn wir uns das angeschaut haben, fragen wir uns: Was hat das mit Gott zu tun? Wie kann ich Gott dienen? Was will er eigentlich von mir? Welchen Platz hat er in meinem Leben, und wo will er mich haben? Womit will er mich erfreuen? Und wie kann ich seinen Frieden und seine Liebe weitergeben?
Literatur:
Erika Lorenz, Teresa von Avila, „Ich bin ein Weib, und obendrein kein gutes“, ein Porträt der Heiligen in ihren Texten, Freiburg, 1982
Erika Lorenz, Das Vaterunser der Teresa von Avila, Freiburg, 1987
Teresa von Avila, Wege zum Gebet, eine Textauswahl, ausgewählt und übersetzt von Irene Behn, Zürich, 1982
Theresia von Avila, Bildband mit einem Essay von Walter Nigg, Freiburg, 1981
Teresa von Ávila, Gesammelte Werke, Band 1- 8, vollständige Neuübertragung, übersetzt und herausgegeben von Ulrich Dobhan und Elisabeth Peeters, Freiburg, 2007
Februar 2014
Gedanken zur Jahreslosung 2014 und zu einem Gebet von Dag Hammarskjöld
Einleitung
An dem Einkehrwochenende Anfang Februar war in diesem Jahr Dag Hammarskjöld (1905- 1961) unser „Vorbeter“. Er war schwedischer Friedensnobelpreisträger und ist als zweiter Generalsekretär der Vereinten Nationen in die Geschichte des 20. Jahrhunderts eingegangen. Am 18. September 1961 kam er auf einer Friedensmission in Afrika bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Nach seinem Tod fand man in seiner New Yorker Wohnung ein Manuskript mit tagebuchartigen Aufzeichnungen, die seine Erfahrungen, Erkenntnisse und Lebensweisheiten enthalten. Er selber nannte sie „Zeichen am Weg“. Sie gaben ihm also Orientierung und Sicherheit. Er wollte zwar nicht, dass das Buch noch zu seinen Lebzeiten veröffentlicht wurde, aber er ging davon aus, dass ein Freund das nach seinem Tod wohl tun würde. Dem hat er auch die Entscheidung darüber überlassen.
Wichtig war ihm, hier sein wahres Ich zu zeigen. Er nannte die Notizen auch „Verhandlungen mit mir selbst und mit Gott“. Sie beschreiben seine persönliche Sinnsuche und seinen Reifeprozess, und er verstand sie als ein Korrektiv zu einer Reihe von öffentlichen Urteilen über ihn. Er tritt hier als religiöser Denker, Mystiker und Dichter hervor. Deshalb hat die Lektüre auch nach wie vor Aktualität und Anziehungskraft.
Wenn man das ganze Buch liest, ist man allerdings oft etwas ratlos, denn viele Gedanken sind verschlüsselt formuliert, bildhaft und phantastisch, und die Aussagen erschließen sich nicht auf Anhieb.
An unserem Stillen Wochenende haben wir deshalb hauptsächlich ein Gebet betrachtet.
Es lautet:
„Du, der über uns ist,
du, der einer von uns ist,
du, der ist –
auch in uns
dass alle dich sehen – auch in mir,
dass ich den Weg bereite für dich,
dass ich danke für alles, was mir widerfuhr.
Dass ich dabei nicht vergesse der anderen Not.
Behalte mich in deiner Liebe,
so wie du willst, dass andere bleiben in der meinen.
Möchte sich alles in diesem meinem Wesen
zu deiner Ehre wenden,
und möchte ich nie verzweifeln.
Denn ich bin unter deiner Hand,
und alle Kraft und Güte sind in dir.“
(Dag Hammarskjöld, Zeichen am Weg, Das spirituelle Tagebuch des UN-Generalsekretärs, Überarbeitete Neuausgabe herausgegeben von Manuel Fröhlich, Stuttgart, 2. Auflage 2012, S. 128)
Dieses Gebet habe ich in drei Teile gegliedert und in entsprechenden Einführungen ausgelegt und betrachtet. Der erste Teil besteht aus den ersten vier Zeilen, der Anrede, die hauptsächlich aus dem „Du“ besteht.
Der zweite und größte Teil umfasst die Sätze, in denen es um einen bestimmten Lebenswandel, eine Grundeinstellung geht. Sie zeigen, dass auch das Handeln vom Gebet beeinflusst wird.
Der dritte Teil besteht aus dem Schlusssatz des Gebetes, in dem Dag Hammarskjöld seine Zuversicht zum Ausdruck bringt, dass „alle Kraft und Güte“ in Gott sind.
Die Einführungen wurden im letzten Freundesbrief des Klosters (Sommer 2014) veröffentlicht. Dafür habe ich sie gekürzt und Ihrer Situation als Leser und Leserinnen angepasst. Diese Form habe ich auch hier übernommen. Sie sind so gestaltet, dass Sie sie für Ihre persönliche Stille Zeit verwenden können.
Erste Einführung : „Du bist in uns“
Auslegung
Das vorliegende Gebet ist aus dem Jahr 1954, als Dag Hammarskjöld gerade ein Jahr lang im Amt des Generalsekretärs war. Beim ersten Lesen fällt auf, dass er nicht um irgendetwas bittet oder für andere, für die Welt und seine vielen Anliegen, sondern er betet darum, näher zu Gott zu kommen, in seiner Liebe zu bleiben, mit ihm eins zu sein. Das Gebet war für ihn also ein Weg der Seele, ein Weg nach innen, der Tugenden und eine bestimmte Grundhaltung einschloss. Er war Mystiker, d.h. er versuchte, durch Hingabe und Versenkung zu einer persönlichen Vereinigung mit Gott zu kommen.
So sah er sich in all seinem Wirken persönlich in der Pflicht. Das hat er auch in einer Rundfunkansprache zum Jahresschluss 1953 deutlich gemacht. Da sagte er:
„Unsere Friedensarbeit muss im persönlichen Innern eines jeden von uns beginnen. Wenn wir eine Welt ohne Angst aufbauen wollen, dürfen wir keine Angst haben. Wenn wir an einer gerechten Welt mitwirken wollen, müssen wir gerecht sein. Wie können wir für Freiheit kämpfen, wenn wir innerlich nicht frei sind? Wie können wir Opfer von anderen verlangen, wenn wir selbst nicht dazu bereit sind?“
(Hermann J. Benning, Dag Hammarskjöld, Leben und Profil, München, 2. Auflage, 2012, S. 37)
Das durchzieht sein ganzes Denken. Er hat also immer mit sich selber gerungen. Und das wird auch an diesem Gebet deutlich.
Es beginnt mit „Du“, das ist auffällig. Daran wird zum einen deutlich, dass Gott für ihn ein Du war, und zum anderen, dass dieses Du an erster Stelle stand oder stehen sollte. Und dann beschreibt er sein Bild von Gott mit drei Aussagen. Er lehnt sich dabei an das Glaubensbekenntnis an, der Lehre vom dreieinigen Gott, und sicher beschreibt er damit auch seine eigenen Erfahrungen:
Erstens ist Gott „über uns“, d.h. er hat Macht und Größe, er ist der Schöpfer, der Ursprung und das Ziel. Er ist der Vater, der allmächtige und allgegenwärtige. Zweitens ist er „einer von uns“. Damit erinnert Dag Hammarskjöld an Jesus Christus, an den Gott, der Mensch und uns gleich geworden ist, der Fleisch und But angenommen hat und auf dieser Erde wandelte. Er ist also nicht nur „über uns“, sondern auch neben uns, d.h. er ist uns nah und vertraut. Er kennt das menschliche Leben, wir können es mit ihm teilen, und damit auch alles, was uns belastet und beschwert. Und drittens sagt Dag Hammarskjöld, dass Gott „ist – auch in uns“. D.h. Gott ist auch ohne uns da, er hat ein losgelöstes Sein, er ist absolut und muss sich auf nichts beziehen. Er lässt sich mit nichts vergleichen und auch mit nichts fassen oder benennen. Er hat keine Gestalt und keinen Leib. Wir können ihn deshalb auch nicht außerhalb von uns selber finden, wie einen Gegenstand oder eine Person, sondern nur „in uns“. Hinter dieser Aussage verbirgt sich das Reden über den heiligen Geist, denn der ist der „Gott in uns“, die Kraft, die wir spüren können und die uns glauben lässt.
Anwendung
Und das können wir sehr gut auf unser eigenes Leben anwenden, vor allen Dingen auf die Stille Zeit. Warum halten wir sie? Jeder und jede von uns hat andere Gründe, uns bewegen verschiedene Dinge. Wir suchen natürlich Ruhe und Entspannung, aber auch Klärung und Befreiung. Die Stille soll uns guttun, wir wollen Probleme lösen und unseren Glauben vertiefen. Doch wie erreichen wir das alles?
Wenn wir auf Dag Hammarskjöld hören und sein Gebet beten, bekommen wir eine Antwort. Er sagt uns: Such zu allererst Gott, stell das „Du“ an die erste Stelle, richte dich nach ihm aus. Dabei musst du nicht lange fragen, wo er denn ist, sondern geh nach innen. Dort findest du ihn.
Es geht bei der Stillen Zeit also um eine „Reise nach innen“. Das hat Dag Hammarskjöld selber einmal so formuliert (Zeichen am Weg, a.a.O., S. 97). Jeder und jede von uns tritt sie allein an, wir können sie nur in Einsamkeit machen, und sie führt uns auch dahin. Das gilt es also anzunehmen, das Alleinsein, die Absonderung von den anderen.
Und was all unsere Fragen und Probleme betrifft, so ist es gut, diese ebenfalls anzunehmen und so stehen zu lassen, wie sie sind. Wir müssen nicht an unseren Problemen herumdoktern, sondern stellen uns mit ihnen einfach nur vor Gott. Wir sind da, gegenwärtig und wach. Es reicht schon, dass wir uns nicht mehr zerstreuen, nichts tun und uns durch nichts ablenken lassen. Wir legen die Hände in den Schoß und halten uns selber aus. Und das ist heilsamer und befreiender als alles andere, es entspannt und macht uns ruhig und froh.
Zweite Einführung: „Behalte mich in deiner Liebe“
Auslegung
Nach der Anrede an Gott, an der deutlich wird, dass es Dag Hammarskjöld hauptsächlich um Gott geht und dass der an erster Stelle steht, formuliert er nun doch konkrete Bitten und Wünsche, die er an Gott hat. Aber auch dabei fällt auf, dass er nicht um irgendwelche Einzelheiten bittet, Gesundheit, Wohlstand, Frieden oder Ähnliches, sondern er bleibt in dem Bewusstsein, dass Gott allein genügt, dass er um seiner selbst willen geliebt und angebetet werden will. Dag Hammarskjöld bittet deshalb darum, dass auch die anderen ihn „sehen“ mögen, d.h. er wünscht ihnen Gotteserkenntnis und Gottesnähe, Glaube und Hoffnung, Heil und Erlösung. Alles, was er selber von Gott bekommen hat und im Glauben erlebt, sollen die anderen Menschen auch erfahren und empfangen.
Und dafür möchte er selber ein Instrument Gottes sein. Er möchte für Gott transparent sein, ihn durchscheinen lassen. Was in ihm ist, soll für andere erlebbar werden. Und das ist auf dem Hintergrund seines politischen Auftrages und Amtes sehr aufschlussreich. Er sah sich nicht nur als Diplomat, sondern vor allen Dingen als Missionar und Wegbereiter für Gott. Deshalb bittet er um die richtige Haltung: um Dankbarkeit für alles, was ihm widerfuhr, d.h. um ein „Ja“ zu allem, was geschieht (Zeichen am Weg, a.a.O., S. 148). Das war nicht selbstverständlich. Auch für ihn gab es Situationen, zu denen hätte er wohl lieber „Nein“ gesagt. Aber das wollte er nicht. Er wollte seine Widerstände loslassen und in allem den Willen Gottes erkennen und bejahen.
Gleichzeitig möchte er die „Not der anderen“ nicht vergessen, also offen bleiben für seine Mitmenschen, Mitleid und Mitgefühl haben und „in der Liebe Gottes“ bleiben. Die ist bedingungslos und grenzenlos, sie gilt jedem Menschen, macht keine Unterschiede, bewertet und beurteilt nicht.
Dag Hammarskjöld ist also auch in seinem sozialen Verhalten theozentrisch, d.h. Gott soll die Mitte und das Ziel sein, das formuliert er am Ende dieses Mittelteils, in dem er sagt: „Möchte sich alles in meinem Wesen zu deiner Ehre wenden.“
Und er möchte „nie verzweifeln“, d.h. manchmal war ihm wohl danach zu Mute, er kam an seine Grenzen und sah keinen Ausweg mehr. Ohne Gott wäre er verzweifelt, hätte aufgegeben, denn er fühlte sich oft machtlos und schwach. Aber im Gebet hat er versucht, das zu überwinden, und hat immer wieder Zuversicht gewonnen.
Anwendung
Wenn wir das nun auf unser eigenes Leben beziehen, müssen wir uns zunächst bewusst machen, in welchen Beziehungen wir stehen: Welche Menschen gehören zu uns und sind uns wichtig? Für wen sind wir da, wer ist für uns da? Dazu gehören unsre Familie, Freunde, Kollegen, Nachbarn, andere Menschen in der Gemeinde usw. Gehen Sie das einmal im Geiste durch und fragen Sie sich: Was will ich für sie und von ihnen?
Dabei wird Ihnen sicher bewusst, dass es immer eine Menge Wünsche und Erwartungen und damit auch Konflikte gibt. Viele Menschen sind wunderbar, andere sind aber nicht so, wie Sie sie gern hätten. Sie wollen etwas von ihnen und für sie, aber das geschieht nicht. Sie sind enttäuscht oder haben das Gefühl, erfolglos zu sein und zu versagen. Oft gehören Angst dazu und Unsicherheit. Vielleicht ärgern Sie sich auch über den einen oder anderen, wären ihn gerne los, wollen sich am liebsten trennen oder ihm zumindest einmal so richtig die Meinung sagen.
Dag Hammarskjöld macht uns darauf aufmerksam, dass all dieses keine guten Wege sind, sie dienen niemandem, führen nicht weiter und schon gar nicht zum Heil und zum Frieden. Der Weg dorthin sieht anders aus, denn er besteht nicht in der Auseinandersetzung und Verurteilung, in Trennung oder Rechthaberei, sondern in der Liebe. Wir können sie an Jesus Christus erkennen und von ihm empfangen, und es ist gut, wenn wir das tun: die Liebe Christi in uns aufnehmen und uns darin üben.
Wenn Sie sich klar gemacht habt, was Ihr soziales Umfeld ausmacht, und wo Ihre schmerzhaftesten und anstrengendsten Konflikte liegen, ist es also gut, dass Sie sich im Loslassen und „Ja“ sagen üben. Ihre Wünsche und Vorstellungen sind nicht entscheidend, sondern entscheidend ist, dass die Liebe Christi geschieht, dass Sie dafür durchlässig werden und sie zu den Menschen bringen. Das lohnt sich viel mehr, weil davon alle etwas haben. Sie selber werden ruhig und können in allem einen Sinn erkennen. Der Glanz Gottes breitet sich aus und spiegelt sich auf jedem Gesicht, das Ihnen begegnet. Auch das Unvollkommene und Schmerzhafte, das Enttäuschende und Leidvolle im Leben gehört dazu und hat seinen Platz.
Es geht also darum, gehorsam und bereit zum Leiden und zum Lieben zu sein, mit Jesus in Gethsemane zu beten: „Nicht wie ich will, sondern wie du willst.“(Mt. 26, 39) Dann verändert sich unser Leben. Wir werden frei und sind erlöst, und damit können wir die anderen Menschen anstecken. Es geschieht etwas viel Größeres, als unser kleines Wollen, wir werden in einen göttlichen Vollzug hineingeholt, haben Teil an seinem großen Plan. Wir werden Missionare und Missionarinnen der Liebe Gottes.
Dritte Einführung: „Alle Kraft und Güte sind in dir“
Auslegung
Dag Hammarskjöld wusste sich unter der „Hand Gottes“ geborgen. Das ist eine biblische Vorstellung, in den Psalmen ist davon oft die Rede. Die „Hand Gottes“ ist stark und bringt Schutz und Sicherheit. Mit diesem Bild war Dag Hammarskjöld aufgewachsen und das hat er nie verloren.
Er war nie verheiratet, hatte keine Frau und keine Kinder, und das könnte uns dazu veranlassen, ihn nicht ganz ernst zu nehmen. Das passt nicht zu unserem Bild von einem gelungenen Leben, und wir fragen uns, wie das kam. Ein äußerer Grund war sicher seine umfangreiche Reisetätigkeit, sein Engagement und unermüdlicher Einsatz. Das hätte keine Frau gerne mitgemacht, denn er hätte sie und seine Kinder selten gesehent. Vielleicht war er menschlich auch „unterbelichtet“, verklemmt und schüchtern. Ich denke es ist müßig, darüber zu spekulieren, denn er hat diese Situation auf jeden Fall geistlich kompensiert und auch genutzt. Möglicherweise hat seine starke innere Sehnsucht auch dazu beigetragen, dass er allein blieb. Er spürte eine metaphysische Unzufriedenheit, von der er genau wusste, dass sie in einer Ehe nicht beantwortet würde. So ist das bei den Mönchen. Und innerlich war Dag Hammarskjöld durchaus so etwas wie ein Mönch. Er trug das Kloster in sich, d.h. er lebte mit Gott und hat sich ihm hingegeben. Deshalb fühlte er sich grundsätzlich auch nicht allein, sondern begleitet und beschützt, Das waren das bestimmende Lebensgefühl und seine Gewissheit.
Das heißt nun nicht, dass es nicht auch Stunden der Einsamkeit gab. Natürlich blieben sie nicht aus. Dag Hammarskjöld war nicht immerfort glücklich und froh und in gehobener Stimmung. Im Gegenteil, wenn man sein Tagebuch liest, dann spürt man, dass er oft traurig war, an sich selber gezweifelt und auch gelitten hat. Aber er konnte damit umgehen und wusste stets, wo er sein Glück und seine Freude finden konnte, wo die Quelle war. Und zu der ist er immer wieder gegangen. Es war die Gegenwart Gottes. Dort hat er empfangen, wonach er sich sehnte. Er selber spricht von „Kraft und Güte“, sie sind „in Gott“. Das ist der letzte Satz in dem Gebet, und der besagt ganz viel.
Wir müssen uns nur einmal bewusstmachen, was alles mit diesen beiden Wörtern zum Ausdruck kommt. Zunächst bedenken wir das Wort „Kraft“: Da steckt Leben drin. Wo Kraft ist, bewegt sich etwas. Sie sorgt für Fortschritt und Gedeihen. Kraft führt zum Erfolg. Sie lässt uns überwinden, was vor uns liegt oder auf uns lastet. Stellen Sie sich einen Menschen vor, der Kraft hat, körperlich, seelisch und geistig. Er ist gesund und ausgeglichen, kommt mit dem Leben klar, kann mit Konflikten umgehen, anderen Rat geben. Dag Hammarskjöld sagt, dass Gott das alles hat und verschenkt. Wer mit ihm lebt, wird so ein Mensch.
Außerdem hat Gott „Güte“. Das kommt von dem Wort „gut“. Und dazu gehört wiederum ganz viel: Gottes Güte bedeutet Barmherzigkeit und Liebe, Heil und Wohltat. Er ist das Gegenteil vom Bösen, er schafft Frieden und Freude und Glück.
Bei Gott finden wir also alles, was wir uns zutiefst wünschen. Bei ihm kommt unser Herz zur Ruhe, wie Augustin es gesagt hat. Wenn wir Gott haben, wollen wir nichts mehr darüber hinaus, wir sind glücklich.
Anwendung
Das klingt sehr schön und verlockend. Lassen Sie uns also auch dieses auf unser Leben anwenden und fragen, was es konkret bedeutet. Und dabei kommen wir vor allen Dingen auf einen Hinweis: Wir müssen lernen, zweckfrei zu denken und zu leben.
Das tun wir normalerweise nicht, auch nicht, wenn wir in die Stille gehen und beten. Wir fragen uns: Was bringt das Gebet? Wir wollen Ergebnisse und Antworten, Lösungen und Geschenke. Wir sind in der Stille oft zielgerichtet und fragen, was sie bewirkt.
Doch so ist das Gebet im Geiste der „Mütter und Väter des Glaubens“ nicht gemeint, und so kann die Sache mit Gott nicht gelingen, denn wir können nicht über ihn verfügen oder ihn haben. Gott ist kein Gegenstand, er funktioniert nicht nach unseren Vorstellungen und tut auch nicht unbedingt das, was wir wollen. Wenn das so wäre, wäre er nicht mehr Gott, jedenfalls nicht der Gott, den Dag Hammarskjöld am Anfang mit „Du“ anredet. Denn er ist frei und unverfügbar, souverän und von nichts abhängig. Er gehört uns nicht, wir gehören vielmehr Gott. Er verfügt über uns, wir sind „unter seiner Hand“.
Erst wenn wir das erkennen und einsehen und uns danach richten, kehrt Ruhe ein. Wir fragen nicht mehr nach Antworten und Ergebnissen, weil wir gefunden haben, was wir suchen. Wir kommen zu uns selber und sind zufrieden. Wir sind ruhig und offen und bereit für die Menschen. Wir empfangen Gottes „Kraft und Güte“.
Wenn Sie also während der Stillen Zeit an Ergebnisse denken, an die Aufgaben und Menschen, die Ihnen begegnen, dann lassen Sie einfach alles auf sich zukommen. Lassen Sie sich überraschen, seien Sie neugierig. Planen Sie nichts, nehmen Sie sich nichts vor, erwarten Sie gar nichts. Das Leben wird nicht an Ihnen vorübergehen, es wird Sie vielmehr umarmen und mitreißen. Es wird heller, Konflikte lösen sich auf, und „Kraft und Güte“ kehren ein.
Genießen Sie in der Stillen Zeit also den Augenblick und lassen Sie sich davon beschenken. Gott ist nicht nachher bei Ihnen, sondern jetzt. Er lebt auch nicht in der Erinnerung, sondern immer und überall ist er gegenwärtig, wo Sie gehen und stehen. Er erwartet Sie schon, er ist immer schon da, bevor Sie an ihn denken. Sie können ihn also in jedem Augenblick spüren und erleben.
Das ist nicht ganz einfach, wir sind mit unseren Gedanken meistens nicht in der Gegenwart, denn sie entzieht sich unserem Zugriff. Es gelingt auch immer nur kurz, dass wir den Moment zu fassen kriegen, das wahrnehmen, was jetzt gerade ist. Aber solche Momente sind dichter und wertvoller als alles andere. Sie sind hell und einfach. Und sie wirken ganz von alleine, sie strahlen in Ihr Leben und durch Sie hindurch und verleihen ihm Glanz. Sie sind sehr nachhaltig, wie man so treffend sagt. Und es können mit der Zeit immer mehr werden, dafür wird Gott selber sorgen.
Literatur:
– Dag Hammarskjöld, Zeichen am Weg, Das spirituelle Tagebuch des UN-Generalsekretärs, Überarbeitete Neuausgabe herausgegeben von Manuel Fröhlich, Stuttgart, 2. Auflage 2012
– Hermann J. Benning, Dag Hammarskjöld, Leben und Profil, München, 2. Auflage, 2012
5 Gedanken zu “EINFÜHRUNGEN IN DIE STILLE ZEIT”