Der wahre Gottesdienst

Predigt über Amos 5, 21- 24: Der äußerliche Gottesdienst tuts nicht

Sonntag vor der Passionszeit, 11.2.2018, 9.30 Uhr,
Lutherkirche Kiel

Liebe Gemeinde.

„Mir reichts!“ „Ich kanns nicht mehr hören!“ „Ich hab die Nase voll!“ Solche Sätze sagen wir zwar nur selten, wir denken das aber durchaus gelegentlich. Wenn ein anderer oder eine andere uns z.B. immer nur die Ohren voll jammert, gar nicht zuhört und sich gedanklich auch nicht bewegen will. Ein- zweimal gehen wir vielleicht darauf ein, aber wenn sich gar nichts ändert, haben wir irgendwann keine Lust mehr. Als gut erzogene Menschen wahren wir natürlich meistens die Höflichkeit und werden nicht laut und wütend, aber innerlich ärgern wir uns schon. Menschen, die sich ständig um sich selber drehen, sind ermüdend. Sie nerven und langweilen uns, denn es kommt immer dasselbe. Wir gehen zu ihnen auf Distanz.

In vielen Beziehungen ist das ja zum Glück gut möglich. Als Geschäftsmann oder –frau können wir uns solche Kunden z.B. vom Hals halten und das Verhältnis beenden. In persönlichen Verbindungen, wie z.B. einer Ehe, ist das schon schwieriger. Da halten wir den Partner bzw. die Partnerin möglicher Weise jahrelang aus, aber irgendwann kommt es doch zum Streit. Eines Tages entlädt sich der ganze Frust.

Im Buch des Propheten Amos finden wir solche Vorgänge ebenfalls. Es gibt dort ein paar Stellen, die enthalten sehr heftige, emotionsgeladene Worte des Ärgers und der Abscheu. Sie sind gegen das Volk Israel gerichtet, oder genauer gesagt, gegen seine Oberschicht. Unser Predigttext ist eins davon. Er steht bei Amos im 5. Kapitel und lautet folgendermaßen:

Amos 5, 21- 24

21 Ich bin euren Feiertagen gram und verachte sie und mag eure Versammlungen nicht riechen.
22 Und wenn ihr mir auch Brandopfer und Speisopfer opfert, so habe ich kein Gefallen daran und mag auch eure fetten Dankopfer nicht ansehen.
23 Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder; denn ich mag dein Harfenspiel nicht hören!
24 Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.

So spricht Amos, und das klingt schon sehr zornig. Es ist allerdings nicht der Mensch Amos, der sich hier ärgert und wütend wird, sondern Gott. Der Prophet sagt, was Gott denkt, und was er ihm aufgetragen hat. Gott war also erbost, und zwar aus folgendem Grund:

Zur Zeit des Propheten Amos herrschte ein relativer Wohlstand in Israel. Es gab gerade keinen Krieg, Israel hatte Ruhe und es ging ihm gut. Doch das betraf leider nur einen Teil der Bevölkerung. Im Innern lag vieles im Argen, denn die Reichen unterdrückten die Armen. Sie nutzen sie aus und ließen sie hohe Abgaben bezahlen. Die Wohlhabenden dachten nur an sich selber und ihren eigenen Vorteil.

Deshalb hasste Gott ihre Gottesdienste. Sie waren in seinen Augen nichts als Heuchelei und Theater, und das klagt Amos hier an. Dabei drücken die Wörter, die hier stehen, Abscheu und Widerwillen aus. Amos lässt seine Landsleute wissen, dass Gott diese Veranstaltungen so nicht mehr wollte. Es wurden zwar Opfer gebracht, aber dabei schien es mehr um das anschließende Verspeisen der fetten Opfertiere zu gehen. Das war bei diesen Festversammlungen jedenfalls üblich. Doch das alles verschmähte Gott jetzt.

Seine Reaktion auf Opfer war normaler Weise, dass er sie gerne „roch“, wie es in der Bibel an anderen Stellen heißt, (1. Mose 8,21 u.a.) und „Gefallen daran hatte“. (Ps.51,21 u.a.) Gott ließ sich dadurch befriedigen und nahm die Gaben eigentlich gerne an. Doch das tut er hier alles nicht mehr. Im Gegenteil, er konnte die Opfer nicht mehr „riechen und wollte sie nicht ansehen“, wie es wörtlich heißt. Auch für die Musik bei diesen Festen empfand er nichts als Verachtung. Der Gesang war in seinen Ohren „Geplärr“. Da nützte auch das „Harfenspiel“ dazu nichts. Sie sollten das alles „wegtun“ und damit endlich aufhören.

Stattdessen sollten das „Recht und die Gerechtigkeit“ wieder einkehren. Amos meint damit eine faire Rechtsprechung, aber auch allgemein das Richtige und Gebührende. Es schließt die barmherzige Liebe mit ein, also alles, was das Heil und Wohlergehen der ganzen Gesellschaft fördert.

Das war nicht mehr da, es wurde mit Füßen getreten, und dadurch waren die Gottesdienste leere Rituale. Wo der Wille Gottes nicht mehr das Leben und die Gesellschaft prägt und formt, da muss man sich auch nicht zum Gottesdienst versammeln. Es geht Gott ja nicht um die Lieder und den Kultus, sondern um das Heil aller und die Liebe, die zu „Recht und Gerechtigkeit“ führt.

Und wie das wieder Einzug halten kann, beschreibt Amos mit einem sehr schönen Bild: Es sollte „heran rollen wie Wasser und fließen wie ein kräftiger Bach“. Er stellt sich das Recht also als eine Kraft vor, die in die Gesellschaft strömt und sie neu belebt. Es hat Dynamik, die etwas verändert und neues Leben schafft. Es ist eine Energiezufuhr, die „nie versiegt“.

Man nennt diese und ähnliche Stellen die „Kultkritik“ des Propheten Amos, denn er kritisiert hier die religiöse Praxis und erinnert daran, was Gott eigentlich von den Menschen wollte. Genützt hat das leider nicht viel. Es hat sich auf Grund dieser Predigt nichts verändert, die Warnungen wurden missachtet. Vielleicht waren sie auch zu zornig und emotionsgeladen. Auf so etwas reagiert man nur selten, man geht lieber auf Distanz.

Und möglicherweise geht uns das genauso. Wollen wir das hier hören? Und sollen wir diese Kritik auf unsere Gottesdienste anwenden? Damit haben wir wahrscheinlich Schwierigkeiten, denn die sind doch gar nicht so schlecht. Wir meinen es schon ernst und kommen hier zusammen, weil wir an Gott glauben. Wir hören gerne die Worte der Bibel, beten und singen und empfangen seinen Segen. Wir bringen ja auch keine Opfer dar, und erst recht halten wir keinen anschließenden Festschmaus.

Aber haben unsere Gottesdienste eigentlich etwas mit unserem Alltag zu tun? Das müssen wir uns schon fragen. Passen unser Glaube und unsere Frömmigkeit mit unserem Leben zusammen? Gibt es da eine Übereinstimmung? Das ist hier ja das Thema, und das betrifft uns schon. Denn wir haben doch oft das Gefühl, dass wir sonntags etwas anderes machen, als alltags. In unseren Lebensvollzügen kommt der Glaube nicht unbedingt vor, und wir fragen uns manchmal, wie wir zwischen diesen beiden Bereichen eine Verbindung herstellen können.

Und das ist auch wichtig, denn nur wenn unsere Gottesdienste auch unser Leben enthalten, und anders herum die Gottesdienste unsere Lebensführung beeinflussen, ist es so wie Gott es sich wünscht. Er will auch von uns keine bloßen Rituale oder die Pflege von eingefahrenen Traditionen, sondern einen lebendigen Glauben, der alles einbezieht, das Handeln und Reden, unser Verhalten und unsere Beziehungen. Er fragt auch uns, wie viel Liebe in unserem Leben vorkommt, ob wir seine Gerechtigkeit ernst nehmen und sein Heil empfangen. Lassen Sie uns also zunächst in unser Leben schauen und erforschen, wie es damit aussieht.

Dafür sollten wir so ehrlich wie möglich sein und uns fragen, ob wir nicht auch am liebsten an uns selber denken. Andere Menschen nerven uns mit ihrem egozentrischen Verhalten, aber sind wir so viel besser? Wie beweglich sind wir eigentlich? Dreht sich bei uns nicht auch oft alles um unseren eigenen Vorteil?

Diese Frage müssen wir beantworten, und dafür ist es gut, wenn wir die Konfliktsituationen, in die wir hineingeraten, einmal unter die Lupe nehmen. In irgendeiner Form geht es da immer um Kritik, und die hört niemand von uns gerne. Sie trifft und verletzt uns, denn meistens sind wir überzeugt davon, dass wir schon das Richtige tun und denken.

In der Erziehung kann das so sein, in unserem Umgang mit anderen Familienangehörigen, im Kollegenkreis, bei Geschäften: Wir vertrauen in all diesen Bezügen gerne auf unsere eigenen Wertvorstellungen und unsere Erfahrungen. Natürlich spielen auch Wünsche und Pläne eine Rolle, was uns Spaß macht und wobei wir uns wohlfühlen. Doch das kann leicht mit den Vorstellungen der anderen kollidieren, sie wollen nicht dasselbe wie wir und kommen zu abweichenden Urteilen. Und dann entstehen Uneinigkeit und Streit. Möglicherweise können wir uns noch eine Weile behaupten, aber irgendwann droht die Eskalation. Es kommt zu Vorwürfen und Verletzungen. Dabei fällt es wie gesagt meistens schwer, sich für das zu öffnen, was ein anderer oder eine andere an uns kritisiert. Wir haben auch Angst davor, denn worauf sollen wir uns verlassen? Was trägt uns noch, wenn nicht unsere eigenen Wertvorstellungen?

Diese Frage tut sich auf, und sie kann dazu führen, dass wir aus einer Beziehung aussteigen. Auf jeden Fall kommt zu Distanz, und das ist auch erst mal nicht schlecht. Doch natürlich droht dann auch immer eine Trennung, und das wollen wir oft nicht. Manchmal geht es auch gar nicht, am Arbeitsplatz sind wir z.B. darauf angewiesen, mit den anderen irgendwie klar zu kommen.

Es ist deshalb gut, wenn wir eine neue Kraftquelle finden, einen tieferen Grund, etwas, das uns auffängt und trägt, wenn wir in Frage gestellt werden. Und genau das kann der Glaube an Gott leisten. Wir brauchen die lebendige Erfahrung der Gegenwart Gottes, seines Heils und seiner Liebe. Dann können wir uns selbst relativieren und unsere Vorstellungen auflockern. Wir sind nicht mehr so auf die eigenen Wünsche fixiert und vertrauen nicht mehr ausschließlich auf die eigene Urteilskraft. In der Gegenwart Gottes können wir uns loslassen. Die starke Bindung an das, was wir meinen, ist normalerweise wie ein Damm, durch den der Wille Gottes nicht hindurchfließen kann. Den müssen wir löcherig machen oder besser ganz abreißen, dann empfangen wir seine Kraft.

Das wollte auch Amos erreichen, doch leider sind seine Warnungen und Apelle – wie gesagt – unbeachtet verhallt. Es ist deshalb gut, dass Gott selber einen Sinneswandel vollzogen und seinen Zorn fahren lassen hat. Er hat sich beruhigt und sich der Menschheit angenommen. In seinem Sohn Jesus Christus ist er selber erschienen und zu uns gekommen, und er hat damit eine neue Zeit heraufgeführt.

Dabei ist es sehr schön, dass wir das Bild aus unserem Prophetenwort bei Jesus wiederfinden. Im Johannesevangelium hat er genau damit einmal seine Sendung beschrieben, denn er hat gesagt: „Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke! Wer an mich glaubt, wie die Schrift sagt, von dessen Leib werden Ströme lebendigen Wassers fließen“. (Joh. 7,37b.38) Bei Jesus finden wir diesen kraftvollen Strom des Heils und der Liebe. Er will uns das Wasser geben, das unser Leben verändert. Wir müssen nur zu ihm kommen und es trinken.

Und genau dafür können unsere Gottesdienste gut sein. Die Lieder und Gebete, die Lesungen und die Verkündigung schließen uns an diese Kraftquelle an, sodass wir die Chance haben, uns innerlich zu erneuern. Wir können uns hier geistig und seelisch neu ausrichten und unseren Glauben auffrischen. Wir werden von uns selber befreit und empfangen die Liebe Christi. Und dadurch lösen sich auch die Konflikte, die uns zu schaffen machen, denn wir können unsere Mitmenschen und das, was sie uns sagen, viel besser annehmen.

Wenn wir unsere Gottesdienste in diesem Bewusstsein feiern, gehören sie ganz von selber mit unserem Leben zusammen, und unser Leben kommt darin vor. Auch Gott hat daran dann Gefallen, denn so sind sie ein Ausdruck für Freiheit und Vertrauen, ein Fest seiner Liebe und eine Vergewisserung des Heils, das er uns schenkt.

Lassen Sie uns deshalb darauf achten, dass wir immer wieder „aufwachen“, uns in Einheit „versammeln“ und uns mit „Glaubenshoffnung“ und „Liebesglut“ ausrüsten lassen. So ist es in dem Lied „Sonne der Gerechtigkeit“ formuliert, mit dem wir um das alles jetzt bitten wollen. (Evangelisches Gesangbuch Nr. 263)

Amen.

 

Die Kraft Christi ist in den Schwachen mächtig

Predigt über 2. Korinther 12, 1- 10: Offenbarungen des Herrn und die Schwachheit des Paulus

2. Sonntag vor der Passionszeit, Sexagesimae, 4.2.2018, 9.30 Uhr, Lutherkirche Kiel

2. Korinther 12, 1- 10

1 Gerühmt muss werden; wenn es auch nichts nützt, so will ich doch kommen auf die Erscheinungen und Offenbarungen des Herrn.
2 Ich kenne einen Menschen in Christus; vor vierzehn Jahren – ist er im Leib gewesen? Ich weiß es nicht; oder ist er außer dem Leib gewesen? Ich weiß es auch nicht; Gott weiß es –, da wurde derselbe entrückt bis in den dritten Himmel.
3 Und ich kenne denselben Menschen – ob er im Leib oder außer dem Leib gewesen ist, weiß ich nicht; Gott weiß es –,
4 der wurde entrückt in das Paradies und hörte unaussprechliche Worte, die kein Mensch sagen kann.
5 Für denselben will ich mich rühmen; für mich selbst aber will ich mich nicht rühmen, außer meiner Schwachheit.
6 Und wenn ich mich rühmen wollte, wäre ich nicht töricht; denn ich würde die Wahrheit sagen. Ich enthalte mich aber dessen, damit nicht jemand mich höher achte, als er an mir sieht oder von mir hört.
7 Und damit ich mich wegen der hohen Offenbarungen nicht überhebe, ist mir gegeben ein Pfahl ins Fleisch, nämlich des Satans Engel, der mich mit Fäusten schlagen soll, damit ich mich nicht überhebe.
8 Seinetwegen habe ich dreimal zum Herrn gefleht, dass er von mir weiche.
9 Und er hat zu mir gesagt: Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig. Darum will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, damit die Kraft Christi bei mir wohne.
10 Darum bin ich guten Mutes in Schwachheit, in Misshandlungen, in Nöten, in Verfolgungen und Ängsten um Christi willen; denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark.

Liebe Gemeinde.

„Himmelhoch jauchzend, / zu Tode betrübt; / glücklich allein / ist die Seele, die liebt.“

So lässt Goethe die Geliebte des Grafen Egmont, Clärchen, in dem gleichnamigen Drama sprechen. Sie rechtfertigt damit ihre Liebe zu ihm, die z.B. von ihrer Mutter gar nicht gutgeheißen wurde, denn Clärchen war längst mit jemand anderem verlobt. Aber gegen das starke Gefühl der Liebe zu Egmont kam nichts in ihrem Inneren an. Sie konnte und wollte nicht von dem Grafen lassen, ganz gleich, wie gut oder schlecht es ihr damit ging, wie viele Gedanken sie verursachte, wieviel „Hangen und Bangen“, diese Liebe mit sich brachte, ob sie nun „Freude oder Leid“ bedeutete.

Der Vers von Goethe ist zum geflügelten Wort geworden, denn diese Gegensätze im Gefühl und im Erleben, Stimmungsschwankungen, Höhen und Tiefen kennt jeder und jede. In unserem Wochenlied „Herr, für dein Wort sei hoch gepreist“ (Evangelisches Gesangbuch Nr. 196) ist ebenfalls von „Lieb und Leid, […] Freud Schmerz“ die Rede. Sie gehören zu unserem Dasein wie Lachen und Weinen, Verlieren und Finden, Streit und Friede. (vgl. Prediger 3) Bei den einen sind sie stärker, bei anderen schwächer ausgeprägt.

Der Apostel Paulus war offensichtlich ein Mann, der extrem starke Gegensätze in seinem Leben erfahren hatte. Das geht aus dem Abschnitt im zweiten Korintherbrief hervor, den wir vorhin als Epistel gehört haben. Paulus spricht hier über sich selbst, und zwar verteidigt er sich. Denn es gab in Korinth schwere Vorwürfe gegen ihn: Feigheit und mangelnde Wortgewalt, Unaufrichtigkeit, Herrschsucht und offenkundige Krankheit, mit solchen und ähnlichen persönlichen Verleumdungen versuchten seine Gegner, die apostolische Autorität des Apostels zu untergraben. Was sie inhaltlich dazu bewegte, lässt sich nicht eindeutig sagen, klar ist nur, dass sie einen anderen Jesus und eine andere Heilsbotschaft verkündeten als Paulus. Und offensichtlich rühmten sie sich mit visionären Erlebnissen, tiefer geistlicher Erkenntnis und ekstatischer Zungenrede. Von einem Apostel erwarteten sie ebenfalls solche Offenbarungen, sonst würde Paulus nicht erwähnen, dass er das alles aus eigener Erfahrung kennt.

Er spricht zwar in der dritten Person, aber er meint sich selber mit dem Menschen, „der entrückt wurde in das Paradies und unaussprechliche Worte hörte, die kein Mensch sagen kann.“ Er „rühmt sich“ also damit, dass er himmlische Begnadigungen ganz einzigartiger und überschwänglicher Art empfangen hatte. Der Herr hatte ihn dessen gewürdigt. Paulus wusste sich zu den erwählten Gottesmenschen gehörig, die Unsagbares erfahren dürfen. Davon gab es in der jüdischen und griechischen Tradition durchaus noch andere.

Gleichzeitig will Paulus diese Erlebnisse aber nicht überbewerten. Er will sich darauf nicht berufen, wenn es um seine Autorität als Apostel geht. Denn das Ekstatische ist seiner Meinung nach immer eine Ausnahme und bildet auch nicht die Grundstruktur seines Glaubens. Vor allem waren die Visionen nicht Gegenstand der gemeindebildenden Verkündigung. Diese hatte vielmehr den gekreuzigten und auferstandenen Christus zum Inhalt. Besondere ekstatische Erfahrungen sind demnach auch nicht das Fundament der Kirche.

Im weiteren Verlauf seiner Selbstverteidigung spricht er deshalb über das genaue Gegenteil dieser himmlischen Erlebnisse: von einem „Pfahl im Fleisch“, den er „des Satans Engel“ nennt, und „der ihn mit Fäusten schlägt“. Paulus litt also offensichtlich unter einer schmerzhaften Krankheit. Welche das war, wissen wir nicht, sie hat ihn aber sehr gequält. „Ihretwegen hat er dreimal zum Herrn gefleht, dass sie von ihm weiche“, aber das ist nicht geschehen. Das Leben von Paulus war dadurch von sehr viel Schwäche gekennzeichnet.

Er hatte im vorhergehenden Kapitel auch schon über weitere Leiden geschrieben und „Gefangenschaften, Schläge“ und „Todesnöte“ erwähnt. Auf seinen Reisen war er zudem oft „in Gefahr“, es gab viel „Mühe und Arbeit, Hunger und Durst, Frost und Blöße“. Dazu kam, was „täglich auf ihn einstürmte, und die Sorge für alle Gemeinden.“ Das Leben des Paulus war demnach zwischen den höchsten Höhen und den tiefsten Tiefen gespannt. „himmelhoch jauchzend, / zu Tode betrübt;“ Paulus kannte das beides sehr gut.

Doch wie hat er das ausgehalten? Worin lag für ihn die Lösung dieser Spannung, der Ausgleich der Gegensätze? Darüber legt er hier sein eigentliches Zeugnis ab, denn das ging nur durch die Gnade Christi. Im Gebet hat Christus zu ihm gesagt: „Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“ Durch dieses Wort Christi konnte Paulus seine Ekstasen abwerten und seine Leiden annehmen. Er hat die Nöte sogar als notwendig betrachtet, denn er wusste: Die göttliche Kraft gehört mit der Schwachheit des Menschen zusammen, sie vollendet sich erst in dieser. Vor dem dunklen Hintergrund des menschlichen Leidens hebt sich ab, was Gnade ist und wirkt. Paulus hat begriffen, dass er der demütige Diener Christi bleiben soll, und dass ihn die Probleme und Krankheit vor jeglichem religiösen Hochmut oder falschen Selbstruhm bewahrten. „Darum bin ich guten Mutes, denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark.“ Das ist seine Schlussfolgerung: Die Gnade allein genügt, sie gleicht alle Gegensätze aus, durch sie löst sich die Spannung des Lebens. Eine Befreiung vom Leid oder religiöse Ekstasen sind nicht nötig. Im Gegenteil: Paulus nimmt eine Umwertung vor und rühmt sich am meisten seiner Schwachheit, denn er weiß, wo diese ist, wird erst recht die Kraft Christi sein. Sie wird in der Schwachheit seines Dieners triumphieren und ihn zum Träger und Zeugen der Gnade machen, die zugleich göttliche Lebensmacht ist.

Und das ist auch für uns eine gute Botschaft, denn wir denken gerne, dass Gottes Gnade darin besteht, dass wir übernatürliche Hilfe erfahren. Und wir fänden es sicher bemerkenswert, wenn wir Visionen und Ekstasen erleben würden. In vielen Kreisen gelten sie auch als Ziel des religiösen Strebens und als Weg zur Erlösung. „Freudvoll und himmelhoch jauchzend“ ist viel attraktiver, als „leidvoll und zu Tode betrübt“ zu sein.

Möglicher Weise zweifeln wir sogar an unserem Glauben, wenn unser Leben nicht glänzt. Den Glauben anderer finden wir ebenfalls nur dann überzeugend, wenn er durch besondere Zeichen erkennbar ist, denn wir messen uns und unsere Mitmenschen gerne an den Erfolgen. Eine kümmerliche Ausstrahlung beeindruckt uns nicht. Auch die Kirche sollte am liebsten mit großartigen Ereignissen auftrumpfen können, mit vollen Gotteshäusern, starken Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, blühender Mission. Wenn das alles fehlt, verzagen wir.

Doch diese Haltung kritisiert Paulus hier. Denn die Wirkung der Gnade Gottes lässt sich nicht am Äußeren messen. Es gibt überhaupt keinen erkennbaren Maßstab für ein erfolgreiches Christentum, keine Garantie für die Echtheit des Glaubens. Solche und ähnliche Gedanken und Wünsche verhindern sogar das Wirken der Gnade Christi, das „Aufgehen der Saat“.

Dieses Bild kommt in dem Gleichnis vor, das wir gehört haben. (Lukas 8, 4-15) Dort war davon die Rede, wie schwer es ist, die frohe Botschaft anzunehmen und dabei zu bleiben, d.h. die Gnade zu empfangen, wirklich zu glauben und „selig zu werden“. Zur der „Zeit der Anfechtung fallen viele ab“. Auch „Sorgen, Reichtum und Freuden des Lebens“ können die Gnade „ersticken“. Wir müssen Christus „in einem feinen, guten Herzen bewahren“, und uns in „Geduld“ üben, nur dann „bringen wir Frucht“.

Lassen Sie uns also fragen, wie wir zu dieser Haltung kommen können. Dazu gehört es als erstes, dass wir in unser Leben und in uns selber schauen und dabei so ehrlich wie möglich sind. Das ist nicht ganz einfach, denn vor vielen Vorgängen in unserer Seele, vor Sorgen und Problemen verschließen wir lieber die Augen. Keiner und keine möchte gerne leiden, schwach oder unvollkommen sein. Fehler und Schwierigkeiten geben wir nur ungern zu. Das Schöne und Positive ist uns lieber. Davon gibt es natürlich bei jedem und jeder etwas, wir sind keine schlechten oder unglücklichen Menschen. Aber es ist wichtig, dass wir uns ganz wahrnehmen und alles spüren, was in uns und in unserem Leben geschieht. Denn auch wir vereinen beides, Gutes und Schlechtes, Hass und Liebe, Klagen und Tanzen. Es ist nicht ratsam, wenn wir nur die eine Seite betrachten und erstreben, denn das Schwere lässt sich nicht auslöschen. Es gilt deshalb, dass wir beides relativieren und nichts überbewerten. Unser Heil entsteht nicht dadurch, dass es nur noch die schönen Seiten gibt, sondern dadurch, dass wir unser Leben annehmen. Alles hat seine Zeit“, das wusste auch schon der Prediger Salomo im Alten Testament. (Kap. 3) Wenn wir das beherzigen, ergibt sich eine Lösung auf einer ganz anderen Ebene als wir ahnen.

Denn auch zu uns spricht Christus Worte der Liebe, wir müssen nur zu ihm beten. Das hat Paulus getan. Er hatte eine persönliche Beziehung zu Christus und stand in einem Dialog mit ihm. Und sein Gebet bestand nicht nur darin, dass er etwas sagte und seine Wünsche vortrug, er hat vielmehr hingehört und etwas empfangen. Christus hat sich offenbart und ihm eine Deutung für sein Leiden gegeben, so dass Paulus sich selber loslassen konnte. Und das ist auch für uns entscheidend, dass wir unsere Gedanken und Wünsche loslassen und Christus in unser Leben hineinlassen.

Dann kann er in uns wirken. Er gibt uns neue Kraft, er verändert uns und führt uns weiter. Durch ihn bringen wir Frucht, vielleicht ohne dass wir das merken.

So war es schon immer. Es gibt in der Kirchengeschichte keine Gestalt, die eindeutig Gott wohl gefällig war und nur geglänzt hat. Ganz gleich, an wen wir denken, sie hatten alle ihre Licht- und Schattenseiten. Martin Luther ist dafür ein Beispiel, aber auch Heilige wie Franz von Assisi oder Mutter Teresa. Wir wissen um ihren starken Glauben, ihr Gottvertrauen und ihre Strahlkraft. Aber sie hatten ebenfalls dunkle Seiten: So hatte Martin Luther offensichtlich einen sehr schwierigen Charakter und war nicht nur von Liebe und Vertrauen, sondern auch von viel Groll, Hass und Bitterkeit erfüllt. Franz von Assisi pflegte eine extreme Feindschaft gegenüber seinem eigenen Leib. Und von Mutter Teresa wissen wir inzwischen, dass sie jahrelang schwerste Depressionen hatte. Trotzdem hat Christus durch sie und viele andere Großartiges bewirkt. Er hat seine Kirche trotz aller menschlichen Schwäche und gerade durch sie gebaut und erhalten. Denn „seine Gnade ist in den Schwachen mächtig“. Keiner und keine von uns muss ein perfekter Christ oder eine perfekte Christin sein. Das gibt es gar nicht. Es gibt aber die Gegenwart und Kraft Christi, die zu allen Zeiten bis heute wirkt. Denn Christus sucht sich immer wieder Menschen, die ganz von ihm her leben und ihn bezeugen können.

Bei Goethe ist die Liebe die Kraft, durch die Clärchen die Spannung zwischen „himmelhoch jauchzend“ und „zu Tode betrübt“ ertragen hat. Die Liebe hat sie über alle Schwankungen des Herzens hinweg glücklich gemacht. Und diesem Gedanken folgen wir gern. Denn wir können alle bezeugen, dass die Liebe in der Tat eine seelische Regung mit großer Wirkung ist. Der Hinweis darauf ist die weise Antwort des Humanismus auf die Gegensätze des Lebens.

Doch darüber hinaus gibt es noch mehr, denn größer als unsere menschliche Liebesfähigkeit ist die Liebe Christi, die jeden Zwiespalt überwindet, die uns erlöst und „tröstet“. Er meint es gut mit uns und „hält uns väterlich in seinen Armen“. So hat es Samuel Rodigast 1675 in seinem Lied „Was Gott tut, das ist wohlgetan“  formuliert. (Evangelisches Gesangbuch Nr. 372) In der Nähe Christi und durch seine Treue „weichen alle Schmerzen“. Wir sind eingeladen, Gott „walten“ zu lassen, uns ihm zu „ergeben“ und „in Freud und Leid“ bei ihm zu „bleiben“. Dann wird „seine Gnade in unserer Schwachheit mächtig“.

Amen.