Das Wort vom Kreuz

Predigt über 1. Korinther 1, 18- 25: Die Weisheit der Welt ist Torheit vor Gott

5. Sonntag nach Trinitatis, 26. Juni 2016, 11 Uhr
Jakobikirche Kiel

Der Gottesdienst fand mit und für die Evangelische Jugend Kiel-Mitte statt, d.h. die Lieder, die Übersetzung der Bibeltexte, Gebete und auch die Predigt waren auf jüngere Menschen ausgerichtet.

1. Korinther 1, 18- 25

18 Die Botschaft vom Kreuz erscheint denen, die verloren gehen, als eine Dummheit. Aber wir, die gerettet werden, erfahren sie als Kraft Gottes.
19 Denn in der Heiligen Schrift steht: »Ich will die Weisheit der Weisen auslöschen und von der Klugheit der Klugen nichts mehr übrig lassen.«
20 Wo sind jetzt die Weisen? Wo die Schriftgelehrten? Wo die wortgewaltigen Redner unserer Zeit? Hat nicht Gott die Weisheit dieser Welt als Dummheit entlarvt?
21 Obwohl sich die Weisheit Gottes in dieser Welt zeigt, hat die Welt mithilfe ihrer eigenen Weisheit Gott nicht erkannt. Deshalb hat Gott beschlossen, mithilfe einer Verkündigung, die als Dummheit erscheint, alle Glaubenden zu retten.
22 Die Juden wollen Zeichen sehen. Die Griechen streben nach Weisheit.
23 Wir dagegen verkünden Christus als Gekreuzigten: Das erregt bei den Juden Anstoß und für die Heiden ist es reine Dummheit.
24 Doch für alle, die Gott berufen hat – ob es Juden sind oder Griechen –, ist Christus Gottes Kraft und Gottes Weisheit.
25 Denn was an Gott als dumm erscheint, ist weiser als die Menschen. Und was an Gott schwach erscheint, ist stärker als die Menschen.

(Basisbibel)

Liebe Gemeinde.
Wir müssen ständig Entscheidungen treffen, große und kleine, wichtige und unwichtige. An den Wendepunkten unseres Lebensweges geht es um viel, wenn wir z.B. einen Beruf und einen Lebenspartner oder eine Lebenspartnerin wählen. Aber auch im Alltag gibt es dauernd mehrere Möglichkeiten: Was wir essen, was wir kaufen, wo wir Urlaub machen, wie fleißig wir sind, mit wem wir uns verabreden usw., all das müssen wir uns fragen. Und um die richtige Entscheidung zu treffen, müssen wir „unterscheiden“ – nicht umsonst ist dieses Wort eng mit dem Wort „entscheiden“ verwandt – und uns eventuell von etwas „verabschieden“, auch das steckt in dem Wort. Und das ist nicht so leicht. Wie gehen wir also vor? Dafür gibt es mehrere Möglichkeiten:
Die einen benutzen ihren Verstand und ihre Klugheit. Sie lesen Bücher, denken nach und beraten sich mit anderen. Das ist der schwere und gründliche Weg. Oft machen wir es uns aber auch leichter und tun das, was alle anderen auch machen. Wir folgen den Traditionen und guten Sitten, den Gesetzen und Gewohnheiten. Und am einfachsten machen wir es uns dann, wenn wir der Lust und unseren Gefühlen nachgeben und spontan das tun, was uns gerade gefällt.
Zwei von diesen Möglichkeiten kommen auch in unserer Epistel von heute vor, denn Paulus nennt hier zwei Menschengruppen, die Griechen und die Juden. Die Griechen sind für ihn ein Beispiel für die, die aus Weisheit und Klugheit heraus handeln. Die Juden vertreten diejenigen, die sich an Gebote und Traditionen halten. Beide wissen, wie sie leben wollen, was sie glauben und wonach sie sich richten. Paulus kann das gut nachvollziehen, denn er kennt beide Wege aus eigener Erfahrung.
Allerdings hat er sich sowohl von der griechischen Lebensweise als auch von der jüdischen verbschiedet. Er beschreibt hier, dass er sich jetzt von keinem dieser Denkmodelle mehr leiten lässt, sondern einen neuen Weg beschritten hat. Er hat sich für Jesus Christus entschieden, und dafür hatte er ganz andere Gründe. Diese Entscheidung war unüblich, und zwar so, dass die Griechen sie für dumm und töricht hielten und die Juden für ärgerlich und anstößig. Sie entsprach keinem der bekannten Verhaltensmuster, denn dahinter stand weder eine kluge Lehre noch eine Tradition oder eine Gewohnheit. Sie hatte auch nichts mit Spaß und Lust zu tun.
Im Gegenteil: Paulus folgte dem Gekreuzigten! Auch seine Predigt war die Botschaft vom Kreuz, und das fiel auf und erregte Anstoß. Die Juden fanden das schrecklich und armselig. Denn sie glaubten an die Macht und Größe Gottes. Sie stellten sich einen herrlichen Gott vor, der schön und gewaltig ist, der die Welt fest und sicher in der Hand hält und irgendwann alle Feinde besiegt. Darauf vertrauten die Juden, und dem entsprach der gekreuzigte Jesus in ihren Augen ganz und gar nicht.
Und so ähnlich ging es auch den Griechen. Sie setzten alles auf die Weisheit, schulten ihre Urteilskraft und ihre Einsicht. Sie strebten nach Erkenntnis und Klugheit und versuchten, damit die Welt zu verstehen und die Wahrheit zu erfahren. Deshalb war die Botschaft vom Kreuz für sie nichts anderes als eine große Torheit, ein albernes und unvernünftiges Gerede. Sie hielten die Christen für dumm oder sogar verrückt.
Beide Gruppen konnten mit dem Kreuz Jesu nichts anfangen, denn es stand im krassen Gegensatz zu dem, woran sie glaubten und worauf sie setzten.
Und so geht es bis heute vielen Menschen. Sie möchten sich das Sterben Jesu nicht vorstellen, denn sein ausgezehrter und hässlicher Körper stößt sie ab. Sie können nicht verstehen, warum gerade die Hinrichtung Jesu so wichtig für uns ist und wir ausgerechnet dieses Bild in vielen Kirchen aufhängen. Und auch wenn wir nur das Symbol des Kreuzes ohne den Körper Jesu betonen, lehnen sie das ab.
Möglicher weise geht es euch und Ihnen auch so: Was soll das? Warum ist das Kreuz so zentral für unseren Glauben? Und wie kann es sein, dass Menschen darin Trost finden und Jesus nachfolgen?
In unserer Epistel von heute gibt Paulus darauf eine Antwort, indem er sagt: Jesus nachzufolgen, ist zwar ein ungewöhnlicher Weg, aber wer ihn geht, findet dabei etwas ganz Neues, etwas, das man sonst nirgends findet. Man kann das nicht mit dem Verstand nachvollziehen, und es wird auch niemandem vorgeschrieben, aber das alles zählt bei Jesus auch nicht, und das ist bemerkenswert und wohltuend:
Man muss weder klug noch gut sein. Jesus schreibt uns keine Gebote oder Verhaltensregeln vor. Er liebt uns, so wie wir sind. Er lässt uns nie allein und schenkt uns das, was wir alle suchen umsonst, ohne dass wir darüber nachgrübeln oder uns anstrengen müssen: Rettung und Heil, Erkenntnis und Wahrheit. Wir müssen uns nur für ihn entscheiden, auf seine Stimme hören und ihr folgen. Und da führen uns nicht unsere Klugheit hin, auch kein Gebot und keine Lust, sondern allein das Vertrauen und die Liebe.
Lasst uns also fragen, wie wir Jesus finden und an ihn glauben können. Wie und wo hören wir seine Stimme? Vielleicht folgen wir ihr auch deshalb nicht, weil sie oft so leise ist. Die anderen Stimmen sind lauter und überzeugender.
Deshalb ist es wichtig, dass wir als erstes selber leise werden und in uns hineinhorchen. Jesus spricht nämlich in unserem Inneren zu uns. Das merken wir, wenn wir zu ihm beten, ihn loben und ihm danken. Dann wird er in uns lebendig.
Es ist deshalb wichtig, dass wir das immer wieder tun: In uns gehen, uns nicht ablenken lassen, unbeirrt und wachsam bleiben. Um die Stimme Jesu zu hören und ihr zu folgen, müssen wir mit allem anderen vorübergehend aufhören. Diejenigen, die am liebsten nachdenken, müssen einmal eine Denkpause einlegen. Anstatt nach ihren Gedanken zu handeln, müssten sie sie vorbeiziehen lassen. Sie dürfen ihren Kopf ausruhen. Die anderen, die am liebsten den Traditionen und Gewohnheiten folgen, sollten alles, was sie wichtig finden, einmal hinterfragen und sich für neues öffnen. Sie müssen sich bewegen und etwas wagen. Und für den Fall, dass wir am liebsten unserer Lust folgen, gilt es, das einmal zu kontrollieren und sich in Selbstdisziplin und Zurückhaltung zu üben
Das ist alles natürlich nicht ganz einfach, denn wir handeln so, wie wir es sonst tun, damit es uns gut geht. Egal, wodurch unsere Entscheidungen zu Stande kommen, wir wollen damit das Leid vermeiden, glücklich und gesund sein. Wir suchen Geborgenheit und Sicherheit. Deshalb denken wir nach, folgen dem allgemeinen Trend oder tun, was Spaß macht. Wenn wir diese Verhaltensweisen ändern oder lassen, haben wir zunächst das Gefühl, jetzt geht gar nichts mehr. Vielleicht haben wir auch Angst davor, denn wir sehen das Ergebnis nicht.
Doch das ist tatsächlich nur ein Gefühl. Und wir sollten ehrlich sein: Es gelingt doch sowieso lange nicht immer, dass wir das Glück finden und ein gutes Leben haben. Im Gegenteil, oft werden wir in die Irre geführt. Auch wenn wir noch so klug sind, wir erkennen nie die ganze Wahrheit. Ein Gelehrter weiß noch lange nicht alles über das Leben. Gewohnheiten machen uns unbeweglich und Gesetze starr. Und die Gefühle täuschen uns am ehesten. Es ist auch egoistisch, wenn wir die Lust zu sehr betonen. Letzten Endes macht sie uns einsam, wir bleiben in uns selbst gefangen. Oft verlieren wir also mehr, als wir gewinnen, wir müssen das nur zugeben und klar sehen. Dann sind wir schon viel bereiter, einmal all das loszulassen und stattdessen auf Jesus zu vertrauen.
Wir müssen davor keine Angst haben, auch wenn der Ausgang zunächst ungewiss ist. Denn er enttäuscht uns nicht. Er verspricht uns zwar nicht, dass wir vor dem Leiden verschont werden, und das Leben nur noch schön ist. Aber er hilft uns, auch das Schwere zu tragen. Wenn wir ihm folgen, lernen wir, die Trübsal und die Not in unsrem Leben auszuhalten und sie sogar anzunehmen. Er lehrt uns, zu „unterscheiden“ zwischen dem, was gut und dem was schlecht für uns ist, klarer zu sehen und uns gegebenenfalls auch einmal von etwas zu „verabschieden“, das uns schadet. Durch seine Liebe können wir loslassen, denn Jesus hält uns fest und macht uns stark. An seiner Hand gehen wir sicher, er führt uns den Weg durch das Schwere hindurch, wir müssen ihm nur treu bleiben.
Das ist kein gewöhnlicher Weg, denn normalerweise zählen in unserer Gesellschaft Klugheit und Stärke. Wer etwas leistet, kommt weiter, wer sich anpasst, findet Anerkennung. Wer dagegen schwach oder arm ist, wird schnell an den Rand gedrängt. Wir finden uns ja auch selber schlecht, wenn wir leiden und unser Leben mal nicht glänzt. Aber Jesus will uns genau in diesen Stunden oder Tagen. Dann beachtet er uns mehr, als zu jeder anderen Zeit. Denn er fragt nicht nach unserer Stärke oder Klugheit, sondern nach unserer Schwäche, nach unseren Fehlern und Niederlagen. Er will uns auffangen und mit seiner Gnade und Liebe an uns handeln. Wir müssen ihm das nur zutrauen.
Dann finden wir die Geborgenheit, die wir suchen, alles, wonach wir uns sehnen. Das Leben mit Jesus ist wie eine große Umarmung: Jesus breitet seine Arme aus und nimmt uns an, denn er hat uns unendlich lieb.
Amen.

Die große Einladung

Predigt über Epheser 2, 17- 22: Die Einheit der Kirche

2. Sonntag nach Trinitatis, 5.6.2016, 9.30 und 11 Uhr
Luther- und Jakobikirche Kiel

Epheser 2, 17- 22

17 Und er ist gekommen und hat im Evangelium Frieden verkündigt euch, die ihr fern wart, und Frieden denen, die nahe waren.
18 Denn durch ihn haben wir alle beide in einem Geist den Zugang zum Vater.
19 So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen,
20 erbaut auf den Grund der Apostel und Propheten, da Jesus  Christus der Eckstein ist,
21 auf welchem der ganze Bau ineinander gefügt wächst zu einem heiligen Tempel in dem Herrn.
22 Durch ihn werdet auch ihr mit erbaut zu einer Wohnung Gottes im Geist.

Liebe Gemeinde.
„Heute geschlossene Gesellschaft“, das steht immer mal wieder an der Eingangstür eines Restaurants oder einer Gaststätte. Dann hat die Öffentlichkeit keinen Zutritt. Alle Tische sind für eine bestimmte Feier belegt, eine Hochzeit, eine Konfirmation, ein Geburtstag oder ähnliches. Für Gäste, die spontan dort einkehren wollen, ist kein Platz, und das ist immer etwas ärgerlich.
Für die Geladenen ist es dagegen sehr schön. Man freut sich sowieso, eingeladen zu werden. Es ist ein Privileg, dass man ausgewählt und für würdig befunden wurde. Man steht in der Gunst des Gastgebers oder der Gastgeberin, und das ist nett. Meistens passen die Gäste dann auch zusammen. Sie teilen ähnliche Werte und fühlen sich miteinander wohl.
Auf diesem Hintergrund ist es nun interessant, wie die Auswahl der Gäste im Evangelium erfolgt. Da geht es nämlich ebenfalls um eine Einladung, Jesus selber spricht sie aus, Doch anders als bei unseren Feiern, findet bei ihm keine Vorentscheidung statt. Jesus fragt nicht danach, wie wertvoll ein Mensch ist, ob er zu ihm passt und seine Vorstellungen teilt, er lädt vielmehr „alle“ ein, „die mühselig und beladen sind, er will sie erquicken.“ (Mt.11,28).
So lautet sein „Heilandsruf“, wie diese Stelle im Matthäusevangelium genannt wird, und der ist bemerkenswert. Es gibt bei Jesus keine Bevorzugung, keine Sonderrechte und keine Privilegien. Alle, die möchten, dürfen kommen. Man muss nicht besonders fromm oder klug sein, kein Apostel oder Prophet, keine heilige oder göttliche Person. Der Glaube an Jesus Christus macht alle zu „Mitbürgern und Hausgenossen Gottes“, wie Paulus es in unserer Epistel formuliert.
Sie steht im Epheserbrief, Kapitel zwei und ist heute unser Predigttext. Wir wollen den Abschnitt deshalb jetzt genauer betrachten:
Paulus schreibt hier etwas über die Kirche oder die Gemeinde Jesu, und dafür benutzt er das schöne Bild eines Gebäudes, bzw. einer Wohnung. Es hat ein Fundament, das sind die „Apostel und Propheten“. Auf ihm ruhen die Steine, das sind alle, die das Evangelium gehört und angenommen haben. Durch sie wird „der ganze Bau ineinander gefügt“. In der Spitze des Portals befindet sich ein „Eckstein“ oder auch Schlussstein. Er schließt beide Bögen zusammen und sorgt für den entscheidenden Halt. Das ist Jesus Christus.
So ist die Funktion des Ecksteins an dieser Stelle wahrscheinlich zu verstehen. Das griechische Wort, das hier steht, kann auch einen Quaderstein im Fundament bezeichnen, aber es ist zu vermuten, dass Paulus die Spitze meint. Denn man muss diesen Vergleich parallel zu dem Bild der Gemeinde als „Leib Christi“ betrachten. Das finden wir ebenfalls bei Paulus, und darin ist Christus das Haupt. (Röm. 12,3ff; 1.Kor.12,12ff) Auf jeden Fall sagen beide Bilder aus, dass das ganze Leben der Kirche „in Christus“ geschieht, er ist ihr Ursprung und ihr Ziel zugleich.
Und alle Menschen haben einen Zugang zu diesem Gebäude, Juden und Heiden, „die fern und die nahe waren“. Keiner ist mehr „Gast oder Fremdling“, sondern alle werden zu „Mitbürgern der Heiligen und Gottes Hausgenossen“.
„Sie wachsen zu einem heiligen Tempel in dem Herrn“, wie es am Ende heißt. Wahrscheinlich verschmilzt das Bild hier mit der Vorstellung vom „Leib Christi“. Die Gemeinde „wächst“ von seiner Spitze her und zugleich zu dieser hin. Alle Christen werden zusammen „erbaut zu einer Wohnung Gottes im Geist.“
Das ist hier die Botschaft, und die ist wohltuend. Sie bedeutet, dass die Einladung Christi an alle ergeht. Wer ihm vertraut, gehört dazu, jederzeit und überall. Er muss nichts vorweisen, nichts leisten und keine besonderen Kriterien erfüllen. Alle können kommen und bilden zusammen die christliche Gemeinde.
Doch was sollen wir nun damit anfangen? Hat eine Einladung überhaupt einen Wert, wenn sie ausnahmslos an alle ergeht? Ist es attraktiv, wenn kein Geladener sich durch eine besondere Qualität oder Stellung ausweist? Wir gehören doch gerne zu den Auserwählten und Privilegierten. Wenn eine spezielle Auszeichnung fehlt, ist eine Einladung langweilig.
Außerdem stößt es uns möglicher Weise sogar ab, zu den Gästen Jesu zu gehören, denn er lädt die „Mühseligen und Beladenen“ ein, und die bilden normaler Weise keine besonders angenehme Gesellschaft. Wir zählen uns nur ungern dazu.
Wir wollen viel lieber stark und gesund sein. Auch in die Kirche bringen wir uns am liebsten mit unseren Fähigkeiten und Ideen ein. Wir wollen etwas tun und leisten, damit sie lebt. Sie soll sich schließlich von anderen Organisationen unterscheiden und am besten auffallen. Sie soll glänzen und strahlen, und das kann nur geschehen, wenn wir selber dafür sorgen. Sonst bleibt sie armselig und unbedeutend. So denken wir meistens.
Es ist ein natürliches Denken, das nahe liegt, und insofern ist es zunächst legitim. Wir müssen uns allerdings fragen, was dabei herauskommt. Erzielen wir die gewünschten Ergebnisse? Gelingt es uns, eine lebendige Kirche zu bauen? Und ist die Kirche durch unsere Anstrengungen etwas Besonderes?
Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, dass das kaum der Fall ist. Eigentlich unterscheidet sie sich gerade dadurch kaum noch von weltlichen Organisationen. Denn wo wir uns abstrampeln, setzen dieselben Mechanismen ein, wie überall: Wir stehen unter Leistungsdruck und spielen ganz viel Theater. Wir nehmen die Rolle eines Christen oder einer Christin ein. Dafür gibt es bestimmte Vorgaben, die wir einstudieren: Wir sind freundlich und hilfsbereit, offen und zugewandt. Wir packen an, kümmern und engagieren uns, sind kreativ und fröhlich bei der Sache. Aber ist das alles echt? Das müssen wir uns fragen. Es kann auch künstlich und gewollt wirken.
Und halten wir es durch? Wahrscheinlich nicht, denn irgendwann geht uns die Kraft aus. Wir sind erschöpft und ausgelaugt, werden aggressiv oder missmutig.
Und wir vertragen uns auch nicht immer. Es gibt ja verschiedene Konzepte für eine lebendige Kirche. Welche Schwerpunkte und Prioritäten wir setzen, kann voneinander abweichen. Die einen betonen das Handeln am Nächsten, die anderen das Gebet und die Frömmigkeit. Es gibt auch unterschiedliche Ansichten darüber, ob z.B. lieber die Jugendarbeit oder die Musik gefördert werden soll, wieviel Geld für die Gebäude ausgegeben wird, ob man besser mit der Gemeinde verreist usw. Und da sind wir uns nie alle einig, jeder und jede findet eine andere Idee, ein anderes Projekt am wichtigsten oder interessantesten.
Und verlassen kann man sich auch nicht auf jeden. Das Maß des Engagements ist ebenfalls unterschiedlich. Und das alles führt zu vielen Konflikten und manchmal zum Streit.
So bleibt die Kirche auf Dauer unvollkommen und brüchig. Sie ist kein „heiliger Tempel in dem Herrn“, der schön „zusammengefügt wächst“. Das können wir deutlich an der Realität erkennen. Trotz aller Mühen ist sie armselig, uneins und relativ unbedeutend.
Wir müssen also einen ganz anderen Weg beschreiten, wenn wir eine attraktive Kirche sein wollen, und genau der wird in unsrer Epistel beschrieben.
Entscheidend ist nämlich nicht, was wir einbringen und leisten, entscheidend ist vielmehr die Gegenwart Christi. Er ist der Eckstein, der Grund und das Ziel der Kirche. Durch ihn erhält sie ihren Glanz und ihre Schönheit. Er ist das Merkmal, durch das sie sich von allen anderen Organisationen unterscheidet. Seine Nähe und Liebe sind ihr Inhalt, von ihm bekommt sie ihre Kraft und ihr Leben.
Wir müssen uns also zu allererst und immer wieder in seine Gegenwart begeben. Dazu werden wir aufgefordert. Jesus Christus möchte, dass wir zu ihm zu kommen und an seiner Feier teilnehmen. Es ist ein Fest der Liebe und der Gnade. Und dazu lädt er alle ein, die gerne dabei sein wollen. Er macht keine Unterschiede und er trifft keine Vorauswahl. Jeder, der seinen Ruf hört, darf kommen.
Das wäre demnach das ausschlaggebende: Dass wir seine Einladung annehmen, uns für ihn entscheiden und ihm vertrauen. Und dazu gehört es nicht, dass wir irgendetwas Großartiges leisten, wir sollen vielmehr wir selber sein. Wir müssen nicht vorher glänzen und uns irgendwie ausweisen, wir dürfen mit all unserer Mühsal kommen, mit allem, was auf uns lastet. Die Steine, aus denen die Kirche besteht, sind nicht irgendwelche Projekte und menschliche Taten. Wir müssen keine Steine herstellen. Wir selber sind die Steine. Es geht nicht um das, was wir tun, sondern um das, was wir sind. Wir sollen uns nicht nur mit unseren Ideen einbringen, sondern mit unserem ganzen Leben.
Es gilt, an Jesus Christus zu glauben, sich auf ihn zu gründen, ihn die Grundlage für alles weitere sein zu lassen. Dadurch werden wir zu „Gottes Hausgenossen“, wunderbar „zusammengefügt zu einem heiligen Tempel in dem Herrn“. Das ist das besondere an der Kirche, dadurch strahlt und glänzt sie in wunderbarer Schönheit.
Und das ist keineswegs langweilig oder bedeutungslos. Denn wo gibt es das sonst, dass nicht die Herkunft, Sympathie oder die Fähigkeiten zählen? Wenn eine Einladung an alle ergeht, dann wird sie dadurch nicht wertloser. Im Gegenteil, es ist ganz einmalig, dass niemand ausgeschlossen wird. Es ist eine unerhörte Botschaft, dass allein das Vertrauen entscheidet, ob wir dazu gehören. Anstatt daran zu zweifeln, ob das reicht, sollten wir uns darüber freuen und uns darin üben.
Und das ist immer und überall möglich. Wo wir sind, können wir uns auf Christus gründen, in jeder Lebenslage, morgens, mittags und abends, bei der Arbeit und auf Reisen, zu Hause und in der Natur. Wann immer es uns einfällt, können wir unsren Leistungsdruck ablegen, aus unsrem Rollenverhalten aussteigen und ganz wir selber sein. Denn Christus ist überall und immer da. Es gibt bei ihm keine Grenzen, die Türen zu seiner Gegenwart stehen immer offen. Wir müssen nur hineingehen.
Dann werden wir zu neuen Menschen. Freiheit und Gelassenheit prägen unser Lebensgefühl. Eine ungeahnte Freude erwacht, Zuversicht und Liebe.
Und wenn das so ist, entsteht wunderbarer Weise auch eine ganz neue Einheit. Die Unterschiede werden zweitrangig, es macht nichts, wenn wir verschiedene Prioritäten setzen, denn natürlich gehört alles dazu, was die Menschen einbringen. Anstatt gegeneinander zu konkurrieren oder miteinander zu streiten, achten wir die Ideen der anderen. Wir lassen sie gewähren und freuen uns möglicher Weise sogar daran. Denn was uns eint, sind nicht die Denkansätze und Schwerpunkte im Glauben, sondern die Gegenwart Christi, in die wir alle hineingenommen werden. Sie macht uns gelassen und liebevoll. Und das sind die wichtigsten Merkmale der Kirche, aus solchen Menschen setzt sie sich zusammen.
Denn „wo auch nur zwei zusammenstehn, warten auf sein Vorübergehn, kommt Jesus in ihre Mitte“. Er „kehrt in die ärmste Hütte ein“ und „heiligt“ jedes Haus und jeden Ort „zum Tempel“. So dichtete Otto Riethmüller 1935. (Evangelisches Gesangbuch, Ausgabe füe die Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche, Nr. 576, 3. 4) Und an dem Eingang dieses Tempels hängt kein Schild mit der Aufschrift „geschlossene Gesellschaft“, sondern: „Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.“
Amen.