Bleibt gelassen!

Predigt über Philipper 4, 10- 13: Die Selbstgenügsamkeit des Apostels

17. Sonntag nach Trinitatis, 13.10.2019, 9.30 Uhr,
Lutherkirche Kiel, mit Taufe (Taufspruch: Philipper 4,13)

Philipper 4, 10- 13

10 Ich bin aber hocherfreut in dem Herrn, dass ihr wieder eifrig geworden seid, für mich zu sorgen; ihr wart zwar immer darauf bedacht, aber die Zeit hat’s nicht zugelassen.
11 Ich sage das nicht, weil ich Mangel leide; denn ich habe gelernt, mir genügen zu lassen, wie’s mir auch geht.
12 Ich kann niedrig sein und kann hoch sein; mir ist alles und jedes vertraut: beides, satt sein und hungern, beides, Überfluss haben und Mangel leiden;
13 ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht.

Liebe Gemeinde.

Der Apostel Paulus war ein großer und erfolgreicher Missionar. Er bereiste Syrien, die heutige Türkei und Griechenland und gründete überall christliche Gemeinden. Ohne ihn hätte sich der Glaube an Jesus Christus nicht so schnell ausgebreitet. Und es ist ihm zu verdanken, dass alle Menschen, ganz gleich zu welchem Volk sie gehören, sich Jesus Christus anschließen und zur Kirche gehören können.

Doch natürlich hat Paulus sich damals auch Feinde gemacht, denn die Bekehrten wurden ihrem bisherigen Glauben abtrünnig. Sie verachteten fortan die Tempel ihrer alten Götter. Und diejenigen, die mit der herkömmlichen Religion ihr Geld verdienten oder dadurch eine anerkannte gesellschaftliche Stellung hatten, gerieten in Verruf. In Ephesus gab es aus diesem Grund einmal viel Unruhe. (Apostelgeschichte 19, 23-40) Es entstand ein großer Tumult, so dass am Ende die Ordnungshüter eingriffen und Paulus festnahmen. Auch an anderen Orten ist ihm das widerfahren. Immer wieder wurde er wegen Volksverhetzung und Gotteslästerung angeklagt und gefangen genommen. Seine Gegner wollten der Ausbreitung des Evangeliums damit einen tödlichen Schlag verpassen und dachten, nun hat der Spuk endlich ein Ende.

Doch das war weit gefehlt. Genau das Gegenteil trat ein: Die christliche Mission wurde dadurch sogar gefördert. (Philipper 1,12) Denn die Inhaftierung von Paulus sorgte für Aufsehen, und zwar auch dort, wo er bis dahin noch gar nicht gehört worden war. Außerdem machte das seine Weggefährten „umso kühner, das Wort zu reden ohne Scheu.“ (Philipper 1,14) Das erfahren wir von Paulus selber, denn er nutzte die Zeit im Gefängnis, um Briefe zu schreiben. Auch der Brief an die Philipper ist in der Gefangenschaft entstanden, und da steht am Anfang, dass er seine Fesseln „für Christus trug“. (Philipper 1,13)

Dabei wusste Paulus nicht, wie das alles ausgehen würde. Das Gerichtsurteil stand noch bevor. Darauf wartete er gerade, und das konnte durchaus ein Todesurteil sein. Er hatte also allen Grund zur Sorge und zur Angst, und die Philipper teilten das mit ihm. Sie nahmen Anteil an seinem Schicksal, weil sie ihm viel zu verdanken hatten. Es war eine Gemeinde, mit der er sich ausgesprochen eng verbunden fühlte, seine Lieblingsgemeinde sozusagen. So hatten sie z.B. für ihn gesammelt, denn die offizielle Verpflegungszuteilung für Inhaftierte ließ sehr zu wünschen übrig. Die Gefangenen waren auf die Unterstützung durch Verwandte und Bekannte angewiesen. Die Philipper hatten sich das zu Herzen genommen und eine Kollekte für Paulus organisiert, um ihm zu helfen. (Philipper 4,14-18) Und da er sich mit ihnen besonders verbunden fühlte, nahm er sie auch an. Er war darüber „hoch erfreut“, wie er schreibt.

Damit beginnt der Abschnitt des Philipperbriefes, den wir eben gehört haben. Und mit den Worten, die auf diesen Dank folgen, will Paulus den Philippern dann die Sorge nehmen, die sie sich um ihn machten. Er betont, dass er keinen Mangel leidet, denn er hat gelernt, sich genügen zu lassen. Er ist „autark“, wie es wörtlich heißt, d.h. unabhängig und innerlich frei. Nichts kann ihn erschüttern oder umwerfen, weder die eigenen Emotionen noch das Schicksal. Er ist in die Kunst der Selbstgenügsamkeit eingeweiht. So können weder Hunger noch Sattheit, weder Armut noch Reichtum, weder Gefängnis noch Freiheit seine Existenz im Kern treffen.

Denn die ist von etwas ganz anderem bestimmt: Jesus Christus hat ihn befähigt, allen Anforderungen gewachsen zu sein. Christus ist stark in ihm, er gibt ihm die Kraft zum Verzichten und Entsagen. „Ich vermag alles durch, der mich mächtig macht.“ Das ist sein Bekenntnis. „Sein Glaube war der Sieg, der die Welt überwunden hat.“ (1. Johannes 5, 4c) Er war gelassen und getrost.

Und das hat er natürlich nicht einfach nur als Information verstanden. Er wollte damit ein Vorbild sein und den Philippern Mut machen, sich ebenfalls in Gelassenheit zu üben. Auch sie sollten in Jesus Christus ihre Stärke sehen und sich in allen Lebenslagen auf ihn verlassen. Das ist hier die Botschaft.

Und die ist nach wie vor gültig. Am vergangenen Sonntag gab es dazu im Radio auf NDR-Kultur eine sehr schöne Sendung in der Reihe „Glaubenssachen“. Der Publizist Detlef Kühn hat darin viele Aussagen und Gedanken über „die Kunst des Lassens“ zusammengestellt.( Glaubenssachen 6.10.2019) Er beginnt seine Ausführungen mit der Aufforderung, dass „wir gelassen bleiben sollen, uns nicht immer gleich aufregen, uns keine Sorgen machen und keine Ängste haben“. Psychologen sagen, dass wir dadurch gesund bleiben, in der Philosophie gilt sie als Hilfe zu einem richtigen Denken und Handeln, und in der Religion führt sie uns zu Gott. Die „innere Ruhe ist ein kostbares Gut“, darin sind sich alle einig.

Aber lösen wir dadurch eigentlich irgendein Problem? So fragt Detlef Kühn weiter. „Müssen wir unser Leben nicht auf die Reihe kriegen?“ Und wie ist es mit den gesellschaftlichen Verhältnissen? Müssen wir da nicht für Veränderungen sorgen? Wo bleibt das Tun, wo die Verantwortung in der Welt, wenn wir uns nur in Gelassenheit üben? „Widerspricht es nicht dem Gebot der Nächstenliebe“, wenn wir alles nur ertragen? Das fragen auch wir uns, und darüber müssen wir in der Tat nachdenken.

Doch damit sind wir nicht allein, das sind sehr alte Fragen, die schon immer gestellt wurden. Vor ca. 700 Jahren haben Mystiker wie Meister Eckhart und Heinrich Seuse darüber z.B. ebenfalls nachgedacht, und eine Antwort lautet: „Das Tun eines wirklich gelassenen Menschen ist sein Lassen. Sein Wirken ist sein Untätig-Bleiben.“ Das klingt zwar widersprüchlich, ist aber eigentlich ganz leicht zu verstehen, denn die Gelassenheit ist eine Aktivität des Geistes und erfordert unsere Aufmerksamkeit. Sie ist durchaus ein Tun und hat auch eine Wirkung. Eine bewusste Entscheidung für ein ganz anderes Lebenskonzept, als wir es üblicherweise haben, steht dahinter. Denn der natürliche Mensch ist nicht gelassen. Es ist ihm nicht egal, ob er „niedrig oder hoch, satt oder hungrig“, frei oder gefangen ist. Er will nicht beides, sondern immer nur eins: den Wohlstand, den Reichtum, das Heil, das Glück, die Freiheit, die Macht usw. Das ist das Konzept, nach dem wir normalerweise leben. Wir wollen keine Probleme, kein Leid, kein Elend. Es soll alles immer besser werden. Das Leben soll bergauf gehen und schön sein.

Und genau das stellt Paulus in Frage, das galt für ihn so nicht. Er hält uns mit seinem Leben und seinen Worten etwas anderes vor Augen, und das ist gut. Denn das Bedürfnis, dass immer alles nur gut sein soll, ist die Ursache ganz vieler unserer Probleme. Genau diese Einstellung führt zu den Ungerechtigkeiten, unter denen viele Menschen leiden, zu Hunger, Armut, politischer Unterdrückung und immer neuen Kriegen. Es ist deshalb besser, wenn wir da aussteigen. Anstatt immer schöner und reicher werden zu wollen, hilft es viel mehr, wenn wir uns in innerer Ruhe üben. Das ist kein Nichtstun, sondern ein Lebenskonzept, das letzten Endes umwälzender und verändernder als alles andere ist. Wir drücken uns damit nicht vor der Verantwortung, sondern wir werden ihr gerecht. Das ist das erste, was es dazu zu sagen gibt.

Der zweite Gedanke zu der Frage, wie sinnvoll die innere Ruhe ist, stammt ebenfalls von Heinrich Seuse. Er sagt: „Der gelassene Mensch hat Gemeinschaft mit anderen. Er liebt sie, ohne an ihnen zu hängen. Er fühlt mit ihnen, jedoch nicht in Sorge, sondern in rechter Freiheit.“ So war es ja auch bei Paulus: Weil er ruhig war, konnte er theologische Briefe schreiben, die bis heute gelesen werden. Er konnte die Philipper trösten, an der Ausbreitung des Evangeliums weiter mitarbeiten und seinen Auftrag und den Dienst, zu dem Gott ihn berufen hatte, umso besser ausüben.

Helmut Schmidt hat einmal gesagt: „Das Gegenteil von Gelassenheit ist Aufgeregtheit, Nervosität – ein Zustand, in dem man im äußersten Fall nicht mehr Herr seiner selbst ist. Gelassenheit bewahrt einen davor, zu schnell zu entscheiden und dabei Fehler zu begehen. Sie ist eine Hilfe, fast eine Voraussetzung für die Anwendung der Vernunft. Nur wer die innere Gelassenheit mitbringt, kann auf die Stimme der Vernunft hören.“ Wir können an dem Leben von Helmut Schmidt und seiner Frau erkennen, dass das stimmt. Sie haben viele richtige Entscheidungen getroffen und gerade durch die innere Gelassenheit angemessen gehandelt. Sie stand nicht im Gegensatz zu ihrem Anspruch der Pflichterfüllung, sondern hat ihn ergänzt. Das ist der zweite Gedanke.

Und als drittes ist noch wichtig, dass bei Paulus noch mehr eine Rolle spielte, als nur eine bestimmte innere Einstellung. Es ging ihm um Christus. Durch ihn „vermochte er alles.“ Er war durchdrungen und erfüllt von der Gewissheit, dass Jesus Christus lebt, dass das Reich Gottes da ist und wächst. Dem hatte er sein ganzes Leben gewidmet. Christus hatte ihn ergriffen, und von daher lebte Paulus. Er wusste, es gibt ein Reich, das nicht von dieser Welt ist, und wer daran Anteil hat, ist gerettet. Paulus vertrat also keine Philosophie, er verkündete Jesus Christus und sein Reich. Dazu lud er ein.

Auch wir haben diese Botschaft irgendwann gehört, und durch die Taufe wurden wir in das Reich Gottes aufgenommen. Deshalb ist der Vers „Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht“ auch ein sehr schöner Taufspruch. Er besagt, dass Jesus Christus das Leben prägen und bestimmen soll, dass er uns Kraft verleiht, durch alles, was kommt, sicher hindurchzugehen. Er passt auch gut an den Anfang eines Lebens, wenn wir noch nicht wissen, wie es wird, und uns einen Beistand wünschen.

Aber natürlich ist die Taufe noch nicht alles, sondern dazu gehören zudem eine Entscheidung und ein Handeln. Wir sind eingeladen, diesen Glauben auch zu leben, auf Jesus Christus zu schauen und ihm wirklich zu vertrauen. Das kann im Gebet geschehen und beim Gottesdienst, bei unserem Dienst in der Kirche und an den Nächsten, in allen Lebenslagen. Und dabei geht es durchaus um die Kunst des Lassens. Es gilt, uns nicht so schnell aufzuregen, den Sorgen Einhalt zu gebieten, und uns nicht von unseren Ängsten bestimmen zu lassen. Die Übung der Gelassenheit geht Hand in Hand mit dem Glauben an Jesus Christus.

So war es bei Paulus, und das war letzten Endes das Geheimnis seines missionarischen Erfolges. Die Ausbreitung des Evangeliums war nicht sein Werk, sondern Jesus Christus wirkte durch ihn. Er hatte Paulus berufen und beauftragt. Und was die Menschen überzeugte, waren nicht gekonnte Reden, gutes Aussehen oder sicheres Auftreten. Im Gegenteil, wir wissen von Paulus selber, dass er keine beeindruckende äußere Erscheinung war. Er redete oft „in Schwachheit“, wie er selber sagt. (1.Korinther 2,1-5) Nicht seine menschlichen Fähigkeiten haben ihm genützt, sondern allein die Kraft Jesu Christi, die in ihm wohnte und durch den er „alles vermochte“.

Lasst deshalb auch uns unser Leben ganz auf Jesus Christus gründen.

Amen.

 

Brich mit dem Hungrigen dein Brot

Predigt über Jesaja 58, 7- 12: Die wahre Frömmigkeit

Erntedankfest, 6.10.2019, 11 Uhr, Jakobikirche Kiel

Jesaja 58, 7- 12

7 Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!
8 Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen.
9 Dann wirst du rufen und der HERR wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich. Wenn du in deiner Mitte niemand unterjochst und nicht mit Fingern zeigst und nicht übel redest,
10 sondern den Hungrigen dein Herz finden lässt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag.
11 Und der HERR wird dich immerdar führen und dich sättigen in der Dürre und dein Gebein stärken. Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt.
12 Und es soll durch dich wieder aufgebaut werden, was lange wüst gelegen hat, und du wirst wieder aufrichten, was vorzeiten gegründet ward; und du sollst heißen: »Der die Lücken zumauert und die Wege ausbessert, dass man da wohnen könne«.

Liebe Gemeinde.

„In der Heilsgeschichte ist das Werk Gottes eine Handlung der ganzheitlichen Befreiung und Förderung des Menschen in seiner vollen Dimension, die als einzigen Beweggrund die Liebe hat.“ Das haben die Bischöfe Lateinamerikas 1968 auf ihrer zweiten Generalversammlung in Medellín in Kolumbien verkündet. Es war die Geburtsstunde der sogenannten „Befreiungstheologie“. Diese Theologie hat seitdem die Kirche verändert, sowohl die katholische als auch die evangelische. Die wichtigste Botschaft lautet dabei: „Gott hat in der Fülle der Zeit seinen Sohn gesandt, der Mensch wurde, um alle Menschen aus aller Knechtschaft zu befreien, in der sie die Sünde, die Unwissenheit, der Hunger, das Elend und die Unterdrückung, mit einem Wort, die Ungerechtigkeit und der Hass gefangen halten.“ Die Kirche nahm also die gesellschaftliche Situation in den Blick und rief zur Solidarität mit den Armen und zum Handeln auf. Und das war bis 1968 nicht immer selbstverständlich gewesen. Zu der Zeit war es neu und provozierend. (Bruno Kern, Theologie der Befreiung, Tübingen und Basel 2013)

Dabei haben bereits die Propheten des Alten Testamentes das gefordert. Wir haben  die Worte Jesajas gehört, die genau dieses Anliegen zum Ausdruck bringen.

Er ermahnt darin die Israeliten zur tätigen Liebe an ihren Mitmenschen. Und zwar geht es um die Liebe an den Entrechteten und Misshandelten, den Sklaven und Gefangenen, den in ihrer wirtschaftlichen Existenz Bedrohten und in Schuldhaft Sitzenden, ebenso an den Hungernden, Heimatlosen und Frierenden. Jesaja ermahnt zur Hilfe für den in Not befindlichen „Nächsten“, der vom gleichen „Fleisch“ ist.

Und an diese Mahnung schließt sich eine sehr schöne Verheißung an. Der Prophet sagt: „Wenn du in deiner Mitte niemand unterjochst und nicht mit Fingern zeigst und nicht übel redest, sondern den Hungrigen dein Herz finden lässt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag.“ Das heißt, für ein derartiges Leben in Liebe wird Heil, Friede und Wohlergehen kommen. Der Prophet sagt das so: „Deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen. Dann wirst du rufen und der HERR wird dir antworten.“ Es wird sich also etwas ändern, langsam aber sicher. Ein Vorgang wird in Gang gesetzt, der zur Besserung und dann zur Heilung führt. Und dabei ist das Entscheidende: Gott wird auf das Rufen der Menschen antworten. Die Beziehung zwischen Gott und Mensch wird wieder hergestellt, die Gebete dringen zu ihm vor. Das ist der Segen, den Israel erwarten darf: „Wenn du schreist, wird er sagen: Hier bin ich. Und er wird dich immerdar führen und dich sättigen in der Dürre und dein Gebein stärken.“ Der Prophet schmückt die Verheißung noch weiter aus und beschreibt das Heil mit schönen Bildern: „Du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt.“ Das heißt, es entsteht neues, fruchtbares Leben.

Und am Ende erfahren wir noch etwas über die Situation, in die hinein der Prophet dies alles sagt. Er spricht ja davon, dass „wieder aufgebaut werden soll, was lange wüst gelegen hat, und wieder aufgerichtet wird, was vorzeiten gegründet ward.“ Das bezieht sich auf die Trümmer, die die Menschen nach der Eroberung Israels, dem jahrelangen Exil und der Rückkehr vorfanden. In dieser Zeit hat der Prophet gesprochen. Seine Landsleute hatten gedacht, dass nach ihrer Heimkehr alles besser wird, aber das dauerte länger als erwartet, und deshalb war die Stimmung schlecht. Der Prophet spricht zu Unzufriedenen und Ungeduldigen, und er will sie ermutigen und aufrichten: Sie sollen nicht aufgeben und nicht ihren Glauben verlieren.

Den hatten sie auch durchaus noch. Das erfahren wir, wenn wir die Verse lesen, die unserem Abschnitt vorangehen. Da ist nämlich von bestimmten jährlichen Fastentagen die Rede, an denen die Menschen alle leiblichen Freuden unterdrückten. Sie beachteten damit bestimmte religiöse Vorschriften und hofften, dass Gott sie dafür belohnen würde. Sie riefen zu ihm und erwarteten Hilfe.

Doch die kam nicht. Und mit dem, was der Prophet in unserem Abschnitt sagt, erklärt er ihnen, woran das lag: Er ermahnte sie nicht nur, er kritisierte sie auch. Und zwar fand er, dass ihre Frömmigkeit viel zu äußerlich war. Es änderte sich dadurch ja nichts in ihrem Zusammenleben, denn es gab weiterhin Ungerechtigkeit, Gewalt, Zank und Streit. Jesaja fand ihre Hinwendung zu Gott deshalb unecht und heuchlerisch. Sie hatte nichts mit dem Leben zu tun und war völlig sinnlos. Erst wenn sie „die mit Unrecht gebundenen losließen, die Bedrückten befreiten, den Hungrigen Brot gäben, die im Elend ohne Obdach sind, ins Haus führten und die Nackten kleideten“, würde es eine Wende geben.

Und genau das hat die sogenannte Befreiungstheologie sich zu Herzen genommen. Sie hat Gottes Heilswillen mit den Zeichen der Zeit in Verbindung gebracht und diese im Licht des Evangeliums neu gedeutet. Die Bischöfe haben damals erkannt, dass die Kirche die Pflicht hat, die Befreiung von Millionen Menschen zu verkünden, und ihnen zu helfen, dass diese Befreiung Wirklichkeit wird.

Aber ist es das eigentlich noch aktuell? Ist es nötig, dass wir das hören? Tun wir das nicht längst? Es gibt mittlerweile doch viele Initiativen, mit denen dieses Anliegen verwirklicht wird. Die beiden großen Organisationen, „Brot für die Welt“ in der evangelischen Kirche und das bischöfliche Hilfswerk Misereor in der katholischen Kirche, zählen z. B. dazu. Sie sorgen dafür, dass Menschen in ärmeren Gegenden der Erde genug zu essen bekommen und dass ihre Lebensverhältnisse sich verändern. Sie thematisieren ebenso die ungerechte Verteilung der Güter, die dem Hunger meistens zu Grunde liegt. Und bei uns gibt es so etwas wie die „Kieler Tafel“, Unterkünfte für Obdachlose werden bereit gestellt, wir sammeln immer wieder Altkleider, damit andere etwas anzuziehen haben usw. Außerdem gibt es überall, wo Menschen leiden und benachteiligt sind, Pfarrstellen: in Gefängnissen, Krankenhäusern und Altenheimen. Das Feld der Diakonie ist sehr weit, es gibt unzählige Helfer, haupt- und ehrenamtliche. Wer Zeit und Kraft hat, engagiert sich irgendwo und praktiziert die Nächstenliebe.

Und das, was der Prophet Jesaja kritisiert, tun wir sowieso nicht, in Sack und Asche herumlaufen und dabei den Kopf hängen lassen. Wir wissen längst, dass das helfende Handeln an unsren Mitmenschen besser ist und zum Evangelium gehört.

Trotzdem steckt in der Ermahnung des Propheten auch für uns noch ein wichtiger Hinweis. Denn es geht ihm nicht einfach nur um Mitmenschlichkeit, Moral oder ein neues Gesetz. Er will vielmehr, dass der Wille und die Gegenwart Gottes das Leben und die Gesellschaft prägen. Und das ist noch viel mehr. Wir sollen nicht nur äußerlich handeln, auch innerlich soll sich etwas verändern. Das wird deutlich an der schönen Formulierung: Wenn du „den Hungrigen dein Herz finden lässt“, und auch an der Ermahnung, auf niemanden „mit dem Finger zu zeigen und nicht schlecht über andere zu reden“. Es heißt, dass echte Liebe sich nicht in äußeren Taten erschöpft, sie muss gelebt werden und von Herzen kommen. Es soll menschliche Nähe geben, Wärme und Mitgefühl. Und wie das entstehen kann, ist durchaus einiger Überlegungen wert. Lasst uns also fragen, wie es zu der rechten inneren Einstellung kommen kann.

Dabei hilft es uns, dass wir diesen Abschnitt heute, am Erntedankfest lesen. An diesem Tag geht es um den Dank für alles, was wir zum Leben haben und brauchen. Das sollen die Früchte und das Gemüse, das hier heute liegt, verdeutlichen. Das sind zwar nur Lebensmittel, die wir essen, aber sie erinnern uns gleichzeitig an alles andere, das zum Leben nötig ist: Gesundheit, Wohnung, Kleidung, Freundschaften und noch viel mehr. Oft denken wir erst darüber nach, wenn etwas davon fehlt, wenn wir krank werden oder etwas verlieren. Aber es ist viel sinnvoller und besser, regelmäßig für all das zu danken. Dazu sind wir heute eingeladen.

Und das ist ein guter Ansatz. Wenn wir dankbar sind, verändern wir uns nämlich in genau die Richtung, in die die Worte des Propheten uns weisen. Lasst uns diesen Zusammenhang noch einmal etwas genauer bedenken und uns bewusst machen, was beim Danken mit uns geschieht. Mit drei Dingen kommen wir dabei nämlich in Berührung: mit Gott, mit uns selber und mit unseren Mitmenschen.

Als erstes ist es Gott, an den wir uns wenden. Er ist der Schöpfer und Erhalter unseres Lebens. Wir haben es bereits gesungen: „Alle gute Gabe kommt her von Gott dem Herrn.“ Und „Wachstum und Gedeihen steht in des Himmels Hand.“ (EG 508,1) Das können wir ruhig öfter mal singen, denn dieses Bewusstsein haben wir weitgehend verloren. Wissenschaft und Technik, weltweiter Handel, Wohlstand und Konsum haben das Gefühl verdrängt, dass das Walten Gottes größer ist als das Handeln und Wissen von uns Menschen. Genau das sollten wir uns aber immer wieder bewusst machen, denn Gott hat sich nicht verabschiedet. Er ist nach wie vor derjenige, der „die Sonne aufgehen und die Winde wehen“ (EG 508,4) lässt. Wenn wir ihm dafür danken und ihm die Ehre geben, erkennen wir, dass wir in Wirklichkeit gar nicht so groß sind, wie wir oft meinen. Dem Egoismus wird Einhalt geboten und auch dem Machtstreben und damit der Sünde. Wir werden demütig und bescheiden. Und das tut gut. Es rückt die Verhältnisse wieder zurecht. Wenn wir mit Gott in Berührung kommen, kann sein „Licht leuchten, und unsere Heilung schnell voranschreiten“. Das ist das erste, das sich durch den Dank gegenüber Gott ergibt.

Als zweites kommen wir durch den Dank auch in Berührung mit uns selber. Wer dankt, ist ehrlich und offen. Wo echte Dankbarkeit ist, ist kein Platz für Heuchelei oder falschen Schein. Und das ist auch für uns ein wichtiger Hinweis, denn ganz frei sind wir davon nicht. Wir pflegen zwar keine Fastenrituale, wie die alten Israeliten, aber unsere Frömmigkeit ist oft ebenfalls mehr äußerlich. Wir haben uns an bestimmte Verhaltensweisen, die wir für gläubig und kirchlich halten, gewöhnt. Unser alltägliches Lebensgefühl ist davon aber nicht geprägt. Wir trennen das Leben oft vom Glauben, beides läuft so nebeneinander her: Das eine spielt sich in der Kirche ab, das andere zu den übrigen Zeiten und an den anderen Orten, an denen wir sind. Doch so ist es nicht gedacht, und der Dank ist ein guter Weg, damit sich das ändert. Durch den Dank entsteht eine Übereinstimmung zwischen Gott und unserem Leben. Beim Danken kommt der Glaube in unseren Alltag hinein. Unser Glaube wird echt und lebendig. Er besteht nicht aus Gewohnheiten, sondern kommt von innen heraus und macht unseren Geist und unsre Seele hell. Wir spüren uns selber. Das ist das zweite, das durch den Dank geschieht.

Und als drittes folgt daraus eine neue Wahrnehmung unserer Mitmenschen. Wir kommen auch mit ihnen in Kontakt, erkennen Ungerechtigkeit und Unterdrückung, Not und Bedürftigkeit, und sorgen ganz von selber dafür, dass wir besser miteinander umgehen. Unsere Umwelt kommt in den Blick, es entsteht eine schonende und umsichtige Grundeinstellung gegenüber dem Leben und unseren Nächsten. Der Ungerechtigkeit und dem Hass wird Einhalt geboten. Die Hilfsbereitschaft wächst, Mildtätigkeit und Güte prägen unser Handeln. Wir werden „wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt.“

Es lohnt sich also, den Weg des Dankens zu gehen. Durch den Dank öffnet sich etwas in uns, und ganz von selber wird das geschehen, wozu der Prophet Jesaja und die Befreiungstheologen uns ermahnen. Wir werden vor Gleichgültigkeit bewahrt und unsere Schwäche wird überwunden. Es kann sich etwas verändern, in der Kirche, in uns und in der Gesellschaft. Und das kommt dann nicht von uns, sondern von Gott selber. Sein „Licht wird aufgehen in der Finsternis“. Er baut sein Reich, und wir dürfen daran mitwirken.

Amen.