Die Waffen des Lichtes

Predigt über Römer 13, 8- 14: Die Liebe als Erfüllung des Gesetzes

1. Sonntag im Advent, 29.11.2015, 9.30 Uhr
Lutherkirche Kiel

Liebe Gemeinde.
„Die Hauptstadt der Unzucht und Laster“, so bezeichnete eine „treue Gruppe der Armee des Kalifats“ – wie die Terroristen sich selber nennen – Paris. Sie nannten damit den Grund für ihre Anschläge am 13. November, mit denen sie die ganze Welt erschüttert haben. Die Terrormiliz „Islamischer Staat“ hat sich zu den abscheulichen Taten bekannt, und wir sind alle erschrocken und aufgewühlt.
Es beunruhigt uns schon lange, was diese Menschen im Na-hen Osten treiben. Nun rückt der Krieg, den sie führen, immer näher. Es sind religiöse Fanatiker, die in verheerender Weise meinen, das Gute zu tun. Am liebsten würden sie die Welt von aller Sünde und allen Lastern befreien, und deshalb muss jeder sterben, der nicht ihren Vorstellungen von einem gottwohlgefälligen Leben entspricht.
Unserem Denken ist das fremd. Wir haben uns längst an uns-ren freizügigen Lebenswandel gewöhnt und genießen ihn. Die Vorstellungen der Islamisten sind für uns vollkommen rückständig und brutal.
In der Bibel finden wir allerdings Stellen, die erinnern uns an das, was die Islamisten sagen, denn sie verurteilen ebenfalls die Laster und die Unzucht. Der Apostel Paulus tut das z.B. mehrfach, so auch in dem Abschnitt aus dem Römerbrief, der heute unsere Epistel und unser Predigttext ist. Es heißt dort am Ende:
„So lasst uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts. Lasst uns ehrbar leben wie am Tage, nicht in Fressen und Saufen, nicht in Unzucht und Ausschweifung, nicht in Hader und Eifersucht. Sorgt für den Leib nicht so, dass ihr den Begierden verfallt.“ (V.12b.13.14b)
Paulus hat also auch etwas gegen die Sittenlosigkeit. Er warnt vor dem Lustprinzip, vor einer Vergnügungssucht, die kein Maß mehr kennt. Deshalb erinnert uns seine Einstellung an die radikalen Fundamentalisten.
Was bei Paulus allerdings ganz anders ist, sind die Gründe, die dahinter stehen, und auch die Konsequenzen, die er da-raus zieht. Seine Motivation liegt in dem Erscheinen Jesu Christi und dem, was er für das Heil der Welt getan hat. Und die Antwort auf die Sünden der Welt ist nicht ein rücksichtslo-ses Morden, sondern genau das Gegenteil: Paulus ruft zur gegenseitigen Liebe auf. Den Versen, die ich eben zitiert habe, gehen folgende Worte vorweg: „Seid niemandem etwas schuldig, außer dass ihr euch untereinander liebt; denn wer den andern liebt, der hat das Gesetz erfüllt. Denn was da gesagt ist (2.Mose 20,13-17): »Du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht töten; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht begehren«, und was da sonst an Geboten ist, das wird in diesem Wort zusammengefasst (3.Mose 19,18): »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung.“ (V.8-10) Paulus erinnert uns also an das, was Jesus gelehrt und gelebt hat: an die göttliche Liebe.
Dabei spielt sowohl bei Jesus als auch bei Paulus die Vorstellung eine Rolle, dass diese Liebe in ihrer ganzen Fülle noch kommen wird. Beide erwarteten das Reich Gottes, das Ende dieser Welt und die Wiederkunft Christi. Es wird bald eine ganz neue Weltordnung geben, die von Liebe und Friede untereinander bestimmt ist. Daran glaubten sie, und von dieser Verheißung her sollten die Christen leben. Deshalb raten sie davon ab, sich in der jetzigen Welt oder an sie zu verlieren. Sie ist im Vergleich zu dem neuen das „alte Zeitalter“. Von dessen Gesetzmäßigkeiten sollen sich die Christen nicht bestimmen lassen.
Paulus drückt das so aus: „Und das tut, weil ihr die Zeit er-kennt, nämlich dass die Stunde da ist, aufzustehen vom Schlaf, denn unser Heil ist jetzt näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden.“  (V.11) Das ist ein schönes Bild, das Paulus mit dem nächsten Vers noch genauer beschreibt. Er sagt: „Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber nahe herbeigekommen.“ (V.12a) Er vergleicht diese Zeit, in der wir uns befinden, mit dem Ende der Nacht und dem ganz frühen Morgen, wo die ersten Lichtstrahlen anbrechen, und man aufwacht, wo ein neuer Tag sich anmeldet und zu neuem Leben und neuen Taten ruft. So ist diese Zeit, in der wir leben, und das soll unser Bewusstsein bestimmen.
Und damit meint Paulus nicht einfach nur ein gewisses Verhalten, für das wir uns entscheiden können, sondern ein neues Sein. Das wird an einem weiteren Bild deutlich, das er für dieses neue Leben gebraucht. Er sagt am Ende: „Zieht an den Herrn Jesus Christus.“ (V. 14a) Wie die Kleidung, die wir tragen, soll Jesus für uns sein. Er ist die Hülle, die uns umgibt und an der wir zu erkennen sind. Wer die Christen erlebt, soll wahrnehmen, was sie ausmacht und erfüllt.
Und das ist etwas völlig anderes als religiöser Fanatismus. In drei Schritten können wir uns klar machen, was diese Worte für uns bedeuten.
Zunächst einmal ist für Paulus die neue Welt schon da. Jesus Christus hat mit seinem Tod und seiner Auferstehung das Reich Gottes geöffnet. Wir müssen es also nicht selber herstellen. Es hängt nicht an uns und unserer Aktivität, ob es kommt. Es muss niemand dafür bekämpft und schon gar nicht ermordet werden. Wir müssen uns innerlich vielmehr darauf einstellen. Es gibt in dieser alten Welt bereits eine neue Welt, die wir gewinnen und in der wir leben können.
Und das heißt als Zweites, dass wir nicht die anderen, sondern uns selber ändern müssen. Es geht um unser Bewusstsein und die Frage nach den Prioritäten in unserem Leben. Dabei predigt Paulus hier keine Moral und kein Gesetz. Das sagt er ja selber. Er zählt einzelne Gebote auf und betont, dass es um die nicht geht. Er will uns also nichts vorschreiben, sondern nur ermahnen. Und zwar sollen wir einmal nach dem fragen, was das Wichtigste und was gut für uns ist.
Es gibt zerstörerische Kräfte, nicht nur außerhalb von uns selbst, sondern auch in unserem Inneren. Ein zügelloses Le-ben tut niemandem gut. Es ist rücksichtslos und egoistisch und führt oft zu Ungerechtigkeit. Es kann auch krank machen, und glücklich werden wir dadurch ebenfalls nicht. Denn so ein Leben nach dem Lustprinzip ist von Erwartungen und Wünschen geprägt, und die gehen oft nicht in Erfüllung. Es bleibt immer irgendetwas zu wünschen übrig. Die Menschen z.B., mit denen wir zusammenleben, sind nicht so, wie wir sie gern hätten. Wir setzen uns gegenseitig nur unter Druck. Und so verdüstern sich unsre Seele und unser Miteinander eher, als dass das Leben schön wird. Nicht umsonst vergleicht Paulus dieses Verhalten mit der Nacht. Es ist demnach gut, wenn wir uns an etwas anderem orientieren, als an unseren Leidenschaften. Dazu lädt Paulus uns hier ein. Das ist der zweite Punkt.
Und drittens nennt er eine ganz konkrete Alternative: Es ist die Liebe, denn in ihr „wird das ganze Gesetz erfüllt“. Sie ist die neue Dimension, die uns die Richtung weist. Sie ist wie ein „neuer Tag“ mit neuem Licht. Wir sollen uns für sie öffnen und bereithalten. Dann wird unser Leben schöner und heller. Und das heißt, dass wir einmal nicht zuerst nach unseren eigenen Bedürfnissen fragen, sondern nach denen der anderen, dass wir ihre Nöte beachten, ihre Fehler akzeptieren, für sie da sind und ihnen helfen. Das ist nicht so einfach, denn dazu gehört es, dass wir von unseren Erwartungen Abstand nehmen. Wir müssen uns einmal ganz bewusst von unserem Wollen verabschieden und selbstlos werden.
Aber es lohnt sich, denn wir lassen uns stattdessen ja von der Liebe Jesu leiten, und dabei wendet er sich uns zu. In seiner Gegenwart bekommen wir alles, wonach wir uns sehnen. Un-sere eigenen Bedürfnisse müssen wir plötzlich gar nicht mehr so ernst nehmen. Wir können uns davon lösen, weil wir uns ganz tief geliebt und gesehen wissen. Und so werden wir dazu befreit, einander wirklich zu lieben. Konflikte und Spannungen lösen sich auf. Wir können uns an den anderen Menschen freuen und sind dankbar, dass es sie gibt. Die Liebe macht unser Herz weich und froh. Sie bringt Licht und Wärme in unser aller Leben.
Und das ist das beste Mittel gegen die Nacht der Sünde, ge-gen den Terrorismus und die Angst davor. Danach sehnt sich auch jeder. Nicht umsonst hatte nach den Terroranschlägen in Paris ein kleines Gespräch zwischen einem Kind und seinem Vater, das sie vor einem Reporter führten und das im Internet veröffentlicht wurde, bereits mehr als 400.000 Zuschauer:
Das Kind hatte Angst und dachte, dass sie nun umziehen müssten. Darauf sagte der Vater: „Wir müssen nicht umziehen. Frankreich ist unser Zuhause.“ Doch sein Sohn ließ sich nicht beirren: „Aber sie haben doch Waffen. Und sie können auf uns schießen, weil sie doch so böse sind.“ „Sie haben vielleicht Waffen, aber wir haben Blumen. Schau dir die Leute an, sie alle legen Blumen nieder. Damit kämpfen sie gegen Waffen.“ „Sie beschützen uns mit Blumen?“ „Genau.“ Und auf die Nachfrage des Reporters sagte der Junge: „Jetzt fühle ich mich besser!“
Die Liebe ist stärker als der Terror, diese Botschaft enthält das Gespräch. Und dazu können wir beitragen. Wir können nicht die ganze Welt verändern, aber wir können dafür sorgen, dass es hier und da heller wird. Dann kommt Christus in die Welt und ist gegenwärtig. Lassen Sie uns die Ermahnungen des Paulus also ernst nehmen und „aufstehen vom Schlaf, denn unser Heil ist jetzt nahe“. Lassen Sie uns „ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts“.
Amen.

Das Reich Gottes ist mitten unter euch

Predigt über Lukas 17, 20- 24: Vom Kommen des Gottesreiches

Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres, 8.11.2015, Lutherkirche Kiel

Lukas 17,20-24

20 Als er aber von den Pharisäern gefragt wurde: Wann kommt das Reich Gottes?, antwortete er ihnen und sprach: Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man’s beobachten kann;
21 man wird auch nicht sagen: Siehe, hier ist es!, oder: Da ist es! Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch.
22 Er sprach aber zu den Jüngern: Es wird die Zeit kommen, in der ihr begehren werdet, zu sehen einen der Tage des Menschensohns, und werdet ihn nicht sehen.
23 Und sie werden zu euch sagen: Siehe, da!, oder: Siehe, hier! Geht nicht hin und lauft ihnen nicht nach!
24 Denn wie der Blitz aufblitzt und leuchtet von einem Ende des Himmels bis zum andern, so wird der Menschensohn an seinem Tage sein.

Liebe Gemeinde.
Die Sehnsucht nach einer besseren Welt ist so alt wie die Menschheit. Wer kennt sie nicht? Alle wünschen sich Frieden und Stabilität, Freiheit und Wohlstand, Gesundheit und Glück. Zigtausende von Menschen machen sich zurzeit auf den Weg, weil sie meinen, sie finden das alles hier bei uns in Deutschland. Sie fliehen vor Krieg und Unterdrückung, Zerstörung und Terrorismus. Und selbst wenn sie zunächst in Notunterkünften wohnen, lange warten und sich gedulden müssen, so kann man das gut verstehen. Es geht ihnen hier bestimmt trotzdem besser als in der Hölle, aus der die meisten kommen.
Das Paradies gibt es allerdings auch in Deutschland nicht. Mit der Flut der Flüchtlinge, die zu uns kommen, wächst auch die Welle der Radikalität, des Hasses und der Aggression. Und natürlich gibt es unzählige weitere, schwerwiegende Probleme in unserer Gesellschaft. So stand am Montag z.B. in der Zeitung, dass sich die Krankschreibungen wegen psychischer Probleme häufen. Angststörungen, Depressionen und andere seelische Leiden nehmen zu, und damit steigt auch der Alkohol- und Drogenkonsum und die Selbstmordrate.
So einfach ist es also nicht, selbst in einem Land wie unserem, wirklich glücklich zu werden. Das gute Leben stellt sich nicht von alleine ein. Für viele liegt es immer irgendwie noch vor ihnen, in der Zukunft, in der Ferne. Und oft bleibt es ein Wunschtraum. Das Lebensgefühl vieler Menschen ist deshalb von der Sehnsucht nach einer besseren Welt geprägt.
Zur Zeit Jesu war das besonders stark. Es lag eine Endzeit-stimmung in der Luft. Die Menschen litten unter der Gegenwart und erwarteten das Kommen der Gottesherrschaft. Darunter stellten sie sich die Auferstehung der Toten und den Anbruch des ewigen Heils vor.
In dem Abschnitt aus dem Evangelium von heute unterhält Jesus sich darüber mit einigen Pharisäern. Sie wussten, dass das für ihn ein wichtiges Thema war, denn er hatte schon mehrere Male davon gesprochen. Nun fragten sie ihn nach dem Termin: „Wann kommt das Reich Gottes?“ Das wollten sie von ihm wissen. Sie gingen also davon aus, dass es ein sichtbares, feststellbares Ereignis sein würde, das man berechnen und beobachten kann, und sie wollten von Jesus den Zeitpunkt seines Eintretens erfahren.
Darauf antwortet Jesus hier, allerdings nicht so, wie die Pharisäer sich das vorstellten. Er fand, dass ihre Frage falsch gestellt war. „Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man’s beobachten kann; man wird auch nicht sagen: Siehe, hier ist es!, oder: Da ist es!“ So lautet der erste Teil seiner Antwort. Gottes Herrschaft beginnt nicht wie ein geschichtliches Ereignis, das man dann aufzeichnet. Sie ist dem Zugriff und der Feststellung des Menschen entzogen. Man kann sie nicht berechnen.
Aber, und das ist nun die Belehrung und die Korrektur, die Jesus vornimmt: Man kann auf die Herrschaft Gottes hingewiesen werden. Und wer geistig sehen kann, der nimmt sie jetzt schon wahr. „Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch.“ sagt er. Und dahinter steht die Überzeugung, dass das Gottesreich durch die Verkündigung und die Wunder Jesu jedem nahegebracht und angeboten wird. Es ist längst da, man muss nur hinschauen und es ergreifen. Doch das geschieht nicht mit den natürlichen Augen oder den leiblichen Händen, sondern mit dem Geist und in der Seele. Es ist ein innerer Vorgang. Auch die Pharisäer können es erkennen, sie müssen sich nur dafür öffnen und sich auf Jesus einlassen. Dazu hatte Jesus sie auch schon in vorhergehenden Gesprächen eingeladen.
Wie sie darauf reagierten, wird hier nicht erwähnt. Die Pharisäer verschwinden vielmehr von der Bildfläche. Sie konnten sich überlegen, ob sie die Antwort Jesu annehmen wollten oder nicht, ob sie ihm nachfolgen oder lieber bei ihrer Meinung bleiben wollten.
Die nächsten Worte ergehen an die Jünger, denen Jesus zusätzlich einiges sagen will. Und zwar spricht er vom „Tag des Menschensohnes“. Und damit meint er nun doch eine große Weltenwende. Was jetzt bereits in seiner Gegenwart erlebbar ist, sind die Vorboten. In ihm ragt die Wirklichkeit Gottes in die Zeit hinein, doch eines Tages wird sie ganz da sein. Dann wird Gott alles verändern. Jesus verheißt seinen Jüngern eine universale Rettung und Heil für alle Zeiten.
Doch schlimme Erfahrungen gehen diesem Ereignis noch vorweg, so dass ihr Blick wahrscheinlich für die echte Erlösung getrübt sein wird. Helfer und Ratgeber werden sich einfinden, die Abhilfe schaffen wollen, aber sie führen die Menschen nur in die Irre. Ihnen sollen sie deshalb nicht folgen. „Denn wie der Blitz aufblitzt und leuchtet von einem Ende des Himmels bis zum andern, so wird der Menschensohn an seinem Tage sein.“ Das sind die abschließenden Worte Jesu, und damit macht er deutlich, dass der Tag des Menschensohnes unverwechselbar sein wird: Der gesamte Himmel wird erleuchtet und es gibt keinen Ort innerhalb der Schöpfung, wo der Menschensohn und mit ihm das ewige Reich Gottes nicht sein wird.
Jesus spricht hier also über die Dimension der Ewigkeit, die mit ihm in die Welt gekommen ist und eines Tages alles ver-ändern wird. Und diese Botschaft ist auch für uns noch aktuell. Es ist jedenfalls ratsam, wenn wir darauf hören. Wir lassen das Reich Gottes viel zu oft außer Acht.
Denn wir sind diesseitig geworden. Wir leben in einer säkularen Gesellschaft, wie man so sagt. Die gibt es in Europa seit Napoleon. Da wurden kirchliche Besitztümer in großem Stil verstaatlicht, Politik bekam Vorrang vor der Religion, zeitliche Werte zählten mehr als ewige.
Bei uns ist das bis heute so geblieben, und das ist gar nicht so schlecht. Es hat viele Vorteile. Denn in so einer Gesellschaft kann jeder nach seiner „eigenen Façon selig werden“, wie Friedrich II, König von Preußen schon 1740 schrieb.
Niemand schreibt uns vor, was wir denken sollen. Jeder kann selbst entscheiden, was für ihn im Leben wichtig ist, was an oberster Stelle steht, wonach er strebt oder was er sein lässt. So lange unsere „Freiheit, die Einigkeit und das Recht“ nicht zerstört werden, ist alles erlaubt.
Und so beschäftigen wir uns am liebsten mit dem Diesseits. Abwechslung und Vergnügen, menschliche Begegnungen und berufliche Erfolge stehen bei vielen ganz oben. Geld, Bildung und Kultur, Freizeit und Geselligkeit, das sind Werte, die den meisten von uns wichtig sind. Denn von daher winken das Glück und die Befriedigung all unserer Bedürfnisse.
Aber reicht das tatsächlich, damit das Leben wirklich gelingt? Eine umfassende Antwort auf alle Lebensfragen ist damit doch noch lange nicht gegeben. Denn wo kommt unsere Zuversicht her? Was gibt uns Hoffnung? Worin besteht der Sinn des Lebens? Was geschieht nach dem Tod? Diese und ähnliche Fragen bleiben in einer säkularen Gesellschaft offen. Wir haben zwar das Recht, sie nach unserem eigenen Geschmack zu beantworten, aber das müssen wir auch, sonst kommen wir nicht klar.
Denn ganz viele Wünsche bleiben im Diesseits unerfüllt. Wir müssen uns immer wieder von Erwartungen und Vorstellungen über unser Leben verabschieden. Der Erfolg bleibt z.B. aus, die Zufriedenheit stellt sich nicht ein, und dadurch sind wir viel öfter schwermütig oder mutlos, als wir wollen. Depressionen, Angststörungen und andere psychische Probleme sind nicht nur ein Zeichen von Stress, sie sind auch Folgen unseres säkularen Lebensstils und des Verlustes der Ewigkeit.
Wenn wir diese Dimension nicht mehr beachten, fehlt etwas. Und das spüren gerade jetzt wahrscheinlich viele Menschen. Sie suchen plötzlich nach einer Hoffnung und wünschen sich, dass eine neue Welt heran brechen möge. Die Schrecken der Kriege und des Terrors sollen ein Ende nehmen und die Menschheit soll gerettet werden. Die Sehnsucht nach einer universalen Wende regt sich jetzt sicher in vielen Gemütern.
Denn wir leben in unruhigen Zeiten. Ich glaube, seit dem zweiten Weltkrieg hat es in Deutschland noch nie ein Thema gegeben, das die Menschen in Europa so sehr beschäftigt hat, wie der Zustrom der Flüchtlinge und seine Ursachen. Für mich ist es jedenfalls neu, so etwas mit zu erleben, und ich höre von vielen anderen, dass es ihnen genauso geht. Die Hilfsbereitschaft ist zum Glück groß, aber das Chaos ist auch nicht weit entfernt. Angst und Unsicherheit machen sich ebenso breit.
Und in diese Situation hinein hat die Botschaft Jesu eine große Bedeutung. Er sagt uns: Es hat sich schon lange eine Zeitenwende vollzogen, das Reich Gottes ist da. Bloß eben nicht so, dass man es sehen oder beobachten kann, sondern ganz anders: In seinem Sohn Jesus Christus ist Gott mitten in dieser Welt. Wir müssen nur hinschauen und uns auf ihn einlassen.
Und das heißt, das Reich Gottes ist eine unsichtbare aber gegenwärtige Wirklichkeit. Wir erkennen sie mit der Seele und im Geist. Frieden und Freiheit, Glück und Heil fangen im Inneren des Menschen an. Luther übersetzte die Stelle aus dem Lukasevangelium nicht ganz verkehrt, wenn er formulierte: „Das Reich Gottes ist inwendig in euch.“ Es ist deshalb wichtig, dass wir in uns gehen, wenn wir diese Wirklichkeit entdecken wollen.
Und dabei kommt es zwangsläufig zu einer Überprüfung der Werte, nach denen wir leben. Wir müssen zugeben, dass vieles davon nicht richtig taugt, um glücklich und zuversichtlich zu werden. Deshalb gilt es, dass wir es loslassen und neue Prioritäten setzen.
Dieser Vorgang beginnt damit, dass wir uns unsere Ohnmacht und unsere eigene Unzulänglichkeit eingestehen und sie aushalten. Anstatt uns nur nach Erfolgen auszustrecken, müssen wir auch Niederlagen zulassen. Es ist deshalb es gut, wenn wir dann und wann einfach still werden, Pausen einlegen und nicht nach ständiger Abwechslung haschen. Und die Einsamkeit lässt sich auch nie ganz vertreiben. Sie gehört zu uns, und es ist ratsam, wenn wir sie in unser Lebensgefühl integrieren. Sie lässt sich auf die Dauer nicht verdrängen, auch nicht durch noch so viel Geselligkeit und Kontakte.
Das ist alles nicht ganz einfach, denn wir folgen damit nicht unseren natürlichen Trieben. Wir gebieten dem unumschränkten Lustprinzip Einhalt und nehmen einen inneren Kampf auf. Es ist eine Herausforderung, so zu leben, und die ist unbequem. Aber es ist gut, wenn wir uns ihr stellen, die Grenzen einer rein diesseitigen Lebensweise erkennen und damit umgehen.
Denn wir fallen damit nicht ins Leere. Das Reich Gottes ist da, mitten in dieser Welt, und wir können uns gleichzeitig mit dem Loslassen nach ihm ausstrecken. Jesus Christus reicht uns seine Hand und lädt uns zum Vertrauen auf ihn ein. Und das lohnt sich mehr als alles andere. Denn wenn wir ihm folgen, gewinnen wir die Ewigkeit und damit eine ganz neue Zuversicht und Hoffnung. Der Frieden und die Freude, nach der wir uns zutiefst sehnen, werden in seiner Gegenwart lebendig. Und damit bricht das Reich Gottes in uns und auch um uns herum an. Das Licht der Ewigkeit dringt durch uns hindurch in das Chaos der Welt.
„In die Wirrnis dieser Zeit fahre Strahl der Ewigkeit, zeig den Kämpfern Platz und Pfad und das Ziel der Gottesstadt.“ (EKG, Ausgabe für die Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche, 1984, Nr. 449,4) So dichtete Otto Riethmüller 1932. Er war Pfarrer und geistlicher Dichter und gehörte zur „Bekennenden Kirche“, die sich gegen das Nazi-Regime wehrte. Auch er lebte also in unruhigen Zeiten und hat für das Evangelium gekämpft. Einige seiner Lieder stehen heute noch in unserem Gesangbuch.
Die Strophe, die ich zitiert habe, gehört zu dem Lied: „Herr, wir stehen Hand in Hand.“ Otto Riethmüller bringt darin zum Ausdruck, dass er sich auf die Ewigkeit eingestellt hat. Sein Geist war offen, und er rechnete mit der Gegenwart Gottes mitten in unserer Welt. Er glaubte und bezeugte, dass Jesus Christus lebt, dass die „Wirrnis“ hier auf Erden nicht alles ist. Und dadurch bekam er ein „festes Herz“ und einen klaren Blick. Seine Tage waren trotz der „Wetter“, die um ihn „leuchteten“, voller „Trost und Dank“. Denn er verstand sich als „Wanderer zum Vaterland“.
Und das können und sollten auch wir tun. Denn wenn wir versuchen, so zu leben, ist das nicht nur gut für uns und unsere Seele, wir sind es den anderen Menschen und dieser Welt auch schuldig. Wir haben die Möglichkeit, in unserem Land zu glauben, was wir wollen, aber das sollten wir auch. Die Flüchtlinge, die zu uns kommen, und alle anderen Menschen brauchen nicht nur ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen. Sie müssen Menschen treffen, die ihnen die Ewigkeit verheißen und Liebe schenken, die mit ihrem Leben einen Frieden bezeugen, „der höher ist als alle Vernunft“.
„Der bewahre unser Herzen und Sinne in Jesus Christus, unserem Herrn.“ (Phil.4,7)
Amen.