Ein Licht geht auf in der Finsternis

Predigt über Matthäus 4, 12- 17: Der Beginn des Wirkens Jesu in Galiläa

1. Sonntag nach Epiphanias, 8.1.2017, 11 Uhr
Jakobikirche Kiel

Liebe Gemeinde.
Es gibt Orte auf der Erde, die liegen so eingekeilt zwischen den Bergen, dass im Winter dort kein Sonnenstrahl hinkommt. Die Menschen wohnen dann mehrere Wochen lang in dem tiefen Schatten, den die Berge werfen. In Viganella in Italien ist das z.B. so, aber auch in Norwegen, Österreich, in der Schweiz und in Kanada gibt es solche schattigen Dörfer. Das schlägt alljährlich auf das Gemüt der Einwohner und erzeugt eine schwermütige und düstere Stimmung. Die Menschen in Viganella und sicher auch in den meisten anderen Dörfern dieser Art wussten sich allerdings zu helfen: Sie bauten auf dem Berg einen riesigen Spiegel, der das Sonnenlicht reflektiert und auf den Dorfplatz lenkt.
Denn im Schatten möchte keiner lange wohnen. Er ist nur in sehr heißen Gegenden und Zeiten begehrt und segensreich, ansonsten verbinden wir mit diesem Phänomen nicht gerade freudige Gefühle. Mit „Schattenseiten“ meinen wir in unserem Sprachgebrauch deshalb auch die Nachteile, die ein Mensch oder ein Vorhaben hat.

Für die alten Griechen hatte das Wort „Schatten“ außerdem eine übertragene Bedeutung und bezeichnete das Unwirkliche eines Gegenstandes, etwas Unbeständiges, Flüchtiges und Nichtiges.
In der Bibel finden wir es ebenfalls an einigen Stellen in dieser Bedeutung, so z.B. in unserem Predigttext, einem Abschnitt aus dem Matthäusevangelium im vierten Kapitel. Er lautet folgendermaßen:

Matthäus 4, 12- 17

12 Als nun Jesus hörte, dass Johannes gefangen gesetzt worden war, zog er sich nach Galiläa zurück.
13 Und er verließ Nazareth, kam und wohnte in Kapernaum, das am See liegt im Gebiet von Sebulon und Naftali,
14 damit erfüllt würde, was gesagt ist durch den Propheten Jesaja, der da spricht (Jesaja 8,23; 9,1):
15 »Das Land Sebulon und das Land Naftali, das Land am Meer, das Land jenseits des Jordans, das heidnische Galiläa,
16 das Volk, das in Finsternis saß, hat ein großes Licht gesehen; und denen, die saßen am Ort und im Schatten des Todes, ist ein Licht aufgegangen.«
17 Seit der Zeit fing Jesus an zu predigen: Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!

Dieser Abschnitt steht an einer wichtigen Stelle im Matthäusevangelium, und zwar am Anfang der Wirksamkeit Jesu. Vorweg geht die Geschichte, wie Jesus vom Teufel versucht wurde und widerstanden hatte. Damit war die Vorbereitung für seinen Dienst abgeschlossen. Nun kann sein eigentliches Wirken beginnen, und dafür wählt er die Gegend Galiläa mit der Stadt Kapernaum im Norden Palästinas, wie wir hier erfahren. Es sollte der Ausgangspunkt seiner Tätigkeit werden, und die wird im Folgenden zusammenfassend beschrieben. Dafür  zitiert der Evangelist eine Stelle aus dem Buch des Propheten Jesaja. Dort werden diejenigen erwähnt, die „in der Finsternis leben“. Dabei bezieht sich diese Aussage auf eine bestimmte geographische Gegend nämlich „das Land Sebulon und das Land Naftali, das Land am Meer, das Land jenseits des Jordans, das heidnische Galiläa.“ Das klingt zunächst also sehr konkret: Jesus ist gekommen, um den Menschen in diesen Gebieten das Heil zu bringen. Sie zählten zu den sogenannten Heiden, also zu denen, die bis dahin nichts von Gott wussten. Doch die Ortsangaben ergeben bei näherer Betrachtung einige Ungereimtheiten. Wir müssen sie eher symbolisch verstehen, und das wird auch im weiteren Verlauf deutlich. Denn nun wird über „das Volk“, das in dieser Gegend wohnt, eine allgemeine Aussage gemacht: Sie „sitzen in der Finsternis und im Land und Schatten des Todes.“
So haben die Griechen diese Stelle aus dem Alten Testament übersetzt. Dabei haben sie das Wort „Schatten“ sicher ganz bewusst gewählt, im hebräischen Urtext steht es nämlich nicht. Denn im Alten Testament wird der Schatten immer eher positiv verstanden und als Schutz vor der Hitze gesehen. An unserer Stelle steht im Urtext deshalb das Wort „Finsternis“, und das hat einen eindeutig negativen Klang. Es kennzeichnet gegenüber dem Licht das Elend, die Todesgefahr, ja sogar die Todeswelt. Die Griechen haben das zu Recht mit ihrem Wort „Schatten“ übersetzt, oder genauer „Todesschatten“. Denn hier ist tatsächlich die Vergänglichkeit und Nichtigkeit gemeint, die Sphäre der Verdammnis und des Untergangs.
In sie hinein ist ein „großes Licht“ aufgestrahlt, das ist jetzt die eigentliche Aussage. Gottes Gegenwart ist erschienen und sie macht alles neu. Denn Gott schafft Heil und Leben. Und das gilt der ganzen Welt. Jesus ist dieses aufstrahlende Licht, das neue Gestirn. Durch ihn ist die Zeit des Verlorenseins beendet, denn das Licht trifft auf die „Schatten des Todes“ und führt die Menschen aus der „finsteren Gegend“ heraus. Jesus schenkt ihnen eine endzeitliche Rettung.
Das ist hier die Botschaft, und die ist wie eine Zusammenfassung des ganzen Evangeliums. Sie endet mit dem, was wir als Überschrift zur Predigt Jesu verstehen dürfen: „Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!“ Das heißt: Tretet heraus aus den „Schatten des Todes“ und schaut in das Licht. Nehmt es an, folgt dem, der euch das Heil bringt und lasst euch retten!
Wir werden also noch einmal an die Weihnachtsbotschaft erinnert und aufgefordert, ihr zu glauben. In der Geburt Jesu ist das ewige Licht erschienen, und es gilt der ganzen Welt. Das Heil ist offenbar geworden und wir sollen es annehmen.
Die Frage ist allerdings, wo dieses Licht denn nun scheint. Ist es wirklich da? Ist die Welt nicht genauso finster wie eh und je? Und ist es nicht ziemlich weltfremd, davon zu reden, dass in Jesus ein neues Licht aufgestrahlt ist? So lautete am Heiligabend der Kommentar eines Gottesdienstbesuchers. Ich weiß nicht so genau, warum er überhaupt da war, denn es war ja zu erwarten, dass er so etwas zu hören bekommt. Natürlich predigen wir zu Weihnachten, dass es eine ewige Rettung gibt, dass Gott zu uns gekommen ist und uns Licht schenkt.
Zwischen Tür und Angel konnte ich auf die Frage, wie weltfremd das ist, natürlich nicht eingehen. An dieser Stelle möchte ich das allerdings einmal tun, und zwar mit einer Gegenfrage: Ist es nicht viel weltfremder, das nicht zu glauben? Bereits die Griechen gingen davon aus, dass unser Dasein, so wie wir es kennen, etwas Schattenhaftes an sich hat. Das Reich der Sinne ist von vorne herein nichtig und vergänglich. Wir halten es nur für beständig, in Wirklichkeit verwechseln wir da etwas. Was wir in dieser Welt sehen und hören, schmecken und anfassen, erleben und erfahren, ist dem Tod geweiht und nur ein Abbild. Das Urbild sehen wir nicht, es steht aber hinter allem und hat ewigen Charakter. In Jesus Christus ist es aufgestrahlt, das ist die Botschaft des Neuen Testamentes, und dieses Licht ist viel wirklicher als alles andere.
Um es zu erkennen, müssen wir also aufhören, uns täuschen zu lassen. Und das heißt, wir müssen mit der Welt und unseren Sinnen einmal anders umgehen, als wir es normalerweise tun. Normalerweise versuchen wir, den Tod und das Leid, d.h. die Finsternis zu vertreiben, indem wir uns ablenken und zerstreuen. Unsere Welt ist dunkel, das merken wir alle, und um das auszuhalten, veranstalten wir alle mögliche. Wir geben es nicht wirklich zu, weichen aus, machen einfach die Augen zu und fragen nicht weiter. Meistens sind wir unehrlich und machen uns etwas vor. Wir schalten künstliche Lichter an.
Und dabei merken wir nicht, wie sie uns blenden und uns den Blick für das wahre und ewige Licht verstellen. Wir lassen uns lieber täuschen und tun so, als sei alles in Ordnung. Wir führen ein schattenhaftes, nichtiges und vergängliches Dasein und machen uns keine Gedanken. Unser Lebensstil ist eine einzige riesige Verdrängungsstrategie.
Und dabei geben wir uns mit viel zu wenig zufrieden. Wir lassen uns mit vorläufigen Gütern sozusagen abspeisen. Wir könnten eine Nahrung empfangen, die uns zutiefst sättigt, uns reicht aber das Leichte und wenig Schmackhafte, das, was bald wieder Hunger erzeugt und uns nie zufriedenstellt.
Und genau damit müssten wir einmal aufhören. Das meint Jesus, wenn er sagt: „Tut Buße!“ Es heißt: Wacht auf, seid ehrlich und macht euch nichts vor. Erwartet mehr vom Leben, lasst euch wirklich trösten und empfangt das ewige Heil.
Ganz einfach ist das nicht, denn es heißt, dass wir die Dunkelheit der Welt zunächst ertragen müssen. Es gilt, alles Unvollkommene und Böse, alles Bedrückende und Bedrängende einmal auszuhalten, ohne gleich etwas dagegen zu tun.
Und das heißt, es geht auch nicht um Frömmigkeit oder irgendwelche Glaubenspraktiken. Als Christen müssen wir da aufpassen. In subtiler Weise können wir nämlich doch wieder alles selber machen. Unversehens wird unser Glaube eine selbstgemachte Strategie, ein künstliches Licht, das gar nicht richtig scheint. Das merken wir spätestens dann, wenn er uns in Leid und Anfechtung doch nicht trägt, wenn er in Bedrängnis versagt und durch eine notvolle Situation mit in den Abgrund gerissen wird. So ein Glaube ist nicht gemeint. Wir müssen vielmehr wirklich still halten, geduldig sein und auf uns nehmen, was uns quält. „Radikale Akzeptanz“ ist das Stichwort, das dafür in der Psychologie verwendet wird.
Denn das wahre Licht ist längst da, wir müssen es nicht selber anschalten, weder durch Frömmigkeit noch durch weltliche Veranstaltungen. Im Gegenteil, je weniger wir das versuchen, umso eher können wir es sehen. Es leuchtet hinter allem und kann in die „Schatten des Todes“ hineinfallen.
Wir müssen unsere Seele und unseren Geist nur dem Licht Christi aussetzen. Unser Inneres kann wie ein großer Spiegel sein, der das ewige Licht reflektiert. Es ist so wie in den schattigen Bergdörfern: Das Licht scheint dort im Winter nicht direkt, aber durch die Spiegel wird es in die Täler gelenkt und kann alles erhellen. Genauso kann das ewige Licht, das Christus gebracht hat, durch unsere Seele und unseren Geist in unser Leben hineinscheinen. Das können wir uns so vorstellen, es ist ein schönes Bild für das Licht, das „im Land der Finsternis“ aufgeht.
Das gilt es, zu beherzigen, dann wird es wirklich hell. Die Schatten machen uns keine Angst mehr, der Tod wiegt nicht mehr schwer und wir werden realistisch. Alles Nichtige verflüchtigt sich. Wir kommen mit dem ewigen Licht in Berührung und erkennen darin, wie die Welt wirklich ist.
Amen.

Jesus ist der Weg, die Wahrheit und das Leben

Predigt über Johannes 14, 1- 6: Jesus, der Weg zum Vater

Neujahr, 1.1.2017, Lutherkirche Kiel

Liebe Gemeinde.
Haben Sie schon einmal eine längere Wanderung gemacht? Dann kennen Sie sicher auch die Erfahrung, sich dabei zu verirren. Solche Geschichten kann fast jeder erzählen, der sich darauf einlässt. Obwohl man die richtigen Karten hat, stimmen die plötzlich nicht mehr mit der Realität überein. irgendwo ist man falsch abgebogen, hat etwas übersehen, und dann fängt das Rätselraten an: Wo bin ich? Wo geht es lang? Eine leichte Panik kommt auf, aber irgendwie und irgendwann klärt sich die Situation wieder, manchmal durch Glück, manchmal dadurch, dass man wieder zurückgeht oder einfach etwas ausprobiert. Der Weg ist wieder klar und die Richtung stimmt.
Jesus kannte die Situation des Wanderns gut, er war ja praktisch immer unterwegs. Und so benutzte er diesen Vorgang gerne als ein Bild. In unserem Predigttext beschreibt er damit, worin das Leben besteht, was darin wichtig ist und wo es hinführt. Er steht im 14. Kapitel des Johannesevangeliums und lautet:

Johannes 14, 1- 6

1 Euer Herz erschrecke nicht! Glaubt an Gott und glaubt an mich!
2 In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen. Wenn’s nicht so wäre, hätte ich dann zu euch gesagt: Ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten?
3 Und wenn ich hingehe, euch die Stätte zu bereiten, will ich wiederkommen und euch zu mir nehmen, damit ihr seid, wo ich bin.
4 Und wo ich hingehe, den Weg wisst ihr.
5 Spricht zu ihm Thomas: Herr, wir wissen nicht, wo du hingehst; wie können wir den Weg wissen?
6 Jesus spricht zu ihm: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben, niemand kommt zum Vater denn durch mich.

Jesus sagt das hier zu seinen Jüngern, kurz bevor er sie für immer verlässt, es ist also ein Teil seiner sogenannten Abschiedsreden. Sie enthalten Mahnungen und Verfügungen, theologische Rückblicke und Segensworte. Hier geht es um die Sendung Jesu, um den Glauben und das Ziel des Lebens. Dabei will Jesus seine Jünger hauptsächlich trösten und beruhigen, denn natürlich waren sie erschüttert, dass die Trennung von ihm bevorstand. Das hatte er ihnen gerade angekündigt. Sie hatten Angst, ihn zu verlieren und mit ihm das Leben. Denn das hatte er ihnen in ganz neuer Weise ermöglicht: Sie hatten seine Wunder gesehen und Worte des ewigen Lebens gehört. Sie waren durch ihn Gott nahe gekommen. Sollte das alles nun vorbei sein? Das fragten sie sich, und Jesus wusste das. Deshalb sagt er als erstes: „Euer Herz erschrecke nicht!“ Er richtet sie also auf und ermutigt sie zum Glauben, und zwar zum Glauben an Gott und an ihn: „Glaubt an Gott und glaubt an mich“, sagt er. Der Sohn und der Vater gehören zusammen, es kann den Glauben an den einen nicht ohne den anderen geben, das kommt hier zum Ausdruck.
Und dann folgt das Bild von dem „Haus Gottes mit den verschiedenen Wohnungen“. Das stammt aus der Literatur des späten Judentums. Da haben Propheten ihre Visionen von der himmlischen Welt aufgeschrieben. Sie stellten sie sich wie eine himmlische Wohnstatt Gottes vor, der von seinem Hofstaat umgeben ist. Dort finden auch die Gerechten ihre Heimat. Jesus nennt diesen göttlichen Ort hier das „Haus meines Vaters“, und er verheißt seinen Jüngern, dass sie dort ihre Bleibestätten finden werden. Es ist das Ziel ihres Lebensweges.
Doch wie erreichen sie das? Das fragt Thomas nun.
Und darauf gibt Jesus ihm die berühmte Antwort: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben, niemand kommt zum Vater denn durch mich.“ Das ist ein starker Spruch, der bis heute nichts von seiner Strahlkraft verkoren hat. Die beiden Worte „ich bin“ verleihen der Aussage etwas Hoheitliches: Jesus offenbart hier, wer er ist. Wir finden diese Formel an verschiedenen Stellen im Johannesevangelium. Sie ist immer feierlich und würdevoll.
Hier wird dieser Charakter noch dadurch verstärkt, dass Jesus gleich drei Titel nennt, mit denen er beschreibt, wer er ist: „Weg, Wahrheit und Leben“. Aus dem Zusammenhang kann man schließen, dass der Nachdruck auf dem „Weg“ liegt: Jesus ist der Weg zum Vater. Doch das ist schwer zu verstehen, denn für eine Person ist das ein eher ungewöhnliches Bildwort. Deshalb erläutert Jesus es durch die beiden anderen Begriffe: Er ist der Weg zum Vater, weil in ihm die Wahrheit und das Leben liegen. Er hat die „Wahrheit“ Gottes ja offenbart, er hat den Menschen das Heil gezeigt und angeboten, und dadurch hat er ihnen „Leben“ vermittelt. Damit meint Jesus die ganze Fülle des Lebens, das auch nach dem Tod noch weiter geht, d.h. die Befreiung aus dem Todesbereich und die Überwindung der Todesgrenze. Er führt jeden, der an ihn glaubt, in die göttliche Wirklichkeit, er lässt ihn am Leben Gottes teilhaben, des lebendigen Vaters und Ursprungs. Deshalb ist Jesus der „Weg“ zum Vater. Er führt die Gläubigen in die Gemeinschaft mit ihm und damit zum Ziel ihres Lebens.
Das ist hier die Botschaft, und damit kann Jesus die Jünger kurz vor der Trennung tatsächlich gut aufrichten und ermutigen, denn sie ist sehr tröstlich.
Für uns sind das ebenso beruhigende Worte, die uns zeigen, wo es lang geht. Wir müssen sie nur in unser Leben übertragen, und dafür ist das Bild von dem Weg und dem Ziel sehr gut geeignet. Auch unabhängig davon, wie Jesus es hier einsetzt, können wir unser Leben damit beschreiben: Es ist wie eine Wanderung, bei der wir eine Vorstellung davon haben, wo wir hin wollen. Denn unser Leben geht Tag für Tag weiter, und wir haben immer etwas vor Augen, das wir erreichen möchten. Wir haben Wünsche und Träume, Pläne und Vorhaben. Dabei muss es sich gar nicht um irgendetwas Besonderes oder Individuelles handeln. Es gehört zu unserer menschlichen Natur, dass wir uns vorstellen, wie unser Leben am besten sein soll. Das fängt schon damit an, dass wir alle gerne gesund sein wollen. Krankheiten mögen wir nicht, und wir tun viel, um sie zu verhindern und auszukurieren. Aber das ist nicht alles. Auch Erfolg ist ein ganz natürlicher Wunsch, ob im Beruf oder im privaten Bereich: Wir möchten mit dem, was wir können, weiterkommen und Anerkennung finden. Und natürlich will niemand allein sein. Das Streben nach Gemeinschaft ist ein weiteres allgemeines Ziel, das wir alle teilen. Wir wünschen uns Zuwendung und Liebe. Frieden und Wohlstand gehören ebenfalls zu den Dingen, nach denen sich eigentlich alle Menschen sehnen. Krieg und Terror sollen fern bleiben und dort, wo sie toben, doch bitte aufhören.
Solche Gedanken haben wir immer wieder, Gedanken darüber, wie wir uns das Leben vorstellen. Am Anfang eines neuen Jahres bewegen sie uns besonders. Da schauen wir nach vorne und malen uns aus, was wohl alles kommen wird. Einiges haben wir geplant, anderes ist noch offen. Auf jeden Fall soll es uns aber gut gehen, sowohl privat als auch gesellschaftlich.
Doch erreichen wir das auch? Wer zeigt uns den Weg? Wer sorgt dafür, dass wir uns nicht verirren? Der Gedanke an die Zukunft ist immer mit Unsicherheit verbunden, eventuell sogar mit Angst und Sorge. Es ist wie bei einer Wanderung: Wir haben zwar die richtigen Karten, d.h. im Großen und Ganzen wissen wir, was wir tun müssen, aber wir sind nie davor geschützt, den richtigen Weg zu verlieren. Es gibt zu viele Unwägbarkeiten. Das Leben gelingt nicht einfach so, der Druck ist manchmal groß.
Und dahinein ist das Wort Jesu eine wunderbare Botschaft. Um die zu verstehen, ist es gut, wenn wir es von hinten lesen und zunächst auf das Ziel achten, dass Jesus vor Augen hatte: „zum Vater kommen“, darum geht es ihm, das wollte er und das bietet er seinen Jüngern an.
Und das ist ein provozierender Gedanke. Jesus definiert damit nämlich ein ganz anderes Ziel, als wir es tun. Ihm geht es nicht um Gesundheit oder Erfolg, Gemeinschaft und Frieden, also um etwas Innerweltliches, sondern um die ewige Heimat bei Gott, um das Erreichen des Hauses Gottes. Und damit stellt er uns etwas vor, das uns zu denken geben kann, etwas Großes und Wunderbares. Alles andere ist von vorne herein kleiner, denn dieses Ziel weist über die Welt hinaus. Es relativiert unsere irdischen Wünsche, und stellt sie auch in Frage. Das sollten wir jedenfalls einmal zulassen und alles, wonach wir uns sehnen, auf diesem Hintergrund überprüfen. Wir können uns fragen: Ist es wirklich so wichtig, dass wir gesund und erfolgreich sind? Ist es nicht viel entscheidender, dass wir den Himmel nicht versäumen, „dass uns werde klein das Kleine und das Große groß erscheine“? So ist es in einem Ewigkeitslied aus dem 19. Jahrhundert formuliert. (Evangelisches Kirchengesangbuch, Ausgsbe für die Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche, 45. Auflage 1984, Nr. 485,4). Wenn wir uns darauf einlassen, fällt ein ganz großer Teil des Drucks, den wir uns normaler Weise machen, von uns ab. Ängste verschwinden, innere Fesseln lösen sich. Wir können uns entspannen und loslassen, weil wir uns auf etwas besinnen, das unseren Geist weitet und unsere Seele befreit.
Und Jesus malt uns nicht nur dieses schöne Ziel vor Augen, er spricht gleichzeitig von dem Weg, der dorthin führt, und das ist gut, denn wie sollen wir den kennen? Jesus weiß, dass das nicht möglich ist. Ein Ziel, das über die Welt hinausweist und uns in eine ganz andere Dimension führt, können wir von uns aus nicht erreichen. Das wäre viel zu viel verlangt. Das ist Jesus klar. Und er sagt auch nicht nur: Ich helfe euch, steh euch bei und zeig euch den Weg, sondern: „Ich bin der Weg.“ und das heißt, wir müssen nur auf ihn vertrauen.
Es geht im Glauben nicht darum, dass wir aus eigener Kraft zum Vater kommen. Wir müssen uns vielmehr auf Jesus einlassen, an seine Offenbarung glauben uns ihm hingeben. Dann werden wir aus dem Bereich des Todes befreit und in die göttliche Wirklichkeit geführt. Jesus bringt die Gläubigen in die Gemeinschaft mit Gott, dem Vater, und damit zum Ziel ihres Lebens.
Und dabei gibt es auch kein Verirren, das ist praktisch ausgeschlossen. Wer auf Jesus vertraut, ist auf der sicheren Seite, ganz gleich, was sonst alles im Leben geschieht. Selbst wenn wir andere Ziele nicht erreichen, sind wir weiter geborgen. Die Gemeinschaft mit Gott lässt sich durch nichts zerstören, im Gegenteil: Sie gibt uns Halt und Trost, wenn einmal etwas schief geht. Wenn wir krank werden, Niederlagen erleiden und einsam sind, dann bleibt Gott trotzdem bei uns, dann sind wir weiter in seiner Nähe. Im Leben und im Sterben kann uns nichts von ihm trennen.
Das ist der große Trost, den Jesus uns hier gibt. Wenn wir ihn annehmen, sind wir in Ewigkeit geschützt und bewahrt.
Und auf wunderbare Weise gehen auch innerweltliche Wünsche dabei manchmal in Erfüllung. Denn es ist zutiefst heilsam, so zu glauben und zu vertrauen, sich so auf Jesus auszurichten. Es gibt uns Kraft und Zuversicht, wir werden gelassen und hoffnungsvoll, das Leben wird schöner und bunter.
Das wichtigste, was wir am Anfang dieses neuen Jahres bedenken und beherzigen sollten, ist deshalb Jesus, denn er ist „der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ Wer das Glück sucht, indem er andere Ziele verfolgt, soll das gerne tun, mein Herz allein bedacht soll sein, auf Jesus sich zu gründen“, (Evangelisches Gesangbuch Nr. 346,1) denn das ist heilsamer und befreiender als alles andere.
Amen.