Das Bad der Wiedergeburt

Predigt über Titus 3, 4- 11: Erneuerung im Heiligen Geist

1. Weihnachtsfeiertag, 25.12.2015, 9.30 und 11 Uhr
Luther- und Jakobikirche Kiel

Titus 3, 4- 7

4 Als aber erschien die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes, unseres Heilands,
5 machte er uns selig – nicht um der Werke der Gerechtigkeit willen, die wir getan hatten, sondern nach seiner Barmherzigkeit –
durch das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung im Heiligen Geist,
6 den er über uns reichlich ausgegossen hat durch Jesus Christus,
unsern Heiland,
7 damit wir, durch dessen Gnade gerecht geworden,
Erben des ewigen Lebens würden nach unsrer Hoffnung.

Liebe Gemeinde.
Baden Sie gerne? Hier in Kiel kann man das ja gut in der Förde tun, und einige Menschen betreiben das sogar im Winter. Es sind die sogenannten „Winterbader“. Sie treffen sich in der Seebadeanstalt in Düsternbrook oder Holtenau und bilden eine verschworene Gemeinschaft. Denn das Wasser ist natürlich ziemlich kalt. Aber es erfrischt angeblich, härtet ab, und man fühlt sich hinterher so richtig gut.
Ich selber beschränke mein Schwimmen im Freien auf die wärmeren Monate. Im Winter gehe ich lieber ins Hallenbad. Das bekommt mir auch.
Ins Wasser zu steigen und sich darin aufzuhalten, macht den meisten Menschen Spaß. Selbst das Bad in der Wanne hat eine positive Wirkung. Es entspannt und reinigt, belebt und erfrischt.
Deshalb wurde in unserer Epistel von heute das Bad als ein Bild verwendet. Sie ist gleichzeitig unser Predigttext. Vom „Bad der Wiedergeburt“ ist dort die Rede. Diesen Ausdruck finden wir in der Bibel an verschiedenen Stellen, und er bezieht sich auf die Taufe. Sie macht den Menschen zu einer neuen Kreatur, das war die Vorstellung. Er wird gereinigt, die Sünden werden abgewaschen, und der Mensch ist danach wie ein eben geborener Säugling. Damit soll gesagt werden, dass die Taufe zu einem höheren Dasein erneuert. Der Täufling wird in die neue Welt eingegliedert, die durch das Erscheinen Christi da ist.
Mit dieser Vorstellung beginnt der Textabschnitt, der ein alter Hymnus ist, ein Lied, das die christliche Gemeinde wahrscheinlich immer anlässlich einer Taufe gesungen hat. Darin wird am Anfang das Gotteswunder erwähnt, das mit der Ge-burt und dem Kreuzestod Jesu anbrach: „Es erschien die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes, unseres Heilands“. Das sind feierliche Worte für das Kommen Christi. Es stellt eine Wende in der Geschichte der Menschheit dar. Denn in ihm erschien, wie ein Licht in der Finsternis, die Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes. Sie hat uns aus dem Verderben gerissen, gerettet und „selig gemacht“, wie Luther übersetzt. Im Lateinischen steht dafür das Wort „Humanitas“, Humanität also. Gott hat die wahre Humanität gebracht, er hat sich den Menschen zugewandt und ihnen einen neuen Anfang ermöglicht.
Das Wasser, das Schmutz abwäscht und reinigt, erfrischt und belebt, ist für diesen Vorgang ein schönes Symbol. Es kommt in unserem Text auch noch ein zweites Mal vor. Wasser gibt es ja nicht nur als Element, in das man hineinsteigen kann, es regnet auch auf uns herab oder kann ausgegossen und verteilt werden. Und das geschieht ebenso bei der Taufe: Da werden wir erneuert „im Heiligen Geist, den Gott über uns reichlich ausgegossen hat.“ Gott gießt seine Kraft und Gegenwart über uns aus, und er geht damit verschwenderisch um. Vom Wasser, das über etwas ausgegossen wird, geht ja meistens etwas daneben, es ist reichlich vorhanden und kann viel bewirken. So ist es mit dem Heiligen Geist, der in der Taufe das Wunder der Neugeburt vollzieht.
Dabei ist es noch wichtig, dass wir das alles ohne unser Zutun bekommen, „nicht um der Werke der Gerechtigkeit willen, die wir getan hatten, sondern nach seiner Barmherzigkeit.“ Das ist ja ein Grundgedanke im Neuen Testament, dass wir „allein aus Gnade“ gerettet werden.
Und zum Schluss wird noch das Ziel genannt: Wir werden „Erben des ewigen Lebens nach unsrer Hoffnung.“ Die Taufgnade umfasst eine Verheißung: Wenn der Jüngste Tag anbricht, und Gott zum letzten Gericht erscheint, werden die Getauften freigesprochen und bekommen Anteil am ewigen Leben. Ihre Rettung geschieht für Zeit und Ewigkeit.
Das ist die Botschaft unserer Epistel, und die passt sehr schön zu Weihnachten. Wir feiern das Erscheinen Jesu Christi, und uns wird gesagt: Das war nicht nur ein geschichtliches Ereignis, es hat vielmehr erneuernde Kraft. Wir können hineingenommen werden in dieses Gotteswunder, und das ist wie ein Bad: Wir werden gereinigt und erfrischt, belebt und gestärkt.
Doch wie geht das nun vor sich? An unsere Taufe erinnern wir uns ja wahrscheinlich nicht mehr. Und es ist auch nicht so gemeint, dass dieses einmalige Bad für alle Zeiten ausreicht, damit wir neue Menschen sind. Wir müssen vielmehr – bildlich gesprochen – immer wieder in das Wasser der Taufe eintauchen, der Heilige Geist muss immer wieder über uns „ausgegossen“ werden. Das sagt Luther schon im Kleinen Katechismus im „Hauptstück“ über die Taufe. Es heißt dort „zum Vierten: Was bedeutet denn solch Wassertaufen? Es bedeutet, dass der alte Adam in uns durch tägliche Reue und Buße soll ersäuft werden und sterben mit allen Sünden und bösen Lüsten; und wiederum täglich herauskommen und auferstehen ein neuer Mensch, der in Gerechtigkeit und Reinheit vor Gott ewiglich lebe.“
Die Erneuerung im Geist und in der Seele bleibt eine Aufgabe, eine Übung, die wir regelmäßig vollziehen müssen. Lassen Sie uns also fragen, was das heißt.
Wir können es uns gut klarmachen, wenn wir uns einmal bewusst machen, dass wir alle irgendwelche „alten Geschichten“ mit uns herumtragen. Je älter wir werden, umso mehr. Und einiges davon kann uns unser Leben lang belasten. Dabei gibt es natürlich Unterschiede, es gibt leichte und schwere Lasten, Dinge, die wir tragen können, und anderes, das uns fast erdrückt.
Ich habe gerade Post von einem Mann bekommen, der seit 30 Jahren ein Trauma mit sich herumträgt: Er hat damals auf ei-ner Wanderung seinen Sohn verloren, der in den Abgrund gestürzt ist. Er gibt sich selber die Schuld für diesen Unfall und kann die schrecklichen Bilder in seinem Geist nicht auslöschen. Sie haben sich in seiner Seele festgesetzt und quälen ihn Tag und Nacht.
Das ist ein schlimmes Beispiel, etwas Schlimmeres gibt es wahrscheinlich kaum, und so etwas erlebt zum Glück nicht jeder Mensch. Aber keine Lebensgeschichte verläuft geradlinig, ohne Brüche oder seelische Verletzungen. Sie können durch vieles hervorgerufen werden: durch Gewalt oder Unrecht, eigene Schuld, Fehlentscheidungen oder schwerwie-gendes Versagen. Die Seele wird dadurch erschüttert, es kommt zu einem inneren Leiden. Und das kann manchmal lange dauern. Das traumatisierende Ereignis hält uns fest, es hat uns im Griff und wir werden es nicht los. Wir sind darauf fixiert.
Natürlich gibt es dafür viele Therapiemöglichkeiten, und die müssen wir auch in Anspruch nehmen, wenn wir weiterleben wollen. Wir erlernen dadurch tiefere Ebenen der Verarbeitung, können die belastenden Erinnerungen abschwächen bzw. beherrschbar machen. Es gibt auch den Ansatz, das Erfahrene zu einer Geschichte zusammenzufügen, diese mit Sinn oder Bedeutung zu verbinden und in die persönliche Lebensgeschichte zu integrieren. Das Ziel ist immer, sich selber besser zu kontrollieren und nicht mehr von den alten Gefühlen überschwemmt zu werden.
Und dabei kann nun auch der Glaube einen wichtigen Dienst erweisen. Wenn wir das Bild von dem „Bad der Wiedergeburt“ anwenden, heißt es, dass er uns einen Neuanfang ermöglicht, eine Befreiung und Reinigung.
Dabei müssen wir uns als erstes klar machen, dass durch Jesus Christus wirklich etwas Neues angefangen hat. Sein Erscheinen ist nicht nur eine Lehre oder eine Idee, sondern durch ihn gibt es in dieser Welt eine unsichtbare, göttliche Wirklichkeit, in die wir hineingenommen werden können, in die wir „eintauchen“ können.
Das Wasser ist ein anderes Element als die Luft. Wenn wir hineinsteigen, verändert sich unser Körpergefühl, wir werden getragen und sind umgeben von einer Materie, die sich vom Gewohnten unterscheidet. So ist es auch mit der Gegenwart Christi: Sie kann uns umspülen und einhüllen, tragen und verändern.
Oft stellen wir uns Gott oder Jesus Christus als ein Gegenüber vor. Wir denken an ihn, reden über ihn, beten vielleicht zu ihm und erwarten, dass er etwas tut. So fängt der Glaube in der Kindheit auch an. Doch das ist noch lange nicht alles. In Zeiten, in denen wir schwer leiden, reicht das auch nicht. Denn da fehlen uns oft die Bilder und die Worte ebenso. Alles verdunkelt sich, wir können keine klaren Gedanken mehr fassen.
So ist es gut, dass uns verkündet wird: Jesus Christus ist noch viel mehr als ein Gegenüber oder ein Gedanke. Seine Liebe ist wie eine Hülle, die er uns umlegt. Wir müssen dabei gar nichts mehr sagen oder denken. Wir dürfen schweigen, still halten und so sein, wie wir sind. Alles, was uns beschäftigt, gehört zu uns, und nichts davon müssen wir abschneiden. Auch die Dinge, die wir bereuen, Fehlentscheidungen, Versagen und Schuld sind ein Teil von uns, den Jesus sieht und den er haben will.
Wir müssen all diese Geschichten deshalb selber annehmen. Das Schwere lässt sich nicht einfach so eliminieren oder aus-löschen. Es ist da. Oft verstärkt sich das Leid dadurch, dass wir es loswerden wollen. Wir würden einiges von dem, was sich in unserem Leben ereignet hat, am liebsten ungeschehen machen, aber das geht nicht. Wir müssen dazu „Ja“ sagen. Aus eigener Kraft ist das wahrscheinlich fast unmöglich. Aber wenn wir darauf vertrauen, dass Christus „Ja“ dazu sagt, kann es möglich werden. Und dadurch wird es abgeschwächt. Es verliert seine Macht, denn Christus vergibt uns alle Sünden, die uns belasten.
Die Erklärung Martin Luthers aus dem Kleinen Katechismus klingt beim ersten Hören ja etwas düster und brutal: „Der alte Adam in uns soll durch tägliche Reue und Buße ersäuft werden und mit allen Sünden und bösen Lüsten sterben.“ Das hört sich an wie ein Leben mit täglichen Schuldgefühlen, täglicher Selbstverurteilung und seelischer Kasteiung, und das lehnen wir ab. Doch so ist es nicht gemeint. Dahinter verbirgt sich vielmehr genau das Gegenteil. Der „alte Adam in uns“ ist genau die Stimme, die uns quält und verurteilt, die uns festhält und traumatisiert. Sie soll „ersäuft“ werden. „Sünde und böse Lust sollen sterben“, wie Luther sagt. Und damit meint er nicht nur Verstöße gegen die zehn Gebote, Ausschweifungen, Egoismus, Liederlichkeit usw., sondern genauso das Festhalten an unseren „alten Geschichten“. Es geht darum, uns nicht mehr auf unsre Schuld zu fixieren, täglich loszulassen und das Alte alt sein zu lassen.
Dabei weiß Luther sehr wohl, dass es nicht einfach ist, die Fixierung aufzubrechen und sie loszuwerden. Die negativen Stimmen in uns verstummen nicht ein für alle Mal, nur weil wir das wollen. Hinter seiner Aufforderung zur „täglichen Reue und Buße“ verbirgt sich vielmehr die Einsicht, dass wir uns immer wieder von ihnen abwenden müssen. Das Vertrauen auf die alles umfassende Gnade Christi muss eine tägliche Übung sein.
Doch wenn wir sie vollziehen, kann „wiederum täglich herauskommen und auferstehen ein neuer Mensch, der in Gerechtigkeit und Reinheit vor Gott ewiglich lebe“, wie Luther weiter sagt. Und das ist eine wunderbare Verheißung. Hinter ihr verbirgt sich eine geistliche Erfahrung, die wir machen können, wenn wir uns im Vertrauen auf Christus üben: Wir merken, dass er da ist. Wir sind nicht mehr allein, wir spüren seine Liebe und seine Kraft, und die kann uns verwandeln. Seelische Fesseln lösen sich, die innere Qual schwächt sich ab, wir können aufatmen und fühlen uns frei.
Es ist wie nach einem Eintauchen ins Wasser: Wir sind erfrischt und neu belebt. Nicht umsonst gibt es dafür den Aus-druck „sich wie neu geboren fühlen“. Das sagen wir gerne nach einem Bad. Unsere Lebensgeister erwachen dadurch, uns durchströmt eine neue Energie, ungeahnte Kräfte werden mobilisiert und wir verspüren frischen Tatendrang.
Und das alles ist keine Einbildung. Uns wird vielmehr wirklich etwas geschenkt, wenn wir uns in dieser Weise Christus anvertrauen: Der Heilige Geist wird über uns „ausgegossen“ und wir „erben das ewige Leben“. Wir bekommen Anteil an Gottes Gegenwart, an seinem Geheimnis und seiner Liebe. Unsere Seele wird geweitet, sie öffnet sich ins Grenzenlose, und unser Geist erhebt sich über diese Zeit hinaus.
Der Glaube kann also noch viel mehr als eine Therapie. Er löscht ein Trauma vielleicht nicht aus, aber er zeigt uns einen Weg, den wir vorher nicht gekannt haben: Wir finden eine unendliche Weite, in der die Seele zur Ruhe kommen kann. Denn wir finden die „Güte und Menschenliebe Gottes, die in Jesus Christus erschienen ist.“
Das ist die Weihnachtsbotschaft, und wir sind eingeladen, sie nicht nur an diesem Fest, sondern täglich neu zu hören und zu verinnerlichen.
Amen.

Das Fest der Liebe

Predigt über Titus 2, 11- 14: Die heilsame Gnade

Heiligabend, 24.12. 2015, 17.00 Uhr
Lutherkirche Kiel

Titus 2, 11- 14

11 Denn es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen
12 und nimmt uns in Zucht, dass wir absagen dem ungöttlichen Wesen und den weltlichen Begierden und besonnen, gerecht und fromm in dieser Welt leben
13 und warten auf die selige Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit des großen Gottes und unseres Heilands Jesus Christus,
14 der sich selbst für uns gegeben hat, damit er uns erlöste von aller Ungerechtigkeit und reinigte sich selbst ein Volk zum Eigentum, das eifrig wäre czu guten Werken.

Liebe Gemeinde.
Weihnachten ist das „Fest der Liebe“, und das erwarten wir auch alle in diesen Tagen: Liebe und Freundlichkeit, Friede und Harmonie. Wir wünschen es uns für unsere Familien und für die Welt, und so bereiten wir uns entsprechend darauf vor. Wir kaufen Geschenke, schmücken unsere Wohnungen, verschicken Grüße, singen Weihnachtslieder, backen Kekse und vieles mehr. Alle sollen es gut haben, besonders am Heiligabend.
Aber gelingt uns das eigentlich? Ich weiß nicht, wie es bei Ihnen ist, aber ich habe einige Menschen getroffen, für die war es z.B. richtig kompliziert, wer wo Weihachten hingeht. Sind die Kinder erst einmal groß und haben ihre eigenen Familien, stellt sich diese Frage: Feiern wir bei den Großeltern, und wenn ja, bei welchen? Oder kommen die zu uns? Keiner soll zu kurz kommen, keiner übersehen oder verletzt werden. Aber das ist manchmal gar nicht so einfach zu verwirklichen.
Und ist die Verwandtschaft erst da, stehen viele Fettnäpfchen herum, in die man leicht hineintreten kann. In jeder Familie gibt es empfindliche Themen, belastende Geschichten und unausgesprochene Konflikte.
Hinzu kommen die hohen Erwartungen an dieses wichtige Fest und der Anspruch, dass möglichst alles perfekt sein möge.
Im Schauspielhaus läuft in dieser Saison der Komödienklassiker „Schöne Bescherungen“. Das Stück nimmt Weihnachten und sein Spannungspotential unter die Lupe, und es geht natürlich schief: Ein Alkoholexzess jagt den nächsten, es droht der Ehebruch unterm Tannenbaum, und am Ende gibt es sogar einen versuchten Totschlag. Der britische Autor Alan Ayckbourn hat das Stück mit bissig-britischem Witz und Wahnsinn geschrieben. Das meiste ist natürlich übertrieben, aber den entscheidenden Satz der Hausfrau, in deren Heim das Familientreffen stattfindet, könnte jeder von uns sagen: „Keinen Streit bitte. Die Feiertage haben gerade erst angefangen. Ich kann gut darauf verzichten.“
Doch das ist wie gesagt nicht so einfach. Wo soll die Liebe denn herkommen, wenn sie seit Jahren schon nicht mehr richtig lebendig ist?
Der Abschnitt aus dem Titusbrief, den wir vorhin gehört haben, gibt uns darauf eine Antwort, denn dort wird das wahre Geheimnis von Weihnachten benannt, und zwar mit dem prägnanten Satz: „Denn es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen.“ (Tit 2,11).
Das griechische Wort für „Gnade“ lautet „charis“, und das können wir auch mit „Schönheit“ und „Freude“ übersetzen. Es bedeutet ebenso „Freundlichkeit“ und „Wohlwollen“. Danach sehnen wir uns, und es ist da: In Jesus Christus ist das alles Wirklichkeit geworden. Wir empfangen durch sein Kommen das, was wir uns alle wünschen. Er verkörpert das ursprüngliche Bild des Menschen, und das ist geprägt von Gnade und Liebe.
Denn auch Gott hat sich den Menschen so gedacht. Der Mensch, den Gott sich erhofft hat, spiegelt in seinem Gesicht Freude und Schönheit wider. Er strahlt Milde und Freundlichkeit aus. Er ist gut zu sich und zu den Menschen. Er glaubt an das Heil und lockt so den guten Kern in seinen Mitmenschen hervor. Er liebt nicht nur seinen Nächsten, seine Freunde und Bekannte, ja nicht nur seine Feinde. Er ist selbst Liebe. Sein Wesen ist: Liebe zu sein. Und das alles ist in Jesus Christus erschienen.
Das ist die Weihnachtsbotschaft, und die ist wunderbar. Wir haben sie auch bitter nötig. Der Apostel Paulus hat den Titusbrief geschrieben, und er sieht die Situation des Men-schen vor dem Erscheinen Christi als verfahren und heillos. Er spricht vom „ungöttlichen Wesen“, „weltlichen Begierden“ und „Ungerechtigkeit“. All das bestimmt die Menschheit. Doch aus diesem unheilvollen Zustand hat uns das Erscheinen der Gnade Gottes in Jesus Christus herausgerissen. Es ist das große Geschenk, das Gott uns zu Weihnachten macht. Wir müssen es nur annehmen, d.h. etwas müssen wir dazu beitragen, damit es Wirklichkeit wird. Es geschieht nicht ohne das Zutun des Menschen.
Deshalb erwähnt Paulus hier außerdem einige Tugenden: „Zucht und Selbstbeherrschung, Besonnenheit und Gerechtigkeit.“ All das müssen wir üben, wenn die heilsame Gnade Gottes wirken soll. Man kann diesen Prozess Heiligung nennen. Auf ihn müssen wir uns einlassen. Doch all das ist auch möglich. Wir hören zu Weihnachten die Botschaft von der großen Gnade und Freundlichkeit Gottes, die uns erfüllen und in Bewegung setzen kann.
Das klingt gut, aber ist es nicht doch etwas unrealistisch? Was hat sich in der Welt denn durch das Erscheinen Jesu Christi verändert? Wir scheitern nach wie vor an unseren Idealen, und da sind auch die Christen kein Stückchen besser. Was haben sie eigentlich zur Heiligung des Menschen und zur Rettung der Welt bis jetzt geleistet? Doch herzlich wenig. Das ist der Vorwurf, den wir oftmals hören, und damit müssen wir uns beschäftigen.
Rechtfertigen müssen wir uns allerdings nicht, das hilft uns auch nicht weiter. Wenn wir auf diese Fragen eine Antwort erhalten wollen, müssen wir vielmehr unsere Blickrichtung verändern. Wir dürfen nicht nur in die Welt schauen und auf das Versagen der Menschen, weder auf das der anderen noch auf unser eigenes. Der erste Schritt besteht vielmehr darin, unsre Augen für etwas ganz anderes zu öffnen. Wir werden mit der Weihnachtsbotschaft zu einer neuen Weltsicht eingeladen. Paulus geht davon aus, dass in diese Wirklichkeit etwas Neues gekommen ist. Der christliche Glaube ist für ihn nicht ein Programm oder ein Gedanke. Er lebt vielmehr eine neue Realität, die alles Bisherige in Frage stellt.
Und das müssen wir uns gefallen lassen. Wenn wir von der Gnade Gottes nichts spüren, liegt das nicht daran, dass sie kraftlos ist oder eventuell gar nicht existiert, sondern an uns, die wir sie nicht sehen oder haben wollen.
Ohne dass es uns bewusst ist, verschließen wir uns gerne ge-genüber der Liebe Gottes. Wir erwarten das Gute immer wo anders: Von den Familienangehörigen, von uns selber, von den Politikern, den Umständen oder wem auch immer. Irgendwie kriegen wir den Frieden und das Wohlergehen schon hin. Das denken wir und so handeln wir. Dafür ist das Weihnachtsfest ein gutes Beispiel: Wir erwarten ganz viel und vertrauen auf unsere menschlichen Möglichkeiten.
Doch dabei merken wir nicht, wie sehr wir uns und die anderen unter Druck setzen. Wir bauen Mauern auf und fesseln einander mit unserem Verlangen und unseren Wünschen. Wir sind in Wirklichkeit Gefangene und Zerrissene, wir gehen in die Irre und verlieren dabei das Gute aus den Augen. Es ist da, wir sehen es nur nicht.
Und aus dieser Blindheit will Christus uns erretten. Er will uns ganz machen und uns auf den rechten Weg bringen. Aus dem Zwang, dauernd etwas voneinander zu wollen und zu erwarten, möchte er uns erlösen. Christus kann etwas in uns verwandeln, denn er zeigt uns das wahre Bild des Menschen. Damit bringt er uns in Berührung. Er kann den Schmutz abwaschen, der unser Bild verstellt hat, und das Urbild in neuer Schönheit erstrahlen lassen. Er kann uns von den Fesseln befreien, die uns gefangen halten.
Wir müssen ihm nur vertrauen und in eine persönliche Beziehung zu ihm treten. Das Christentum ist keine Ideologie und auch kein Gesetz. Es lebt vielmehr von der Freundschaft zu dem, der die Liebe ist. Auf ihn müssen wir schauen, an ihn glauben und seine Kraft empfangen.
Und das heißt: Wir müssen nicht vollkommen sein und alles selber hinkriegen. Das Gute wird uns vielmehr geschenkt. „Denn unser Gott und Befreier ist mit offenen Armen zu uns und zu allen Menschen gekommen.“ So kann man den ersten Vers unseres Predigttextes auch übersetzen. (Das Neue Testament und frühchristliche Schriften, übersetzt und kommentiert von Klaus Berger und Christiane Nord, Frankfürt a.M., 2003, S. 763) Wir müssen uns deshalb nur umarmen lassen, uns selber einmal loslassen, innehalten und auf Christus blicken. Dann können wir die Gnade Gottes auch erleben.
Und dieses Erleben ist wohltuend. Es heilt uns und die Welt, die Liebe wird lebendig. Anstatt danach zu fragen, wie wir auf unsere Kosten kommen, geben wir einfach weiter, was wir in uns haben. Wir werden fähig, etwas Gutes zu tun. Und das kommt auch zurück. Wir gehen nicht leer aus, wenn wir Liebe üben. Es ist vielmehr erfüllend und schön.
Viele Menschen haben das in den letzten Wochen erlebt, wenn sie sich für Flüchtlinge engagiert haben. Es hat sie beglückt und reich gemacht. Und das hängt damit zusammen, dass unser Leben so gedacht ist: Wenn die Liebe und Freundlichkeit siegen, kommen wir dem Bild am nächsten, das Gott sich vom Menschen erträumt hat.
Es gibt viele Stimmen, die uns weis machen wollen, dass die freundlichen Gesten gegenüber Flüchtlingen die Krise nur verschärft haben. Ich halte das für Unsinn. Die Not ist sowieso da. Menschen fliehen nicht, weil es in Deutschland so viele Helfer gibt, sondern weil sie sinnlosen und schrecklichen Kriegen ausgeliefert sind. Und wie soll es denn besser werden in der Welt, wenn nicht durch Freundlichkeit und Wohlwollen? Jemandem die Hand hinzustrecken, der Hilfe braucht, das kann nicht verkehrt sein. Es entspricht der Schönheit und Liebe Gottes, und die bekommen wir heute geschenkt: Wir kriegen das Heil und die Gnade.
Das ist die Weihnachtsbotschaft. Lassen Sie uns deshalb in den nächsten Tagen hauptsächlich etwas von Gott erwarten und sein Geschenk entgegennehmen. Er ist die Mitte des Weihnachtsfestes. Nicht was wir veranstalten macht es zu einem gelingenden Ereignis, sondern seine Gegenwart. Die Liebe und der Friede müssen keine Sehnsucht bleiben, wir müssen sie nur von dort empfangen, wo sie in Wirklichkeit herkommen. Dann können sie uns ergreifen, und wir können sie in die Welt tragen.
Amen.

Ärgern lohnt sich nicht

Predigt über 1. Korinther 4, 1- 5: Kein Recht zum Richten

3. Sonntag im Advent, 13.12.2015, 11 Uhr
Jakobikirche Kiel

1. Korinther 4, 1- 5

1 Dafür halte uns jedermann: für Diener Christi und Haushalter über Gottes Geheimnisse.
2 Nun fordert man nicht mehr von den Haushaltern, als dass sie für treu befunden werden.
3 Mir aber ist’s ein Geringes, dass ich von euch gerichtet werde oder von einem menschlichen Gericht; auch richte ich mich selbst nicht.
4 Ich bin mir zwar nichts bewusst, aber darin bin ich nicht gerechtfertigt; der Herr ist’s aber, der mich richtet.
5 Darum richtet nicht vor der Zeit, bis der Herr kommt, der auch ans Licht bringen wird, was im Finstern verborgen ist, und wird das Trachten der Herzen offenbar machen. Dann wird einem jeden von Gott sein Lob zuteil werden.

Liebe Gemeinde.
„Du kannst dich den ganzen Tag ärgern, aber du bist nicht verpflichtet dazu.“ Diesen Spruch kennen Sie vielleicht. Ich habe ihn kürzlich von Karsten Sohrt gehört, der bei uns im Posaunenchor mitspielt und auch sonst in uneren Gemeinden ja sehr aktiv ist. Er hat ihn wiederum schon vor längerer Zeit auf einer Spruchkarte gelesen. Im Internet habe ich ein Geschirrhandtuch entdeckt, auf dem er steht. Es ist wohl für Leute gedacht, denen der Küchendienst schlechte Laune bereitet. Sie können sich davon aufmuntern lassen.
Und das ist gut, denn wir ärgern uns alle immer wieder, meistens über andere Menschen: unsere Mitbewohner, Vorgesetzten, Handwerker, Nachbarn usw. Sie haben mal wieder nicht aufgeräumt, uns unmögliche Anweisungen gegeben, ihre Arbeit nicht ordentlich gemacht, ihre Hecke nicht geschnitten; und so kommt es zum Ärger. Wenn wir wollen, können wir ihn den ganzen Tag haben, aber wir sind – wie gesagt – „nicht dazu verpflichtet“. Es tut uns auch nicht gut. Ein anderer Spruch zu diesem Thema, den Karsten sich gemerkt hat, lautet: „Ärgern lohnt sich nicht, es nützt dir nicht und dem anderen auch nicht.“
Und es ist nicht im Sinne der Bibel. In unserer Epistel von heute spricht Paulus über dieses Thema. Er hat sich dazu sehr tiefgehende Gedanken gemacht.
Dabei muss man wissen, dass es in Korinth Menschen gab, die sich über ihn ärgerten und ihn verurteilten. Er war hart angegriffen worden. Genau kennen wir die Vorfälle nicht, aber es waren Menschen in die Gemeinde eingedrungen, die böse Verdächtigungen und Verleumdungen über Paulus unter die Leute streuten. Sie bezweifelten öffentlich, dass er ein echter Apostel war, und wollten seine Autorität zerstören. Das hat Paulus getroffen. Er warnt deshalb die Gemeinde vor voreiligem Richten.
In unserem Abschnitt streitet er seinen Gegnern jegliches Recht zu ihrer Kritik an ihm ab und erklärt, dass sie mit ihrem Urteil völlig danebenliegen. Er beansprucht nämlich gar keine besondere Autorität, sondern versteht sich nur als „Diener Christi und Haushalter über Gottes Geheimnisse.“ Er übt keine Herrschaft über die Gemeinde aus, denn sie gehört nicht ihm, sondern Gott. Sich selber versteht er nur als Verwalter. Deshalb ist von ihm nichts anderes als „Treue gegen das Eigentum“ gefordert, und die kann er ohne Abstriche bekennen. Er hat sich nichts zu Schulden kommen lassen, deshalb ist es für ihn auch ein „Geringes, dass er von den Korinthern gerichtet wird.“ Er untersteht ihrem Gericht gar nicht und auch keinem anderen „menschlichen Gericht“. Er beurteilt sich noch nicht einmal selbst. Denn das alles wäre menschlich und von daher in diesem Zusammenhang bedeutungslos.
Außerdem ist er sich – wie gesagt – keinerlei Schuld bewusst. Und dieser Aussage fügt er noch etwas Interessantes hinzu: Er weiß sehr genau um zwei Seiten in seiner Seele. Einerseits muss er sich zwar keine Unaufrichtigkeit vorwerfen, „aber darin bin ich nicht gerechtfertigt“ sagt er weiter. Denn „der Herr ist’s, der mich richtet.“ Sein Gewissen, das zwar rein ist, ist nicht absolut, es ist nicht die letzte Instanz des Gerichtes und nicht die Stimme Gottes. Die geht weit über unsere menschliche Erkenntnis hinaus. Wir sehen immer nur einen Teil der Wirklichkeit, nie haben wir die volle Einsicht in uns selber oder die anderen. Die hat Gott allein.
„Darum richtet nicht vor der Zeit, bis der Herr kommt.“ fährt Paulus fort. Dem Endurteil Gottes soll niemand vorgreifen, denn das hieße, sich in das Richteramt Christi einzumischen. Niemand kann vollständig in den anderen hineinschauen, geschweige denn, ihn durchschauen. Es ist noch nicht einmal möglich, das eigene Herz ganz auszuloten. Vieles von dem, was in der Seele vor sich geht, liegt „im Finsteren verborgen“, und nur Christus „wird es ans Licht bringen. Er wird das Trachten der Herzen offenbar machen. Dann wird einem jeden von Gott sein Lob zuteilwerden.“ So endet der Textabschnitt, der heute unsere Epistel ist.
Und damit sind auch wir gemeint. Auch wir sollen es lassen, andere Menschen zu be- oder verurteilen. Das tun wir wie gesagt gerne. Jedes Mal, wenn wir uns über einen anderen Menschen ärgern, fällen wir auch ein Urteil. Wir erheben uns über ihn, meinen, es besser zu wissen und halten uns auch für besser. Unsere Mitbewohner oder Familienangehörigen sind schlampig und unordentlich; der Vorgesetzte ist herrisch und überheblich; Handwerker sind nachlässig und hören nicht richtig zu; und unsere Nachbarn sind rücksichtslos und egoistisch. Diese Liste ließe sich noch unendlich fortsetzen.
Natürlich gibt es einen Grund, warum wir so denken: Es ist Ausdruck unseres Ärgers, und der muss raus. Wir erlauben ihn, weil wir meinen, das sei notwendig. Schließich wollen wir nichts verdrängen oder runterschlucken, denn das ist ungesund. Das wissen wir inzwischen. Wer seine Gefühle nicht zulässt und immer nur still ist, wird irgendwann krank. Er unterdrückt ja etwas, verspannt sich und blockiert seine emotionale Energie. Kopf- oder Magenschmerzen, Herz- Kreislaufprobleme oder etwas anderes Schlimmes sind die Folgen. So denken wir. Deshalb ist es gut, sich immer schön zu ärgeren und das auch allen Menschen zu zeigen. So will die Psychologie es uns jedenfalls weis machen.
Aber stimmt das eigentlich? Ist das eine brauchbare Strategie? Ich finde, wir sollten einmal noch tiefer blicken, dazu lädt Paulus uns hier jedenfalls ein.
Er hätte sich auch ärgern können, denn er wurde aufs Übel-ste verleumdet und gemobbt. Doch das tut er nicht, und bei ihm ist es keine Verdrängung. Er ist vielmehr von etwas erfüllt, das stärker ist: Er glaubt an die Gegenwart Jesu, und dadurch unterscheidet sich sein Seelenleben ganz erheblich von den üblichen psychologischen Vorgängen: Er kennt eine Instanz, die liegt außerhalb der menschlichen Beurteilung, die ist größer und umfassender. Darauf will er auch aufmerksam machen. Es geht ihm um die Gegenwart Christi, um seine Liebe und seine Gnade. Die Korinther sollen sich wie er Jesus Christus anvertrauen und sein Erbarmen walten lassen.
Und das tut gut, es ist etwas ganz anderes, als irgendetwas zu verdrängen. Es macht auch nicht krank, sondern ist heilsam und befreiend.
Wir können uns das klar machen, wenn wir uns noch einmal die Situationen vorstellen, in denen wir uns ärgern. Da steigt ja etwas in uns auf. Körperlich gesehen ist es das Adrenalin, emotional gesehen ist es eine negative Energie. Fühlt die sich eigentlich wirklich gut an? Es ist doch gar nicht so befreiend, sich dieser Dynamik hinzugeben. Im Gegenteil, das ist wie ein Gift, das uns langsam durchdringt. Unsere Seele verdüstert sich, unser Blick wird verzerrt. Durch zu viel Ärger blockieren wir alles. Wir bauen eine Mauer zwischen uns und die anderen, denn sie mögen das nicht. Sie wenden sich von uns ab, und wir erreichen sie nicht mehr. Alles trübt sich ein, und wir verlieren den Überblick. Wir nehmen die Wirklichkeit nur noch bruchstückhaft wahr. „Ärgern lohnt sich nicht, es nützt mir nicht und dem anderen auch nicht.“ Das sollten wir einsehen und zugeben.
Es ist deshalb gut, wenn wir den ersten Impuls eines Ärgers tatsächlich unterdrücken und uns davon nicht bestimmen lassen. Doch anstatt ihn dann herunterzuschlucken, können wir ihn abgeben. Paulus schlägt uns nichts vor, das uns krank macht, er will uns vielmehr befreien. Wir können unseren Ärger loswerden, indem wir uns und die anderen dem Gericht Christi überlassen. Ihm können wir alles anvertrauen, uns ihm hingeben und ihn urteilen lassen. Er weiß mehr als wir, er hat einen ganz anderen Blick, er allein kennt die Tiefen jedes menschlichen Herzens. Deshalb ist es gut, wenn wir ihn allein suchen.
Wir werden dann ganz neue Erfahrungen machen. Es ändert sich etwas in unserer Seele, wir werden ruhig und heiter, gelassen und froh. Denn anstatt des Ärgers und Urteilens zieht ein ganz tiefer Friede in unser Herz ein.
Das ist sehr schön an einer Stelle in dem Buch „die Nachfolge Christi“ von Thomas von Kempen formuliert. Dieses Buch stammt bereits aus dem 14. Jahrhundert und soll – nach der Bibel – das auflagenstärkste und am meisten übersetzte Buch der Weltliteratur sein. Es gilt als unübertroffenes Kompendium der geistlichen Erfahrung des Mittelalters und bietet uns immer noch Anweisungen für ein stressfreies Leben. Handfeste Grundregeln für den inneren Weg sind darin enthalten, die zu einer lebendigen Freundschaft mit Christus führen. Das Buch ist in sogenannte „Hauptstücke“ aufgeteilt, und eines davon trägt die Überschrift: „Worin der dauerhafte Friede des Herzens und der wahre Fortschritt in allem Guten besteht.“ Es ist in der Form eines Gespräches zwischen „dem Herrn“ und dem Jünger gehalten. Der Jünger fragt: „Was soll ich tun?“ Darauf antwortet der Herr: „Sei aufmerksam auf alles, was du redest und was du tust, und richte deine Absicht nur darauf, dass du mir allein gefällst und außer mir nichts verlangst, nichts suchst. Was aber andere tun oder reden, darüber erlaube dir nie ein vorschnelles Urteil, und mische dich in kein Geschäft, das dir nicht anvertraut ist. Und so mag es geschehen, das dein Herz selten in Unruhe gerät oder wenigstens die Unruhe kein Aufruhr wird.“ (Thomas von Kempen, Das Buch von der Nachfolge Christi, übersetzt von Michael Sailer, Hrg. Immanuel Jungclausen OSB und Christian Feldmann, Herder 1999, S. 222)
Das ist die praktische Anwendung dessen, was Paulus gelebt hat, und es ist wunderbar formuliert. Der Verzicht auf schnelles Urteilen wird hier als ein heilsames Mittel beschrieben, das uns von allem Negativen befreit und uns zur Liebe und zur Ruhe führt.
Dabei ist es wichtig, dass wir dieses Mittel nicht als ein neues Gesetz verstehen, das wir nun einhalten müssen und das uns dann doch einengt. Es gilt vielmehr, die Zurückhaltung im „Sich-Einmischen“ auch uns selber gegenüber anzuwenden. Wir dürfen und sollen auch uns selbst nicht verurteilen. Paulus hat zugegeben, dass er nicht haargenau weiß, wie es wirklich um ihn bestellt ist, aber er ist deshalb nicht ins Grübeln verfallen. Er hat darauf vertraut, dass Christus ihn annimmt und dass er am Ende zum Guten führen wird, was er in ihm begonnen hat. Paulus lebte von der Vergebung und aus der Gnade Christi. Diese positive Kraft hat ihn frei gemacht und sein Seelenleben bestimmt.
Und das ist auch der Anfang dieses Weges, das müssen wir beachten: Wir sollen darauf vertrauen, dass Jesus Christus uns so annimmt, wie wir sind. Wir dürfen daran glauben, dass er uns liebt. Das ist der Hauptinhalt seines Gerichtes und seines Urteils. Wenn wir das an uns selber erfahren und diese Gewissheit in uns tragen, dann fließt sie von innen nach außen.
Deshalb gehört zu dem, was unsere Epistel thematisiert, noch ein letzter Gedanke: „Das Gericht Christi“ betrifft nicht nur unsere Seele und unser persönliches Umfeld. Es wirkt sich auch auf das gesellschaftliche Zusammenleben aus.
Es geht durch Europa zurzeit ja ein bedenklicher Rechtsruck. Viele Menschen haben Angst vor den Fremden, die zu uns kommen. Sie haben Vorurteile: Die Flüchtlingen akzeptieren unsere Werte nicht, wollen sich nicht integrieren und unterwandern unsere Gesellschaft mit dem Islam. Es sind auch Terroristen darunter. So denken sie. Deshalb ist es besser, sich abzuschotten, ihre Einreise zu verhindern und sich gegen sie zu wehren. Solche Töne hört man jetzt überall.
Aber woher wissen wir eigentlich, dass die Menschen, die zu uns kommen, uns schaden wollen? Das alles sind Urteile, die wir fällen, bevor wir sie kennen gelernt haben. Angst steckt dahinter, und die ist – genauso wie der Ärger – eine zerstörerische und negative Kraft. Sie tut niemandem gut, hilft uns nicht weiter und führt nicht zum Frieden. So ist es besser, wenn wir mit diesen Sorgen ebenfalls zu Jesus gehen und sie uns abnehmen lassen. In seiner Gegenwart wird unser Herz weit, Liebe zieht ein und hilft uns, fremde Menschen willkommen zu heißen.
Wir „bereiten Christus damit den Weg“ (Jes. 40, 3), er zieht in unser Herz und in unsre Gesellschaft ein. Die Kraft der Liebe und Barmherzigkeit setzt sich durch. Gerade in der Adventszeit ist das unser Auftrag, dazu sind wir als Christen durchaus „verpflichtet“. „Wir können uns zwar den ganzen Tag ärgern, aber wir müssen es nicht.“ Lassen Sie uns viel lieber dafür Sorge tragen, dass der Friede Christi, der höher ist als alle Vernunft, unsre Herzen und Sinne in Jesus Christus bewahrt.
Amen.