Nimm dein Kreuz auf dich und folge Jesus

Predigt über Matthäus 10, 34- 39: Entzweiungen um Jesu willen

21. Sonntag nach Trinitatis, 24.10.2021, 9.30 Uhr, Lutherkirche Kiel

Matthäus 10, 34- 39

34 Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert.
35 Denn ich bin gekommen, den Menschen zu entzweien mit seinem Vater und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter.
36 Und des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein.
37 Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert.
38 Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folgt mir nach, der ist meiner nicht wert.
39 Wer sein Leben findet, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s finden.

Liebe Gemeinde.

„Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass dir’s wohlgehe und du lange lebest auf Erden.“ So lautet das vierte Gebot. (2. Mose 20, 12) „Was ist das? Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unsere Eltern und Herren nicht verachten noch erzürnen, sondern sie in Ehren halten, ihnen dienen, gehorchen, sie lieb und wert haben.“ So lautet die Erklärung Martin Luthers dazu im Kleinen Katechismus. Es gilt – wie alle Gebote – seit Jahrtausenden und bildet mit ihnen zusammen die Grundlage für ein friedliches Zusammenleben.

Im alten Israel bezog es sich auf den Verband der Großfamilie. Das vierte Gebot sollte die Existenz im Alter gewährleisten. Es ist an die erwachsenen Kinder gerichtet, die zur Versorgung der Eltern verpflichtet waren, wenn diese alt wurden. Der Verlust der Leistungskraft sollte nicht mit dem Verlust der Freiheit einhergehen. Das Gesetz schließt auch ein, den Eltern ein würdiges Begräbnis zu geben. „Die Eltern zu ehren“ hieß deshalb, sie zu achten, ihnen zu helfen und für sie da zu sein. Diejenigen, die dies taten, konnten davon ausgehen, dass ihnen selber der gleiche Umgang von Seiten ihrer Kinder widerfahren würde.

Wie kann es also sein, dass Jesus sagt: „Ich bin gekommen, den Menschen zu entzweien mit seinem Vater und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter. Und des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein. Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert.“?

Der Abschnitt im Matthäusevangelium, in dem Jesus das sagt, ist heute unser Predigttext. Und das ist auch gut so, denn darüber müssen wir uns in der Tat Gedanken machen. Das klingt ja äußerst provokativ und ärgerlich. Dabei sind die Entzweiungen in der Familie noch nicht einmal die schlimmste Ankündigung. Noch brutaler ist die Aussage: „Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“

Wovon spricht Jesus hier? Ruft er zum Streit, zur Trennung und sogar Krieg auf? Das wäre dann ja das komplette Gegenteil zu vielen anderen Sätzen, die wir von ihm kennen. So heißt es z.B. in den Seligpreisungen: „Selig sind die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder heißen.“ (Mt. 5, 9)Wie passt das alles zusammen? Das fragen wir uns.

Doch so schwierig ist es gar nicht, Jesus zu verstehen. Fangen wir mal mit dieser letzten Aussage an: Darin fordert Jesus die Jünger nämlich nicht auf, selber das Schwert zu führen. Er warnt sie vielmehr davor, dass es gegen sie erhoben wird. Wenn sie ihm nachfolgen, müssen sie damit rechnen, dass sie verfolgt werden. Es ist gefährlich, Jünger Jesu zu sein, und es führt leider nicht zu einem allumfassenden Frieden. Das bezieht sich auch auf den Zusammenhalt in der Familie: Sie kann zerfallen.

Diese düstere Vision gab es bereits im Alten Testament, in Schilderungen des Weltuntergangs. Die Familie galt damals als Zelle und Fundament des gesellschaftlichen Lebens und Bestehens. Sie bot Obdach und Schutz für den Einzelnen. Das vierte Gebot hatte das Ziel, das abzusichern. Denn löste die Familie sich auf, verloren die Einzelnen ihre Geborgenheit und die Gesellschaft war ruiniert. Der Verfall der Familie bedeutete also höchste endzeitliche Not. Das greift Jesus hier auf, und auch seine Worte haben einen endzeitlichen Charakter. Allerdings schildert er nicht in erster Linie den Zerfall alles Bestehenden, sondern eine erschütternde Erfahrung: Die Stellungnahme zu Jesus kann auch in die Familie einen Riss bringen.

Er fordert deshalb ausdrücklich dazu auf, im Konfliktfall die Entscheidung für ihn über die Entscheidung für das eigene Leben und die Hausgenossen zu stellen. Es kann sein, dass die Jünger von allen Seiten bedroht werden. Dann gilt der Gehorsam gegenüber Jesus mehr als der Gehorsam gegenüber Menschen, selbst wenn es die eigenen Eltern oder Kinder sind. Es geht Jesus also um eine eindeutige Nachfolge.

Das wird im weiteren Verlauf noch deutlicher. Alle seine Zuhörer und Zuhörerinnen hatten schon Menschen gesehen, die zum Tode verurteilt waren und ihr Kreuz zum Richtplatz trugen. Dieses Bild benutzt er nun, um die Jünger auf eventuelles Leid vorzubereiten. Sie müssen Feindseligkeiten aushalten und dürfen sogar das Martyrium nicht ausschließen.

Am Ende kommt dann der wichtigste Satz, an dem deutlich wird, dass all das nicht ergebnislos bleibt, sondern dem Gewinn des Lebens dient. Jesus bürstet die alltägliche Erfahrung gegen den Strich, indem er sagt: „Wer sein Leben findet, der wird‘s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird‘s finden.“ Natürlich denkt er damit über die Grenzen des irdischen Lebens hinaus, an die Auferstehung und das Himmelreich. Aber er beschreibt auch ein Prinzip, das sich bereits im jetzigen Leben ereignet: Aus der Preisgabe geht neuer Lebensgewinn hervor, im Loslassen findet der Jünger oder die Jüngerin, was sie eigentlich sucht. Sie rettet ihre Seele und entdeckt ganz neue Wege des Seins. Ein Christ bzw. eine Christin ist also ein Mensch, der das Kreuz als sein eigenes Schicksal annimmt und mit Jesus geht. Denn in ihm hat Gott eine ganz neue Antwort auf das Leid und den Tod gegeben, eine Antwort, die durch die Krise zum Leben führt.

Und das ist auch für uns eine gute Botschaft, selbst wenn wir hier in Deutschland nicht wegen unseres Glaubens verfolgt werden, und es auch in unseren Familien kaum Zerwürfnisse wegen Jesus gibt. Wir lassen uns gegenseitig glauben und leben, was jeder und jede möchte. Trotzdem ist es auch für uns wichtig, was Jesus hier sagt, denn natürlich kennen wir Konflikte und zwischenmenschliche Probleme. Unser Miteinander ist nicht immer friedlich, weder auf der gesellschaftlichen noch auf der persönlichen Ebene. Wir müssen zugeben, dass es das Böse und den Hass in der Welt gibt.

Die Christenverfolgungen sind dafür ein trauriger Beweis. Es gibt sie leider auch heute noch. Menschen entscheiden sich für die Vernichtung, lassen grausame Kräfte walten, die in den Tod führen. Das wissen wir aus den Nachrichten und erleben es auch dadurch, dass Menschen, die davon betroffen sind, hierher fliehen. Denn hier sind sie zum Glück einigermaßen sicher.

Trotzdem ist auch unser Leben nicht frei von negativen Kräften. Es gibt Vorstufen des ganz Bösen, die wir alle in unserem persönlichen Umfeld erfahren. Ich kenne kaum jemanden, der nicht in irgendeiner Form unter einer anderen Person leidet. Denn es gibt überall Menschen, die sich von Egoismus, Gier oder Macht hinreißen lassen. Es kommt zu Ungerechtigkeiten, Diffamierungen, Intrigen, Streit und Spannungen. Es kann von der Vorgesetzten ausgehen, von der Schwiegermutter, dem Kollegen, einem Patienten, einer Schülerin usw. Viele Menschen machen anderen das Leben schwer, bewusst oder unbewusst.  

Und zu all dem gibt Jesus uns hier eine Antwort. Denn er beschreibt einen Weg, der zur Lösung und zur Überwindung führt. Und der unterscheidet sich von fast allem anderen, das wir normalerweise tun, wenn wir bedrängt werden. Da gibt es ja viele Methoden. Die schlechteste ist mit Sicherheit das Zurückschlagen oder die Rache. Da sind wir uns wahrscheinlich einig. Wenn wir dieselben Mittel wählen wie unsere Gegner, kommen wir nicht weit. Der Konflikt verschärft sich nur, es wird noch mehr zerstört.

Sinnvoller ist es dann schon, die Flucht zu ergreifen. Viele Menschen tun das ja auch zu Recht. Sie retten ihr Leben, indem sie fliehen. Trotzdem ist das ebenfalls keine befriedigende Antwort, denn es ist gefährlich und der Ausgang ist ungewiss. Außerdem möchte eigentlich niemand seine Heimat verlassen und in einer fremden Kultur ganz von vorne anfangen.

Eine Lösung ergibt sich erst dann, wenn die Konfliktparteien aufeinander zugehen, miteinander reden und sich vertragen. Das wünschen wir uns deshalb auch alle. Doch leider geht das oft nicht, weil nur eine der beiden Seiten das möchte. Die anderen bleiben verhärtet und ziehen den Streit vor.

Aber es gibt noch einen vierten Weg, und zu dem fordert Jesus uns hier auf. Und zwar lädt er uns dazu ein, ihn an erste Stelle in unserem Denken, Fühlen und Handeln zu setzen, uns in jeder Situation für ihn zu entscheiden und uns ihm anzuvertrauen. Er fragt uns: „Wen oder was liebst du über alles?“ Und darüber sollten wir ruhig einmal nachdenken.

Wenn wir uns diese Frage ehrlich stellen, kommen wir nämlich schnell darauf, dass er das nicht unbedingt ist. Es ist vielmehr ein anderer Mensch, eine Gewohnheit, ein gewisses Maß an Wohlstand und Bequemlichkeit, unsere Gesundheit, Gedanken, Vorlieben, ein Zeitvertreib o.ä. Meistens hat es etwas mit uns selber zu tun, mit unserem Ich, unserem Wollen und unserem Wohlbefinden, unserer Selbstverwirklichung und unseren Idealvorstellungen vom Leben. Wir sind keineswegs frei von Egoismus, Gier oder Machtansprüchen. Wenn wir uns bedroht fühlen, haben wir Angst, uns selber zu verlieren, und es kommt deshalb leicht zu verhärteten Fronten, zu Funkstille, zum Bruch oder sogar zur Trennung.

Und genau das stellt Jesus hier in Frage. Denn er lädt uns dazu ein, auch einmal etwas aufzugeben, zu verzichten, loszulassen und neu zu beginnen. Er möchte, dass wir „die alten Wege verlassen“, leidensfähig werden und im Konfliktfall uns selber „vergessen“. Jesus erwartet, dass wir unser Ich nach hinten stellen und auf ihn schauen. Er möchte in unserem Blickfeld der Erste sein. Wir sollen seinen Weg gehen und „die Liebe bedenken“, die er gebracht hat. Dann kann sein Geist uns prägen und seine Kraft uns erfüllen.

Und das führt zur Überwindung, denn es eröffnen sich durch die Nachfolge Jesu ganz neue Möglichkeiten. So können wir z.B. auch das vierte Gebot viel besser einhalten, weil wir innerlich unabhängig sind. Die Familie hält zusammen, denn es spielt keine Rolle, ob unsere Eltern oder Kinder uns verstehen und wie sie uns begegnen. Wir können in jedem Fall Respekt üben und hilfsbreit sein, uns „verschenken“ und „verbünden“. Wenn wir radikal auf Jesus vertrauen und ihm nachfolgen, ist plötzlich ist alles da, wonach wir uns sehnen: Der „Hass wird überwunden“, das Böse wird gebannt, Ruhe und Frieden kehren ein, Heil und Erlösung. Die Liebe erwacht und es „berühren sich Himmel und Erde“. (Himmel, Erde, Luft und Meer, Beiheft zum EG in der Nordkirche, 1. Auflage 2014, Nr. 83)

Glauben macht gesund

Predigt über Jesaja 38, 9- 20: Hiskias Danklied

19. Sonntag nach Trinitatis, 10.10.2021, 9.30 Uhr, Lutherkirche Kiel

Jesaja 38, 9- 20

9 Dies ist das Lied Hiskias, des Königs von Juda, als er krank gewesen und von seiner Krankheit gesund geworden war:
10 Ich sprach: Nun muss ich zu des Totenreiches Pforten fahren in der Mitte meines Lebens,
da ich doch gedachte, noch länger zu leben.
11 Ich sprach: Nun werde ich den HERRN nicht mehr schauen
im Lande der Lebendigen,
nun werde ich die Menschen nicht mehr sehen
mit denen, die auf der Welt sind.
12 Meine Hütte ist abgebrochen
und über mir weggenommen wie eines Hirten Zelt.
Zu Ende gewebt hab ich mein Leben wie ein Weber;
er schneidet mich ab vom Faden.
Tag und Nacht gibst du mich preis;
13 bis zum Morgen schreie ich um Hilfe;
aber er zerbricht mir alle meine Knochen wie ein Löwe;
Tag und Nacht gibst du mich preis.
14 Ich zwitschere wie eine Schwalbe
und gurre wie eine Taube.
Meine Augen sehen verlangend nach oben:
Herr, ich leide Not, tritt für mich ein!
15 Was soll ich reden und was ihm sagen?Er hat’s getan!
Entflohen ist all mein Schlaf
bei solcher Betrübnis meiner Seele.
16 Herr, lass mich wieder genesen und leben!
17 Siehe, um Trost war mir sehr bange.
Du aber hast dich meiner Seele herzlich angenommen,
dass sie nicht verdürbe;
denn du wirfst alle meine Sünden hinter dich zurück.
18 Denn die Toten loben dich nicht,
und der Tod rühmt dich nicht,
und die in die Grube fahren,
warten nicht auf deine Treue;
19 sondern allein, die da leben, loben dich so wie ich heute.
Der Vater macht den Kindern deine Treue kund.
20 Der HERR hat mir geholfen,
darum wollen wir singen und spielen,
solange wir leben, im Hause des HERRN!

Liebe Gemeinde.

„Damals wurde Hiskija todkrank. Der Prophet Jesaja, der Sohn von Amoz, kam zu ihm und sagte: »So spricht der Herr: ›Bereite dich auf dein Ende vor! Du wirst von diesem Krankenlager nicht wieder aufstehen.‹« Hiskija drehte sich zur Wand hin und betete: »Ach, Herr, denk doch daran, dass ich dir immer treu war! Ich habe dir mit ganzem Herzen gehorcht und stets getan, was dir gefällt.« Hiskia brach in Tränen aus und weinte laut. Jesaja war erst bis zum mittleren Hof des Palastes gekommen, da erging an ihn das Wort des Herrn; er erhielt den Befehl: »Kehr um und sag zu Hiskia, dem Anführer meines Volkes: ›So spricht der Herr, der Gott deines Ahnherrn David: Ich habe dein Gebet gehört und deine Tränen gesehen. Ich werde dich gesund machen. Am dritten Tag von heute an wirst du wieder in meinen Tempel gehen können. Ich gebe dir noch fünfzehn Jahre dazu und werde dich und diese Stadt vor dem König von Assyrien retten. Um meiner Ehre willen und meinem Diener David zuliebe werde ich Jerusalem beschützen.‹« (2. Könige 20, 1– 6, Übersetzung „Die gute Nachricht“)

Jesaja richtete die Botschaft aus und drei Tage später war Hiskia wirklich wieder gesund. Für ihn war klar, dass Gott sein Gebet erhört und ihn geheilt hatte. Nach seiner schweren Krankheit ging er deshalb tatsächlich wieder in den Tempel, brachte dort ein Dankopfer dar und trug einen Psalm vor. Den haben wir vorhin gehört, er ist heute unser Predigttext.

Darin lenkt Hiskia seine Gedanken zuerst in die Tage seiner Not zurück. Sein Leben, das ruhig und friedlich verlaufen war, wandte sich plötzlich zum Schlechten. Es schien, als ob er mitten aus seinem Leben abberufen würde und den Rest der Jahre in der Unterwelt als Schattenwesen unter den anderen Toten verbringen müsse. Die stellten sich die Israeliten wie eine Stadt mit Mauern und verschlossenen Toren unterhalb der Erdscheibe vor. Wer stirbt, kommt dort hin, d.h. er ist von der Gemeinschaft mit den Menschen abgeschnitten und kann nicht entweichen. Eben so wenig kann er Gott dort schauen, denn Gott ist ein Gott der Lebenden, nicht aber der Toten. Das sah Hiskia auf sich zu kommen,

Dieses Geschick beschreibt er im weiteren Verlauf seines Liedes sehr bildhaft: Er vergleicht sein Leben z.B. mit einem Hirtenzelt. Das wird beim Wechsel des Weideplatzes abgebrochen, indem man die Zeltpflöcke herauszieht, die von ihnen gehaltenen Seile löst und das Zelttuch zusammenpackt. Ein anderes Bild ist das von Gott als einem Weber, der einen Teppich hergestellt, das fertige Gewebe zusammengerollt und die letzten Fäden abgeschnitten hat, um das Stück vom Webstuhl zu nehmen. So schien das Leben Hiskias zu Ende gewebt und Gott gerade dabei, den Lebensfaden abzuschneiden.

Denn er war es ja, der die Krankheit und Not gebracht hatte! Das spricht der Beter nun aus. Gott gab ihn vom Morgen bis zum Beginn der Dunkelheit und genauso während der Nacht der todbringenden Krankheit preis. Er war tagsüber geplagt und fand auch des Nachts keine Ruhe, so dass er unaufhörlich vor Schmerzen und Sorgen, aber auch um Hilfe und Erlösung schrie.

Doch kein Morgen brachte die erhoffte Hilfe. Er sah sich dem Tode geweiht und sein schwächer werdendes Leben allmählich in diesen übergehen. Das Zwitschern der Schwalbe, mit dem er seinen Schrei vergleicht, ist der gleiche Ton, den man den Totenwesen zuschreibt. Auch das Gurren der palästinischen Turteltaube dient als Vergleich, denn es klingt schluchzend wie das Stöhnen und Klagen leidender Menschen. Dennoch hat Hiskia sich nicht willenlos in das anscheinend Unvermeidliche geschickt, sondern sich mit Gebet und Flehen an Gott gewandt.

Damit endet die Erzählung seiner einstigen Not, der erste Teil des Psalms. In der zweiten Strohe steht dagegen nun der innige Dank des Geretteten: Gott hat getan, worum er ihn gebeten hat. Darum will Hiskia ihm sein Leben lang danken, den ganzen Rest seiner Jahre, die er nun doch in Gemeinschaft mit Gott und den Menschen verbringen darf. Und so erzählt er von seiner Heilung: Gott hat seinen von Krankheit und Schmerzen unruhigen und verstörten Geist beruhigt, denn er hat den Leidenden gesund gemacht. Er hat ihn vor Tod, Grab und Unterwelt bewahrt und ihm seine Sünden vergeben. Denn Gott will nicht für sich allein existieren, sondern im Gegenüber mit dem Menschen wirken. Sein Handeln an und in der Welt setzt lebendige Menschen voraus, die ihn preisen, ihm danken und auf ihn hoffen. Die Toten können das nicht, weil in der Unterwelt jede Beziehung zu Gott aufhört. Darum ist Gott daran gelegen, seine Verehrer am Leben zu erhalten. Er rettet sie vor dem Tode, damit sie sein Lob singen. Mit diesem Bekenntnis und mit Dank und Jubel endet das Lied Hiskias. Er verspricht, von nun an Gott zu loben, solange er lebt.

Und wie alle anderen Psalmen, lädt auch dieser uns ein, darin einzustimmen, genauso zu singen und uns zum Dank zu verpflichten.

Aber können wir das? Gerade das Thema Krankheit und Glaube ist ja nicht ganz einfach, denn wir erleben keine Wunderheilungen. Wenn bei uns jemand die Diagnose bekommt, er oder sie sei unheilbar krank, führt es tatsächlich zum Tod. Kein Gott rettet uns, wir werden schwächer und gehen ein. Wozu lesen wir also diese Geschichte? Kann sie uns überhaupt noch etwas sagen?

Ich denke ja, denn es wird nicht erwähnt, was Hiskia überhaupt hatte, und Jesaja war kein Arzt. Wir erfahren nur, dass Hiskia in seiner Krankheit an Gott festhielt, betete und hoffte. Wir können die Erzählung also gut auf den Zusammenhang zwischen unserem Glauben und unserem körperlichen Heil anwenden, zwischen Geist, Seele und Leib, denn den gibt es mit Sicherheit.

Viele Krankheiten haben bewusst oder unbewusst etwas damit zu tun, dass unsere Seele leidet. Und genau dagegen ist der Glaube ein gutes Mittel, denn er ist eine positive und heilende Kraft. Er kann z.B. der Angst etwas entgegensetzen. Die befällt uns ja oft. Es gibt viele Situationen, die uns Furcht einflößen: Es kann die allgemeine Weltlage sein, Angst um einen Menschen oder vor jemand anderem, vor Krankheit, Armut, Unfall oder was auch immer. Sie verzehrt uns von innen her und macht uns schwach und eventuell eben krank. Und davor kann uns der Glaube bewahren, denn er gibt uns das Gefühl der Geborgenheit. Wir sind in Gottes Hand, ganz gleich, was geschieht. Dieses Bewusstsein beruhigt und beschützt uns vor negativen Kräften, auch vor Wut oder Trauer, Ärger und Groll. Diese schlechten Gefühle werden ebenso abgemildert, wenn wir uns Gott anvertrauen, denn wir empfangen seine Liebe und Vergebung, Freude und Zuversicht.

Das ist der erste Bereich, in dem ein Zusammenhang zwischen unserem Glauben und unserem Wohlergehen erkennbar ist. Dazu gibt es viele bewusste Vorgänge, die durch den Glauben an Gott ganz anders ablaufen können als ohne ihn. Sinnlosigkeitsgefühle, Antriebsschwäche, Begierden und Auflehnung werden auch verändert. Denn durch die Gegenwart Gottes in unserem Leben gibt es immer einen Sinn. Wir sind motiviert, etwas für uns zu tun, gesund zu leben, uns zu bewegen und Gemeinschaft mit anderen zu suchen. Wir können besser Maß halten und loslassen, Ja sagen und Dinge annehmen, auch wenn sie schwer erträglich sind. Und all das erhält unsere Gesundheit, es wirkt sich körperlich aus und führt dazu, dass es uns besser geht.

In der Hirnforschung ist das ja längst bekannt: Der Zusammenhang zwischen Leib und Seele wird untersucht und keiner ignoriert ihn mehr. Das medizinische Fachgebiet, das sich damit beschäftigt, ist die Psychosomatik. Seit 1970 gehört sie bereits zum Medizinstudium und beruht auf der Erkenntnis, dass es unzählige Wechselwirkungen zwischen Leib, Geist und Seele gibt.

Möglicherweise war das auch bei Hiskia so. Er hat nach der schrecklichen Ankündigung Jesajas seinen Geist und seine Seele in Gottes Hand gelegt, und dadurch wurde er auch körperlich gesund.

Doch was ist nun mit den unheilbaren Krankheiten, von denen wir ganz genau wissen, dass sie zum Tod führen? Das Lied Hiskias enthält dazu keine Antwort, aber es gibt sie natürlich in der Bibel. Die alttestamentliche Vorstellung vom Totenreich wird im neuen Testament nämlich aufgegriffen und grundlegend verändert. Im Evangelium wird uns verkündet, dass Jesus dort war, im Reich des Todes, und er hat es aufgeschlossen, denn „er hat die Schlüssel des Todes und der Hölle“, wie es in der Offenbarung heißt (Off.1,18). Er ist von den Toten wieder in das Reich der Lebenden zurückgekehrt, als „Erstling unter denen die entschlafen sind“, wie Paulus es formuliert (1.Kor.15,20). Und er wird diejenigen „lebendig machen“, die ihm „angehören“ (1.Kor.15,22f), d.h. er wird sie ebenfalls aus der Unterwelt holen. Das beinhaltet der Glaube an die Auferstehung.

Und das ist eine gute Botschaft, denn irgendwann verfällt unser Leib auf jeden Fall. Eines Tages sind wir alle unheilbar krank, denn vor der Vergänglichkeit des Lebens kann niemand fliehen. Wir werden älter und schwächer, und eines Tages kommt der Tod.

Das ist keine leichte Einsicht. Keiner und keine von uns möchte gerne sterben. Aber gerade deshalb ist es gut, wenn wir uns an Jesus hängen. Dann sind wir auch im Sterben noch getröstet und geborgen. Der Glaube muss selbst davor nicht kapitulieren, sondern kann zur Überwindung führen, denn er gibt uns die Hoffnung, dass wir durch den Tod in das Reich Gottes eingehen. Die christliche Zuversicht geht weit über Zeit und Raum hinaus. So können wir selbst mit einer unheilbaren Krankheit und im Angesicht des Todes heiter und fröhlich bleiben und mit Hiskia Gott loben und ihm danken: „Du hast dich meiner Seele herzlich angenommen. Der Herr hat mir geholfen.“

Amen.