Das Reich Gottes ist mitten unter uns

Predigt über Markus 4, 26- 29: Gleichnis vom Wachsen der Saat

2. Sonntag vor der Passionszeit, Sexagesima
19.2.2017, 9.30 und 11 Uhr, Luther und Jakobikirche Kiel

Liebe Gemeinde.

In den Gärten sieht man jetzt überall kleine grüne Spitzen und Knospen, die aus der Erde hervor lugen. Es sind die Winterlinge und Schneeglöckchen. Ihre Zwiebeln schlummern im Erdreich und treiben wieder aus. Bald wird alles mit einem grünen und bunten Teppich aus Gras und Blumen überzogen sein. Darüber freuen wir uns, und es ist jedes Jahr wie ein Wunder. Ganz von allein wächst das, was wir ausgesät haben, wir müssen nichts mehr dazu tun.
Eine Freundin von mir findet das so schön, dass sie jedes Jahr im Oktober ungefähr 1000 Blumenzwiebeln in ihrem Garten setzt – die halten sich bei ihr leider nicht länger als ein Jahr. Sie werden kistenweise angeliefert, und dann hat sie ein paar Tage sehr viel Arbeit damit. Aber die Pracht, die nun bald ausbricht, entschädigt natürlich dafür. Es hat auch einen Überraschungseffekt, denn sie merkt sich nicht, wo die Zwiebeln alle vergraben sind. Ich bin schon eingeladen, rechtzeitig zu kommen, um das dann ebenfalls zu sehen und zu bestaunen. Und das will ich auch tun, denn das Geschehen in der Natur – gerade im Frühling – hat immer wieder etwas Faszinierendes.
So ging es auch Jesus, deshalb benutzte er diese wunderbaren Vorgänge gerne für seine Gleichnisse. Eins davon haben wir vorhin gehört, das Gleichnis vom Sämann. (Lukas 8, 4- 15) Jesus beschreibt damit, wie es im Reich Gottes vor sich geht, nämlich genauso wie in der Natur. Im Markusevangelium ergänzt er diese Geschichte noch mit einer weiteren, ganz ähnlichen. Sie lautet folgendermaßen:

Markus 4, 26- 29

26 Und er sprach: Mit dem Reich Gottes ist es so, wie wenn ein Mensch Samen aufs Land wirft
27 und schläft und aufsteht, Nacht und Tag; und der Same geht auf und wächst – er weiß nicht wie.
28 Denn von selbst bringt die Erde Frucht, zuerst den Halm, danach die Ähre, danach den vollen Weizen in der Ähre.
29 Wenn sie aber die Frucht gebracht hat, so schickt er alsbald die Sichel hin; denn die Ernte ist da.

Dieses Gleichnis handelt von der „selbstwachsenden Saat“. Sie ist für Jesus ein Bild für das Reich Gottes. Es wächst und gedeiht ebenfalls von selbst. Um das zu veranschaulichen, beschreibt er den Weg und die Entwicklung, die das Samenkorn macht, bis es Frucht bringt: Zuerst wird es auf den Acker geworfen. Dann dauert es eine Weile, bis es in der Erde gekeimt hat und einen Halm hervorbringt. Der stößt alsbald durch die Oberfläche, und an diesem Halm wächst langsam die Ähre. Sie bringt die Körner hervor, die Frucht, die geerntet werden kann.
Und das alles geschieht „von allein“. Der Bauer, der gesät hat, muss nichts dazu tun, damit dieses Wachstum stattfindet. Er muss nur die Tage und Nächte verstreichen lassen, es passiert „automatisch“. Dieses Wort steht im griechischen Text tatsächlich, und es heißt: „selbsttätig, aus eigenem Antrieb, ohne fremdes Zutun“.
Und genau das ist hier der Vergleichspunkt: die unerklärliche Selbstwirksamkeit der ausgestreuten Saat. Genauso wächst auch das Reich Gottes von alleine. Der Mensch kann nichts dazu tun, außer dass er den Samen in die Erde legt und wartet. Dabei ist der Same das Wort Gottes und die Pflanzen sind der Glaube, die Liebe und die Hoffnung, all das, was für die Menschen heilsam und gut ist, wonach sie sich sehnen und was sie sich wünschen. Es wird ihnen von Gott geschenkt. Er sorgt dafür, dass es wächst und gedeiht, das ist die gute Botschaft Jesu.
Und dafür ist die selbstwachsende Saat ein sehr schönes Bild. So wie wir in der Natur auf die wunderbare Kraft des Wachsens und Gedeihens vertrauen können, so können wir in unserem Leben, in der Welt und in der Gemeinde daran glauben, dass Gott etwas wachsen lassen will, dass er im Verborgenen am Werk ist und Früchte hervorbringt.
Dieser Gedanke ist bei Jesus auch nicht neu. Die Schöpfung war für die Menschen seit jeher ein Zeichen für die Macht und Größe Gottes. Das belegen mehrere Psalmen und Geschichten im Alten Testament, und auch in unsrem Gesangbuch gibt es darüber diverse Lieder. „Wir pflügen und wir streuen den Samen auf das Land, doch Wachstum und Gedeihen steht in des Himmels Hand: der tut mit leisem Wehen sich mild und heimlich auf und träuft, wenn wir heim gehen, Wuchs und Gedeihen drauf.“ So beginnt z.B. das bekannte Lied von Matthias Claudius zum Erntedankfest aus dem Jahr 1783. Es hat den Refrain: „Alle gute Gabe kommt her von Gott dem Herrn, drum dankt ihm, dankt, drum dankt ihm, dankt und hofft auf ihn.“ Wir singen das gerne jedes Jahr wieder. (Evangelisches Gesangbuch Nr. 508)
Die Frage ist allerdings, ob so ein Denken überhaupt noch zu unserem Lebensgefühl und in unsere Zeit passt. Matthias Claudius war mit seiner Sicht auf die Welt und die Natur ja ein Kind der Romantik, die begann am Ende des 18. Jahrhunderts, und damit kam eine besondere Wahrnehmung der Beziehung zwischen Mensch und Natur auf. Erkenntnis war für die Romantiker eng mit Gefühlen verbunden. Verstand und Logik standen nicht im Mittelpunkt, sondern das Empfinden, die Liebe und die Sehnsucht nach einem paradiesischen Zustand. Heute werfen wir ihnen vor, dass sie ihre Augen vor der Realität verschlossen haben. Denn typisch für die Romantiker war eine Abwendung vom politischen Geschehen. Weltflucht, das Private und die Hinwendung zur Vergangenheit kennzeichnen ihre Einstellung. Kümmerten sie sich nicht viel zu wenig um die Gestaltung der Gesellschaft, drückten sie sich vor Verantwortung, lebten sie nicht in einer Traumwelt?
An unser Gleichnis oder verwandte Psalmen stellen sich diese Fragen ebenfalls: Stimmt es denn, was Jesus hier sagt? Wächst das Reich Gottes, d.h. das Gute und Schöne, der Glaube und die Kirche ganz von alleine? Ist die Wirklichkeit nicht völlig anders?
Es gibt doch unzählige Probleme, vor denen wir nicht die Augen verschließen dürfen. Auf die Selbststeuerungskräfte der Natur können wir uns nicht in romantischer Weise verlassen. Es gibt überall Ungerechtigkeit, Kriege, Hunger und Tod. Und selbst eine Industriegesellschaft, in der den Menschen eigentlich Wohlstand und Frieden garantiert wird, bedroht das Leben in vielfältiger Weise. Eine Gefahr sind z.B. die Umweltprobleme, die Vernichtung der Natur und die Zerstörung der Lebensmöglichkeiten kommender Generationen. Eine andere Gefahr ist die Oberflächlichkeit und Verflachung im Leben vieler Menschen. Sie sehen keinen tieferen Sinn in ihrem Dasein, wissen nicht, wofür sie wirklich leben und werden psychisch krank. Sie fühlen sich leer und gestresst. Auch Familienbeziehungen lösen sich auf und bieten keinen Halt mehr. Und all das gibt keinen Grund zu Gelassenheit und Zuversicht, denn unsere Lebensweise hat einen zerstörerischen Charakter und löst Ängste aus.
Was soll es da, von der selbstwachsenden Kraft des Reiches Gottes zu reden? Wo ist es denn? Glaube, Hoffnung und Liebe bleiben in weiten Teilen der Gesellschaft auf der Strecke. Und auch die Kirche schrumpft und unterliegt den gleichen Tendenzen des Verfalls.
Anstatt in romantischer Weise daran zu glauben, dass Gott schon etwas machen wird, wäre es doch viel besser, selber etwas zu tun, Hand anzulegen, Verantwortung zu übernehmen. Wir können nicht einfach nur zugucken, dann geht alles den Bach runter. So denken viele Menschen.
Und das ist natürlich nicht verkehrt. Wir müssen uns schon uns um ein Ende der Kriege in aller Welt bemühen, Hunger und Armut mindern helfen, Gerechtigkeit und Solidarität unter den Menschen fördern usw. Auch persönliches Glück, Zufriedenheit und Wohlstand dürfen wir gern anstreben. Die Frage ist bloß: Wie gelingt das am besten und mit welcher inneren Haltung tun wir das alles?
Wir brauchen dafür ja viel Zuversicht und Energie. Engagement und Eifer, Leistung, Geld und die richtigen Programme reichen oft nicht aus. Im Gegenteil, unsere Bemühungen führen nicht selten zu genau dem Gegenteil. Erstens ist es auf die Dauer ganz schön anstrengend und kräftezehrend, das Gute selber herstellen zu müssen und den Sinn im Leben zu finden. Irgendwann sind wir müde und ausgelaugt. Und zweitens geht nichts ohne die anderen Menschen, bloß die machen leider oft nicht so mit, wie wir uns das wünschen. Immer wieder stehen sie uns im Weg. Konflikte, Auseinandersetzungen, Enttäuschungen und Streit sind an der Tagesordnung.
Je mehr wir also versuchen, das Glück und den Frieden aus eigener Kraft herzustellen, umso weiter entfernen wir uns davon. Ja, dieser Versuch ist oft sogar die Wurzel von allem Übel. Das sollten wir erkennen. Unseren eigenen Möglichkeiten, das „Reich Gottes“ aufzubauen, sind ganz viele Grenzen gesetzt. Wir müssen also noch viel tiefer gehende Fragen stellen, wenn wir den richtigen Weg finden wollen. In Wirklichkeit gedeiht das Gute nämlich ganz anders, und davon handelt unser Gleichnis.
Wenn wir eine bessere Welt oder ein schönes Leben wollen, dann können wir dafür nur die Saat legen, alles andere müssen wir Gott überlassen. Und das ist keine Träumerei, sondern wir sehen mehr, als vor Augen liegt. Das Wirken Gottes ist wie das geheime Leben in der Erde, es geschieht im Verborgenen, aber es ist da. Sein Reich hat längst begonnen und es lugt auch an vielen Stellen in unseren Gesellschaften hervor und zeigt Knospen. Wir müssen nur hinschauen. Es ist eine Fehleinschätzung, zu meinen, Gott tut ja nichts.
Der erste Schritt auf dem richtigen Weg besteht darin, diesen Irrtum abzulegen. Dann kommen wir der Realität viel näher und das ist bereits heilsam und wohltuend. Es tut gut, zu erkennen, wieviel Gott kann und wirkt. Es geschieht ja nicht nur Schlimmes in der Welt, sondern immer wieder genauso viel Gutes. Die Menschheit ist nicht verloren. Und auch die Kirche gibt es immer noch, Menschen, die glauben und auf Gott vertrauen, die ihre Hoffnung nicht verlieren und lieben können. Wir sollten uns das ruhig öfter bewusst machen, dann rücken die Dinge in das rechte Verhältnis.
Als nächstes gilt es dann, der Kraft Gottes zu vertrauen. Das ist keine romantische Phantasie, sondern wir lenken unseren Geist auf das, was gut und stark ist, was wirklich zählt und uns Mut macht. Wenn wir Gott etwas zutrauen, fliehen wir nicht vor der Verantwortung, wir nehmen sie vielmehr wahr. Denn wir sind dafür verantwortlich, die Dinge klar zu sehen, Gott zu erkennen, seine Kraft zuzulassen. Das möchte er. Er möchte, dass wir glauben, hoffen und lieben, denn nur, wenn wir das tun, gewinnen wir die ganze Fülle des Lebens, nur dann kann diese Welt so werden, wie er sie sich vorgestellt hat.
Dazu ist es notwendig, dass wir uns selber relativieren und unser Denken gelegentlich korrigieren. Das wäre der dritte Schritt. Es macht nichts, wenn wir die Grenzen unserer Kraft und unserer Möglichkeiten erkennen, im Gegenteil, das ist entspannend und stärkend. Keiner von uns ist vollkommen, keiner kann alles, und das ist auch nicht schlimm. Schlimm ist nur, wenn wir das nicht zugeben. Denn dann verschwenden wir ganz viel unnötige Energie. Wenn wir unsere Begrenztheit dagegen annehmen, tun wir viel eher das Richtige. Unser Leben ist am fruchtbarsten, wenn wir uns selber immer wieder zurücknehmen.
Das sollte unsere Einstellung sein, dann gewinnen wir eine klare Sicht auf die Welt und das Geschehen um uns herum. Und die macht nicht nur unser eigenes Leben schön und sinnvoll, sie tut auch der Welt gut. Denn wir tragen damit zum Frieden und zur Gerechtigkeit bei. Wir finden das richtige Maß und die nötige Gelassenheit, reden mehr miteinander, werden aufmerksamer und freundlicher. Und wenn das geschieht, dann ist das Reich Gottes da, dann wirken wir daran mit. Wir werden selber zum Samen in dieser Welt. Denn Gott macht etwas mit uns, er kann uns endlich benutzen. Wir erleben, wie etwas wächst und gedeiht.
Die von selber wachsenden Pflanzen sind also doch ein wunderbares Gleichnis für das Leben und das Reich Gottes. Sie können uns zeigen, worauf es ankommt, sie verweisen uns auf Gott, von dem „alle guten Gaben kommen“ und laden uns zu einem angstfreien und sinnvollen Leben ein. Es ist davon geprägt, dass wir geduldig warten, genau hinschauen, annehmen, was Gott uns schenkt, und ihn dafür loben. Amen.

 

Folgende Fürbitten aus dem Evangelischen Tagzeitenbuch der Michaelsbruderschaft passten gut zum Thema der Predigt und wurden deshalb im Gottesdienst vorgetragen:

Fürbitten

Herr, himmlischer Vater. Du läs es Tag werden aus der Nacht. Du führst die Sonne empor und erweckst uns am Morgen. Du gibst unserer Seele neue Kraft. Herr, unser Gott, groß sind Deine Wunder, heilig sind Deine Ordnungen, tief sind Deine Geheimnisse. Dich rufen wir an: Stärke uns den Glauben.

Wir leben von Deiner Gnade. Sende uns in die Welt, erleuchtet mit Deiner Wahrheit, getragen von Deiner Barmherzigkeit, gebunden in Deinen Willen, gestärkt durch Deine Verheißung. Dich rufen wir an: Stärke uns den Glauben.

Segne alle Arbeit auf Deinem Ackerfeld. Segne alle Deine Botinnen und Boten. Segne den Samen Deines Wortes und lass ihn Frucht bringen. Nimm auch unsern Dienst in Gnaden an und segne das Werk dieses Tages für Dein Reich. Dich rufen wir an: Stärke uns den Glauben.

Segne alle Arbeit der Liebe, alle Werke der Barmherzigkeit. Segne alle, die in Dir verbunden sind. Segne Deine Kirche und lass sie zum Segen werden unter den Völkern. Dich rufen wir an: Stärke uns den Glauben.

Du baust Dein Reich unter uns. Du baust Dein Reich in aller Welt. Herr, wir glauben, hilf unserem Unglauben. Dich rufen wir an: Stärke uns den Glauben.

(Aus: Evangelisches Tagzeitenbuch, Hrg. Evangelische Michaelsbruderschaft, Münsterschwarzach, Göttingen, 4., völlig neu gestaltete Auflage, 1998, S. 169)

Lasst eure „Liebesflammen lodern“

Predigt über 2. Mose 3, 1- 10: Moses Berufung

Letzter Sonntag nach Epiphanias, 5.2.2017, 9.30 und 11 Uhr, Luther- und Jakobikirche Kiel

2. Mose 3, 1- 10

1 Mose aber hütete die Schafe Jitros, seines Schwiegervaters, des Priesters in Midian, und trieb die Schafe über die Steppe hinaus und kam an den Berg Gottes, den Horeb.
2 Und der Engel des HERRN erschien ihm in einer feurigen Flamme aus dem Dornbusch. Und er sah, dass der Busch im Feuer brannte und doch nicht verzehrt wurde.
3 Da sprach er: Ich will hingehen und die wundersame Erscheinung besehen, warum der Busch nicht verbrennt.
4 Als aber der HERR sah, dass er hinging, um zu sehen, rief Gott ihn aus dem Busch und sprach: Mose, Mose! Er antwortete: Hier bin ich.
5 Gott sprach: Tritt nicht herzu, zieh deine Schuhe von deinen Füßen; denn der Ort, darauf du stehst, ist heiliges Land!
6 Und er sprach weiter: Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs. Und Mose verhüllte sein Angesicht; denn er fürchtete sich, Gott anzuschauen.
7 Und der HERR sprach: Ich habe das Elend meines Volks in Ägypten gesehen und ihr aGeschrei über ihre Bedränger gehört; ich habe ihre Leiden erkannt.
8 Und ich bin herniedergefahren, dass ich sie errette aus der Ägypter Hand und sie herausführe aus diesem Lande in ein gutes und weites Land, in ein Land, darin Milch und Honig fließt, in das Gebiet der Kanaaniter, Hetiter, Amoriter, Perisiter, Hiwiter und Jebusiter.
9 Weil denn nun das Geschrei der Israeliten vor mich gekommen ist und ich dazu ihre Not gesehen habe, wie die Ägypter sie bedrängen,
10 so geh nun hin, aich will dich zum Pharao senden, damit du mein Volk, die Israeliten, aus Ägypten führst.

Liebe Gemeinde.

Wer in Japan in einem traditionellen Hotel übernachtet, einem sogenannten Ryokan, der muss seine Schuhe am Eingang ausziehen und in die bereit stehenden Hausschuhe schlüpfen, sonst würden sich die Gastgeber brüskiert fühlen.
Doch nicht nur dort ist das Ausziehen der Schuhe vor dem Betreten eines Raumes oder Gebäudes üblich. Auch wer in eine Moschee geht, legt die Schuhe am Eingang ab, und zu Hause tun das ebenso viele Menschen.
Es gibt für dieses Ritual verschiedene Begründungen. Hauptsächlich hat es natürlich etwas mit dem Schmutz zu tun, der oft an den Schuhen haftet. Der soll nicht in die Wohnung oder den Raum getragen werden.
In der Religion wird das Ausziehen der Schuhe dagegen noch weitergehend begründet, und zwar ist es immer dann gefordert, wenn der Ort, den ein Mensch betritt, als heilig gilt, d.h. wenn Gott dort gegenwärtig ist. Der Mensch darf sich ihm dann nur in „heiliger Scheu“ nähern. Die Schuhe auszuziehen ist ein Zeichen von Ehrfurcht: Man erscheint so vor Gott, wie man geboren wurde, nämlich barfuß. Auch im Tempel von Jerusalem gingen die Priester deshalb barfuß, und der Tempelberg durfte nicht mit Schuhen betreten werden.

In der Bibel kommt dieses Ritual mehrfach vor, so auch in der Geschichte von Moses Berufung. Wir haben sie vorhin gehört. Sie markiert den Anfang von Moses besonderem Weg, seine Ernennung zum Mann Gottes und Anführer seines Volkes. Vorher war er ein einfacher Hirte und als solcher „hütete er die Schafe seines Schwiegervaters.“ Bei seinen Wanderungen „über die Steppe“ kam er nun eines Tages „an den Berg Gottes, den Horeb“, und dort sah er etwas Sonderbares: Er erblickte einen brennenden Dornbusch, der auf geheimnisvolle Weise von den Flammen nicht verzehrt wurde. Das machte Mose neugierig und er dachte bei sich selbst: „Ich will hingehen und die wundersame Erscheinung besehen, warum der Busch nicht verbrennt.“ Und er näherte sich.
Doch Mose sah nicht nur etwas, gleichzeitig wurde er gesehen, und zwar von Gott. Und der sprach nun zu Mose. Er „rief ihn aus dem Busch und sprach: Mose, Mose!“ Er kannte ihn also und hatte offensichtlich etwas mit ihm vor. Zunächst warnte er ihn allerdings, sich der Erscheinung zu nähern. „Tritt nicht herzu, zieh deine Schuhe von deinen Füßen; denn der Ort, darauf du stehst, ist heiliges Land!“ Das hörte Mose als erstes und er gehorchte. Daraufhin offenbarte ihm Gott, dass er es war, der zu ihm sprach, der Gott seiner Väter. Mose verhüllte deshalb sein Angesicht, wie er es gelernt hatte, und dann empfing er den Auftrag Gottes: „Geh hin, ich will dich zum Pharao senden, damit du mein Volk, die Israeliten, aus Ägypten führst.“ Gott hatte „das Elend seines Volks in Ägypten gesehen, ihr Geschrei über ihre Bedränger gehört“ und „ihre Leiden erkannt.“ Mose sollte sie befreien und in ein „gutes und weites Land“ führen, „ein Land, darin Milch und Honig fließt.“

Das ist die Erzählung, und die kennen sicher die meisten von Ihnen. Sie markiert in der Bibel und in der Geschichte Israels ein wichtiges Ereignis, einen Einschnitt, denn hiermit beginnt bereits die Errettung Israels aus der Knechtschaft in Ägypten. Sie wurde mit dem Auszug wahr, führte zum Bundesschluss am Sinai und kam mit der Einnahme des verheißenen Landes zur Vollendung. Die Berufung Moses, die für das alles den Anfang bildete, hatte also eine ausschlaggebende Bedeutung und viele Folgen.
Dabei enthält der Bericht einige typische Elemente einer Gottesbegegnung. So ist es im Alten Testament immer, wenn Gott sich offenbart und einzelne Personen beauftragt: Es geschieht irgendetwas etwas Außergewöhnliches, etwas nicht Alltägliches: Licht spielt eine Rolle, meistens in Form von Feuer oder Flammen, oft kommt auch ein Sturm auf, oder Wind und Wolken, die in übernatürlicher Weise das Erscheinen Gottes begleiten. Und von den Menschen wird immer Ehrfurcht erwartet. Das Ausziehen der Schuhe ist dafür nur ein Zeichen. Dass Mose sein Angesicht verhüllte, war ebenso üblich, auch gingen die Menschen dabei meistens auf die Knie oder fielen zu Boden. Sie hörten eine Stimme und gehorchten. Denn Gott nahm sie in Anspruch.
Das erlebten allerdings nur Personen, die besonders ausgewählt waren, Propheten, Priester oder Könige. Dem allgemeinen Volk blieb die Gegenwart Gottes normaler Weise verborgen. Er begegnete ihnen dann durch diese Menschen, die er dafür beauftragt hatte.
Als Erzählungen sind die sogenannten Theophanien, d.h. Berichte über die Erscheinung Gottes interessant und spannend. In der Theologie des Alten Testamentes sind sie auch ein wesentliches Element. Doch bedeuten sie noch etwas für uns? Haben sie inzwischen nicht eher den Charakter von Legenden oder Märchen? Was sollen wir damit anfangen? Das müssen wir uns fragen.

Dabei hilft es uns, dass diese Geschichte heute, am letzten Sonntag nach Epiphanias, die alttestamentliche Lesung ist. Das ist natürlich kein Zufall. Das Thema ist an diesem Sonntag die „Verklärung Christi“. Auch die Geschichte haben wir vorhin gehört. (Matthäus 17,1-9)  Sie erzählt eine Begebenheit im Leben Jesu, bei der auch er dreien seiner Jünger einmal in einem besonderen Licht erschien. Sie wurden in dieses göttliche Licht hineingenommen, fielen zu Boden und hörten aus einer Wolke die Stimme Gottes. Sie offenbarte ihnen, dass Jesus der Sohn Gottes war. Wenn er von den Toten auferstanden ist, sollten sie das der Welt verkünden.
Es gibt zwischen den beiden Erzählungen von heute also einige Parallelen, und das ist wichtig. Bei der Verklärung Jesu hat Gott sich ein letztes Mal in der Weise offenbart, wie es uns im Alten Testament oft berichtet wird. Seit Jesu Tod und Auferstehung ist das nicht mehr geschehen, denn nun ist es nicht mehr nötig. Jetzt ist er immer da, und jeder und jede kann ihn sehen und zu ihm kommen. Das ist das Evangelium, die gute Botschaft, an die wir als Christen glauben.
Die Frage ist allerdings, wie das vor sich geht und was das für unser Leben bedeutet. Und dabei kann uns die Geschichte von Mose und dem brennenden Dornbusch helfen. Wir können sie auf unseren Glauben übertragen und die einzelnen Ereignisse symbolisch verstehen. Dann gibt sie uns viele schöne Hinweise.
Zunächst einmal ist das Feuer, das den Busch nicht verzehrt, ein gutes Gleichnis für die Gegenwart Christi: Sie ist hell und warm und kraftvoll, aber sie zerstört nichts. Die Flammen sind anders als die eines natürlichen Feuers, denn es sind „Liebesflammen“ (Evangelisches Gesangbuch 251,1), die gut tun und uns erfüllen können. Und im Unterschied zum brennenden Dornbusch lodern sie immer und überall. Wir müssen nur hinzutreten und uns Christus nähern.
Es ist allerdings gut, wenn wir uns dafür auch Zeit nehmen und bildlich gesprochen „unsere Schuhe ausziehen“. Das ist ein schönes Symbol dafür, dass wir Ehrfurcht vor Christus haben und etwas Besonderes von ihm erwarten. Wo er gegenwärtig ist, wandelt sich der Ort, an dem wir sind, in „heiliges Land“.
Und dann dürfen wir damit rechnen, dass auch wir gesehen und gerufen werden. Christus kennt uns bei unserem Namen und er will uns in Anspruch nehmen. Es ist also wichtig, dass wir hören und gehorchen und ihm unser Leben zur Verfügung stellen, unsere Zeit und unsere Kraft, unser Fähigkeiten und unsere Liebe.

Die Frage ist allerdings, ob wir das überhaupt wollen. Möchten wir Christus gehören und so wie Mose einen besonderen Auftrag empfangen? Das klingt einerseits ja ganz schön und einladend, aber andererseits auch herausfordernd. Unser Leben läuft doch auch ohne Glauben und Religion, ohne Christus oder die Bibel ganz gut.
Diesen Einwand hören wir öfter und haben ihn manchmal wohl auch selber. Wir zweifeln gelegentlich daran, ob der Glaube sich lohnt. Lassen Sie uns darüber also noch einmal nachdenken. Dafür können wir den Spieß umdrehen und fragen: Stimmt das überhaupt, dass es uns ohne Christus gut geht? Ein Leben ohne Glauben kann doch genauso zweifelhaft sein. Wie sieht es denn aus? Dafür können wir die Geschichte von Mose ruhig als Beispiel nehmen. Er war vor der Begegnung mit Gott ein einfacher Hirte, hatte eine Frau und einen Schwiegervater und war mit dessen Schafen unterwegs. Er war also nichts besonderes, und das können wir auf uns übertragen: Unser Leben ist normal und alltäglich. Wir bewegen uns in den üblichen Mustern, haben Aufgaben und Kontakte und versuchen irgendwie klar zu kommen. Manchmal gelingt das, manchmal allerdings auch nicht. Es gibt viele Hindernisse für ein ruhiges und zufriedenes Leben.
Ein großes Problemfeld ist z.B. unser Miteinander. Die sozialen Strukturen sind nicht für alle förderlich und heilsam. Im Gegenteil: Wir können auf der Strecke bleiben, denn zum Überleben gehört immer ein Kampf, und oft führt jeder oder jede den für sich allein. Es gibt viel Konkurrenz und Neid, sowohl in Familien, als auch in Betrieben oder Gruppen. Wir arbeiten nicht immer mit den anderen Hand in Hand, sondern sind häufig auf uns gestellt. Denn die Hauptantriebskraft für unser Verhalten ist normaler Weise der Egoismus: Irgendwie will jeder auf seine Kosten kommen. Und daraus entstehen leicht Ungerechtigkeiten. Wir vernachlässigen einander, sind rücksichtslos und unachtsam, enttäuschen oder verletzen uns gegenseitig. Das alltägliche, „normale“ Leben ist gar nicht nur schön und einfach, das sollten wir zugeben. Und Lösungen für die vielen Probleme, die wir so miteinander haben, gibt es auch nicht immer.
Auf diesem Hintergrund ist es durchaus spannend, neugierig auf etwas zu sein, das unseren Alltag sprengt, eine übernatürliche Kraft- und Liebesquelle zu suchen. Und genau die wurde uns durch das Erscheinen Christi geschenkt. Wir müssen also gar nicht weit gehen oder lange forschen. So wie Mose zu dem brennenden Dornbusch geführt wurde und ganz nah da heran kam, können wir einfach auf Christus vertrauen und zu ihm rufen. Er will uns mit seinen Flammen entzünden und uns erfüllen. Er kennt und liebt uns und enttäuscht uns nie. Von ihm werden wir ganz angenommen. Deshalb schmilzt unser Egoismus in seiner Gegenwart, wir werden befreit und erlöst. Wir müssen nur hinzutreten, „unsere Schuhe ausziehen“, hören, gehrochen und uns von ihm in Anspruch nehmen lassen. Dann finden wir Ruhe und unser Leben verändert sich. Ein Feuer wird in unserem Geist entfacht, das uns stärkt und lebendig macht. Es ist das Feuer der Liebe Christi. Mit ihm wird unser Leben viel schöner und heller, als es vorher war. „Liebesflammen“ werden entzündet.
Dieser Ausdruck stammt von Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1725) aus dem Lied „Herz und Herz vereint zusammen“ (EG 251). Er hat darin wunderbar beschrieben, wie eine christliche „Liebeskette“ entstehen kann. Sie ist die letzte Folge eines Hinzutretens zum Licht Christi, und auch sie hat eine Parallele in der Geschichte von Moses Berufung: So wie Mose sein Volk aus der Knechtschaft führen durfte, so können auch wir andere anstecken, mitnehmen und befreien. Denn wir sehen sie durch die Nähe Christi mit neuen Augen. Der Mitmensch ist nicht mehr ein Konkurrent oder Gegner, sondern ebenfalls ein Geschöpf, das von Gott geliebt wird. Das erkennen wir, und so entsteht ein ganz neues Miteinander.
Wir können das in jeder Gemeinschaft erleben und praktizieren, in der Familie, im Kollegenkreis und natürlich in der Gemeinde. Sie ist sogar der bevorzugte Ort, um diese neue Verbundenheit einzuüben. Wir können unsre „Herzen vereinen“ und gemeinsam die „Liebesflammen“ brennen lassen. Dann werden alle, die an Christus glauben, zum neuen „Volk Gottes“: Sie sind befreit und gesegnet und werden reich beschenkt.

Amen.