Gott reicht uns seine Hand

Predigt über Lukas 18, 9- 14: Vom Pharisäer und Zöllner

11. Sonntag nach Trinitatis, 16.8.2015, 11 Uhr
Jakobikirche Kiel

Lukas 18, 9- 14

9 Er sagte aber zu einigen, die sich anmaßten, fromm zu sein, und verachteten die andern, dies Gleichnis:
10 Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, um zu beten, der eine ein Pharisäer, der andere ein Zöllner.
11 Der Pharisäer stand für sich und betete so: Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner.
12 Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme.
13 Der Zöllner aber stand ferne, wollte auch die Augen nicht aufheben zum Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig!
14 Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht jener. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.

Liebe Gemeinde.
Kinder fallen öfter einmal hin. Es kann zwar sein, dass sie dann weinen, aber schlimm ist es meistens nicht, denn ihre Knochen sind noch weich, sie sind leicht, und der Weg bis zum Boden ist nicht so lang.
Für Erwachsene ist das anders. Da passiert es auch kaum noch, am ehesten wahrscheinlich bei einer Sportart wie dem Fußball. Das richtige Hinfallen gehört dort deshalb mit zum Training. Trotzdem verletzen sich Sportler beim Stürzen oft, und andere Menschen erst recht.
Denn es geschieht unvorbereitet und wird meistens von außen verursacht: Man wird umgestoßen oder angefahren, fällt über ein Hindernis oder stolpert über einen Stein.
Man kann allerdings auch einfach das Gleichgewicht verlieren. Ein Schwächeanfall, eine Ohnmacht oder eine Krankheit führen dazu.
Es schmerzt und tut meistens weh, wenn man stürzt.
Manchmal steht man allein wieder auf, manchmal braucht man die Hand von jemand anderem. Wenn es schlimm ist, dauert es länger, bis wir wieder auf die Beine kommen.
Aber das Aufstehen ist wichtig, und das gilt auch im übertragenen Sinn. Wir sprechen bei Problemen und Krisen im Leben ja ebenfalls vom „Fallen“ oder „Abstürzen“. Und dazu hat Theodor Heuss einmal gesagt: „Es ist keine Schande hinzufallen, aber es ist eine Schande, einfach liegenzubleiben.“ Etwas Ähnliches sagte auch Nelson Mandela: „Unser größter Ruhm ist nicht, niemals zu fallen, sondern jedes Mal wieder aufzustehen.“ Und Winston Chruchill fand: „Die Kunst ist, einmal mehr aufzustehen, als man umgeworfen wird.“ (zitate.net)
Nun war der eine Kämpfernatur und mit einem starken Willen ausgerüstet. Nelson Mandela hatte ein ganz barmherziges Wesen, er war mit großer Milde und Güte beschenkt. Und Theodor Heuss war ein kluger und weiser Mann mit viel Lebenserfahrung. Sie alle hatten seelische und mentale Ressourcen, die ihnen halfen, immer wieder auf die Beine zu kommen.
Aber ist das Wieder-Aufstehen für uns alle so leicht gesagt, wie getan? Wie geht das denn im Ernstfall, und wer hilft uns dabei, wenn es nötig ist?
Im Evangelium von heute gibt Jesus uns darauf eine Antwort. Es ist ein Gleichnis, das er in einem Gespräch mit Pharisäern erzählt. Mit ihnen hat er sich oft unterhalten, denn sie bildeten die stärkste religiöse Partei in Israel. Sie hielten die Überlieferungen der Väter in Ehren und kämpften mit leidenschaftlichem Eifer für die genaue Beobachtung des Gesetzes. Bis in die Kleinigkeiten des Alltags hinein regelten sie das Leben.
Das war zwar gut und gewissenhaft gemeint, doch genau damit hatte Jesus Probleme. Er sah, dass ihre Einstellung oft zu selbstgerechtem Stolz und liebloser Härte führte, und das kritisierte er an ihnen. Ihm fehlte die Barmherzigkeit in ihrer Frömmigkeit. Sie gaben keine Antwort auf die Frage, wie den Gestrauchelten geholfen werden konnte. Jesus sah in ihrem Verhalten nur Egoismus und Überheblichkeit. Er hielt sie für Heuchler und ihre Frömmigkeit für falsch.
Und genau davon handelt das Gleichnis. Zwei Personen kommen darin vor, die einander gegenüber gestellt werden. Gemeinsam ist ihnen der Weg zum Tempel, der hier als Bethaus verstanden wird. Denn genau das wollen sie dort tun: zu Gott beten. Der Pharisäer stellt sich dafür aufrecht und sichtbar hin, doch dann spricht er eigentlich eher mit sich selbst, als mit Gott. Sein Gebet ist wie ein Monolog und beinhaltet genau das, was Jesus den Pharisäern vorwirft, denn er sagt: „Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner. Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme.“ Der Pharisäer hat sein Leben also voll in der Hand, er gestaltet es so, wie er es für richtig hält und zieht daraus sein ganzes Selbstwertgefühl. Er gehört zu denjenigen, die versuchen, niemals hinzufallen, und rühmt sich damit, dass ihm das gelingt.
Dazu bildet der Zöllner nun einen bewussten Kontrast. Das hängt zunächst mit seinem Beruf und seiner Stellung in der Gesellschaft zusammen. Zöllner standen im Dienst der römischen, d.h. heidnischen Besatzungsmacht und hatten dadurch viel Kontakt mit Nicht-Juden. Das machte sie unrein. Außerdem wurden sie Dieben und Räubern gleichgestellt, denn von dem Zoll, den sie erhoben, kassierten sie immer einiges in die eigene Tasche. Es handelte sich dabei um Markt- und Grenzzölle. Dafür gab es zwar feste Tarife, doch verleitete das System zum Betrug. Es war kein Wunder, dass der Umgang mit Zöllnern gemieden wurde. Sie waren tatsächlich tief gefallen und lebten in der Achtung der anderen ganz unten.
So einer geht hier nun ebenfalls in den Tempel. Er bleibt allerdings in der Ferne stehen, denn weiter nach vorne traut er sich nicht. Er steht auch nicht aufrecht, sondern beugt sich zur Erde und schlägt sich als Zeichen der Buße an die Brust. Er ist sich also seiner Mangelhaftigkeit bewusst, er fühlt sich schuldig und sündig und spricht ein Bußgebet: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“ Das ist alles, was er sagt.
Beide, sowohl der Pharisäer als auch der Zöllner, wollen von Gott gehört und gesehen werden. Er soll ihr Gebet annehmen bzw. ihnen helfen. Doch das widerfährt nur dem Zweiten, dem Zöllner. „Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.“
Das ist die Botschaft Jesu, und damit beantwortet er sehr schön die Frage, wie wir nach einem Fall wieder aufstehen können, und wer uns dabei hilft: Gott selber reicht uns die Hand, wenn wir uns nach ihm ausstrecken. Wir müssen uns unser Fallen nur eingestehen, zu ihm rufen und uns von ihm aufrichten lassen.
Dazu gehört, dass wir uns zunächst klar machen, was überhaupt zu einem Absturz führen kann. Wenn er körperlich geschieht, ist der Grund wie gesagt entweder äußerlich oder innerlich, und so ist es auch mit dem Leben.
Bei dem Zöllner war es ein innerer Grund, der ihn zu Fall gebracht hatte. Er hatte wirklich gesündigt, deshalb fühlte er sich schlecht. Sein Elend war zum großen Teil selbst verschuldet, denn er hatte gelogen und betrogen.
Und das geschieht jedem und jeder von uns auch irgendwann einmal im Leben. Es müssen gar keine schlimme Verbrechen sein, die wir begehen. Wir fallen bereits aus dem Gleichgewicht, wenn wir in unserer Ehe oder in der Familie nicht ehrlich sind, die anderen hintergehen, sie vor den Kopf stoßen, unsensibel und egoistisch handeln. Rücksichtslosigkeit und Grobheit sind weit verbreitet und führen in den Abwärtstrend. Denn sie machen uns hart, unbeliebt und einsam. Wir verkümmern innerlich und fallen dadurch manchmal tief, d.h. wir leiden und wissen nicht weiter.
Und das kann genauso von außen ausgelöst werden, durch andere Menschen z.B. Sie bringen uns zu Fall, indem sie uns enttäuschen oder ungerecht behandeln. Oder sie verlassen uns, im schlimmsten Fall durch den Tod. Dann brechen wir durch die Trauer zusammen. Aber auch andere Umstände wie Krankheit oder Armut, Überlastung und Stress können dazu führen, dass wir irgendwann am Boden liegen und nicht mehr weiter wissen. Manchmal sind wir dann der Verzweiflung nahe, alles wird düster und leidvoll. Not und Elend bestimmen unser Lebensgefühl.
So muss es auch dem Zöllner gegangen sein: Er fühlte sich schlecht und armselig.
Doch er fand eine Möglichkeit, wieder aufzustehen, und das war der Weg in den Tempel. Mehr wird über ihn nicht gesagt, aber dahinter steckt ganz viel, was wir uns klar machen können. Es gehörte ja dazu, dass er sich seine Hilflosigkeit eingestanden hat. Er war zwar gefallen, aber dadurch war er auch auf dem Boden der Tatsachen gelandet. Das hat er erkannt und akzeptiert, obwohl es weh tat.
Und damit zeigt er uns den ersten Schritt, der zum Aufstehen gehört. Er besteht darin, dass wir die Misere, in der wir stecken, zunächst einmal aushalten und auch annehmen. Wir dürfen nicht die Augen verschließen und so tun, als wäre nichts. Ablenkung oder Zerstreuung helfen nicht, wenn es uns wirklich schlecht geht, wir müssen uns tiefgehender mit dem Problem beschäftigen und zugeben, dass wir am Boden liegen.
Der Zöllner hat das getan, sonst wäre er nicht in den Tempel gegangen. Das war der nächste Schritt, und der war sehr verheißungsvoll, denn es war der Weg in das Gebet. Das war gar nicht lang und schon gar nicht so wie das des Pharisäers. Er breitete nicht alles vor Gott aus, was ihn im Einzelnen bekümmerte, hielt keine lange Rede, sondern äußerte nur einen Wunsch: Er sagte: „Gott sei mir Sünder gnädig.“
Und das können auch wir tun. Nachdem wir zugegeben haben, dass wir uns selber kaum helfen können, dürfen auch wir zu Jesus beten und um sein Erbarmen bitten. Er ist da und wartet darauf bereits. „Er reicht uns seine Hand“, wie es in einem Kirchenlied heißt (EG 365,1), wir dürfen also auf ihn vertrauen. Darin liegt bereits die Lösung unserer Probleme beschlossen. Viel mehr brauchen wir gar nicht, denn Gott selber ist die Antwort auf unsere Nöte. Wenn wir einsam und verzweifelt sind, dürfen wir wissen, er ist da. Er kennt uns und liebt uns. Er vergibt uns auch, wenn wir schuldig geworden sind. Er verstößt uns dafür nicht. Das gilt es zu erleben, und dafür reicht in der Tat ein kurzes Gebet wie „Gott, sei mir Sünder gnädig!“
Es gibt in der Ostkirche die Tradition des sogenannten Herzensgebetes. Bei dieser Gebetsweise wird ein Satz wie der des Zöllners immer wiederholt. Die gängige Formel lautet: „Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner.“ Und die wird dann mit dem Atem verbunden: Beim Einatmen erfolgt der Anruf „Herr Jesus Christus“ und beim Ausatmen die Bitte um Erbarmen. Das Ziel ist dabei, dass dieses Gebet im Laufe des Lebens immer selbsttätiger wird und irgendwann gar nicht mehr aufhört. Denn das ist zutiefst heilsam und befreiend. Jesus Christus rückt in die Mitte des Denkens und Fühlens, er zieht ins Herz ein und verbreitet von dort seine Liebe. Das Gebet kann sich auch mit dem Rhythmus des Herzschlags verbinden. Deshalb heißt es „Herzensgebet“.
Und diese Frömmigkeit ist eine ganz andere als die des Pharisäers. Dessen Problem war seine Eigenliebe. Er empfand sich selber als Mittelpunkt des Geschehens, alles drehte sich um ihn und darum, wie toll er angeblich war. Er stellte sich selber dar und stand bildlich gesprochen auf einem hohen Podest. Er merkte nicht mehr, wie gefährlich das in Wirklichkeit war, denn von dort ist ein Absturz natürlich noch schmerzhafter, weil er tiefer ist. Es ist deshalb gut, rechtzeitig von dieser Geisteshaltung Abstand zu nehmen, auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben und Jesus Christus in die Mitte zu stellen. Dann werden wir bei jedem Fallen aufgefangen und es ist immer eine Hand da, die uns wieder aufhilft.
Und nach dem Aufstehen gehen wir anders durch das Leben, denn wir werden durch die Liebe und Vergebung Jesu gefestigt. Sein Erbarmen durchströmt uns und gibt uns neue Kraft. Möglicherweise korrigieren wir auch die Richtung. Jesus hatte Begegnungen mit Zöllnern, die danach ihr Leben geändert haben. Sie verließen die alten Wege, hörten mit dem Betrügen auf und folgten ihm nach.
Und das gilt auch für uns. Es ist der dritte Schritt: Wenn die Liebe Jesu in unser Herz eingezogen ist, stehen wir ganz anders da. Wir sind vor dem Fallen geschützt, denn uns kann so leicht nichts mehr umstoßen. Wir finden unser Gleichgewicht, werden widerstands- und leidensfähig. Wir bekommen eine Kraft, die uns durch alles hindurch trägt. Trauer und Krankheit können wir viel besser aushalten, sie führen uns nicht in die Verzweiflung. Selbst in der Dunkelheit scheint noch ein Licht. Jesus kann das Leid wenden, und zwar einfach dadurch, dass er da ist und wir ihm vertrauen.
Wenn Kinder noch klein sind, gehen sie am sichersten an der Hand ihrer Eltern. Dadurch haben sie eine gute Verbindung zu ihnen und werden immer festgehalten. Wenn sie einmal stolpern oder das Gleichgewicht verlieren, fallen sie nicht gleich hin.
So eine Hand wird auch uns ausgestreckt. Jesus reicht sie uns, wir müssen sie nur ergreifen, dann ist uns besser geholfen, als durch irgendetwas anderes auf der Welt. Wenn wir an seiner Hand durch das Leben gehen, fallen wir viel seltener hin und sind immer gut versorgt.
Amen.

Macht zu Jüngern alle Völker

Predigt über Mt. 28, 16- 20: Der Missionsbefehl

11. Sonntag nach Trinitatis, 16.8.2015, 9.30 Uhr
Lutherkirche Kiel

In dem Gottesdienst wurde ein Kleinkind getauft.

Matthäus 28, 16- 20

16 Aber die elf Jünger gingen nach Galiläa auf den Berg, wohin Jesus sie beschieden hatte. 17 Und als sie ihn sahen, fielen sie vor ihm nieder; einige aber zweifelten. 18 Und Jesus trat herzu und sprach zu ihnen: Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. 19 Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes 20 und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.

Liebe Gemeinde.
„Wie viel Erde braucht der Mensch?“ Diese bedeutungsschwere Frage ist zu einem geflügelten Wort geworden. Die Gier nach Eigentum wird damit hinterfragt. Das hat Leo Tolstoi mit der gleichnamigen Erzählung sehr schön veranschaulicht. Sie handelt von dem Bauern Pachom. Der hört von einem durchreisenden Kaufmann, man könne billig gutes Steppenland weiter im Osten kaufen. Pachom reist mit seinem Knecht dorthin. Er wird von den Steppenbewohnern in ihrem Zeltlager freundlich aufgenommen und darf so viel Land kaufen, wie er von Sonnenaufgang bis -untergang zu Fuß umrunden kann. So läuft er los und misst im Geist seinen zukünftigen Besitz ab. Doch dabei überschätzt er seine Kräfte. Nachdem er endlich ein sehr großes Stück Land umschritten hat, bricht er vor Erschöpfung tot zusammen, denn zuletzt, bei sinkender Sonne, war er verzweifelt gerannt. „Der Knecht aber nahm die Hacke auf, grub ein Grab für Pachom, gerade so lang, wie er von Kopf bis zu den Füßen maß – sechs Ellen –, und scharrte ihn ein.“ (Leo Tolstoi, Meistererzählungen, Diogenes-Verlag Zürich, 1989, S. 240)  Das ist der letzte Satz, und damit sagt Tolstoi: Mehr Erde braucht der Mensch letzten Endes nicht.
Sehr drastisch hat er damit die Sinnlosigkeit der Gier nach Reichtum aufgedeckt. Sie ist einseitig und vergebens. Der Bauer war durchaus mit anderen Werten in Berührung gekommen, wie Bescheidenheit, Genügsamkeit, Nächstenliebe oder das richtige Gespür für die eigenen Grenzen. Doch das interessierte ihn alles nicht, und damit wurde er zur tragischen Figur.
Die Erzählung ist eine eindringliche Ermahnung, auf das zu achten, was im Leben wirklich zählt. Dabei müssen wir ernst nehmen, dass Tolstoi ein überzeugter Christ und tief gläubig war. Seine Erkenntnisse decken sich mit dem, was Jesus verkündete. Auch Jesus warnte seine Jünger vor Gier und Machtstreben, vor Angst und Sorgen um weltliche Güter. Er hatte sie etwas anderes gelehrt, und am Ende gibt er ihnen den Auftrag, diese Inhalte weiterzugeben. Es ist der sogenannte Missions- und Taufbefehl, den wir ihn vorhin gehört haben. Tolstoi hat ihn mit seinen Erzählungen befolgt.
Der Befehl bildet den Schluss des Matthäusevangeliums, d.h. Jesus begegnet hier ein letztes Mal seinen Jüngern. Er offenbart sich ihnen erneut als der Auferstandene, und die Jünger fallen vor ihm nieder
Dann spricht er mit ihnen, und seine Rede besteht aus drei Teilen. Zunächst sagt er ein Vollmachtswort: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden.“ Er hat also eine universale Macht, die keine Grenzen mehr kennt. Jesus hat seine irdische Existenz beendet und bekommt nun Anteil an der unumschränkten Macht Gottes des Schöpfers. Und das ist eine dienende und helfende Macht. Jesus tritt eine heilbringende Herrschaft an, die nicht mehr von den Unheilmächten überwunden werden kann. Das ist der erste Teil seiner Rede.
Und aus diesem Vollmachtswort folgt nun sein Auftrag an die Jünger. Er umfasst vier Betätigungen: Gehen, Zum-Jünger-Machen, Taufen und Lehren. Die Jünger sollen also alle Nichtglaubenden in den Heilsbereich Jesu hineinrufen, ganz gleich, ob sie in der Ferne oder in der allernächsten Nachbarschaft wohnen, und sie taufen, d.h. sie in den Glauben einweihen und in die Gemeinde aufnehmen. Das bedeutet eine Veränderung des ganzen Lebens. Denn wer an Jesus glaubt und sich zu ihm bekennt, gehorcht seiner Lehre. Damit ist hauptsächlich die Bergpredigt gemeint, die von einem friedlichen Miteinander, Sorgenfreiheit und Einfachheit spricht, von einem veränderten Bewusstsein also, das vom Willen Gottes bestimmt ist. Das Leben wird durch den Glauben an Jesus und die Taufe von neuen Maßstäben geprägt. Darauf sollen die Jünger die Menschen aufmerksam machen.
Und als drittes schenkt Jesus ihnen eine Verheißung, er sagt: „Und siehe, ich bin bei euch alle Tage, bis an der Welt Ende.“ Er wird also mit ihnen sein. Er lässt sie in Wirklichkeit gar nicht allein. Er wird ihnen helfen, sie trösten und aufrichten, wann immer sie in Auseinandersetzungen, Härten und Entbehrungen geraten. Sie werden dann seine Kraft spüren. Das ist die gute Nachricht, an die sie sich immer erinnern dürfen und sollen.
Und diese Worte Jesu ergehen auch an uns. Als Christen haben wir ebenfalls den Auftrag, die Menschen „zu Jüngern Jesu“ zu machen, d.h. ihnen zu zeigen, dass er lebt und uns das Heil gebracht hat. Wir sollen die Menschen taufen und seine Lehre weitergeben.
Doch wie gehen wir da am besten vor? Das müssen wir uns fragen, denn so gute Schriftsteller wie Tolstoi sind wir nicht, und von den hergebrachten Missionsmethoden sind wir inzwischen abgerückt. Wir wollen niemanden belästigen oder manipulieren. Wir sind tolerant geworden und akzeptieren Andersgläubige. Und das ist auch gut so. Wir müssen den Menschen nichts überstülpen. Entscheidend ist vielmehr, dass wir selber die Lehre Jesu beachten. Wir müssen bei uns anfangen und das umsetzen, was er verkündet hat.
Dazu gehört als erstes, dass wir überprüfen und aufdecken, was uns innerlich eigentlich steuert. Wovon sind wir getrieben, was leitet uns an? Der Bauer Pachom war von der Gier nach Reichtum durchdrungen, und möglicherweise liegt uns das gar nicht so fern. Wir lassen uns jedenfalls gern von Leidenschaften hinreißen, von niederen Trieben, selbst wenn wir das eigentlich nicht wollen. Sie haben eine starke Macht. Wir müssen uns nur bewusst machen, wie oft wir von Angst oder Misstrauen erfüllt sind, Wut oder Zorn uns leiten, Lüge oder Heuchelei die Oberhand gewinnen. All diese Laster gehören zu unserem Alltag, und meistens sind sie so selbstverständlich, dass wir sie gar nicht richtig merken.
Doch sie sind gefährlich und können vieles zerstören. Der Bauer Pachom ist dafür ein eindringliches Beispiel. Und selbst wenn es nicht ganz so schlimm kommt, andere negative Folgen sind genauso zersetzend. Denn unser Verhalten führt oft zu Konflikten und Trennungen, Streit und Zwietracht. Auch Einsamkeit und Sinnlosigkeitsgefühle, Erschöpfung und Missmut gehören zu den Folgen. Und das dürfen wir nicht verharmlosen. Wir werden davon manchmal weggespült und gehen unter. Denn es sind dabei böse Kräfte im Spiel, die uns in die Irre führen und vernichten wollen.
Das gilt es zu erkennen und gegebenenfalls die Richtung zu ändern. Wir müssen nicht so leben, wie wir es oft tun. Wir können das Böse vielmehr überwinden, und zwar indem wir uns „guten Kräften“ aussetzen. „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“ (Rm.12,21) So lautet der Taufspruch für Paul, und damit ist die Mahnung gemeint, auf die Lehre Jesu zu achten. Sie kann im Glauben an ihn lebendig werden, denn er will uns aus all unseren inneren und äußeren Verstrickungen befreien. Er hat Macht, er ist immer da, und er lädt uns ein, ihm zu vertrauen. Wir können uns seinem Heil aussetzen und uns von seiner Liebe durchdringen lassen. Dann verändern sich unser Lebensgefühl und unser Handeln. Die Leidenschaften verlieren ihre Macht, wir fühlen uns frei und sehen klarer, was wirklich zählt. Die Oberflächlichkeit, der wir oft erliegen, verliert ihren Reiz. Wir werden gelassen und zuversichtlich. „Wir überwinden das Böse mit Gutem.“
Und damit bringen wir den Menschen genau das, was Jesus möchte und was sie auch brauchen. Wir erfüllen seinen Auftrag besser als auf irgendeinem anderen Weg. Denn wir reden nicht über seine Lehre, wir leben sie vielmehr und dadurch ereignet sie sich. Wir werden frei und gelassen, bescheiden und genügsam, verständnisvoll und aufrichtig. Unseren Mitmenschen gegenüber sind wir viel zugewandter und verweisen auf das Wesentliche. Sie können uns vertrauen und sich auf uns verlassen. Und in all dem schwingt mit, was ihnen wahrscheinlich am meisten fehlt: Möglicherweise wissen sie es gar nicht, aber tief in jeder menschlichen Seele liegt die Sehnsucht nach der Ewigkeit verborgen, nach einem Sinn, der größer ist, nach einer Liebe, die nie aufhört. Jesus hat uns das gebracht, und durch unseren Glauben an ihn bringen wir es zu den Menschen.
Auch für unsre Kinder ist das der entscheidende Wert im Leben. Es ist deshalb gut, wenn wir sie auf den Namen Jesu taufen. Wir legen damit eine Grundlage für „das Gute“, wir setzen einen Anfang und verbinden das Leben eines Menschen mit der Macht und Gegenwart Christi. Das geschieht mit Paul heute: Ihm wird die Liebe Jesu zugesagt, er wird in seine heilende Macht hineingenommen. Wenn er sich darauf verlässt, kann er immer wieder alles Böse überwinden.
Doch damit das geschieht, ist es wichtig, dass er die Liebe und Macht Christi auch kennen lernt, dass er davon erfährt und sie schon früh in sein Herz hineinkommt. Und das kann nur geschehen, wenn Sie, seine Eltern und Paten sie ihm geben, wenn Sie sich in Liebe ihm zuwenden und dabei selber auf Gott und sein Heil vertrauen. Paul braucht das genauso, wie alles andere, was Sie ihm geben, ja vielleicht braucht er es sogar am meisten. Wenn er lernen soll, das „das Böse mit Gutem zu überwinden“, muss er die Kraft des Guten erfahren und erleben.
Das ist der Sinn des Missionsbefehls und unser aller Auftrag. In einem Gedicht von der Schriftstellerin Maria Nels ist das sehr schön ausgedrückt. Ich habe es einmal in einem Kloster gefunden. Dort gab es einen Ständer mit Zetteln, auf denen verschiedene Zitate standen. Sie waren zum Mitnehmen gedacht. Ich habe das mit diesem Gedicht getan, denn es ist für mich wie ein Leitfaden, an den ich mich immer wieder erinnern möchte. Es lautet:

Glaub mir, sie brauchen dich,
die Menschen, die mit dir gehen!
Sie brauchen dein Gutsein und dein Verstehen,
deinen blanken geraden Sinn,
der sich freihält von raschem Gericht,
der Treue kennt
und Wahrheit verspricht.
Sie brauchen die Reinheit in deiner Gestalt
und deines Wortes klare Gewalt,
und das, was ihnen am meisten gebricht:
Dein Wissen um das ewige Licht.

Amen.

Anvertraute Gaben

Predigt über Matthäus 25, 14- 30: Von den anvertrauten Zentern

9. Sonntag nach Trinitatis, 2.8.2015, 9.30 Uhr
Lutherkirche Kiel

Matthäus 25, 14- 30

14 Denn es ist wie mit einem Menschen, der außer Landes ging: Er rief seine Knechte und vertraute ihnen sein Vermögen an;
15 dem einen gab er fünf Zentner Silber, dem andern zwei, dem dritten einen, jedem nach seiner Tüchtigkeit, und zog fort.
16 Sogleich ging der hin, der fünf Zentner empfangen hatte, und handelte mit ihnen und gewann weitere fünf dazu.
17 Ebenso gewann der, der zwei Zentner empfangen hatte, zwei weitere dazu.
18 Der aber einen empfangen hatte, ging hin, grub ein Loch in die Erde und verbarg das Geld seines Herrn.
19 Nach langer Zeit kam der Herr dieser Knechte und forderte Rechenschaft von ihnen.
20 Da trat herzu, der fünf Zentner empfangen hatte, und legte weitere fünf Zentner dazu und sprach: Herr, du hast mir fünf Zentner anvertraut; siehe da, ich habe damit weitere fünf Zentner gewonnen.
21 Da sprach sein Herr zu ihm: Recht so, du tüchtiger und treuer Knecht, du bist über wenigem treu gewesen, ich will dich über viel setzen; geh hinein zu deines Herrn Freude!
22 Da trat auch herzu, der zwei Zentner empfangen hatte, und sprach: Herr, du hast mir zwei Zentner anvertraut; siehe da, ich habe damit zwei weitere gewonnen.
23 Sein Herr sprach zu ihm: Recht so, du tüchtiger und treuer Knecht, du bist über wenigem treu gewesen, ich will dich über viel setzen; geh hinein zu deines Herrn Freude!
24 Da trat auch herzu, der einen Zentner empfangen hatte, und sprach: Herr, ich wusste, dass du ein harter Mann bist: Du erntest, wo du nicht gesät hast, und sammelst ein, wo du nicht ausgestreut hast;
25 und ich fürchtete mich, ging hin und verbarg deinen Zentner in der Erde. Siehe, da hast du das Deine.
26 Sein Herr aber antwortete und sprach zu ihm: Du böser und fauler Knecht! Wusstest du, dass ich ernte, wo ich nicht gesät habe, und einsammle, wo ich nicht ausgestreut habe?
27 Dann hättest du mein Geld zu den Wechslern bringen sollen, und wenn ich gekommen wäre, hätte ich das Meine wiederbekommen mit Zinsen.
28 Darum nehmt ihm den Zentner ab und gebt ihn dem, der zehn Zentner hat.
29 Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden.
30 Und den unnützen Knecht werft in die Finsternis hinaus; da wird sein Heulen und Zähneklappern.

Liebe Gemeinde.
„Kleider machen Leute“. So lautet der Titel einer bekannten Erzählung des Schweizer Dichters Gottfried Keller aus dem Jahr 1874. Die Geschichte handelt von dem Schneidergesellen Wenzel Strapinski, der sich trotz Armut gut kleidet. Er gelangt in eine fremde Stadt und wird dort wegen seines Äußeren für einen polnischen Grafen gehalten. Nachdem er aus Schüchternheit versäumt, die Verwechslung aufzuklären, versucht er sich davonzumachen. Doch da betritt eine junge Dame, Tochter eines angesehenen Bürgers, den Schauplatz. Die beiden verlieben sich ineinander, worauf der Schneider die ihm aufgedrängte Grafenrolle weiterspielt.
Natürlich dauert es nicht lange, und er wird entlarvt. Fluchtartig verlässt er daraufhin die Stadt. Doch glücklicherweise ist die Liebe zwischen ihm und seiner Braut echt. Sie hält zu ihm, und so kommt es zum Schluss zum Happy End: Er gründet mit ihrem Vermögen ein Atelier und bringt es zu Wohlstand und Ansehen. Das Sprichwort „Kleider machen Leute“ hat sich in diesem Fall also bewährt.
Das tut es allerdings mitnichten immer, schön wär’s, denn wir führen unser Leben gern nach dieser Devise: Wir halten Schein und Sein oft nur schwer auseinander. Wir lassen uns leicht täuschen und spielen eher eine Rolle, als dass wir wir selber sind.
Und das ist schade, denn tief in uns tragen wir alle ein Bild, das der Schöpfer von uns hat, einen Kern, der uns von Gott mit unserer Geburt gegeben wurde. Aus ihm soll sich unser Leben entwickeln. Es ist etwas Wertvolles und Schönes in uns angelegt, das sich entfalten soll. Und wir sind dafür verantwortlich, dass es wächst und gedeiht.
Davon handelt das Gleichnis, das wir vorhin gehört haben. Vier Personen kommen darin vor: Ein Herr und drei Sklaven. Sie bekommen von ihm viel Geld anvertraut und sollen daraus etwas machen.
Folgendermaßen verläuft die Erzählung: Ein Großkaufmann verreist und überträgt Dreien seiner Knechte sein Vermögen. Er überlässt es ihnen, wie sie damit umgehen. Es sind beträchtliche Geldsummen, aber nicht jeder erhält gleichviel. Der Herr kennt seine Sklaven und kann ihre Tüchtigkeit einschätzen.
Und die ersten beiden werden auch gleich nach seiner Abreise tätig. Sie legen das Geld bei der Bank an, so dass es sich vermehrt. Das Bankwesen gab es damals schon so ähnlich wie heute. Nur der Dritte handelt anders, und der steht deshalb im Mittelpunkt: Er vergräbt die 6000 Denare in der Erde. Warum er so handelt, wird zunächst nicht gesagt.
Denn erstmal kehrt der Herr zurück und belohnt die beiden zuverlässigen Knechte für ihre Treue. Für den dritten sieht es dagegen schlecht aus. Jetzt erfährt man auch die Motivation für sein Handeln: Ihm fehlte der Mut zum Einsatz, er hatte Angst vor dem Herrn und dachte, genug getan zu haben, wenn er das Anvertraute einfach nur aufbewahrte.
Doch selbst mit dieser Sorge hätte es noch bessere Möglichkeiten gegeben, darüber belehrt ihn sein Herr, dem das Verhalten gar nicht gefällt. Der Knecht wird deshalb sozusagen entlassen. Er sinkt in die Bedeutungslosigkeit. Die anderen beiden dagegen „gehen ein zu ihres Herrn Freude“. Im übertragenen Sinn ist das das Freudenmahl Gottes, die Gemeinschaft mit ihm in seinem Reich. Dazu passt es, dass das Schicksal des dritten Knechtes der Hinauswurf in die „Finsternis“ ist, in der „Heulen und Zähneklappern“ sein wird. Damit ist die „Hölle“ gemeint.
Das ist das Gleichnis, und damit will Jesus uns daran erinnern, dass wir eines Tages – spätestens beim Jüngsten Gericht – vor Gott Rechenschaft über unser Leben ablegen müssen. Es geht um die Frage, wie es sich in der Zeit hier auf der Erde gestaltet. Jesus sagt uns mit dem Gleichnis, worauf es dabei ankommt.
Dabei ist uns das Ende sicher zu gruselig. So etwas hören wir nicht gern, dass der dritte Knecht als „unnütz“ bezeichnet und in Ewigkeit verdammt wird. Es passt nicht in unser Denken, wir haben die Vorstellung von der Hölle abgelegt.
Trotzdem ist es gut, wenn wir den Ernst der Botschaft erkennen und uns auf die Ermahnung zur Verantwortung einlassen. Denn oft leben wir ganz anders, als Gott es von uns möchte, und das hat durchaus verheerende Folgen. Das sollten wir uns als erstes bewusst machen.
Dafür ist es gut, wenn wir das Verstecken des Geldes, zu dem sich der dritte Knecht hier entschieden hat, einmal auf unser Leben übertragen. Es bedeutet ja, dass wir aus dem, was uns anvertraut wurde, nichts machen. Wir vergraben es und lassen es vermodern. Und das kann sich auf ganz unterschiedliche Weise ereignen.
Meistens beginnt dieser Fehler schon damit, dass wir gar nicht richtig erkennen, was Gott uns überhaupt gegeben hat und was er von uns will. Bei vielen Entscheidungen im Leben folgen wir nicht dem, was in uns liegt, sondern äußeren Einflüssen, Erwartungen anderer, Bildern aus der Werbung oder Rollen, die die Gesellschaft uns auferlegt. Und davon gibt es ganz viele.
Zu einem gelungenen Leben gehört es nach gängiger Meinung z.B., dass wir eine vernünftige Ausbildung und einen anständigen Beruf haben. Außerdem wird erwartet, dass wir irgendwann heiraten und eine eigene Familie gründen. Schönheit und Erfolg, Gesundheit und Klugheit, Kontaktfreudigkeit und Selbstsicherheit, das sind die Dinge, die wir alle irgendwie anstreben. Wenn sich diese Elemente in guter Weise mischen, entsprechen wir dem üblichen Bild.
Wer dagegen keine vernünftige Ausbildung und kein gutes Einkommen hat, wird sofort beargwöhnt. Genauso geht es sogenannten Muttersöhnchen, die nie bei ihren Eltern ausziehen. Auch Einzelgänger sind uns suspekt. Kleine, dicke oder hässliche Menschen werden oft nicht ganz ernst genommen, und kinderlose Paare tun uns leid.
Denn unausgesprochen haben wir uns auf bestimmte Werte geeinigt, und danach beurteilen wir andere und uns selbst. In der Novelle von Gottfried Keller ist das sehr schön dargestellt: Da reichen bereits die schönen Kleider eines Menschen, damit er ins Bild passt und von allen anerkannt wird. Was dahinter steckt, interessiert sie zunächst gar nicht, denn sie haben sich an den schönen Schein längst gewöhnt.
Doch so kann das Leben nicht gelingen. Das wird trotz des guten Ausgangs auch in der Novelle deutlich. Denn durch die Demaskierung tut sich hinter der vergoldeten Welt ein bodenloses Loch auf. Eisig und grauenhaft wird dieser Moment dargestellt, und er führt den Schneider in die persönliche Katastrophe. Es ist dem Höllengrund durchaus vergleichbar. Das macht der Dichter dadurch deutlich, dass die Entlarvung bei einem maskierten Toten- und Gespenstertanz erfolgt. Der Schneider wird fallen gelassen, und das ist wie eine Strafe und Folter. Der Dichter warnt uns mit der Geschichte also davor, uns so von Äußerlichkeiten steuern zu lassen.
Denn auch für uns hat das oft schlimme Folgen, die wir durchaus mit der Hölle vergleichen können, in die der dritte Knecht gestoßen wird. Wir müssen dafür gar nicht die Bibel bemühen. Das Leben selber bereitet uns die Qualen, denen er ausgesetzt wird.
Dazu gehört z.B. der permanente Leistungsdruck, unter den wir geraten. Wir müssen dauernd etwas tun, Ziele erreichen, Wünsche erfüllen, Aufgaben erledigen, usw. Das kann auf die Dauer ermüden. Irgendwann sind wir erschöpft und können nicht mehr. Und was geschieht dann? Auch vor uns tut sich ein Loch auf. Wir bekommen Angst und machen uns Sorgen, zweifeln an uns selber und wissen nicht weiter.
Und das kann auch schon viel früher einsetzen. Denn oft passen wir von vorne herein nicht in das Bild, das wir selber und andere uns auferlegen. Viele Menschen leiden an Minderwertigkeitskomplexen. Sie vergleichen sich mit anderen, sind neidisch und schließen sich selber aus. Sie leben am Rand der Gesellschaft und sind dort traurig und unglücklich. Die seelische Not und das Elend vieler Menschen sind oft größer, als wir ahnen. Die Strafe für ein Leben, das sich nur in diesen Bahnen bewegt, erfolgt also ganz von selber, und sie ist oft grausam und hart.
Es ist demnach ratsam, dass wir uns ein ganz anderes Verhalten und Denken angewöhnen, als nur den Erwartungen und Bildern zu folgen, die angeblich gelten. Das Gleichnis legt es uns nahe, und es lohnt sich wie gesagt, wenn wir es ernst nehmen.
Dabei ist es hilfreich, wenn wir in drei Schritten vorgehen. Zunächst einmal ist es wichtig, dass die drei Knechte nicht die gleiche Summe Geld anvertraut bekommen. Wenn wir das übertragen, heißt es, dass alle Menschen eine unterschiedliche Bedeutung und Aufgabe haben. Wir sind nicht alle gleich und müssen es von daher auch nicht sein. Die Unterschiede sind hier unbedeutend, sie werden einfach nur erwähnt und ganz selbstverständlich vorausgesetzt. Und das heißt, es gibt kein Raster, in das wir alle hineinpassen, keinen Maßstab, der für alle gilt. Entscheidend ist nicht, was wir darstellen, sondern dass wir überhaupt etwas geschenkt bekommen haben.
Und was das ist, müssen wir als erstes erkennen. In Wesen Gottes ist jeder und jede von uns klar und deutlich abgebildet. Gott hat von uns ein Bild, das bei allen ein anderes ist. Unsere erste Aufgabe ist es, das zu entdecken. Wir werden hier gefragt, womit wir eigentlich wuchern können. Und dazu sollen wir uns nicht mit anderen vergleichen, sondern in uns gehen, uns selber spüren und nachlesen, was Gott in unserem Innersten geschrieben hat. Das wäre der erste Schritt zu einem gelingenden Leben.
Die spanische Mystikerin Theresa von Avila hat dazu einmal ein sehr schönes Gedicht geschrieben. Sie hat sich vorgestellt und innerlich gehört, was Gott zu ihrer Seele sagt. An einer Stelle heißt es in diesem Gedicht: „Gott spricht: In meines Herzens Tiefe trage ich dein Porträt, so echt gemalt; sähst du, wie es vor Leben strahlt, verstummte jede bange Frage.“ * Das dürfen wir uns von Gott sagen lassen.
Und damit sind wir bei dem nächsten Schritt. Er kommt zwar nicht direkt in dem Gleichnis vor, aber wir können ihn durchaus dahinter entdecken. Es ist die Tatsache, dass der Herr seinen Knechten zugetan ist. Er kennt sie und vertraut ihnen. Die Beziehung zwischen ihm und ihnen ist von Nähe und Liebe gekennzeichnet. Sonst wäre die Freude über die ersten beiden Knechte und die Enttäuschung über den Dritten nicht so groß.
Und das heißt auf unser Leben übertragen: Gott kennt uns und er liebt uns so, wie wir sind. Er glaubt an uns, er nimmt uns an und hat sich uns zum Eigentum auserwählt. Wir dürfen uns bei ihm geborgen wissen, ganz gleich, wie und wer wir sind. Ob wir klein oder groß sind, gesellig oder zurückgezogen, verheiratet oder allein, wir dürfen genauso sein, denn so werden wir geliebt. Wir dürfen unsere Fehler und Schwächen annehmen, und unsere Stärken und Gaben gleichermaßen. Denn das tut Gott ebenso. Er ist uns immer ganz nah und will an uns wirken, das gilt es zu spüren. Wir dürfen in seiner Liebe zu Hause sein.
Denn dann geschieht das Dritte ganz von alleine: Unser Leben und unsere Seele können sich entfalten. Wir kommen innerlich in Bewegung und werden offen für das, was wir sein sollen. Wir treten nicht auf der Stelle und verfehlen auch nicht unsere Bestimmung. Neid und Minderwertigkeitsgefühle verschwinden, die Traurigkeit weicht, es kommt Freude auf, und wir werden glücklich. Und das geschieht nicht, weil wir etwas Großartiges leisten oder eine tolle Rolle in der Gesellschaft spielen, sondern durch die lebendige Kraft der Liebe Gottes. Sie kann uns zutiefst heil und froh machen, und genau das ist unsere eigentliche Bestimmung.
Die Novelle, die ich erwähnte, geht gut aus. Aller Schein und alle Lüge werden aufgedeckt, das Theater ist zum Schluss vorbei, und die Liebe siegt. Durch sie wird der Schneider Wenzel Strapinski gerettet. Er darf wieder er selber sein und tut am Ende das, was er am besten kann.
Und auch unser Leben gelingt am ehesten, wenn die Liebe darin wirkt. Das verkündet Jesus uns. Gleichzeitig bietet er uns seine Liebe an, und die ist noch viel mehr, als menschliche Zuneigung: Denn damit lädt er uns zu Gott ein und ruft uns in sein Reich. Wir müssen uns nur auf den Willen Gottes und seine liebende Kraft einlassen. Dann steht unser Leben unter seiner Verheißung und kann gelingen.
Amen.

* Teresa von Avila, „Ich bin ein Weib – und obendrein kein Gutes“; ein Porträt der Heiligen in ihren -Texten; ausgewählt, übersetzt und eingeleitet von Erika Lorenz; Freiburg 1989; S. 41