Predigt über 2. Korinther 5, 19- 21: Das Wort von der Versöhnung
Karfreitag, 25.3.2016, 9.30 Uhr
Lutherkirche Kiel
2. Korinther 5, 19- 21
19 Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung.
20 So sind wir nun Botschafter an Christi statt, denn Gott er-mahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott!
21 Denn er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt.
Liebe Gemeinde.
Seit Jahrtausenden werden Personen hingerichtet, deren Taten als besonders schwere Verbrechen gelten. In 56 von insgesamt 198 Staaten – so viele werden z.Zt. offiziell weltweit gezählt – gibt es die Todesstrafe noch. Ihre allgemeine Abschaffung wurde erstmals 1795 in Frankreich gefordert, aber erst 1945 begann dieser Trend, dem sich auch die Bundesrepublik Deutschland anschloss. Mittlerweile gibt es sie in 102 Staaten nicht mehr. In den restlichen existiert sie nur in Sonderstrafverfahren, wie z.B. dem Kriegsrecht, oder es wurde ein Hinrichtungsstopp verhängt.
Denn sie ist ethisch, strafrechtlich und praktisch umstritten und gilt vielfach als unvereinbar mit den Menschenrechten. So fordert z.B. die UNO seit 2007, die Hinrichtung weltweit auszusetzen. Sie sei ein staatlich legitimierter Mord und habe keinerlei abschreckenden Zweck – mit diesem Argument wird sie gerne befürwortet. Ihre Gegner sprechen außerdem davon, dass sie das Recht untergrabe und so das Gewaltpotential der Gesellschaft erhöhe. Außerdem gebe sie dem Täter keine Chance zu Einsicht und Besserung, und Justizirrtum und Missbrauch seien nie auszuschließen.
Für dieses letzte Argument gibt es viele Beispiele, das berühmteste ist sicher der Kreuzestod von Jesus von Nazareth. Seine Hinrichtung erfolgte gemäß dem Rechtswesen im anti-ken Rom. Danach besaßen Statthalter römischer Provinzen das Recht, Todesstrafen zu vollziehen. Handelte es sich um Staatsfeinde, Sklaven oder Nichtrömer war die Kreuzigung dafür die übliche Form. Zu den Vergehen, die mit dem Tod bestraft wurden, gehörte u.a. die Verhöhnung der Götter.
Darauf beriefen sich die Feinde Jesu, und sie waren erfolgreich. Mit seiner Kreuzigung hatten sie ihr lange geplantes Ziel erreicht, ihn zu beseitigen. Doch das war ein schwerer Missbrauch der Todesstrafe und für seine Anhänger eine Katastrophe, die sie in äußerstes Entsetzen stürzte. Denn sie waren von seiner Unschuld überzeugt. Jesus von Nazareth hat „von keiner Sünde gewusst“, das wurde später vielfach im Neuen Testament bezeugt.
So auch in unserer Epistel von heute, einem Abschnitt aus dem zweiten Brief des Paulus an die Korinther, der gleichzeitig unser Predigttext ist. Es ist eine der vielen Stellen im Neuen Testament, die sich damit befasst, warum das Unerklärliche und Unfassbare geschehen konnte. Wozu musste Jesus sterben? Es musste dafür einen tieferen Grund geben, anders war dieses Ereignis für die Anhänger Jesu nicht zu verstehen gewesen.
Und so verbanden sie von Anfang an seinen Kreuzestod mit der Opfertheologie Israels: „Gott hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt.“ Das ist einer der Sätze, die sofort in das Gedankengut der Christenheit Eingang gefunden haben: Es war ein Sühnetod. Wie in Israel unschuldige Tiere geschlachtet wurden, um Gott zu versöhnen, so hat Gott seinen eigenen Sohn geopfert. Ein für alle Mal hat er die Sünden der ganzen Menschheit auf sich genommen, um die Welt „mit Gott zu versöhnen“. Und das hatte deshalb eine Wirkung, weil „Gott in Christus war.“ Gott selber ist am Kreuz gestorben und so „versöhnte er die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung.“ So formuliert Paulus es in unserem Briefabschnitt.
Wir werden „ohne eigenes Verdienst gerecht“, wie er an anderen Stellen sagt, allein „aus der Gnade Gottes“. Jesus Christus hat für uns die Erlösung bewirkt, denn ihn „hat Gott hingestellt als Sühne in seinem Blut“. Durch ihn ist uns die Sünde vergeben. „Gerecht vor Gott ist, wer an Jesus Christus glaubt.“ (Röm. 3,24-26)
Das ist die Botschaft, die Paulus „an Christi statt“ in die Welt getragen hat. Unermüdlich hat er das gepredigt und geschrieben. Er hat zum Glauben an Jesus Christus ermahnt und eingeladen. Das verstand er als seinen Auftrag, den Gott ihm gegeben hatte. „Gott ermahnt durch uns.“ So lautete sein Selbstverständnis, und deshalb rief er eindringlich und unnachgiebig: „Lasst euch versöhnen mit Gott!“
Bis heute geht dieser Ruf in die Welt. Unzählige Male wurde er seit den Zeiten von Paulus wiederholt, und Menschen aller Jahrhunderte haben sich darauf eingelassen. Auch an uns ergeht das „Wort von der Versöhnung“, besonders heute, am Karfreitag, wo wir an den Tod Jesu denken und ihn feierlich nachvollziehen.
Aber wollen wir das eigentlich hören? Und glauben wir das noch? Es gibt längst Stimmen in der Theologie, die die Kreuzigung Jesu als Sühne für unsre Sünden ablehnen. Sie halten diese Theorie für einen Irrtum. Und damit kommen sie vielen Gläubigen entgegen. Denn der Gedanke, dass Gott seinen eigenen Sohn geopfert hat, ist nur schwer auszuhalten. Es empört viele, dass unsere Erlösung auf einem Menschenopfer beruhen soll. So grausam kann Gott doch nicht sein! Außerdem kann sich kaum noch jemand vorstellen, dass durch einen Kreuzestod vor über 2000 Jahren die Sünde in der Welt für alle Zeiten besiegt sein soll.
Und was ist das überhaupt, Sünde? Viele haben dafür kein richtiges Bewusstsein mehr. Sie wollen sich auch nicht sündig fühlen. Das Menschenbild, das dahinter steht, passt nicht in ihr Lebensgefühl. Heutzutage zählen die Stärken und guten Eigenschaften der Menschen. Man muss sie betonen und hervorheben, wenn man frei und gesund sein will. Wer zu viel über Sünde nachdenkt, ist negativ und lebensverneinend.
Das sind die Argumente gegen das Sühneverständnis des Kreuzestodes Jesu. Ich kann das alles gut verstehen und will diese Einwände auch nicht vom Tisch wischen. Sie stehen im Raum und wir müssen uns damit beschäftigen.
Die Frage ist allerdings, wie wir das tun. Und da denke ich als erstes, dass es nicht mit dem bloßen Verstand gehen kann. Es hilft nicht, wenn wir nur Theologie betreiben, Artikel darüber lesen oder Juristen und Anthropologen befragen. Debatten und Diskussionen führen nicht weiter, im Gegenteil, sie halten uns von dem ab, was nötig ist, und das ist der Glaube. Wir müssen die Bücher einmal bei Seite legen, denn von Anfang an war klar, dass es sich bei dem Bekenntnis zum Sühnetod Jesu um ein „Geheimnis des Glaubens“ handelte, auf Latein „mysterium fidei“.
Das ist eine bedeutsame Wortfügung aus der Liturgie der römisch-katholischen Messfeier, die auch in unsere lutherische Gottesdienstordnung übernommen wurde. Es ist möglich, sie als Gestaltungselement in die Abendmahlsfeier einzureihen. Der Liturg oder die Liturgin sagt dann unmittelbar nach den Einsetzungsworten: „Groß ist das Geheimnis des Glaubens“, und die versammelte Gemeinde antwortet darauf mit der Zustimmung: „Deinen Tod, o Herr, verkünden wir, und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit.“ Das wurde in Anlehnung an den Satz aus dem ersten Korintherbrief formuliert, der lautet: „Denn sooft ihr von diesem Brot esst und aus dem Kelch trinkt, verkündigt ihr den Tod des Herrn, bis er kommt.“ (1.Kor.11,26).
Diese Einfügung in die Liturgie nimmt also älteste Glaubensformulierungen auf. Der Gedanke, der dahinter steht, kommt aus dem Griechischen: Ein „religiöses Geheimnis“ – „mysterion“ – war in der Antike nicht einfach nur eine zurückgehaltene Information, sondern galt als eine Vergegenwärtigung der Gottheit, die tiefer und höher reicht als Worte ausdrücken können. Eine geistige Wirklichkeit wurde damit angesprochen. Deshalb nahm die Alte Kirche den Begriff gerne auf und wandte ihn auf die Erlösung durch den Tod und die Auferstehung Jesu Christi an. Die Feiernden werden in das „Geheimnis des Glaubens“ hineingenommen, das war die Vorstellung.
Und das ist eine Möglichkeit, sich der Wirkung des Kreuzestodes Jesu zu nähern, indem wir betend diesem „Geheimnis des Glaubens“ zustimmen. Wir wollen das deshalb heute so handhaben, darum habe ich Ihnen den Text mitgebracht.
Auf der Karte sehen Sie außerdem ein Bild des Gekreuzigten, das viele von Ihnen sicher kennen.
Es gehört zum Isenheimer Altar, der um 1500 von Mathis Grünewald geschaffen wurde. Wir damit haben eine weitere Möglichkeit der Annäherung an die erlösende Wirkung des Todes Jesu. Ein Bild sagt ja oft mehr als tausend Worte oder Gedanken, und so war dieses Gemälde auch gedacht. Der Antoniterkonvent in Isenheim im Elsass hat es für seine Kirche in Auftrag gegeben. Die Antoniter waren ein Orden, der sich der Krankenpflege verpflichtet sah. Er betrieb in Isenheim ein Hospital, und der Altar diente als sein charismatischer Mittelpunkt. Die meiste Zeit des Jahres war die Kreuzigungsszene aufgeklappt, und die Kranken wurden davor gelegt. Sie sollten auf das größere Leiden Christi verwiesen werden und auf die Rettung zum ewigen Leben. Deshalb hat Grünewald bewusst den Opfertod des Gottessohnes dargestellt. Der Betrachter sieht nicht die historische Szene der Hinrichtung auf Golgatha, sondern ein heilsgeschichtliches, zeitlos gültiges Ereignis. Die provozierende Drastik des Bildes ist also beabsichtigt.
Sie beginnt schon mit seiner Größe, das Gemälde ist 2,69 Meter hoch. Übermächtig hängt der geschundene Körper an dem roh behauenen Kreuz. Er ist von Wunden über und über bedeckt. Das Haupt ist nach vorne geneigt, umgeben von einem Dornengestrüpp, das tief in die Stirn gedrückt ist. Der Mund ist weit zum Stöhnen geöffnet, die schmerzgespreizten Finger, die durchbohrten Hände, die entstellen Füße, alle Gebärden und Gesten sind bewusst übersteigert. Die ganze Qual des Sterbens hat einen monumentalen Ausdruck gefunden.
Dahinein soll der Betrachter sich versenken. Er kann dann gar nicht anders, als das Leiden mitzufühlen und es nachzuvollziehen. Das Ziel ist dabei, dass er das eigene Leid auf sich nimmt. (s. Max Seidel, Mathis Gothart Grünewald, Der Isenheimer Altar, Stuttgart 1980, S. 45ff) Und es wird berichtet, dass viele Kranke sich dadurch wirklich getröstet fühlten. Sie wussten, dass die körperliche Heilung mit dem seelischen Heil der Seele zusammengehört, und wurden beim Anblick dieses Gemäldes in eine große Ruhe und Zuversicht hinübergeführt.
Und das ist ein zweiter Schritt, der uns an die heilende Wirkung des Kreuzestodes Jesu heranführt: Wir müssen zum Kreuz gehen, uns davor stellen und es aushalten. Was wir sehen, ist unsere eigene Schuld und Krankheit, denn keiner und keine von uns ist ohne Sünde: Gott möchte, dass wir ihn lieben und ihm vertrauen, ihm dienen und für unsere Mitmenschen da sind. Doch davon sind wir oft weit entfernt. Unsere Gedanken, Worte und Werke drehen sich um unsere eigenen Belange und Wünsche, um unsere Ängste und Sorgen. Wir vertun die Zeit, die Gott uns anvertraut hat, und versagen immer wieder. Unsere Herzen sind träge, wir sind selbstsüchtig und eigenwillig. (vgl. Ev. Gesangbuch, Ausgabe für die Nordelbische Ev.-Luth. Kirche, 1994, Nr. 800)
Das sollten wir erkennen und zugeben, es bereuen und beichten. Das schadet niemandem, und es steht auch nicht im Gegensatz zur Selbstannahme, die natürlich nötig ist, um gesund zu sein. Denn wir bereuen unsere Sünden nicht, um uns künstlich klein zu machen, sondern um realistisch zu sein. Und wir tun es im Angesicht des Kreuzes, vor Jesus Christus, um in seinem unergründlichen Erbarmen Zuflucht zu suchen. Wir wollen deshalb nachher vor der Einsetzung des Abendmahls unsere Schuld bekennen und um Vergebung bitten.
Wenn wir so handeln, merken wir von selber, dass von dem Kreuz Jesu eine wunderbare Wirkung ausgeht: Er vergibt uns, er schenkt uns neues Leben und richtet uns auf. Wir müssen nicht von uns aus vor Gott bestehen, wir dürfen mit allem, was uns belastet, kommen. Er versöhnt uns mit Gott und macht uns gerecht.
Das ist die Botschaft des Karfreitags und es ist gut, wenn wir sie so stehen lassen, selbst wenn sie ein Ärgernis ist. Nicht zuletzt ist das „Wort von der Versöhnung“ ein Grund, die Todesstrafe wirklich abzuschaffen. Denn natürlich gilt es auch für jeden Schwerverbrecher. Kein Gesetz sollte ihm diesen Weg versperren. Die Chance zur Reue und zur Umkehr muss offen bleiben. Jeder und jede kann zur Einsicht kommen und Besserung erfahren. Das Kreuz ist ein Mahnmal gegen jede Form der Gewalt, gegen das Morden und Töten, und sei es aus juristischen Gründen.
Das Kreuz Christ war der bedeutendste Justizirrtum in der Geschichte der Menschheit. Ohne es zu wissen, wurde der schwerwiegendste Missbrauch, den es jemals bei der Anwendung der Todesstrafe gab, zum Heil für alle. Doch das entlastet die Entscheidungsträger nicht, es bleibt ein großes Geheimnis. Wir können da hineingenommen, wenn wir uns dem Kreuz Jesu immer wieder im Vertrauen nähern und uns dabei mit Gott versöhnen lassen. Amen.