Lasst euch versöhnen mit Gott

Predigt über 2. Korinther 5, 19- 21: Das Wort von der Versöhnung

Karfreitag, 25.3.2016, 9.30 Uhr
Lutherkirche Kiel

2. Korinther 5, 19- 21

19 Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung.
20 So sind wir nun Botschafter an Christi statt, denn Gott er-mahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott!
21 Denn er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt.

Liebe Gemeinde.
Seit Jahrtausenden werden Personen hingerichtet, deren Taten als besonders schwere Verbrechen gelten. In 56 von insgesamt 198 Staaten – so viele werden z.Zt. offiziell weltweit gezählt – gibt es die Todesstrafe noch. Ihre allgemeine Abschaffung wurde erstmals 1795 in Frankreich gefordert, aber erst 1945 begann dieser Trend, dem sich auch die Bundesrepublik Deutschland anschloss. Mittlerweile gibt es sie in 102 Staaten nicht mehr. In den restlichen existiert sie nur in Sonderstrafverfahren, wie z.B. dem Kriegsrecht, oder es wurde ein Hinrichtungsstopp verhängt.
Denn sie ist ethisch, strafrechtlich und praktisch umstritten und gilt vielfach als unvereinbar mit den Menschenrechten. So fordert z.B. die UNO seit 2007, die Hinrichtung weltweit auszusetzen. Sie sei ein staatlich legitimierter Mord und habe keinerlei abschreckenden Zweck – mit diesem Argument wird sie gerne befürwortet. Ihre Gegner sprechen außerdem davon, dass sie das Recht untergrabe und so das Gewaltpotential der Gesellschaft erhöhe. Außerdem gebe sie dem Täter keine Chance zu Einsicht und Besserung, und Justizirrtum und Missbrauch seien nie auszuschließen.
Für dieses letzte Argument gibt es viele Beispiele, das berühmteste ist sicher der Kreuzestod von Jesus von Nazareth. Seine Hinrichtung erfolgte gemäß dem Rechtswesen im anti-ken Rom. Danach besaßen Statthalter römischer Provinzen das Recht, Todesstrafen zu vollziehen. Handelte es sich um Staatsfeinde, Sklaven oder Nichtrömer war die Kreuzigung dafür die übliche Form. Zu den Vergehen, die mit dem Tod bestraft wurden, gehörte u.a. die Verhöhnung der Götter.
Darauf beriefen sich die Feinde Jesu, und sie waren erfolgreich. Mit seiner Kreuzigung hatten sie ihr lange geplantes Ziel erreicht, ihn zu beseitigen. Doch das war ein schwerer Missbrauch der Todesstrafe und für seine Anhänger eine Katastrophe, die sie in äußerstes Entsetzen stürzte. Denn sie waren von seiner Unschuld überzeugt. Jesus von Nazareth hat „von keiner Sünde gewusst“, das wurde später vielfach im Neuen Testament bezeugt.
So auch in unserer Epistel von heute, einem Abschnitt aus dem zweiten Brief des Paulus an die Korinther, der gleichzeitig unser Predigttext ist. Es ist eine der vielen Stellen im Neuen Testament, die sich damit befasst, warum das Unerklärliche und Unfassbare geschehen konnte. Wozu musste Jesus sterben? Es musste dafür einen tieferen Grund geben, anders war dieses Ereignis für die Anhänger Jesu nicht zu verstehen gewesen.
Und so verbanden sie von Anfang an seinen Kreuzestod mit der Opfertheologie Israels: „Gott hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt.“ Das ist einer der Sätze, die sofort in das Gedankengut der Christenheit Eingang gefunden haben: Es war ein Sühnetod. Wie in Israel unschuldige Tiere geschlachtet wurden, um Gott zu versöhnen, so hat Gott seinen eigenen Sohn geopfert. Ein für alle Mal hat er die Sünden der ganzen Menschheit auf sich genommen, um die Welt „mit Gott zu versöhnen“. Und das hatte deshalb eine Wirkung, weil „Gott in Christus war.“ Gott selber ist am Kreuz gestorben und so „versöhnte er die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung.“ So formuliert Paulus es in unserem Briefabschnitt.
Wir werden „ohne eigenes Verdienst gerecht“, wie er an anderen Stellen sagt, allein „aus der Gnade Gottes“. Jesus Christus hat für uns die Erlösung bewirkt, denn ihn „hat Gott hingestellt als Sühne in seinem Blut“. Durch ihn ist uns die Sünde vergeben. „Gerecht vor Gott ist, wer an Jesus Christus glaubt.“ (Röm. 3,24-26)
Das ist die Botschaft, die Paulus „an Christi statt“ in die Welt getragen hat. Unermüdlich hat er das gepredigt und geschrieben. Er hat zum Glauben an Jesus Christus ermahnt und eingeladen. Das verstand er als seinen Auftrag, den Gott ihm gegeben hatte. „Gott ermahnt durch uns.“ So lautete sein Selbstverständnis, und deshalb rief er eindringlich und unnachgiebig: „Lasst euch versöhnen mit Gott!“
Bis heute geht dieser Ruf in die Welt. Unzählige Male wurde er seit den Zeiten von Paulus wiederholt, und Menschen aller Jahrhunderte haben sich darauf eingelassen. Auch an uns ergeht das „Wort von der Versöhnung“, besonders heute, am Karfreitag, wo wir an den Tod Jesu denken und ihn feierlich nachvollziehen.
Aber wollen wir das eigentlich hören? Und glauben wir das noch? Es gibt längst Stimmen in der Theologie, die die Kreuzigung Jesu als Sühne für unsre Sünden ablehnen. Sie halten diese Theorie für einen Irrtum. Und damit kommen sie vielen Gläubigen entgegen. Denn der Gedanke, dass Gott seinen eigenen Sohn geopfert hat, ist nur schwer auszuhalten. Es empört viele, dass unsere Erlösung auf einem Menschenopfer beruhen soll. So grausam kann Gott doch nicht sein! Außerdem kann sich kaum noch jemand vorstellen, dass durch einen Kreuzestod vor über 2000 Jahren die Sünde in der Welt für alle Zeiten besiegt sein soll.
Und was ist das überhaupt, Sünde? Viele haben dafür kein richtiges Bewusstsein mehr. Sie wollen sich auch nicht sündig fühlen. Das Menschenbild, das dahinter steht, passt nicht in ihr Lebensgefühl. Heutzutage zählen die Stärken und guten Eigenschaften der Menschen. Man muss sie betonen und hervorheben, wenn man frei und gesund sein will. Wer zu viel über Sünde nachdenkt, ist negativ und lebensverneinend.
Das sind die Argumente gegen das Sühneverständnis des Kreuzestodes Jesu. Ich kann das alles gut verstehen und will diese Einwände auch nicht vom Tisch wischen. Sie stehen im Raum und wir müssen uns damit beschäftigen.
Die Frage ist allerdings, wie wir das tun. Und da denke ich als erstes, dass es nicht mit dem bloßen Verstand gehen kann. Es hilft nicht, wenn wir nur Theologie betreiben, Artikel darüber lesen oder Juristen und Anthropologen befragen. Debatten und Diskussionen führen nicht weiter, im Gegenteil, sie halten uns von dem ab, was nötig ist, und das ist der Glaube. Wir müssen die Bücher einmal bei Seite legen, denn von Anfang an war klar, dass es sich bei dem Bekenntnis zum Sühnetod Jesu um ein „Geheimnis des Glaubens“ handelte, auf Latein „mysterium fidei“.
Das ist eine bedeutsame Wortfügung aus der Liturgie der römisch-katholischen Messfeier, die auch in unsere lutherische Gottesdienstordnung übernommen wurde. Es ist möglich, sie als Gestaltungselement in die Abendmahlsfeier einzureihen. Der Liturg oder die Liturgin sagt dann unmittelbar nach den Einsetzungsworten: „Groß ist das Geheimnis des Glaubens“, und die versammelte Gemeinde antwortet darauf mit der Zustimmung: „Deinen Tod, o Herr, verkünden wir, und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit.“ Das wurde in Anlehnung an den Satz aus dem ersten Korintherbrief formuliert, der lautet: „Denn sooft ihr von diesem Brot esst und aus dem Kelch trinkt, verkündigt ihr den Tod des Herrn, bis er kommt.“ (1.Kor.11,26).
Diese Einfügung in die Liturgie nimmt also älteste Glaubensformulierungen auf. Der Gedanke, der dahinter steht, kommt aus dem Griechischen: Ein „religiöses Geheimnis“ – „mysterion“ – war in der Antike nicht einfach nur eine zurückgehaltene Information, sondern galt als eine Vergegenwärtigung der Gottheit, die tiefer und höher reicht als Worte ausdrücken können. Eine geistige Wirklichkeit wurde damit angesprochen. Deshalb nahm die Alte Kirche den Begriff gerne auf und wandte ihn auf die Erlösung durch den Tod und die Auferstehung Jesu Christi an. Die Feiernden werden in das „Geheimnis des Glaubens“ hineingenommen, das war die Vorstellung.
Und das ist eine Möglichkeit, sich der Wirkung des Kreuzestodes Jesu zu nähern, indem wir betend diesem „Geheimnis des Glaubens“ zustimmen. Wir wollen das deshalb heute so handhaben, darum habe ich Ihnen den Text mitgebracht.
Auf der Karte sehen Sie außerdem ein Bild des Gekreuzigten, das viele von Ihnen sicher kennen.

Kreuz

Es gehört zum Isenheimer Altar, der um 1500 von Mathis Grünewald geschaffen wurde. Wir damit haben eine weitere Möglichkeit der Annäherung an die erlösende Wirkung des Todes Jesu. Ein Bild sagt ja oft mehr als tausend Worte oder Gedanken, und so war dieses Gemälde auch gedacht. Der Antoniterkonvent in Isenheim im Elsass hat es für seine Kirche in Auftrag gegeben. Die Antoniter waren ein Orden, der sich der Krankenpflege verpflichtet sah. Er betrieb in Isenheim ein Hospital, und der Altar diente als sein charismatischer Mittelpunkt. Die meiste Zeit des Jahres war die Kreuzigungsszene aufgeklappt, und die Kranken wurden davor gelegt. Sie sollten auf das größere Leiden Christi verwiesen werden und auf die Rettung zum ewigen Leben. Deshalb hat Grünewald bewusst den Opfertod des Gottessohnes dargestellt. Der Betrachter sieht nicht die historische Szene der Hinrichtung auf Golgatha, sondern ein heilsgeschichtliches, zeitlos gültiges Ereignis. Die provozierende Drastik des Bildes ist also beabsichtigt.
Sie beginnt schon mit seiner Größe, das Gemälde ist 2,69 Meter hoch. Übermächtig hängt der geschundene Körper an dem roh behauenen Kreuz. Er ist von Wunden über und über bedeckt. Das Haupt ist nach vorne geneigt, umgeben von einem Dornengestrüpp, das tief in die Stirn gedrückt ist. Der Mund ist weit zum Stöhnen geöffnet, die schmerzgespreizten Finger, die durchbohrten Hände, die entstellen Füße, alle Gebärden und Gesten sind bewusst übersteigert. Die ganze Qual des Sterbens hat einen monumentalen Ausdruck gefunden.
Dahinein soll der Betrachter sich versenken. Er kann dann gar nicht anders, als das Leiden mitzufühlen und es nachzuvollziehen. Das Ziel ist dabei, dass er das eigene Leid auf sich nimmt. (s. Max Seidel, Mathis Gothart Grünewald, Der Isenheimer Altar, Stuttgart 1980, S. 45ff) Und es wird berichtet, dass viele Kranke sich dadurch wirklich getröstet fühlten. Sie wussten, dass die körperliche Heilung mit dem seelischen Heil der Seele zusammengehört, und wurden beim Anblick dieses Gemäldes in eine große Ruhe und Zuversicht hinübergeführt.
Und das ist ein zweiter Schritt, der uns an die heilende Wirkung des Kreuzestodes Jesu heranführt: Wir müssen zum Kreuz gehen, uns davor stellen und es aushalten. Was wir sehen, ist unsere eigene Schuld und Krankheit, denn keiner und keine von uns ist ohne Sünde: Gott möchte, dass wir ihn lieben und ihm vertrauen, ihm dienen und für unsere Mitmenschen da sind. Doch davon sind wir oft weit entfernt. Unsere Gedanken, Worte und Werke drehen sich um unsere eigenen Belange und Wünsche, um unsere Ängste und Sorgen. Wir vertun die Zeit, die Gott uns anvertraut hat, und versagen immer wieder. Unsere Herzen sind träge, wir sind selbstsüchtig und eigenwillig. (vgl. Ev. Gesangbuch, Ausgabe für die Nordelbische Ev.-Luth. Kirche, 1994, Nr. 800)
Das sollten wir erkennen und zugeben, es bereuen und beichten. Das schadet niemandem, und es steht auch nicht im Gegensatz zur Selbstannahme, die natürlich nötig ist, um gesund zu sein. Denn wir bereuen unsere Sünden nicht, um uns künstlich klein zu machen, sondern um realistisch zu sein. Und wir tun es im Angesicht des Kreuzes, vor Jesus Christus, um in seinem unergründlichen Erbarmen Zuflucht zu suchen. Wir wollen deshalb nachher vor der Einsetzung des Abendmahls unsere Schuld bekennen und um Vergebung bitten.
Wenn wir so handeln, merken wir von selber, dass von dem Kreuz Jesu eine wunderbare Wirkung ausgeht: Er vergibt uns, er schenkt uns neues Leben und richtet uns auf. Wir müssen nicht von uns aus vor Gott bestehen, wir dürfen mit allem, was uns belastet, kommen. Er versöhnt uns mit Gott und macht uns gerecht.
Das ist die Botschaft des Karfreitags und es ist gut, wenn wir sie so stehen lassen, selbst wenn sie ein Ärgernis ist. Nicht zuletzt ist das „Wort von der Versöhnung“ ein Grund, die Todesstrafe wirklich abzuschaffen. Denn natürlich gilt es auch für jeden Schwerverbrecher. Kein Gesetz sollte ihm diesen Weg versperren. Die Chance zur Reue und zur Umkehr muss offen bleiben. Jeder und jede kann zur Einsicht kommen und Besserung erfahren. Das Kreuz ist ein Mahnmal gegen jede Form der Gewalt, gegen das Morden und Töten, und sei es aus juristischen Gründen.
Das Kreuz Christ war der bedeutendste Justizirrtum in der Geschichte der Menschheit. Ohne es zu wissen, wurde der schwerwiegendste Missbrauch, den es jemals bei der Anwendung der Todesstrafe gab, zum Heil für alle. Doch das entlastet die Entscheidungsträger nicht, es bleibt ein großes Geheimnis. Wir können da hineingenommen, wenn wir uns dem Kreuz Jesu immer wieder im Vertrauen nähern und uns dabei mit Gott versöhnen lassen. Amen.

Gehorsam lernen

Predigt über Hebräer 5, 7- 9: Das Bitten und Flehen Jesu in Gethsemane

5. Sonntag der Passionszeit, Judika, 13.3.2016, 9.30 Uhr
Lutherkirche Kiel

Hebräer 5, 7- 9

7 Und er hat in den Tagen seines irdischen Lebens Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen dem dargebracht, der ihn vom Tod erretten konnte; und er ist auch erhört worden, weil er Gott in Ehren hielt.
8 So hat er, obwohl er Gottes Sohn war, doch an dem, was er litt, Gehorsam gelernt.
9 Und als er vollendet war, ist er für alle, die ihm gehorsam sind, der Urheber des ewigen Heils geworden.

Liebe Gemeinde.
Menschen, die weinen, sehen wir z.Zt. oft im Fernsehen, z.B. wenn uns gezeigt wird, was sich gerade an der Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien ereignet: Da warten Flüchtlinge voller Verzweiflung auf den Durchlass. Sie kommen nicht weiter und wissen buchstäblich nicht mehr ein noch aus. Vielen stehen deshalb Tränen in den Augen.
Doch auch andere Situationen führen zum Weinen. Jeder und jede von uns kennt es. Die Gründe können Trauer um einen Menschen sein, ein Misserfolg im Job oder ein Streit mit dem Partner. Tränen fließen, wenn wir uns hilflos, überfordert oder ungerecht behandelt fühlen, wenn wir wütend sind, Schmerzen oder Mitleid haben.
Es gibt auch Freudentränen, die uns bei Rührung, Glück oder Begeisterung in die Augen steigen.
Welchem biologischen Zweck das Weinen dient, ist bis heute nicht vollständig geklärt und wird in der Wissenschaft kontrovers diskutiert. Forschern geben die Tränen, denen Emotionen zu Grunde liegen, ein Rätsel auf.
In der Psychologie wird uns allerdings geraten, sie zuzulassen, wir müssen uns dafür nicht schämen.
Jesus hat das auch nicht getan, das haben wir vorhin in der Epistel gehört. Sie ist ein Abschnitt aus dem Hebräerbrief, und da heißt es am Anfang: „Und er hat in den Tagen seines irdischen Lebens Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen dem dargebracht, der ihn vom Tod erretten konnte.“
Wir haben die Szene vor Augen, die damit angedeutet ist: Es ist das Gebet Jesu in Gethsemane in der Nacht seiner Gefangennahme, ein paar Stunden vor seinem Tod. (Mt.26,36-46) Er hatte Angst und war traurig, weil er wusste, was auf ihn zukam. Von dem, was ihm zugemutet wurde, fühlte er sich überfordert und ungerecht behandelt. Doch ein Entkommen gab es für ihn nicht mehr, er musste sich letzten Endes fügen, und darum geht es in dieser Geschichte.
Was geschah dort? Jesus weinte, aber die Tränen waren nicht seine einzige Regung. Er warf sich vielmehr nieder und betete dreimal zu Gott. Er sprach ihn mit „Vater“ an, wie er es wohl immer getan hat, und bat ihn, „den Kelch vorübergehen zu lassen“, d.h. er wollte vor dem Tod verschont bleiben. Doch im Laufe der Nacht kam es zu einer Veränderung im Geist Jesu, er hat etwas „gelernt“. Denn er hat nicht nur „geschrien“, geklagt und geweint, er konnte außerdem sagen: „Doch nicht wie ich will, sondern wie du willst.“ (Mt.26, 39) Er unterwarf sich ganz dem Willen des Vaters, und damit ist er am Ende zu einem „Ja“ durchgestoßen.
An diese Szene erinnert der Hebräerbrief, und dort heißt es als nächstes: „Und er ist auch erhört worden, weil er Gott in Ehren hielt.“ Der Gebetskampf Jesu hatte eine Wirkung. Jesus ging anders aus dieser Nacht hervor, als er hineingegangen war: Sein Gebet führte ihn zu einer völligen Gefasstheit. Er sah den kommenden Ereignissen jetzt ruhig entgegen. In dem Briefabschnitt wird das so ausgedrückt: „So hat er, obwohl er Gottes Sohn war, doch an dem, was er litt, Gehorsam gelernt.“
Jesus „lernte durch Leiden den Gehorsam“ und hat im Wachen und Beten Klarheit über seinen weiteren Weg gefunden. Er hat sich in den Willen Gottes hineingebetet, und deshalb wusste er sich von dieser Stunde an darin geborgen.
Und das hat eine ganz wichtige Bedeutung. Jesus hat in Gethsemane den Todesampf für sich entschieden. Wenn man das Evangelium als Ganzes betrachtet, ist das bereits die Wende und damit der Höhepunkt, denn im Geist nahm Jesus dort sein Sterben und Auferstehen vorweg. Der Wille Gottes ereignete sich in ihm, und nur deshalb konnte das Nachfolgende geschehen. Der Hebräerbrief sagt das so: „Und als er vollendet war, ist er für alle, die ihm gehorsam sind, der Urheber des ewigen Heils geworden.“
Jesus hat einen Weg gebahnt, den auch wir gehen können. Er ist ein Vorbild für uns. Wir sollen ihm nach Gethsemane folgen. Der Weg des Glaubens führt uns praktisch dorthin, denn nur dann kann sich das Heil, das er für uns bewirkt hat, auch in unserem Leben ereignen.
Und das heißt, dass auch wir den „Gehorsam lernen“ müssen. Es gilt, genauso wie Jesus zum Willen Gottes „Ja“ zu sagen, selbst wenn er schwer ist, das Leiden und den Tod anzunehmen, uns zu fügen und hinzugeben.
Aber wollen wir das, und können wir diese Einstellung Menschen zumuten, die gerade leiden? Ist das nicht reichlich zynisch? Was kommt denn dabei heraus, wenn wir unser Schicksal hinnehmen, das Sterben zulassen und gehorsam sind? Dann ändert sich doch nichts! Diese Ergebenheit erscheint uns lebensverneinend und depressiv. Niemandem ist damit geholfen, es ist viel zu passiv, sich so zu verhalten. Das ist unser Einwand.
Wir müssen uns also noch etwas genauere Gedanken machen, und dabei hilft es, wenn wir einmal beachten, was in der Gethsemanegeschichte noch erwähnt wird. Jesus ist darin nämlich nicht allein. Er hatte drei seiner Jünger mitgenommen, Petrus, Jakobus und Johannes. (Mt.26,37) Sie sollten ihm beistehen, doch sie haben kläglich versagt. Sie sind eingeschlafen. Dreimal hat er sie geweckt, aber das nützte nichts. Sie konnten ihre Müdigkeit nicht überwinden und fielen immer wieder zurück. Aktiv war in dieser Situation also nur Jesus, er allein hat gewacht. Und das ist wichtig: Sein Gebet war kein Ausdruck von Lethargie oder Schicksalsergebenheit, es war vielmehr ein innerer Kampf. Äußerste Konzentration gehörte dazu. Jesus vollbrachte in Gethsemane eine ungeheure geistige Leistung.
Die Jünger haben das verschlafen, und genauso ist auch unser Verhalten oft. Der Schlaf der Jünger ist ein Bild für unsere Ignoranz gegenüber dem Willen Gottes. Denn der ist keine dunkle Macht, kein undurchdringliches Schicksal, sondern Kraft und Leben. An der Schöpfung können wir erkennen, was Gott will, an der Sendung seines Sohnes und an seinem Handeln an ihm: Gott will diese Welt und er will die Rettung der Menschen. Er will sie aus dem Tod befreien, ihnen Überwindung und Heil schenken.
Es geht darum, dass wir dafür wach werden und uns diesem seinem Willen auch hingeben. Wir müssen uns auf ihn einlassen, und dazu gehört es, dass wir uns selber loslassen und uns ergeben. Wir müssen im Leiden und im Sterben „Gehorsam lernen“. Diese Ermahnung ergeht an uns und sie ist auch wichtig, denn genau das tun wir normaler Weise nicht.
Wir geben uns lieber unseren natürlichen Antrieben hin, ohne uns viele Gedanken zu machen. Wir sind nicht wach und aufmerksam für Gott. Es liegt uns viel näher, uns aufzulehnen und an unserem Leben festzuhalten. Das müssen wir uns eingestehen. Lassen Sie uns ehrlich sein: Wir kennen das Leid alle aus eigener Erfahrung, und keiner von uns will es. Darin sind wir uns einig. Doch welche Methoden wenden wir an, um es los zu werden?
Eine Möglichkeit besteht z.B. darin, dass wir es verdrängen. Wir lenken uns ab, suchen die Abwechslung und zerstreuen uns. Wir denken eben nicht daran und leben so, als ob es das Schwere nicht gäbe. Sinnbildlich gesprochen schlafen wir einfach, so wie die Jünger es taten.
Eine andere Methode ist Aktionismus: Dann veranstalten wir alle Mögliche, damit es uns wieder besser geht. Wir reden mit anderen, gehen zum Arzt, verändern unsere Beziehungen, suchen eine neue Arbeit, ziehen um oder ähnliches.
Das ist ja alles auch ganz schön und gut, es ist normal. Doch leider hilft es oft nicht. Es gibt Situationen im Leben, die sind dunkel und nichts führt uns da heraus. Es gibt Leid, das wir weder verdrängen noch abschaffen können, es ist da und es ist hartnäckig. Es gibt keine einfache Lösung, keine Hilfe von außen. Ratschläge helfen nicht, eine Heilung oder eine Rettung ist nicht in Sicht. Die Tränen fließen, ohne dass wir sie stoppen können. Wir finden keinen Trost.
Und dann ist es wichtig, dass wir die Rettung nicht „verschlafen“ sondern endlich aufwachen. Wir müssen einen ganz anderen Weg beschreiten, als wir ihn normaler Weise wählen, und den zeigt Jesus uns. Er hat sich nicht selber aufgegeben und ist in keine Depression versunken. Er hat vielmehr gewacht und gebetet und sich aktiv in den Willen Gottes gefügt. Hingabe und Überwindung prägen sein Verhalten. Und dadurch hat sich für ihn etwas verändert. Er ist nicht nur seine Angst losgeworden, er war danach auch ruhig und gefasst und klar. Er hat sich aus der leidvollen Situation im Geist hinauskatapultiert, weil er sich in einer anderen Wirklichkeit verwurzelt hat, in der Wirklichkeit des Willens Gottes nämlich, der ihn zum Sieg verholfen hat. Er ist durch sein „Bitten und lautes Schreien“ zur Freiheit und zur Freude durchgestoßen.
Und das kann auch uns so gehen, wenn wir mit Jesus „wachen und beten“. Es ist ein Sieg über das Fleisch, d.h. über die natürlichen Kräfte, die uns von Gott und vom Glauben abhalten können.
Das klingt natürlich reichlich unbequem. Überhaupt ist die Gethsemanegeschichte eine eher ungemütliche Angelegenheit. Sie ist von Angst und Entsagung geprägt, und das wirkt dunkel und anstrengend. Aber wir sollten uns ihr trotzdem stellen, gerade in der Passionszeit. In einer Situation, die uns nicht gefällt, die uns zu schaffen macht und die wir nicht ändern können, sollten wir mit Jesus beten: „Mein Vater, nicht wie ich will, sondern wie du willst.“ Es ist das Gebet der Hingabe und des Loslassens, das uns weiterführen kann. Wir bejahen damit das Leid, und dadurch bejahen wir mit diesem Gebet das Leben, denn das Leid gehört zum Leben dazu. Im Gethsemanegebet wird es einbezogen und gerade dadurch überwunden.
Das ist kein einfacher Weg, er geht durchaus gegen unsere Natur. Es ist wie ein Sterben, denn wir nehmen im Geiste den Tod vorweg. Aber das ist eben nicht das Einzige, sondern wir nehmen auch das ewige Leben vorweg, die Überwindung der Vergänglichkeit, die Auferstehung. Wir werden mit übernatürlichen Kräften erfüllt und auf wunderbare Weise getragen.
Denn im Unterschied zu den Jüngern können wir dieses Gebet mit Jesus beten, in dem Glauben an seine Auferstehung. Es hat auch nur dann Sinn, wenn wir davon ausgehen, dass er für uns den Sieg errungen hat. An diesem Sieg können wir Anteil haben. Beim Gethsemanegebet spricht Jesus selbst in uns die Worte „Mein Vater, nicht wie ich will, sondern wie du willst.“ Er leidet mit uns und betet in uns. Wir werden eins mit ihm und tauchen in ein neues Leben ein. Das ist die Verheißung, die hinter der Ermahnung zum Wachen steht. Der Gehorsam gegenüber Gott setzt ungeahnte neue Kräfte frei. Wir finden Ruhe und Trost, wir werden gelassen und klar.
Und das führt noch weiter. Dieses neue Leben, die Gelassenheit und Ruhe kommen auch anderen zu Gute. Sie führen uns zu den Menschen, besonders zu denen, die weinen. Oft ist es ja so, dass auch wir ihnen nicht helfen können. Gerade den Flüchtlingen gegenüber, die nicht mehr zu uns kommen können, sind wir machtlos. Aber das muss uns nicht davon abhalten, zu denen zu gehen, die bereits hier sind, uns an ihre Seite zu stellen, ihnen die Hand zu reichen, ihnen zuzuhören, sie zu beachten und freundlich zu ihnen zu sein.
Auch in vielen anderen Situationen, in denen Menschen ein schweres Schicksal getroffen hat, ist das schon ganz viel, denn sie sind dann nicht mehr allein. Jemand hält ihre Hilflosigkeit mit ihnen zusammen aus.
Unsere Welt wird nie frei von Krieg und Terror sein, von Ungerechtigkeit, Schmerz und Leid. Menschen nutzen andere aus, unterdrücken und betrügen sie, schotten sich ab und sind unglaublich rücksichtslos. Viele denken nur an sich, wollen reich werden oder Macht haben und setzen sich brutal durch. Wir leben in einer Welt, in der die Liebe oft mit Füßen getreten wird. Und dem Tod sind wir alle geweiht, da gibt es kein Entrinnen und kein Erbarmen.
Doch das muss uns nicht entmutigen, denn als Christen können wir dazu ein Gegengewicht bilden. Wir empfangen durch unseren Glauben die Kraft der Liebe Gottes und die Kraft der Auferstehung, und die kann keine Macht der Welt auslöschen. Sie vergeht nie, und überall, wo wir sie leben, gibt es einen Hoffnungsschimmer. Denn wir bezeugen damit ein Heil, das nicht von dieser Welt ist und weit über alle Tränen, alles Leiden und Sterben hinausweist.
Amen.