Betet ohne Unterlass

Predigt über 1. Thessalonicher 5, 14- 24:

Anweisungen für das Gemeindeleben

14. Sonntag nach Trinitatis, 5.9. 2021, 9.30 und 11 Uhr,

Luther- und Jakobikirche Kiel

1. Thessalonicher 5, 14- 24

14 Wir ermahnen euch aber, liebe Brüder: Weist die Unordentlichen zurecht, tröstet die Kleinmütigen, tragt die Schwachen, seid geduldig gegen jedermann.
15 Seht zu, dass keiner dem andern Böses mit Bösem vergelte, sondern jagt allezeit dem Guten nach untereinander und gegen jedermann.
16 Seid allezeit fröhlich,  
17 betet ohne Unterlass,   
18 seid dankbar in allen Dingen; denn das ist der Wille Gottes in Christus Jesus an euch.
19 Den Geist dämpft nicht.
20 Prophetische Rede verachtet nicht.
21 Prüft aber alles und das Gute behaltet.
22 Meidet das Böse in jeder Gestalt.
23 Er aber, der Gott des Friedens, heilige euch durch und durch und bewahre euren Geist samt Seele und Leib unversehrt, untadelig für die Ankunft unseres Herrn Jesus Christus.
24 Treu ist er, der euch ruft; er wird’s auch tun.

Liebe Gemeinde.

„Ich, nach der Gnade Gottes ein Christenmensch, meinen Werken nach ein großer Sünder, meiner Berufung nach ein heimatloser Pilger, niedersten Standes, pilgere von Ort zu Ort. Folgendes ist meine Habe: auf dem Rücken trage ich einen Beutel mit trockenem Brot und auf der Brust die Heilige Bibel; das ist alles. In der vierundzwanzigsten Woche nach Pfingsten kam ich in eine Kirche zur Liturgie, um dort zu beten; gelesen wurde aus der Epistel an die Thessalonicher im fünften Kapitel der siebzehnte Vers; der lautet: Betet ohne Unterlass. Dieses Wort prägte sich mir besonders ein, und ich begann darüber nachzudenken, wie man wohl ohne Unterlass beten könne, wenn doch ein jeder Mensch auch andere Dinge verrichten muss, um sein Leben zu erhalten. Ich schlug in der Bibel nach und sah dort mit eignen Augen dasselbe, was ich gehört hatte, und zwar, dass man ohne Unterlass beten, bei allem Gebet und Flehen allezeit im Geiste beten und darin wachen muss in Ausdauer und allerorts mit zum Gebet erhobenen Händen. Ich dachte viel darüber nach, wusste aber nicht, wie das zu deuten sei.“ (Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers, erste vollständige deutsche Ausgabe, herausgegeben und eingeleitet von Emmanuel Jungclausen, Freiburg, Basel, Wien, 1974, S. 23)

So beginnen „Die aufrichtigen Erzählungen eines russischen Pilgers“. Das ist ein geistliches Buch aus dem 19. Jahrhundert, das bis heute eine geheimnisvolle Anziehungskraft besitzt. Der Verfasser ist anonym, man hat das Manuskript in einem russischen Kloster gefunden. Vor ungefähr 150 Jahren wurde es zum ersten Mal veröffentlicht, und es gilt bis heute als „Kostbarkeit aus dem Schatz der Weltliteratur, als Klassiker russisch-orthodoxer Spiritualität“. So wird es im Buchhandel beworben.

Wir erfahren gleich zu Beginn, dass der Pilger die Aufforderung aus dem Thessalonicherbrief „Betet ohne Unterlass“ sehr ernst nahm. Wir soll man das verstehen? Und wie soll das gehen, dass wir „allezeit“, „ohne Unterlass“ und „in allen Dingen“ fröhlich sind, beten und danken? Das fragte sich der Pilger, und das fragen wir uns auch. Lasst uns also sehen, was es damit auf sich hat.

Dazu ist zunächst gut zu wissen, an wen Paulus hier überhaupt schreibt. Es war die junge Gemeinde in Thessalonich, die Paulus selber nicht lange vor dem Verfassen dieses Briefes gegründet hatte. Die Menschen hatten sich vom Glauben an Jesus Christus begeistern lassen. Doch dann schwirrten auch abweichende Meinungen und Irrlehren umher. Davon hatte Paulus gehört. Die Gemeinde war im Glauben noch ungefestigt und brauchte Hilfe, Stärkung, Weisung und Rat. Störende Einflüsse sollten die Aufbruchstimmung und den Glauben an Jesus Christus nicht verdunkeln. Deshalb sagt Paulus z.B.: „Prüft alles und das Gute behaltet. Meidet das Böse in jeder Gestalt.“ Die Mahnungen zielen also darauf, wie allein Jesus Christus das Leben prägen und bestimmen kann.

Dazu gehört es als erstes, die Schwachen im Glauben, die vielleicht besonders anfällig für andere Meinungen waren, nicht aufzugeben und nicht sich selbst zu überlassen. Denn das oberste Gesetz für die Christen ist die Liebe untereinander und die gegenseitige Hilfe.

Dann folgen die drei Forderungen, die den russischen Pilger beschäftigten: „Seid allezeit fröhlich, betet ohne Unterlass, seid dankbar in allen Dingen; denn das ist der Wille Gottes in Christus Jesus an euch.“ Liebe und Freude, Dankbarkeit und Gebet sollen das Bewusstsein bestimmen und den Menschen prägen. Das ist „der Wille Gottes in Jesus Christus“, sagt Paulus. Und damit meint er nicht ein Gesetz oder ein Programm, sondern der Wille Gottes ist eine Kraft, die ordnet und heilt. Die Freude, das Gebet und der Dank sind Gaben des Heiligen Geistes. Das wird daran deutlich, dass Paulus den Heiligen Geist im nächsten Satz erwähnt. Er warnt davor, außerordentliche Erscheinungen des Geistes, wie z.B. die prophetische Rede, nicht zurückzudrängen oder zu verachten, sondern alles, was in der Gemeinde geschieht, gut zu überprüfen.

Und er schließt dann mit einem sehr schönen Segenswunsch: „Er aber, der Gott des Friedens, heilige euch durch und durch und bewahre euren Geist samt Seele und Leib unversehrt, untadelig für die Ankunft unseres Herrn Jesus Christus. Treu ist er, der euch ruft; er wird’s auch tun.“ Das ist ein Gebet, mit dem Paulus die Gemeinde der Fürsorge Gottes anvertraut. Denn letzten Endes kann nur Gott selber all das, was er erwähnt hat, auch bewirken. Das weiß Paulus. Die Christen können und sollen sich nicht selber heiligen, sondern Gott wird das tun. Und es wird kein Stückwerk sein, sondern den ganzen Menschen erfassen. 

Paulus beschreibt also, wie ein Leben aussieht, das von der Gegenwart Christi geprägt ist, die heilt und befreit. Er beschreibt hauptsächlich ein Ziel, das sich nicht an unseren Möglichkeiten, sondern an Gott orientiert. Gott ist nämlich „allezeit“, „ununterbrochen“ und „in allen Dingen“ da. Das müssen wir uns zunächst einmal nur bewusst machen. Und das ist ein schöner und befreiender Gedanke: Es gibt eine Wirklichkeit, die sich nicht verändert, die ewig und bleibend, fest und unwandelbar ist. Und es lohnt sich, wenn wir uns dieser Wirklichkeit öffnen, uns darauf einstellen und uns davon bestimmen lassen. Dazu lädt Paulus hier ein.

Und das ist nach wie vor eine wichtige Ermahnung, denn das tun wir oft nicht. Unser Leben ist meistens von ganz anderen Dingen bestimmt, von unseren Aufgaben, den Menschen um uns herum, dem Suchen nach Glück und Erfolg, dem Wunsch nach Gesundheit und Abwechslung. All das nimmt uns in Anspruch.

Das ist an sich zwar nicht schlimm, aber so ganz einfach ist es ja leider nicht, das alles zu organisieren und zu verwirklichen. Einsamkeit, Sinnlosigkeit, Krankheit und Tod sind nie weit entfernt und können uns sehr schnell treffen. Unser Leben ist immer gefährdet. Das Leid lauert ständig um die Ecke. Und wenn es hereinbricht, wissen wir oft nicht weiter.

Das sollten wir zugeben, denn dann gewinnen die Ermahnungen des Paulus ihre Aktualität. Ich sagte ja schon, dass sie über dieses Leben hinaus auf den hinweisen, der in allem immer derselbe bleibt. Und damit beschreiben sie eine Alternative zu dem üblichen Lebenskonzept.

Da ist als erstes die Aufforderung: „Seid allezeit fröhlich!“ Man kann auch übersetzen: „Heiter“, „zufrieden“ und „glücklich“, und zwar ganz gleich, was geschieht. Das ist mit „allezeit“ gemeint. Auch wenn es äußerlich dazu vielleicht mal keinen Anlass gibt, haltet an der Freude fest. Das will Paulus hier sagen. Er klammert die Trauer und den Schmerz also nicht aus, er weiß, dass es sie gibt. Aber sie können überwunden werden, nämlich dann, wenn wir uns an Jesus Christus halten, wenn wir unsere Freude wo anders suchen, als in den Äußerlichkeiten der Welt.

Als nächstes erwähnt Paulus das „Gebet ohne Unterlass“. Das deutet noch viel mehr auf die Wirklichkeit des Geistes hin, denn Gebet heißt ja, ich stehe in Kontakt mit Gott. Ich lebe in einer Beziehung, die anders ist, als die menschlichen Beziehungen. Sie trägt und hält mich, befreit und rettet. Ich hänge an Christus, lebe mit ihm, er ist mein Begleiter, mein Helfer und mein Retter. Das Gebet kann mich durch das Leid hindurch führen. Das ist das Zweite.

Und was passiert, wenn ich wirklich „in allen Dingen dankbar“ bin, wenn ich sogar für das Schwere im Leben Gott danke? Probiert es einmal aus. Nehmt euch vor, jeden Tag für irgendetwas zu danken, gerade dann, wenn ihr das Gefühl habt, da gibt es nichts. Irgendetwas findet ihr mit Sicherheit doch, und wenn es nur das Essen ist, das Bett, in dem man schläft, ein Lächeln, das mir geschenkt wurde. Wenn wir wollen, finden wir jeden Tag etwas, wofür wir danken können, auch im äußersten Leid. Denn selbst wenn alles nur noch dunkel zu sein scheint und mir nichts auf Erden mehr bleibt, worüber ich mich freuen kann, dann ist auf jeden Fall Gott noch da, und er führt mich näher zu sich.

Es gibt in der geistlichen Tradition viele Anleitungen dazu, wie wir das ganz praktisch umsetzen können. Eine spirituelle Lehrerin des letzten Jahrhunderts ist z.B. Madeleine Delbrêl, eine französische Schriftstellerin, Sozialarbeiterin und katholische Mystikerin. Sie hat bewusst mitten in der Welt gelebt und gezeigt, wie man trotzdem eine Innerlichkeit einüben kann, die trägt. Sie schreibt an einer Stelle:

„In das beschäftigste, umhergeworfenste Leben dringen dennoch, wie feiner Staub, leere Zeitteilchen ein. Sieht man sie – man sieht sie nicht immer –, so müsste man auf den Gedanken kommen, sie zusammenzulegen oder aneinanderzureihen und dadurch ein Stück verwertbare Zeit zu gewinnen. Wenn wir behaupten, Beten sei unmöglich, so müssen wir uns auf die Suche nach diesem Zeitstaub machen und ihn so, wie er ist, verwerten.“ (Madeleine Delbrêl, Gebet in einem weltlichen Leben, Einsiedeln 1974, S. 82) Man kann also vermeintlich verlorene Zeit zurückgewinnen und in gewonnene Zeit verwandeln. Wir müssen nur umdenken und auch Widrigkeiten für eine Begegnung mit Gott nutzen. Wenn wir wollen, können wir bei jeder Gelegenheit beten, immer wenn es uns einfällt. Das Gebet muss ja nicht jedes Mal aus vielen Worten bestehen, es kann auch ein Seufzer sein, ein innerer Aufblick, ein kurzer Ruf um Erbarmen. Wenn wir uns das angewöhnen, können wir auch in der Not fröhlich und dankbar bleiben.

Und was tat der russische Pilger? Er traf bei seiner Suche nach dem immerwährenden Gebet auf einen geistlichen Führer, einen Starez, der ihm das sogenannte Jesusgebet beibrachte. Das ist eine Gebetstechnik, die der Lehrer ihm folgendermaßen erklärte: „Setz dich still und einsam hin, neige den Kopf, schließe die Augen; atme recht leicht, blicke mit deiner Einbildung in dein Herz, führe den Geist, das heißt das Denken, aus dem Kopf ins Herz. Beim Atmen sprich, leise die Lippen bewegend oder nur im Geiste: ,Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner.‘ Gib dir Mühe, alle fremden Gedanken zu vertreiben. Sei nur still und habe Geduld und wiederhole diese Beschäftigung recht häufig.“ (a.a.O., S. 31)

Der Starez hatte damit schon eine langjährige Erfahrung, deshalb wusste er: „Wenn sich einer an diese Anrufung gewöhnt, so wird er einen großen Trost erfahren und das Bedürfnis haben, immer dieses Gebet zu verrichten, derart, dass er ohne dieses Gebet gar nicht mehr leben kann, und es wird sich ganz von selber aus ihm lösen.“ (a.a.O., S. 30)

Der Pilger hat diesen Rat befolgt und das Jesusgebet gelernt. Er bezeugt daraufhin: „So ziehe ich nun meiner Wege und verrichte unablässig das Jesusgebet, das mir wertvoller und süßer ist als alles andere in der Welt. Mitunter gehe ich meine siebzig Werst am Tage, manchmal auch mehr, und fühle gar nicht, dass ich gehe; ich fühle aber nur, dass ich das Gebet verrichte. […] Der Gewohnheit getreu, drängt es mich nur zu dem einen: unablässig das Gebet zu verrichten, und immer, wenn ich mich damit abgebe, werde ich sehr froh.“ (a.a.O., S. 38f)

Es gibt also viele Wege und Methoden, wie wir die Ermahnung von Paulus: „Seid allezeit fröhlich, betet ohne Unterlass, seid dankbar in allen Dingen“ umsetzen können. Wir müssen sie nur praktizieren.

Amen.