Das Brot des Lebens

Predigt über Johannes 6, 30- 35: Ich bin das Brot des Lebens

7. Sonntag nach Trinitatis, 29.7.2017, 9.30 und 11 Uhr
Luther- und Jakobikirche Kiel

Johannes 6, 30- 35

30 Da sprachen sie zu ihm: Was tust du für ein Zeichen, damit wir sehen und dir glauben? Was für ein Werk tust du?
31 Unsre Väter haben in der Wüste das Manna gegessen, wie geschrieben steht (Psalm 78,24): »Er gab ihnen Brot vom Himmel zu essen.«
32 Da sprach Jesus zu ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Nicht Mose hat euch das Brot vom Himmel gegeben, sondern mein Vater gibt euch das wahre Brot vom Himmel.
33 Denn Gottes Brot ist das, das vom Himmel kommt und gibt der Welt das Leben.
34 Da sprachen sie zu ihm: Herr, gib uns allezeit solches Brot.
35 Jesus aber sprach zu ihnen: Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten.

Liebe Gemeinde.

Alle Lebewesen auf der Erde, Menschen, Tiere und Pflanzen, kennen die Empfindung von Hunger und Durst. Beides hat einen starken Einfluss auf unser Verhalten. Wilde Tiere sind deshalb fast den ganzen Tag auf Nahungssuche, und schon Babys schreien hauptsächlich, wenn sie Hunger oder Durst haben. Es ist der Mangel an Nahrung und Flüssigkeit, der sich dabei meldet, und der will gestillt werden. Das ist auch gut so, denn dadurch wird der Organismus tatsächlich mit den nötigen Nährstoffen und Energie versorgt, am Anfang des Lebens durch die Mutter bzw. die Eltern, später durch unser eigenes Handeln. Hunger und Durst sichern daher das Überleben, denn ihnen folgt immer die Bereitschaft zu essen und zu trinken, jedenfalls solange der Mensch oder das Tier gesund sind.
Zu den Grundnahrungsmitteln, die den Hunger stillen, zählt das Brot, das Grundelement gegen den Durst ist das Wasser.
Dabei werden Hunger und Durst vielfach nicht nur körperlich verstanden. In der Kunst und Philosophie, Religion und Psychologie finden wir außerdem einen „Hunger nach Liebe“ oder einen „Durst nach der Ewigkeit“ usw. Dann bezeichnen auch Brot und Wasser mehr als Materialien. Sie sind Synonyme für das, was insgesamt zum Leben nötig ist
In dem Evangelium von heute spricht Jesus vom Brot in diesem übertragenen Sinn. Der Abschnitt ist ein Teil der sogenannten Brotrede, die wir im Johannesevangelium in Kapitel sechs finden. (V. 22- 59)
Ihr geht die Geschichte von der wunderbaren Brotvermehrung voraus. (Kap. 6, 1- 15) Am Tag zuvor war Jesus von vielen Menschen umlagert worden, er hatte zu ihnen gesprochen und sie am Abend alle gespeist. Das bisschen Essen, das da war, hatte er von einem Kind genommen und auf wunderbare Weise vermehrt. Aus fünf Gerstenbroten und zwei Fischen wurde genug, um 5000 Menschen satt zu machen. Sie konnten essen, so viel sie wollten. Es war sogar noch mehr als nötig da. Zum Schluss blieben zwölf Körbe mit Brocken von Brot übrig.
Leider zogen die Beteiligten aus diesem Wunder allerdings die falschen Schlüsse. Sie wollten Jesus daraufhin zum König machen, weil sie davon ausgingen, dass er immer alle Menschen mit genug Nahrung versorgen konnte.
Deshalb hielt er am nächsten Tag eine lange Rede über das wahre „Brot des Lebens“. Er sagt darin, dass er in Wirklichkeit nicht den irdischen, leiblichen Hunger stillen will, sondern den Hunger nach Leben überhaupt. „Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten.“ Auf dieses Wort will er hinaus.
Er fordert die Menschen also zum Glauben an ihn auf. Dabei geht er in unserem Abschnitt auf eine Forderung ihrerseits ein. Sie wollten ein Zeichen haben, dass er wirklich von Gott gesandt war, und verlangten von ihm eine Wiederholung des  Mannawunders in der Wüste. Es war für sie „Brot vom Himmel“, d.h. eine himmlische Gabe.
Damit meinten sie durchaus mehr, als normales Brot. Hinter ihrer Forderung steht die uralte tiefe Sehnsucht nach einer himmlischen Nahrung, die göttliche Kraft spendet. Mit der Bezeichnung „himmlisches Manna“ ist die Speise der Engel und der Erlösten in der zukünftigen messianischen Zeit gemeint. Die Menschen bitten Jesus hier um ein solches Wunderbrot, ohne zu wissen, wie es aussehen und beschaffen sein mag. Und auf diese Bitte hin antwortet Jesus ihnen: „Ich bin das Bot des Lebens.“ Wonach sie fragen, das ist für sie da: er in seiner Person. Das heißt, er gibt ewiges Leben, das diejenigen empfangen, die an ihn glauben.
Und das sagt er auch zu uns, die wir seine Worte heute lesen und hören. Er will uns auf den Unterschied zwischen unserem täglichen Brot für das irdische Leben und dem Brot des ewigen Lebens hinweisen, und lädt uns ein, uns mit ihm zu verbinden.
Und dazu gehört zunächst die Einsicht, dass auch wir mehr zum Leben brauchen als Nahrung und Wasser. Um das „Brot des Lebens“ zu empfangen, müssen wir unseren Hunger danach spüren. Und den ignorieren wir gern, denn wir sind alle materialistisch veranlagt. Was uns als Babys prägte, nämlich das elementare Bedürfnis nach Essen und Trinken, das bleibt ein Leben lang bestimmend. Jeder Mensch möchte satt werden, und irgendwie gehen wir alle davon aus, dass das das wichtigste im Leben ist.
Für uns Christen geht damit die Überzeugung einher, dass wir uns um die Hungernden kümmern müssen. Im Jahr 1959 gründeten die evangelischen Landes- und Freikirchen deshalb z.B. in Deutschland die Hilfsaktion „Brot für die Welt“. Frauen und Männer in den Kirchen, Menschen in Gemeinden und Gruppen engagieren sich darin für eine bessere Welt. Dahinter steht das große Ziel, den Armen Gerechtigkeit zu verschaffen, und das heißt, ihnen ein menschenwürdiges Leben ohne Hunger und Armut, ohne Gewalt und Ausgrenzung zu ermöglichen. Auch große Teile der Bevölkerung in Deutschland interessiert das inzwischen längst.
Aber reicht das? Erfüllen wir damit alles, was Jesus von uns möchte und was wir einander schuldig sind? Er selber kennt noch einen anderen Hunger als den nach Brot, und auf den sollten auch wir achten. Gerade in einer Wohlstandsgesellschaft ist es wichtig, dass wir alle Bedürfnisse des Menschen ins Auge fassen. Denn wir haben hier in unserem Land zwar genug zu essen, aber das kann uns auch davon ablenken, dass der Hunger nach Leben damit noch lange nicht gestillt ist. Oft bleibt der nämlich ungesättigt, wir merken das bloß nicht richtig. Denn wir sind viel zu sehr damit beschäftigt, materiell auf unsere Kosten kommen. Wir arbeiten für unser leibliches Wohl und kümmern uns um die Erfüllung unserer finanziellen Wünsche.
Viele Menschen sind damit durchaus erfolgreich. Ich habe gerade ein junges Paar kennengelernt, die eigentlich heiraten wollten. Sie hatten so viel Geld, dass die Hochzeit mit allem stattfinden konnte, was die Veranstalter so anbieten. Eine weiße Kutsche war z.B. dabei, die das Brautpaar von der Kirche zum Restaurant bringen sollte. Ungefähr ein Jahr lang haben sie alles organisiert und vorbereitet. Es sollte eine Traumhochzeit werden, denn sie konnten sich alles leisten, was dazu gehört.
Doch dann wurde es dem Bräutigam mulmig. Er merkte plötzlich, dass es schon lange gar nicht mehr um ihn und seine Verlobte ging. Sie hatten sich in all den Äußerlichkeiten verloren und waren sich dabei fremd geworden. Der Reichtum hatte sie von ihren wahren Gefühlen abgelenkt, von dem, wonach sie sich eigentlich sehnten, und das war etwas ganz anderes. In Wirklichkeit wollte jeder von ihnen vom anderen verstanden werden und ihm immer vertrauen können. Sie wünschten sich einen tiefen Sinn im Leben und suchten letztlich etwas Bleibendes und Dauerhaftes. Und das konnte die Hochzeit allein ja nun nicht bieten. Nach einem Tag würde alles vorbei sein, und was käme dann?
Diese Frage ist zwar schmerzhaft und unbequem, aber ich finde sie sehr wichtig. Wir alle sollten uns immer wieder klar machen, wie materialistisch wir eigentlich sind. Was zählt für uns? Wofür leben wir? Was wünschen wir anderen? Wenn wir nur auf Geld und Reichtum, d.h. auf die Sättigung unserer irdischen Bedürfnisse aus sind, verkürzen wir unser Leben auf dramatische Weise. „Brot und Wasser“ reichen nicht, um glücklich zu sein, im Gegenteil, wenn wir zu sehr darauf fixiert sind, werden wir in die Irre geleitet und vom wahren Leben abgeschnitten.
Wir brauchen dafür gar nicht erst so etwas zu erleben, wie das Brautpaar, das ich erwähnte. Die beiden haben ihre Hochzeit übrigens wirklich abgesagt. Ihre Geschichte ist zum Glück eine Ausnahme. Keine Ausnahme ist es allerdings, dass jeder Mensch im Leben irgendwelche Krisen durchmacht. Die Frage nach dem Sinn des Lebens oder nach einer dauerhaften Erfüllung taucht auch in anderen Situationen auf. Irgendwann merken wir alle, dass Brot und Wasser allein nicht reichen, dann nämlich, wenn wir allein gelassen oder enttäuscht werden, wenn wir krank sind oder im Beruf scheitern, wenn wir uns schuldig machen, Angst bekommen oder durch schwierige Konflikte erschüttert werden. Es gibt unzählige Begebenheiten, die das Leben in Frage stellen.
Was machen wir dann? Wenn wir rein materialistisch organisiert sind, stehen wir zunächst vor einer Grenze und wissen nicht weiter. Das ist kein schönes Erleben, es macht uns hilflos und ratlos, und wir wollen natürlich so schnell wie möglich eine Lösung.
Die gibt es auch, aber sie besteht in etwas ganz anderem, als uns bisher geleitet hat. Sie ergibt sich, wenn wir die Krise als eine Chance verstehen. Es ist gut, wenn wir gelegentlich an unsere Grenzen kommen, auch wenn das schmerzt. Aber wir haben dann die Möglichkeit, uns für etwas Größeres zu öffnen. Wir machen uns auf, ändern die Richtung und gehen neue Wege. Dabei gibt es viel zu entdecken. Wir bekommen Antworten, die das Wesentliche im Leben berühren. Auch die Begegnung mit Jesus kann auf diese Weise möglich werden. Denn er kommt uns entgegen, wenn wir nach dem „Brot des Lebens“ fragen, und bietet es uns an.
Und damit meint er mehr als nur eine Lehre, die wir als menschliche Gedanken in unseren Verstand übertragen oder in unserem Handeln umsetzen. Er hat uns nicht nur ein Beispiel gegeben, das nun durch uns wieder lebendig werden soll. Das „Brot des Lebens“ ist vielmehr er selber, sein Wort und Werk, sein Weg und seine Geschichte. Wir müssen ihn also in unserem Leben empfangen, ihn uns ganz aneignen. Sein Leben muss das unsrige werden, so dass wir in ihm sind und er in uns. Er will von uns nicht betrachtet und gedeutet, sondern „gegessen“ werden, d.h. in uns einziehen und mit uns verschmelzen.
Dazu gehört es, dass wir uns selber loslassen und hingeben, und dafür kann eine Krise eine Chance sein: Wir lassen das Scheitern zu, geben auf und bejahen das Sterben. Glaube ist immer ein Aus-sich-herausgehen, ein Sich-verlassen, ein Abschied-nehmen. Wenn wir nichts mehr festhalten und uns vertrauensvoll vor Jesus stellen, dann empfangen wir von ihm ewiges Leben, ewige Liebe und einen ganz tiefen Sinn. Der Mangel kann uns dazu führen, dass wir von Jesus mit den nötigen Nährstoffen und Energie versorgt werden. Auch im übertragenen Sinn ist es gerade der Hunger und der Durst, der unser Überleben sichert, denn daraus folgt die Bereitschaft vom „Brot des Lebens“ zu essen und vom „lebendigen Wasser“ zu trinken. Es stärkt und bewahrt uns in allen Lebenslagen, gibt uns Widerstandskraft gegen die Mächte des Hasses, der Sinnlosigkeit und des Todes.
Und diese Kraft sind wir der Welt genauso schuldig wie normales Brot. In Zeiten des Wohlstands und des Friedens ist es nicht nur unsere Aufgabe, für mehr Gerechtigkeit in der Welt zu sorgen, wir sollten die Gelegenheit auch nutzen, um uns ganz auf Gott zu gründen und auf Jesus zu vertrauen. Keiner hält uns davon ab, keiner stört uns, wir dürfen unseren Glauben leben, wie wir wollen. Und das ist wunderbar. Es gibt uns die Möglichkeit, den Menschen das wahre „Brot des Lebens“ darzureichen. Sie brauchen nicht nur unser Geld, sondern auch unser Verstehen, unsere Liebe, unseren Glauben und unser Wissen um die Ewigkeit.
Erst dann stillen wir den Hunger und den Durst der Menschen ganz, erst dann empfangen sie alles, was sie zum Leben brauchen. Denn wir verkünden und bringen ihnen Jesus, der vor uns steht und spricht: „Ich bin das Brot des Lebens“.

Amen.

Der Mensch denkt, Gott lenkt

Predigt über 1. Mose 50, 15- 21: Josefs Edelmut

4. Sonntag nach Trinitatis, 9.7.2017, 9.30 Uhr
Lutherkirche Kiel

Liebe Gemeinde.
Es waren einmal zwölf Brüder, die waren alle fleißig und wohl geraten. Trotzdem bevorzugte der Vater einen von ihnen, den zweit Jüngsten. Er war sein Lieblingssohn und musste nicht wie die anderen das Vieh hüten. Er durfte zu Hause bleiben, und als Einzigem schenkte sein Vater ihm ein schönes und kostbares Kleidungsstück, einen bunten Rock. Sein Name war Josef.
Sicher kennen Sie seine Geschichte alle. Die steht im ersten Buch Mose und ist die letzte der sogenannten Vätergeschichten. (1. Mose 37.39-50)
Die Brüder Josefs wurden natürlich neidisch, und konnten ihm „kein freundliches Wort sagen“ , wie es heißt. (1. Mose 37,4) D.h. sie wollten nichts mit ihm zu tun haben. Ganz schlimm kam es, als er auch noch anfing, ihnen von seinen Träumen zu erzählen. Darin hatte er erlebt, dass sie sich alle vor ihm verneigten. Nun entstand eine regelrechte Feindschaft, und sie wollten ihn loswerden. Am liebsten hätten sie ihn umgebracht.
Doch der Älteste, Ruben, war dagegen. Er wollte kein Blut vergießen und es gelang ihm, seine Brüder davon abzuhalten. Sie warfen ihn stattdessen in eine Grube. Daraus wollte Ruben ihn später wieder befreien.
Aber dann kam eine Händlerkarawane vorbei, und die kauften ihnen Joseph gerne als Sklaven ab. Sie nahmen ihn mit nach Ägypten. Dort diente er zunächst am Hof des Pharao, aber dann hatte er Pech: Die Frau des Pharao verleumdete ihn und er wurde ins Gefängnis geworfen. Das war der Tiefpunkt in seiner Lebensgeschichte.
Doch dann kam die Wende, und zwar entdeckte der Pharao Josefs Gabe des Traumdeutens. Josef hatte dadurch vorausgesagt, dass eine Hungersnot über das Land kommen würde. Gleichzeitig empfahl er dem Pharao, rechtzeitig genug Korn zu speichern, so dass während der Dürre keiner leiden musste. Von diesem klugen Vorschlag war der Pharao so angetan, dass er ihn daraufhin zum wichtigsten Mann im Land machte. Er setzte ihn über ganz Ägypten und stattete ihn mit allen Reichtümern und Ehren aus, die es gab.
Als solcher begegnete er dann nach vielen Jahren seinen Brüdern wieder. Sie hatten gehört, dass es in Ägypten Korn gab, und so zogen sie hin, um dort welches zu kaufen. Sie mussten Joseph darum bitten. Dabei erkannten sie ihn nicht, er wusste allerdings sehr wohl, wen er da vor sich hatte.
Natürlich hätte er nun Rache üben können, sie abweisen und nach Hause schicken, damit sie verhungern und es ihnen genauso ginge, wie ihm. Aber das tat er nicht. Er redete zwar hart mit ihnen und gab sich auch nicht sofort zu erkennen, aber in seinem Herzen hatte er ihnen längst vergeben.
Bei ihrer dritten Reise offenbarte er ihnen dann endlich seine Identität, und es kam zur Versöhnung. Damit endet die Josefgeschichte, und dieser Schluss ist heute unser Predigttext. Er lautet folgendermaßen:

1. Mose 50, 15- 20

15 Die Brüder Josefs aber fürchteten sich, als ihr Vater gestorben war, und sprachen: Josef könnte uns gram sein und uns alle Bosheit vergelten, die wir an ihm getan haben.
16 Darum ließen sie ihm sagen: Dein Vater befahl vor seinem Tode und sprach:
17 So sollt ihr zu Josef sagen: Vergib doch deinen Brüdern die Missetat und ihre Sünde, dass sie so übel an dir getan haben. Nun vergib doch diese Missetat uns, den Dienern des Gottes deines Vaters! Aber Josef weinte, als sie solches zu ihm sag-ten.
18 Und seine Brüder gingen hin und fielen vor ihm nieder und sprachen: Siehe, wir sind deine Knechte.
19 Josef aber sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes statt?
20 Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk.
21 So fürchtet euch nun nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen. Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen.

Das ist der Abschnitt, um den es heute geht. Er beginnt mit der Angst und dem schlechten Gewissen der Brüder Josefs. Sie flehten ihn um Vergebung an. Doch davon wollte Josef gar nichts wissen. Es stand ihm nicht zu, Sünden zu vergeben, das war allein Gottes Sache, so war seine Einstellung. In allem, was geschehen war, erkannte er vielmehr den Heilsplan Gottes. Josef war davon überzeugt, dass Gottes Wille alle Lebensbereiche durchdringt. Er umgreift sogar das Böse der Menschen und ordnet die Planungen des Menschenherzens den göttlichen Zielen unter.
Es lag ihm deshalb fern, Macht oder Gewalt anzuwenden. Josef zeichnete sich durch Weitherzigkeit und Klugheit aus. Er war durch sein Leiden geläutert. Zucht und Selbstbeherrschung hatten ihn geformt und er war ein weiser Mann geworden. Er war auch tief gläubig und konnte vergeben. Eine wohltätige Güte ging von ihm aus, die aufbauend und für alle befreiend und rettend war.
Und das soll jeden, der es hört, dazu bewegen, genauso zu denken und zu handeln. Darin liegt die Botschaft dieser Geschichte. Es ist auch das „Gesetz Christi“: „Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“ (Galater 6, 2) Das ist unser Wochenspruch.
Beim ersten Hören erscheint uns das sehr geläufig. Wir wissen, dass Christen gut zu anderen sein sollen, Lasten mittragen, dem Nächsten helfen, die Schwachen schützen, den Schuldigen vergeben, die Kranken heilen usw. Es geschieht ja zum Glück auch an vielen Orten und in vielen Situationen. Als vor ungefähr zwei Jahren eine Million Flüchtlinge zu uns nach Deutschland kamen, ging eine große Welle der Hilfsbereitschaft durch das Land. Erfreulicherweise ist sie auch noch nicht abgeebbt. Viele Menschen engagieren sich weiter und begleiten die neuen Mitbürger und Mitbürgerinnen auf ihrem mühsamen Weg in unsere Gesellschaft.
Allerdings gibt es auch Gegenstimmen, und das Wort „Gutmensch“ kam auf. Es hat einen ironischen und sarkastischen Klang, ist gehässig oder verachtend gemeint. Toleranz und Hilfsbereitschaft werden mit diesem Wort pauschal als dumm und weltfremd diffamiert, als Helfersyndrom oder moralischer Imperialismus. Ich musste einmal einen entsprechenden Aufkleber von unserem Schaukasten entfernen. Da hatte es offensichtlich jemand für nötig gehalten, uns als christliche Gemeinde zu verunglimpfen und uns den Kampf anzusagen.
Das fand ich im ersten Moment zwar ungerecht und empörend, aber so abwegig ist der Vorwurf nicht. Wir sollten ruhig immer mal wieder überprüfen, was uns eigentlich motiviert, wenn wir helfen und „gut“ sind. Heischen wir dabei möglicher Weise nach äußerer Anerkennung? Und wie dogmatisch sind wir? Wollen wir unsere Mitmenschen nicht am liebsten missionieren, weil wir unsere Vorstellungen und unsere Handlungsweise für absolut richtig halten? Können wir andere Ansichten noch ertragen?
Das sind Fragen, die wir beantworten müssen, und dabei hilft uns unser Predigttext. Darin geht es nämlich nicht um ein äußeres Helfen, sondern um eine innere Beschaffenheit. Die Geschichte von Josef gehört zur sogenannten Weisheitsliteratur des Alten Testamentes, d.h. sie entwirft bewusst das Bild eines Jünglings von tiefer Gläubigkeit und Willensstärke. Er war wahrhaftig und treu, verantwortungsbewusst und geduldig. Er hatte die Schule der Lebenskunst erfolgreich durchlaufen und war das Ideal eines Menschen, das es zu erstreben galt. In dem letzten Abschnitt wird das deutlich, er ist der Schlüssel zu der ganzen Geschichte.
Es geht hier also nicht in erster Linie um ein äußeres Helfen und um Nächstenliebe, sondern um die Motive, aus denen heraus wir handeln. Es geht um uns selber. Wir werden eingeladen, in uns zu gehen und uns in Glauben und Selbstbeherrschung zu üben. Und das können wir am besten, indem wir nicht als erstes auf unsere Taten oder unser Werke schauen, sondern zunächst einmal unsere Beziehungen unter die Lupe nehmen, in denen wir sowieso leben. Der erste Schritt führt uns nicht zu den Schwachen und Bedürftigen, mit denen wir vorher noch nie etwas zu tun hatten, sondern zu den Menschen, mit denen wir in Familie und Beruf zusammenleben, zu unserem Partner und unseren Kindern, zu Kollegen, Vorgesetzten oder Mitarbeitern.
Da gibt es ja leider immer wieder eine Menge Konflikte und entsprechend viel Streit. Auch in der Gemeinde und in ande-ren Gruppen herrscht oft Unfriede. Dabei ist es meistens nicht so gravierendes Unrecht, wie es Josef zugestoßen ist. Im Vergleich dazu sind es eher Kleinigkeiten.
Trotzdem reagieren wir oft viel weniger beherrscht und geduldig als Josef. Ärger entsteht, Wut oder Zorn. Es kommt zu Schuldzuweisungen, Vorwürfen und nicht selten zur Trennung. Keiner will nachgeben, keiner sich ändern oder die Dinge einmal anders beurteilen. Wir bleiben bei unserer Sichtweise, denn wir empfinden es als Unrecht, was der andere uns zufügt.
Und hier zeigt uns Josef, wie wir das überwinden können, denn er lädt uns ein, unsere innere Blickrichtung zu ändern: Anstatt auf die bösen anderen und das vermeintliche Unrecht zu schauen, können wir auf Gott sehen. Gott waltet in allem und hat ein Ziel mit uns. Es gilt, dass wir darauf unser Bewusstsein lenken, uns nach Gott ausrichten. Seine Macht kennt keine Grenzen. Er kann auch aus Unrecht Gutes wirken und unsere kurvenreiche Lebensbahn am Ende zu einem geraden Weg werden lassen. Damit versetzen wir uns in eine andere Dimension. Wir lassen den Willen Gottes an uns wirken, und der beinhaltet vor allen Dingen Gnade und Güte. Das hat Josef gelernt, er war darin am Ende sogar ein Virtuose.
Vielleicht denken wir deshalb: „So können wir uns nie verhalten, das schaffen wir nicht!“. Es ist in der Tat auch nicht einfach, sondern eine hohe Lebenskunst. Denn es heißt, dass wir loslassen, unsere Gedanken, unser Wollen, all das, was immer im Vordergrund steht, rückt in unserem Bewusstsein nach hinten. Es wird kleiner und verliert an Macht. Es ist ein inneres Sterben und Abschied nehmen von Ideen und Plänen, von Gefühlen und Wünschen. Und das geschieht nicht von heute auf morgen. Es dauert manchmal lange und fordert unsere ganze Aufmerksamkeit. Auch Josef ist erst im Laufe der Jahre zu dem Mann geworden, der er am Ende war.
Aber wir haben es besser als er, denn wir müssen das alles nicht allein hinbekommen. Wir dürfen darauf vertrauen, dass uns jemand dabei hilft, denn als Christen glauben wir an Jesus Christus, und der ist diesen Weg gegangen, in aller Konsequenz. Er hat sich selber immer wieder losgelassen und sich Gott anvertraut. Bis in den Tod hat er das durchgehalten.
Am Ende wurde ihm genau dadurch neues Leben geschenkt. Er ist von den Toten auferstanden und lebt heute noch. Deshalb ist er auch nicht nur ein Vorbild für uns, sondern gleichzeitig derjenige, der uns an die Hand nimmt. Der Glaube an Jesus Christus ermöglicht jedem diesen Weg. Denn Christus ist nicht nur unser Lehrer, sondern gleichzeitig die Quelle, aus der wir immer wieder die Energie der Liebe empfangen. Sie macht uns zur Demut und zur Geduld fähig, wir werden gestärkt und befreit, und unser Leben gelingt. Seine Liebe und Gnade können uns heilen. Denn er vergibt uns immer wieder und nimmt uns an. Das gilt es zuzulassen und sich davon bestimmen zu lassen. Luther sagt an einer Stelle in seinen Schriften: Wir müssen „Christus in uns hineinbilden“. (in: Von der Freiheit eines Christenmenschen, zum siebenten, WA 6)  Sein „Gesetz“ ist keine Handlungsanweisung, sondern eine wohltuende und befreiende Kraft. Sie ist wie Balsam für unsere Seele und wirkt aufbauend und zusammenführend. Innerlich und äußerlich setzen wir der Zerstörung etwas entgegen. Unsere Seele und unser Miteinander werden heil.
Denn natürlich geschieht dadurch dann auch das Gute. Wer so beschaffen ist, sieht von alleine den Mitmenschen, der Hilfe braucht. Er streckt seine Hand aus und kümmert sich um ihn, nicht aus moralischer Überlegenheit heraus, sondern aus einem echten inneren Antrieb, aus Mitgefühl und wahrer Liebe. Denn wird im Innersten ein „guter Mensch“.
Amen.