Predigt über Epheser 4, 22- 32: Der neue Mensch
19. Sonntag nach Trinitatis, 18.10.2020, 9.30 und 11 Uhr,
Luther- und Jakobikirche Kiel
Liebe Gemeinde.
In der Beschwerdeordnung der Bundeswehr ist genau geregelt, welche Frist und Form bei einer Beschwerde einzuhalten ist. Es heißt dort in § 6, Absatz 1: „Die Beschwerde darf frühestens nach Ablauf einer Nacht und muss innerhalb eines Monats eingelegt werden, nachdem der Beschwerdeführer von dem Beschwerdeanlass Kenntnis erhalten hat.“ Mit der Nacht ist die allgemeine Ruhezeit gemeint, die von 22 Uhr abends bis 6 Uhr morgens dauert. Wenn sich einer also bei dem nächst höheren Vorgesetzten beschweren möchte, muss er erst mal eine Nacht geschlafen haben. Das lernen die Rekruten schon in der Grundausbildung. Es kann dabei um Konflikte zwischen Kameraden gehen oder um Probleme zwischen Vorgesetzten und Untergebenen, und es betrifft sämtliche Bereiche, persönliche und sachliche.
Und das ist eine uralte Regel, die wir ja auch im zivilen Leben kennen: Wenn ich mich über irgendetwas ärgere oder aufrege, ist es gut, zunächst einmal ruhig zu werden, eine Nacht darüber zu schlafen und erst am nächsten Tag zu reagieren. Denn auf jeden Fall hat sich bis dahin meine Gefühlslage verändert: Eventueller Zorn ist verraucht, und ich sehe die Dinge klarer.
Auch Paulus schlägt in seinen Briefen an vielen Stellen vor, dass wir nicht wütend und aufgebracht, sondern ruhig und besonnen miteinander umgehen sollen. So z.B. am Ende des Epheserbriefes. Er schreibt in Kapitel vier Vers 22- 32:
Epheser 4, 22- 32
22 Legt von euch ab den alten Menschen mit seinem früheren Wandel, der sich durch trügerische Begierden zugrunde richtet.
23 Erneuert euch aber in eurem Geist und Sinn
24 und zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit.
25 Darum legt die Lüge ab und redet die Wahrheit, ein jeder mit seinem Nächsten, weil wir untereinander Glieder sind.
26 Zürnt ihr, so sündigt nicht; lasst die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen
27 und gebt nicht Raum dem Teufel.
28 Wer gestohlen hat, der stehle nicht mehr, sondern arbeite und schaffe mit eigenen Händen das nötige Gut, damit er dem Bedürftigen abgeben kann.
29 Lasst kein faules Geschwätz aus eurem Mund gehen, sondern redet, was gut ist, was erbaut und was notwendig ist, damit es Segen bringe denen, die es hören.
30 Und betrübt nicht den Heiligen Geist Gottes, mit dem ihr versiegelt seid für den Tag der Erlösung.
31 Alle Bitterkeit und Grimm und Zorn und Geschrei und Lästerung seien fern von euch samt aller Bosheit.
32 Seid aber untereinander freundlich und herzlich und vergebt einer dem andern, wie auch Gott euch vergeben hat in Christus.
Das ist heute unser Predigttext. Es ist ein Teil der Ermahnungen zu einem christlichen Lebenswandel, die die zweite Hälfte des Epheserbriefes bilden. Paulus gibt dort Ermutigungen und Anregungen, wie die Christen leben sollen, damit sie die wahre Gemeinde des Herrn werden. Das Leben verändert sich durch die Taufe und die Zugehörigkeit zu Christus. Der Mensch legt „seinen früheren Wandel“ ab und „erneuert sich in seinem Geist und Sinn, der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit.“
Davon ist Paulus überzeugt, und so gibt er klare und konkrete Anweisungen für die Lebensführung. Er lehnt alle „trügerischen Begierden“ ab, „Lüge, Diebstahl, faules Geschwätz, Bosheit, Bitterkeit und Grimm, Zorn, Geschrei und Lästerung.“ Davon sollen wir uns lossagen, d.h. es beseitigen und abschaffen. Dagegen setzt er Wahrheit, Rechtschaffenheit, gute Rede und den Dienst am Nächsten. Er sagt zum Schluss unseres Abschnittes: „Seid untereinander freundlich und herzlich und vergebt einer dem andern, wie auch Gott euch vergeben hat in Christus.“
Dabei lässt er keinen Zweifel daran, dass all das wichtig und notwendig ist. Er macht nicht nur Vorschläge, sondern er belehrt und ermahnt die Leser und Leserinnen. Denn Paulus sieht eine Gefahr: Wenn wir das nicht tun und in der Sünde verharren, „richten wir uns selber zu Grunde“. Wir geben „Raum dem Teufel“, d.h. wir lassen böse Kräfte zu, die uns beherrschen und vernichten können. Es ist also nicht beliebig, ob wir uns in dieser Weise in Gottesfurcht üben oder nicht. Wir können einander zum Fluch oder zum Segen werden, und natürlich möchte Paulus, dass der Segen sich durchsetzt. Das ist sein Anliegen: Die Gemeinde soll von Freude gekennzeichnet sein, von Dankbarkeit und Gnade.
Dabei ist das, was er hier sagt, nicht neu. Es entspricht sowohl jüdischem als auch griechischem Denken. Da finden wir ebenfalls Weisungen für ein gedeihliches Miteinander. Es gibt Tugend- und Lasterkataloge, die aufzählen, was zu unserem Heil bzw. zum Untergang führt. Und es ist bis heute aktuell. Menschen brauchen solche Regeln, wenn ihr Zusammenleben gelingen soll. Nicht nur die Bundeswehr hat das erkannt, es gilt genauso in der Familie, im Kollegenkreis, in der Nachbarschaft, in der Gesellschaft usw.
Denn es gibt immer und überall Konflikte, Streit und Ungerechtigkeit. Ich kann mich übergangen fühlen, missachtet oder betrogen. Jemand anders verletzt oder enttäuscht mich, ich werde bevormundet, klein gemacht, beleidigt oder was auch immer. Und dadurch entstehen dann all die negativen Gefühle und Regungen, die Paulus aufzählt: „Bitterkeit, Wut und Zorn“. Und die führen zu „Geschrei, Lästerreden und Boshaftigkeit“. Meistens ist es dann so, dass der oder die Lautere gewinnt. Zu einer Klärung kommt es dabei nicht, geschweige denn zu einer Beilegung des Konfliktes. Das gelingt nur, wenn wir „freundlich miteinander umgehen, Erbarmen zeigen und bereit sind zu vergeben“. Und dafür brauchen wir einen gewissen Abstand zu dem Vorgefallenen, wir müssen uns erst einmal beruhigen, die Gefühle in den Griff bekommen und wieder klar denken. Erst dann ist es möglich, aufeinander zuzugehen und Konflikte ins Reine zu bringen.
Das sind wie gesagt Erkenntnisse, die wir überall finden. Trotzdem sind sie natürlich nicht ganz einfach umzusetzen. Oft brauchen wir dazu die Hilfe von jemand Außenstehenden, und die gibt es zum Glück. Es ist sogar eine klar definierte Aufgabe oder sogar ein Beruf. Bei der Bundeswehr übernehmen das die sogenannten „Vermittler“, in der Politik oder in der Rechtsprechung können es „Schlichter“ sein, und im therapeutischen Bereich die „Berater“. Sie helfen uns, unsere Probleme zu bewältigen und zu Lösungen zu kommen.
Aber ist das nun alles, was Paulus uns hier vorschlägt. Geht es ihm einfach nur darum, dass unser zwischenmenschliches Leben glatt läuft und gut funktioniert? Dann wäre das, was er hier sagt, ja so etwas wie ein Übungsprogramm, eine bestimmte Moral und Ethik, und wir fragen uns: Wollen wir das überhaupt hören? Wer kann das denn hinkriegen? Ist das nicht ein viel zu hoher Anspruch? Für die Bundeswehr kann es ja sein, dass die Abläufe so streng geordnet werden, aber soll es überall so militärisch zugehen? Sollen wir uns immer zusammenreißen und versuchen, uns so gut und anständig wie möglich zu verhalten? Das kann doch nicht die Botschaft von Paulus sein!
Und in der Tat geht es Paulus letzten Endes um noch etwas ganz anderes. Was das ist, erfahren wir am Ende unsers Textes, denn da bezieht er sich auf Christus. Mit ihm begründet er seine Ermahnungen, und Christus ist auch der, durch den das alles überhaupt möglich wird. Der letzte Halbsatz lautet nicht umsonst: „wie auch Gott euch vergeben hat in Christus.“ Damit erinnert Paulus daran, dass wir als Christen eine ganz wichtige Voraussetzung haben. Wir verlassen und gründen uns in allem auf Christus. Er hat auf jeden Fall so gelebt und gehandelt, wie Paulus es hier beschreibt. D.h. er ist immer freundlich zu uns, er vergibt uns und hat Erbarmen. Jesus hat einen heiligen Lebenswandel geführt und verkündet, und um ihn geht es Paulus, um seine Gegenwart und Kraft. Paulus lädt uns ein, auf Jesus Christus zu schauen und seinen Geist zu empfangen. Nur dann kann es gelingen, dass wir „neu werden“.
Und jetzt komme ich auf den Anfang zurück: Dazu kann die Nacht dienen, die wir zwischen einen Vorfall und unsere Reaktion einschieben. Nachts sind wir nicht mehr abgelenkt und können uns alle negativen Regungen, die in uns sind, anschauen: unseren Unwillen, eine seelische Hitze oder ungute Leidenschaft. Und wir haben dann viel Zeit, in der sich das alles legen kann.
Das scheint beim ersten Hören nicht ganz zu dem zu passen, was Paulus in unserem Text an einer Stelle erwähnt. Da steht nämlich, dass wir „die Sonne nicht über unserem Zorn untergehen lassen sollen“. Darunter stellen wir uns vor, dass wir noch vor dem Abend alles klären sollten, was uns von anderen trennt. Und das klingt etwas anders als die allgemeine Weisheit, erst einmal eine Nacht zu schlafen, bevor es weitergeht. Aber so stark unterscheiden sich die beiden Anweisungen gar nicht voneinander, sie liegen sogar ziemlich dicht zusammen. Denn auch Paulus sagt damit, dass wir uns beruhigen sollen, und er weiß, dass das ein paar Stunden dauern kann. Ob es nun vor oder nach dem Sonnenuntergang geschieht, ist gar nicht so entscheidend. Wichtig ist einfach nur, dass wir unseren „Zorn“ ablegen. Und das kann gut gelingen, wenn uns nichts anderes mehr stört.
Wir können dann auch am besten die Hilfe in Anspruch nehmen, die da ist. Sie kommt von Christus. Er ist gegenwärtig und mit ihm seine unendliche Liebe und Barmherzigkeit. Die erleben wir, wenn wir uns einfach nur vor ihn stellen und ihn um Hilfe bitten. Wir lösen uns damit ganz von selber von dem, was uns gefangen hält, und legen es ab. Das Erbarmen Christi zieht in uns ein und verwandelt uns. Wir müssen den Zorn nicht mit in den Schlaf nehmen, sondern gehen mit guten Gedanken und Empfindungen in die Nacht. Am nächsten Morgen fühlen wir uns dann neu und befreit. Und wenn das geschieht, ist es gar nicht mehr schwer, dass wir uns auch liebevoll und barmherzig verhalten. Die Freundlichkeit kann siegen, ganz gleich, wie jemand anders mich behandelt hat.
Und das Schönste daran ist: Christus wird lebendig in unserem Miteinander, er kommt wirklich vor und wirkt in unsere Beziehungen hinein. Paulus sagt das Ganze ja, um deutlich zu machen, wie die christliche Gemeinde beschaffen ist und wodurch sie sie sich auszeichnet: Sie ist der „Leib Christi“, sein Geist ist darin lebendig, seine Gegenwart wird wirklich und wahr. Und das geschieht, wenn alle Gemeindeglieder versuchen, ihm Raum zu geben. Dann hat der „Teufel“ keinen Platz, und der „Tag der Erlösung“ kann kommen.
Amen.