Bekennt euch zu Gott

Predigt über Jeremia 14, 1- 9: Das Gebet des Volkes

2. Sonntag nach Epiphanias, 19.1.2020

Jeremia 14, 1- 9

1 Dies ist das Wort, das der HERR zu Jeremia sagte über die große Dürre:
2 Juda liegt jämmerlich da, seine Städte sind verschmachtet. Sie sitzen trauernd auf der Erde, und in Jerusalem ist lautes Klagen.
3 Die Großen schicken ihre Leute nach Wasser; aber wenn sie zum Brunnen kommen, finden sie kein Wasser und bringen ihre Gefäße leer zurück. Sie sind traurig und betrübt und verhüllen ihre Häupter.
4 Die Erde lechzt, weil es nicht regnet auf Erden. Darum sind die Ackerleute traurig und verhüllen ihre Häupter.
5 Ja, auch die Hirschkühe, die auf dem Felde werfen, verlassen die Jungen, weil kein Gras wächst.
6 Die Wildesel stehen auf den kahlen Höhen und schnappen nach Luft wie die Schakale; ihre Augen erlöschen, weil nichts Grünes wächst.
7 Ach, HERR, wenn unsre Sünden uns verklagen, so hilf doch um deines Namens willen! Denn unser Ungehorsam ist groß, womit wir wider dich gesündigt haben.
8 Du bist der Trost Israels und sein Nothelfer. Warum stellst du dich, als wärst du ein Fremdling im Lande und ein Wanderer, der nur über Nacht bleibt?
9 Warum stellst du dich wie einer, der verzagt ist, und wie ein Held, der nicht helfen kann? Du bist ja doch unter uns, HERR, und wir heißen nach deinem Namen; verlass uns nicht!

Liebe Gemeinde.

Es war in Palästina keine seltene Erscheinung, dass Dürre und Hungersnot das Land beherrschten. Wenn die Frühregen im Spätherbst zu wenig Wasser enthielten, und die Spätregen im Frühjahr ausblieben, waren Land und Volk fürs nächste Jahr großer Trockenheit und schwerer Missernte ausgesetzt. Bald waren die angesammelten Zisternenwasser ausgeschöpft, auch die Quellen vertrockneten allmählich, und die Vorräte an Brot und getrockneten Früchten waren irgendwann verbraucht. Die Menschen verzweifelten.

So eine allgemeine Not infolge eingetretener Dürre schildert der Prophet Jeremia in der alttestamentlichen Lesung für diesen Sonntag. Und das kennen wir auch aus heutiger Zeit. Bei uns ist es zu unseren Lebzeiten zwar noch nie ganz so schlimm gewesen, aber regelmäßig gehen Bilder um die Welt, die aus anderen Gegenden genau dasselbe zeigen. Wir werden dann zum Spenden und Helfen aufgefordert, und diesen Aufrufen folgen zum Glück auch viele Menschen.

Aber wäre es nicht viel besser, wenn es das alles gar nicht mehr gäbe, wenn Dürre und Hungersnot für immer beendet würden? Das Volk Israel wünschte sich das und griff deshalb auf seinen Glauben zurück. Sie riefen zu Gott und beteten.

Das ist der Inhalt des Abschnittes aus dem Buch des Propheten Jeremia, den wir vorhin gehört haben. Er ist heute unser Predigttext

Wir wissen zwar nicht, in welcher Zeit die geschilderte Hungersnot das Land beherrschte, es wird jedoch angenommen, dass wir sie uns in den ersten Jahren der Wirksamkeit des jungen Propheten zu denken haben, also noch vor der Zerstörung Jerusalems und der Eroberung des Landes durch Nebukadnezar, dem König von Babylonien. Es gab das Volk Juda noch, und eigentlich lebten sie ganz gut in ihrem Land.

Doch offensichtlich gab es einmal eine große Dürre, und der Text beginnt mit der dramatischen Schilderung der Folgen, die dadurch eingetreten sind: „Juda wehklagt, in seinen Toren klagt das Volk, sinkt trauernd zur Erde, und das Geschrei Jerusalems steigt empor. Ihre Vornehmen schicken die Diener nach Wasser; sie kommen zu den Zisternen, finden kein Wasser, kehren mit leeren Krügen heim.“ Die Not war also bereits aufs höchste gestiegen. Ganz Jerusalem, hoch und niedrig, war in verzweifelter Aufregung. Aus allen Häusern drang Wehklage, die Kinder verschmachteten vor Durst, die Frauen weinten und jammerten, die Männer versammelten sich zu Beratungen in den Stadttoren, und vor ihren Augen lagen Sterbende. Die Vornehmen sandten Diener zu fernliegenden Zisternen und Quellen, sie kehrten aber mit leeren Krügen zurück. Im ganzen Lande war die Lage ähnlich. Das ist hier das ergreifende Bild.

Und so suchte das Volk durch eine Notbuße Rettung beim Herrn. Das Flehen des Volkes lautete: „Wenn unsere Sünden wider uns zeugen, so greife ein, Jahwe, um deines Namens willen; ja, so oft sind wir treulos gewesen, an dir haben wir gesündigt. Du Hoffnung Israels, du sein Retter in der Not! Warum denn bist du wie ein Fremdling im Lande, dem Wanderer gleich, der nur zur Nachtruhe zeltet? Warum bist du wie ein erschrockener Mann, wie ein Krieger, der nicht zu helfen vermag? Du bist doch, Jahwe, in unserer Mitte und deinen Namen tragen wir. Verlass uns nicht!“

Das hört sich wie ein sehr schönes Glaubensgebet an. Tiefe Erkenntnis der Schuld kommen darin vor, ein klares Bekenntnis zum Herrn und eine innerliche Besinnung auf die göttliche Berufung des Volkes. Die Menschen wissen, dass sie gesündigt haben, und sie wissen auch, dass der Herr Israels Hoffnung und Retter ist. Wie oft hat Gott es aussprechen lassen, dass er inmitten seines Eigentums zelte, Jerusalem die Stätte sei, da er wohne. Die Fragen des Volkes waren daher verständlich.

Doch sie klingen nicht nur fromm, sondern auch enttäuscht und fast so ein bisschen vorwurfsvoll: Ob er in dieser schweren Heimsuchung nur „ein für eine Nacht eingekehrter Wanderer sei, oder ob er einem Krieger gleiche, dessen Mut und Kraft geschwächt sei und daher nicht mehr helfen könne!“ Mit diesen Vergleichen beschreiben sie ihre Unzufriedenheit und erinnern ihn daran, dass sie doch „nach seinem Namen heißen.“ Er soll sie deshalb „nicht verlassen!“

Damit endet unser Predigttext, und das könnte ein Zeugnis echter Glaubenszuflucht und Gottesnähe sein. Doch das war es mitnichten. Wenn wir weiterlesen, erfahren wir, dass Gott dieses Gebet nicht erhört hat. Denn die geistige Einstellung, die ihm zu Grunde lag, gefiel ihm nicht. Seine Antwort lautete „Sie lieben es, von einem zum andern zu laufen, ihre Füße schonen sie nicht; jedoch Jahwe hat keinen Gefallen an ihnen.“ (V.10) Für Gott war all das nur ein Lippenbekenntnis, das Herz der Menschen war daran nicht beteiligt. Die Not hatte sie gezwungen, die Sprache des Glaubens anzunehmen, Gott überblickte jedoch das Ganze und sah, dass es nur ein augenblickliches Zu-ihm-laufen war. Nach überstandenem Unglück würden sie – wie so oft – wieder fremden Göttern folgen, das ist hier gemeint, und das hatte er bereits erlebt. Er forderte mehr von ihnen und ließ sich nicht einfach so beeinflussen. Er war nicht käuflich. Die Tränen ihrer Notbuße beeindruckten ihn nicht, auch kein Fasten oder Flehen in Sack und Asche. Erst wenn sie sich klar für ihn entscheiden und aufhören würden, „hin- und herzulaufen“, würde sich ihr Schicksal ändern. Das sollte der Prophet Jeremia ihnen sagen.

Und das ist auch für uns hier die entscheidende Botschaft: Indirekt erfahren wir, wie ein echtes Gebet sein muss, wenn es helfen soll. Und das ist gut, denn es geht uns ja oft so, wie den Israeliten: Wir leiden Not, beten zu Gott, und er tut nichts. Auch wir haben das Gefühl, dass er sich gar nicht richtig für uns interessiert, sondern nur „vorübergehend da ist“, wie ein Wanderer, der mal eben für eine Nacht sein Zelt aufgeschlagen hat, aber morgen schon wieder weiterzieht.

Lasst uns also fragen, wie wir beten sollen und was es heißt zu glauben. Was will Gott von uns heute, und was kann er uns schenken? In drei Schritten können wir diese Fragen beantworten.

Der erste ergibt sich, wenn wir uns mit dem auseinandersetzen, was gar nicht mehr in unserem Predigttext steht, sondern ihm unmittelbar folgt, und zwar mit dem Vorwurf Gottes, das Volk „liefe hin und her.“ Das tun wir nämlich auch. Wir haben ebenfalls viele Götter, die wir anbeten. Sie heißen nicht Baal oder Beelzebub, aber unser Streben nach Wohlstand und Bildung, Macht und Erfolg hat religiöse Züge. Sie ersetzen Gott in gewisser Weise, denn wir ordnen dem oft alles andere unter und glauben daran, dass diese Ziele uns glücklich machen. Wir jagen immer irgendwelchen Ideen und Bildern hinterher und setzen sie an oberste Stelle. Das kann bei jedem und jeder von uns etwas anderes sein, aber es ist gut, wenn wir uns einmal fragen: Was ist die Mitte meines Lebens, um die alles kreist? Wofür lebe ich? Was will ich auf jeden Fall verwirklichen oder erreichen?

Wir merken dann, dass es nicht unbedingt der lebendige Gott ist, von dem die Bibel erzählt. Es ist nicht der Allmächtige, der uns geschaffen hat, der Ewige, der unser Leben in der Hand hält. Er interessiert uns zwar, aber nicht am meisten von allem. Er gehört zu dem Vielen dazu, das uns beschäftigt, und oft  ersetzen wir ihn auch durch Vorläufiges und Vergängliches. Das müssen wir zugeben. Es ist der erste Schritt zu einem echten Gebet und einem lebendigen Glauben.

Und daran schließt sich unmittelbar eine Entscheidung an, die Gott von uns fordert. Er möchte nämlich, dass wir uns ganz auf ihn verlassen, ihn wirklich anbeten und verehren. Gott will kein Lückenbüßer sein, sondern das Ziel und der Sinn unseres Lebens. Er möchte, dass wir um seiner selbst willen an ihn glauben und alles andere ihm unterordnen.

Das klingt im ersten Moment fordernd und ungemütlich, aber in Wirklichkeit ist es wohltuend und heilsam. Denn dadurch relativiert sich alles andere, und das tut gut. Unsere übliche Einstellung hat ja auch ihre Schattenseiten. Es ist nicht nur angenehm, nach all den Dingen zu streben, die wir uns ausdenken. Was unser persönliches Leben betrifft, so ist es oft anstrengend und kräftezehrend. Außerdem geht es mit Sorgen einher. Was passiert, wenn wir scheitern? Die Angst lauert ständig um die Ecke, sie macht uns unfrei und kann uns lähmen. Es ist gar kein so guter Lebensentwurf, zwischen dem Vielen ständig „hin- und herzulaufen“. Es kann uns persönlich erschöpfen und auszehren.

Doch selbst wenn das nicht der Fall sein sollte, und uns alles spielend gelingt, so hat diese Lebenshaltung auf jeden Fall gesellschaftliche und ökologische Folgen, die negativ sind. Wir haben ja nie genug, irgendwie sind wir unersättlich, wollen immer mehr, immer höher und immer weiter. Alles soll immer größer und besser werden. Und wir wissen inzwischen alle, dass wir genau dadurch unsere Welt zerstören. In einem Bericht im Fernsehen über unser umweltschädliches Verhalten fiel kürzlich das Wort „Weltfraß“. Das finde ich sehr drastisch und zutreffend, denn genau das tun wir: Wir fressen unsere Welt selber auf, wir zerstören unsere eigenen Lebensgrundlagen. Dürrekatastrophen und Hungersnöte, wie der Prophet Jeremia sie beschreibt, sind meistens die Folgen unseres eigenen Verhaltens. Wir tragen dafür die Verantwortung.

Deshalb sollten wir auch nicht Gott dafür zur Rechenschaft ziehen und enttäuscht sein, wenn er unsere Gebete nicht zu erhören scheint. Es ist vielmehr besser, wenn wir wirklich zu ihm umkehren und ihn von Herzen suchen. Es gilt, die Tiefe unserer eigenen Schuld zu erkennen und sich klar zu ihm zu bekennen. Auch wir sind von ihm zu einem Leben in seiner Gegenwart berufen, darauf müssen wir uns immer wieder besinnen. Wir haben gesündigt, aber er ist unsere Hoffnung und unser Retter. Denn durch seinen Sohn Jesus Christus ist er wirklich mitten unter uns. Er „zeltet hier nicht nur vorübergehend“, sondern die Welt ist die Stätte seiner Gegenwart. Er „wohnt bei uns“ und will uns helfen. Wir müssen nur an ihn glauben und auf seine Kraft vertrauen. Das ist der zweite Schritt.

Und als drittes erhalten wir dadurch eine Hoffnung, die über die Zeit hinausgeht. Zum Glauben an Jesus Christus gehört, dass wir nicht ausschließlich auf diese Welt fixiert sind. Wir müssen den Tod nicht fürchten und auch nicht den Weltuntergang, denn Gott hat durch Jesus Christus bereits eine neue Welt anbrechen lassen. Das Evangelium von ihm reicht weiter als das, was das Alte Testament uns verkündet. Es übersteigt den Glauben Israels, denn wir hoffen durch Jesus Christus auf die Auferstehung von den Toten und haben einen Zugang zur Ewigkeit. Wenn Gott die Welt richten will, dann soll er es tun. Wie können sie loslassen und unbesorgt sein. Denn er wird uns gnädig sein und uns in eine neue Welt hineinführen. Das ist der Geist, mit dem er uns ausrüstet. Er hilft uns, die Welt und uns selber zu überwinden.

Das sind die drei Schritte, mit denen wir unseren Glaubensweg gehen und zu ihm beten können: Selbsterkenntnis, Umkehr zu Gott und die Hoffnung auf sein ewiges Reich. Wenn wir das beachten, werden wir merken, dass Gott bei uns ist und uns hört.

Und wer weiß: Vielleicht ist es auch noch nicht zu spät, um diese Erde vor dem Untergang und der Zerstörung zu bewahren. Der Glaube an Jesus Christus kann dazu durchaus etwas beitragen, denn unser Bewusstsein ändert sich dadurch und damit auch unser Verhalten. Wir können alle etwas dazu tun, dass Dürren und Hungersnöte uns nicht beherrschen, dass der Regen überall in ausreichender Menge fällt, und keine Missernten einsetzen. Wenn wir uns auf Jesus Christus verlassen, verschwindet der Zwang, unsere Ressourcen bis aufs letzte auszuschöpfen. Unsere Lebensquellen vertrocknen nicht. Wir wissen: Es ist für alle genug da, keiner und keine muss verzweifeln.

Wir müssen nur aufmerksam und wachsam sein, uns Gott immer wieder von Herzen nähern und uns seiner Macht unterordnen.

Amen.

Der Predigt basiert auf dem Kommentar von Jakob Kroeker: Jeremia, Der Prophet tiefster Innerlichkeit und schwerster Seelenkonflikte, Das lebendige Wort, Band 8, Gießen und Basel, 1937, S. 139ff

Die wichtigste Stunde ist immer die Gegenwart

Predigt über Hebräer 13, 8- 9b: Jesus Christus bleibt immer derselbe

Altjahrsabend, 31.12.2019

Hebräer 13, 8- 9b

8Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit. 9Lasst euch nicht durch mancherlei und fremde Lehren umtreiben, denn es ist ein köstlich Ding, dass das Herz fest werde, welches geschieht durch Gnade.

Liebe Gemeinde.

„Schon wieder ist ein Jahr vergangen“, das stellen wir mit Staunen und einem leichten Entsetzen fest. Dieses Mal ist es sogar ein ganzes Jahrzehnt, das wir rückblickend betrachten, denn dazu bietet die runde Jahreszahl sich an, die wir ab morgen schreiben. Wo bleibt bloß die Zeit? Das fragen wir uns.

Es kommt uns oft so vor, als ob sie rast. Und das macht uns Angst, denn wir wissen, was vergangen ist, kommt nie wieder, die Zeit lässt sich nicht aufhalten, unerbittlich geht sie weiter. An einer Sanduhr können wir das besonders gut erkennen: Der Sand rinnt durch die kleine Öffnung zwischen den beiden Behältern und zeigt uns an, wie die Minuten und Stunden verstreichen. Und genauso verrinnt auch unser Leben. Irgendwann ist es ganz zu Ende.

Deshalb empfinden wir das Dahinschwinden der Zeit wohl auch umso intensiver, je älter wir werden. Der Zeitraum, der noch bleibt, wird immer kürzer und überschaubarer. Und das versetzt uns in Unruhe. Wir fühlen uns auch hilflos gegenüber dieser Tatsache, denn wir können nichts dagegen machen.

Deshalb tut so ein Satz gut, wie der, den wir eben gehört haben: „Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit.“ Das ist eine liturgische Formel aus der Ostertradition, die der Schreiber am Ende seines Briefes in die Ermahnungen einfügt. Es ist ein Bekenntnis, das auf die Unveränderlichkeit Jesu hinweist, denn er ist Gott gleich. Und das klingt sehr beruhigend: Es gibt Einen, der nicht der Zeit unterworfen ist. In Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist er derselbe, bis in alle Ewigkeit. Er steht also über der Zeit, und wir können uns an ihm festhalten. Es gibt noch eine andere, viel größere als die zeitliche Dimension, das ist hier die Botschaft. Es ist die göttliche Wirklichkeit, die Jesus für uns geöffnet hat. Und es ist gut und wohltuend, sich darauf zu besinnen. „Unser Herz wird fest“, wie es in unserem Predigttext weiter heißt. Und dazu werden wir hier ausdrücklich eingeladen oder sogar ermahnt.

Wir wissen nicht genau, wer den Hebräerbrief geschrieben hat, der Autor hat seinen Namen nicht genannt. Aber es ist klar, was er beabsichtigt: Sein Brief ist wie eine Predigt, und er wurde sicher im Gottesdienst vorgelesen. Die meisten Adressaten hörten seine Botschaft also. Und er hat wahrscheinlich eine Gemeinde vor sich, die irgendwie frustriert war. Die erste Begeisterung für Jesus war verflogen, sie wussten gar nicht mehr so genau, was der christliche Glaube überhaupt bedeutete. Sie waren desorientiert und auch etwas gleichgültig geworden. Der Brief enthält deshalb das leidenschaftliche Zeugnis für den erhöhten Herrn. Es wird theologisch sehr gründlich dargelegt. Die Hörer bzw. Leser sollten die Christustat Gottes wirklich verstehen, damit sie neu glauben und hoffen konnten. Die Gemeinde sollte zu neuer Gewissheit und Ausdauer geführt werden, damit ihre Mitglieder sich wieder entschieden und klar zu Christus bekennen konnten.

Deshalb werden sie vor anderen „schillernden und fremdartigen Lehren“ gewarnt. Die gab es wahrscheinlich in der Gemeinde und in ihrer Umgebung. Es war z.B. die jüdische Gesetzeslehre, griechische Philosophie, heidnische Zauberei und vieles mehr. Obendrein war es sowieso gefährlich, Christ zu sein, weil man mit Verfolgung von Seiten der staatlichen Behörden rechnen musste. Die fremden Lehrmeinungen waren also verlockend. Das wusste der Verfasser des Hebräerbriefes und deshalb ermahnte er seine Gemeinde, ihnen gerade nicht zu folgen. Seine Leser oder Hörer sollten vielmehr einen festen Standpunkt beziehen und Christus treu bleiben.

Und es ist gut, wenn auch wir uns diese Ermahnung zu Herzen nehmen. Unsere Situation und unsere Lebenswelt sind heutzutage zwar anders, aber ein „festes Herz“ zu haben, kann auf keinen Fall schaden. Es ist so etwas wie ein Gegengewicht zu dem Gefühl der verrinnenden Zeit. Es ist ein Herz ohne Angst und Unruhe, ohne Verwirrung und Unsicherheit. Lasst uns also fragen, wie wir es erlangen können.

Und dazu ist es gut, wenn wir uns klar machen, welchen „verlockenden“ Lehren wir so folgen. Das sind natürlich nicht mehr die Gesetzeslehrer oder Sophistiker, aber unser Lebensgefühl ist trotzdem nicht unbedingt von dem bestimmt, „der gestern, heute und in Ewigkeit derselbe ist.“ Dieses Bekenntnis zu Christus spielt in unserem Denken keine so große Rolle, denn wir sind nicht in der Ewigkeit verankert, sondern in der Zeit. Wenn wir uns einmal fragen, was uns ausfüllt, dann ist es doch immer entweder die Vergangenheit oder die Zukunft. Das hängt wahrscheinlich von unserem Lebensalter ab. Als junger Mensch denkt man mehr an das, was vor einem liegt, im Alter spielt die Vergangenheit eine größere Rolle.

Ich habe gerade im Familienkreis einen Jungen getroffen, von dem ich nicht genau wusste, wie alt er ist, und so fragte ich ihn danach. Er ist zehn, und ich kommentierte die Antwort mit einem anerkennenden Glückwunsch, dann hätte er ja nun seinen ersten runden Geburtstag gefeiert. Er guckte mich etwas verständnislos an, und ich erklärte ihm, was runde Geburtstage sind, und dass sie das Leben in große Abschnitte einteilen. Je älter man wird, umso mehr fürchtet man sie. Er selber war davon natürlich weit entfernt, denn als Kind erlebt man das nicht, da möchte man gern älter werden. Als Jugendlicher will man dann bestimmte Ziele erreichen, hat familiäre und persönliche Pläne. Wir sind in dieser Lebensphase mit unseren Gedanken meistens schon einen Schritt weiter als das, was jetzt gerade passiert.

Wenn wir älter werden, ändert sich das wie gesagt. Dann denken wir mehr und mehr an das, was bereits war, was wir erreicht oder auch verloren haben. was uns geprägt hat, was schön und was schrecklich war. In jedem Fall aber ist unser Lebensgefühl von der Zeit bestimmt.

Gewinnen wir dadurch allerdings ein „festes Herz“? Wir müssen doch zugeben, dass weder das Denken an die Zukunft noch an die Vergangenheit uns glücklich oder zufrieden macht. Im Gegenteil, die Vergangenheit versetzt uns oft in Wehmut oder sogar Traurigkeit. Die Erinnerungen zerren manchmal an uns. Wir sehnen uns zurück, früher war alles besser, denken wir.

Und genauso ist es mit der Zukunft, die ist zieht ebenfalls an unseren Gefühlen. Wir malen sie uns aus, wir denken daran, wir wünschen und wollen bestimmte Dinge, und das ist manchmal anstrengend und geht mit Sorgen einher. Denn wir wissen nicht, ob unsere Wünsche wahr werden. Wir gehen zwar davon aus, dass das meiste machbar ist, aber das ist nicht sicher, und das wissen wir im Grunde genommen auch.

Wenn wir wirklich glücklich und ruhig und innerlich fest werden wollen, müssen wir also einen anderen Weg beschreiten, und genau der wird uns in unserem Textabschnitt vorgeschlagen. Mit der Einladung, an den zu glauben, der „heute, gestern und in Ewigkeit derselbe“ ist, werden wir aufgefordert, uns einmal auf die Gegenwart zu konzentrieren. Denn das Bekenntnis besagt, dass Christus jetzt da ist, in diesem und in jedem Augenblick. Es gilt also, den einmal zu fassen zu bekommen. Ein Jahreswechsel bietet sich gut für diese Übung an, denn da denken wir besonders an Zurückliegendes und Zukünftiges. Dazwischen aber, heute Abend z.B. können wir die Zeit in unserem Geist einmal anhalten, eine Pause einlegen, still werden und schweigen.

In unserem Alltag geht das auch, immer dann, wenn es uns gerade einfällt, zwischendurch, auf der Straße, bei der Hausarbeit oder beim Spazieren gehen. Es gibt unzählige Momente, die wir einfach einmal als Momente auch erleben können. Wir müssen das nur tun, aufmerksam sein, inne halten und uns besinnen. Das wäre ein erster Schritt, der zu einem „festen Herzen“ führt.

Aber es gehört noch mehr dazu. Zu dem Anhalten muss ein „Ja“ kommen. Das hat ebenfalls Seltenheitswert in unseren Gedanken. Irgendetwas sollte doch am liebsten immer anders sein. Wir wünschen uns mehr Geld, mehr Gesundheit, weniger Stress, nettere Mitmenschen, mehr Aufmerksamkeit usw. Wir sind nur selten zufrieden, weil unser Leben immer so vieles zu wünschen übrig lässt. Doch anstatt daran etwas ändern zu wollen, traurig darüber zu sein und sich zu beklagen, wäre es gut, wenn wir es annehmen und bejahen. Wir müssen und können nicht alles selber machen, das gilt es einzusehen. Dazu gehören Geduld und Leidensfähigkeit, und es ist heilsam, wenn wir uns darin üben. Denn das macht uns offen und empfangsbereit, und unversehens kann etwas Neues beginnen.

Ich habe dazu ein schönes Gedicht von der Dichterin und Schriftstellerin Eva Strittmatter gefunden. Es lautet:

„Mein Leben setzt sich zusammen: ein Tag wie dieser. Ein anderer Tag. Glut und Asche und Flammen. Nichts gibt es, was ich beklag.

Früher habe ich so gefühlt: irgendetwas Großes wird sein. Inzwischen bin ich abgekühlt: Es geht auch klein bei klein.

Was soll schon Großes kommen? Man steht auf, man legt sich hin. Auseinandergenommen, verlieren die Dinge den Sinn.

Doch manchmal sind solche Stunden von Freiheit vermischt mit Wind. Da bin ich ungebunden und möglich wie als Kind.

Und alles ist noch innen in mir und unverletzt. Und ich fühle: gleich wird es beginnen. Das Wunder kommt hier und jetzt.

Was es sein soll? Ich kann es nicht sagen. Und ich weiß auch: das gibt es gar nicht. Aber plötzlich ist hinter den Tagen noch Zukunft ohne Pflicht.

Und frei von Furcht und Hoffen, und also frei von Zeit. Und alle Wege sind offen. Und alle Wege gehen weit.

Und alles kann ich noch werden, was ich nicht geworden bin. Und zwischen Himmel und Erde ist wieder Anbeginn.“

(in : Eva Strittmatter, Sämtliche Gedichte, Berlin 2006)

Damit so ein „Anbeginn“ allerdings gelingt, ist noch ein dritter Schritt hilfreich und wichtig: Und zwar ist es gut, wenn wir uns dem anvertrauen, der in allem Wandel derselbe bleibt, der „groß“ ist und uns „Sinn“ schenkt, der „Wunder“ bewirken kann und uns „frei“ macht. Er „öffnet alle Wege vor uns“ und schenkt uns „Weite“: Es ist Jesus Christus, der „hier und jetzt“ da ist, wir können also jederzeit zu ihm aufblicken und zu ihm beten. Denn er geht mit uns, auch wenn wir ihn nicht sehen. Oft ist unser Blick nur verhangen. Wir können ihn aber immer um seinen Segen bitten und unser Leben in seine Hand legen. Und die Momente, in denen wir das tun, können mehr werden, sie können sich aneinander reihen und unser Lebensgefühl verändern. Die Gnade ergreift unser Herz und erfüllt uns irgendwann ganz. Wir werden ruhig und froh, und die Vergänglichkeit stört uns nicht mehr.

Es gibt dazu noch viele weitere Zeugnisse in unserer geistlichen Tradition. Wenn wir unser Gesangbuch danach durchsuchen, so finden wir z.B. auch dort eine ganze Reihe von Dichterinnen. Dabei fällt auf, dass keine von ihnen ein einfaches Leben hatte, im Gegenteil, alle hatten sogar enge Erfahrungen mit dem Tod gemacht. So war es auch bei Marie Schmalenbach.

Sie lebte von 1835 bis 1924 in Ostwestfalen, war die Tochter eines Pfarrers und hatte insgesamt zehn Geschwister. Sieben davon starben allerdings sehr früh. Sie hat also schon in ihrer Kindheit erfahren, wie vergänglich das Leben ist. Als Ehefrau und Mutter erlebte sie das dann wieder, denn auch sie verlor eins ihrer fünf Kinder durch den Tod. Und obwohl das vor 150 Jahren keine Ausnahme war – die Kindersterblichkeit war ja viel höher als heutzutage – hat sie das sicher traurig gemacht. Sie musste das verarbeiten, und dabei half ihr der Glaube an die Ewigkeit. Das bezeugt ihr Lied: „Brich herein, süßer Schein selger Ewigkeit. Leucht in unser armes Leben, unsern Füßen Kraft zu geben, unsrer Seele Freud, unsrer Seele Freud.“ (EG, Ausgabe für Niedersachsen und Bremen, 643)

Amen.