Auf dass die Schrift erfüllt würde

Predigt über Matthäus 2, 13- 18: Die Flucht nach Ägypten und der Kindermord des Herodes

1. Sonntag nach Weihnachten, 30.12.2018, 9.30 und 11 Uhr, Luther- und Jakobikirche Kiel

Liebe Gemeinde.

Sind Weihnachten einige eurer Wünsche in Erfüllung gegangen? Dann habt ihr euch sicher gefreut, denn das ist grundsätzlich ein schönes Erlebnis, nicht nur, wenn es um materielle Geschenke geht. Wir freuen uns wahrscheinlich noch viel mehr, wenn wir z.B. verliebt sind, und sich herausstellt, dass das auf Gegenseitigkeit beruht. Wer schon immer mal eine bestimmte Reise machen wollte und sich diesen Wunsch irgendwann endlich erfüllt, ist ebenso glücklich. Auch die Heilung von einer schlimmen Krankheit gehört zu solchen Erlebnissen, und vieles mehr. Wir alle kennen das Warten, das dazu gehört, die Hoffnung, die sich damit verbindet, und die Freude, wenn sie in Erfüllung geht.

Den ersten Christen erging es ähnlich, denn sie glaubten, dass Jesus der verheißene Messias war. Es waren Juden, und so war ihr Lebensgefühl vom Warten auf den göttlichen Retter bestimmt. Für diejenigen, die sich zu Christus bekehrten, war die Schrift nun in Erfüllung gegangen, davon waren sie überzeugt. Und das versuchten sie zu beweisen. In den Evangelien wird seine Geschichte so erzählt, dass daran kein Zweifel bleiben soll.

Besonders Matthäus legt Wert auf dieses Bekenntnis. Sein Evangelium ist mehr als die anderen von sogenannten „Reflexionszitaten“ durchzogen. Das sind Stellen aus dem Alten Testament, die am Ende einer Erzählung über Jesus stehen und belegen, dass die Begebenheit mit den Verheißungen in der Bibel übereinstimmt. Sie reflektieren die Erfüllung des Alten Testamentes in Jesu Leben und beleuchten seine Geschichte von der Schrift her. Gerade am Anfang des Matthäusevangeliums finden wir mehrere solcher Zitate, so auch in dem Abschnitt aus der Kindheit Jesu, der heute unser Predigttext ist. Er steht im zweiten Kapitel, Vers 13 bis 18, und lautet folgendermaßen:

Matthäus 2, 13- 18

13 Als sie aber hinweggezogen waren, siehe, da erschien der Engel des Herrn dem Josef im Traum und sprach: Steh auf, nimm das Kindlein und seine Mutter mit dir und flieh nach Ägypten und bleib dort, bis ich dir’s sage; denn Herodes hat vor, das Kindlein zu suchen, um es umzubringen.
14 Da stand er auf und nahm das Kindlein und seine Mutter mit sich bei Nacht und entwich nach Ägypten
15 und blieb dort bis nach dem Tod des Herodes, damit erfüllt würde, was der Herr durch den Propheten gesagt hat, der da spricht (Hosea 11,1): »Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen.«
16 Als Herodes nun sah, dass er von den Weisen betrogen war, wurde er sehr zornig und schickte aus und ließ alle Kinder in Bethlehem töten und in der ganzen Gegend, die zweijährig und darunter waren, nach der Zeit, die er von den Weisen genau erkundet hatte.
17 Da wurde erfüllt, was gesagt ist durch den Propheten Jeremia, der da spricht (Jeremia 31,15):
18 »In Rama hat man ein Geschrei gehört, viel Weinen und Wehklagen; Rahel beweinte ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen, denn es war aus mit ihnen.«

Das sind zwei Kurzerzählungen, die für den Evangelisten wichtige Ereignisse mitteilen. Sie ergaben sich im Anschluss an den Besuch der drei Sterndeuter, den „Weisen aus dem Morgenland“ im Stall in Bethlehem (Matthäus 2, 1-12), und es sind schmerzliche Episoden. Die Vorgänge belasten den „neugeborenen König der Juden“. So hatten die drei Weisen Jesus genannt. Zuerst muss er nach Ägypten fliehen, und im Anschluss daran werden alle gleichaltrigen Knaben in Bethlehem getötet. Das sind brutale Vorkommnisse. Ob sie wirklich so geschehen sind, wissen wir nicht, aber um Historizität geht es dem Evangelisten auch gar nicht. Er greift vielmehr auf vorgegebene Überlieferungen zurück. Hier war es Matthäus wahrscheinlich wichtig, zwischen Jesus und Mose eine Parallele herzustellen. Im Leben von Mose ereigneten sich nämlich ähnliche Dinge: Kurz nachdem er geboren war, gab es einen massenhaften Kindermord (2. Mose 1,15-22), und auch er war später nach Ägypten geflohen (2. Mose 11-15). So entspricht das Schicksal Jesu der wunderbaren Rettung des Mose und des Volkes Israel aus Ägypten. Die Geschichten über seine Flucht und der Bewahrung vor dem Tod als kleines Kind sind demnach so etwas wie Meditationen über die Heilsgeschichte Gottes mit den Menschen, und sie sollen offenbaren, dass Jesus von Nazareth der verheißene Messias ist.

Viele Menschen hat das damals auch überzeugt, nicht nur durch diese Geschichte, sondern durch viele weitere Episoden, die belegen, dass Gott seine Ankündigungen wahr gemacht hat. Der Glaube an Jesus als dem Retter der Menschheit hat sich ausgebreitet und wurde im Laufe der Jahrhunderte zu einer Weltreligion. Es gibt heutzutage überall Kirchen und christliche Gemeinschaften, auch wir gehören dazu. Wir glauben, dass Jesus der Sohn Gottes ist.

Doch liegt das an den sogenannten Schriftbeweisen in den Evangelien? Die sehen wir wahrscheinlich eher kritisch, eben weil wir wissen, dass sie nachträglich angeführt wurden. Und die Geschichte, die wir heute bedenken, den Kindermord in Bethlehem, löst möglicherweise sogar genau das Gegenteil aus: Sie lässt uns am Glauben zweifeln. Wie konnte Gott das zulassen? Und warum musste ausgerechnet so etwas Schreckliches geschehen, damit Jesus seinen ihm vorgezeichneten Weg gehen konnte? Das empört und verstört uns, es wirkt makaber und zynisch.

Die Frage nach dem Grund für das Böse stellen wir ja sowieso oft. Warum gibt es das? Wenn Menschen es erleben oder davon hören, verlieren sie eher ihren Glauben, als dass es ihnen hilft, Gott zu verstehen. Sie machen ihm Vorwürfe, werden wütend und klagen ihn an. Er soll sich rechtfertigen.

Doch das tut er nicht, und eine einfache Antwort auf diese Frage gibt es auch nicht. Sie steht als großes Menschheitsrätsel im Raum und wird letzten Endes auch offen bleiben. Trotzdem gibt es verschiedene Möglichkeiten, damit umzugehen, und dazu enthält unsere Geschichte ein paar Hinweise. Wir müssen sie nur genau lesen. Auch ist es wichtig, sie in den Zusammenhang des ganzen Evangeliums einzuordnen. Und schließlich können wir fragen, wie wir das dann auf unser Leben und seine Rätsel anwenden können. Lasst uns diese drei Gedankengänge einmal vollziehen. Wenn wir wollen, können sie uns besänftigen und unsere Empörung abbauen.

Zunächst einmal geht es um Genauigkeit, um ein sorgfältiges Lesen der Geschichten, und dabei entdecken wir, dass der Evangelist den Schriftbeweis für das Bethlehem-Massaker in bemerkenswerter Weise einleitet. Er sagt nämlich bewusst nicht „auf dass erfüllt würde“ (V.15), wie er es sonst tut, sondern: „da wurde erfüllt“ (V. 17). Er war also nicht das Ziel des göttlichen Planens. Menschen haben das verursacht, das Böse geschah – wie so oft – durch Machtgier und Eifersucht, Zorn und Raserei. Gott hat das nicht gewollt oder verursacht, er hat es nur vorhergesehen, weil er die Menschen kennt. Er hat seinen Plan nicht durch die Brutalität verwirklicht, sondern trotz dieser Grausamkeit. Sie begleitete den Weg Jesu von Anfang an, das soll hier gesagt werden. Schon zu Beginn seines Lebens lag ein Schatten über ihm. Es blieb dann ja auch so, dass er nicht den Weg besonderer menschlicher Größe gegangen ist. Sein Leben war – mit weltlichen Maßstäben gemessen – nicht erfolgreich oder befriedigend und schon gar nicht triumphierend. Er war vielmehr von Anfang ein Leidender und Sterbender. Und das war nicht zufällig so, sondern genau darin lag der Wille Gottes.

Und daraus ergibt sich der zweite Gedanke, der uns helfen kann, die Geschehnisse am Anfang des Lebens Jesu, wie Matthäus sie erzählt, und auch andere schlimme Vorkommnisse in der Welt, einzuordnen: Gott hat durch die Geburt seines Sohnes nicht die Menschen geändert. Er hat das Böse nicht ausgerottet oder vernichtet, sondern er hat es auf sich genommen. Er ist selber tief in das Elend der menschlichen Wirklichkeit eingetaucht, hat die Ungerechtigkeit und Grausamkeit, zu denen Menschen fähig sind, ertragen und durchlitten. Sein Sieg geschah nicht durch sein Kommen, sondern erst durch sein Sterben und Auferstehen. Das war von Anfang an das Ziel. So haben es die Evangelisten deshalb dargestellt: Der Anfang war klein und schwach, und erst durch das Ende ergibt sich ein Gesamtbild. Ostern ist die Christenheit entstanden, durch das Fest der Auferstehung. Denn da wurde der Tod besiegt, da hat die Macht Gottes über das Böse triumphiert, und der Himmel hat sich geöffnet. Die ältesten Sätze des Glaubensbekenntnisses enthalten dieses Ereignis. Auch in der Predigt von Paulus standen das Kreuz und die Auferstehung Jesu im Mittelpunkt. Er lud zum Glauben an die erlösende Kraft dieses Geschehens ein.

Und damit sind wir bei dem dritten Gedanken, der hier wichtig ist: Wir verstehen das Evangelium nur, wenn wir an Jesus glauben, ihm vertrauen und nachfolgen. Es hilft uns nicht, wenn wir mit unserem Verstand versuchen, sein Geheimnis zu ergründen, und angeblich kluge Fragen stellen. Denn seine Geschichte und seine Sendung übersteigen unser Denken. Es ist deshalb sogar gut, wenn wir unser Denken einmal ruhen lassen mitsamt der Frage nach dem Grund für das Leiden. Es ist hilfreicher, wenn wir sie aushalten und unbeantwortet stehen lassen. Dazu müssen wir uns natürlich entscheiden. Es liegt an uns, ob wir verbittern oder loslassen wollen, uns verhärten oder vertrauen. Die Evangelien laden uns zu dem zweiten ein, zum Stillhalten und zum Glauben.

Es gibt dazu eine schöne kleine Geschichte von dem deutsch jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber. Er lebte im vorigen Jahrhundert, zuerst in Wien und dann in Jerusalem, und er hat Jesus immer als gerechten jüdischen Lehrer der Tora anerkannt. Er würdigte es, dass Jesus viele Menschen aus den Völkern zum Glauben an Israels Gott gebracht hat. Die Frage, ob er gleichzeitig der Messias war, ließ Buber allerdings bewusst unbeantwortet. Gegenüber Christen soll er einmal augenzwinkernd vorgeschlagen haben:

„Wir warten alle auf den Messias. Sie glauben, er ist bereits gekommen, ist wieder gegangen und wird einst wiederkommen. Ich glaube, dass er bisher noch nicht gekommen ist, aber dass er irgendwann kommen wird. Deshalb mache ich Ihnen einen Vorschlag: Lassen Sie uns gemeinsam warten. Wenn er dann kommen wird, fragen wir ihn einfach: Warst du schon einmal hier? Und dann hoffe ich, ganz nahe bei ihm zu stehen, um ihm ins Ohr zu flüstern: ,Antworte nicht‘.“ (zitiert nach Reinhold Boschki, Dagmar Mensink (Hrsg.): Kultur allein ist nicht genug. Das Werk von Elie Wiesel – Herausforderung für Religion und Gesellschaft, Münster 1998, S. 39; Quellenangabe bei https://de.wikipedia.org/wiki/Messias)

Es darf also ruhig sein Geheimnis bleiben. Und das ist ein sehr schöner Gedanke, denn die Enthüllung von Geheimnissen bleibt im Verborgenen, da, wo wir mit Gott allein sind und unseren Geist und unsere Seele für seine Gegenwart öffnen. Wenn wir das tun, können wir erfahren, dass es noch viel mehr gibt zwischen Himmel und Erde, als wir ahnen. Dem Glauben erschließt sich eine unaussprechliche und wunderbare Wirklichkeit, und die ist erfüllend und heilend.

So erging es den beiden alten Menschen, von denen wir in der Lesung des Evangeliums gehört haben. Lukas erzählt uns von ihnen. (Lukas 12,25-38) Seine Kindheitsgeschichte ist eine ganz andere als die von Matthäus. Laut ihm wird Jesus sieben Tage nach seiner Geburt zur Beschneidung in den Tempel gebracht, wie es im Gesetz des Moses vorgeschrieben war. Und da traf das Kind Jesus einen alten Mann, Simeon, der sein Leben lang auf den Messias gewartet hatte. Der ging fest davon aus, dass er ihn sehen würde, bevor er starb. Als er nun den Eltern von Jesus begegnete, wusste er sofort: Das ist er. So nahm er das Kind auf seine Arme und sang: „Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast; denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen, den du bereitet hast vor allen Völkern, ein Licht, zu erleuchten die Heiden und zum Preis deines Volkes Israel.“

Für Simeon war ein Traum in Erfüllung gegangen. Die langgehegte Hoffnung fand ihr Ziel, er war überglücklich und konnte sich nun ruhig und gelassen auf seinen Tod einstellen. Und so kann es auch uns gehen. Wenn wir Jesus im Geist umfangen und ihn mit unserer Seele umarmen. Unsere Fragen kommen zur Ruhe und wir können wie Martin Luther singen: „Was kann euch tun die Sünd und Tod? Ihr habt mit euch den wahren Gott; lasst zürnen Teufel und die Höll, Gotts Sohn ist worden eu’r Gesell.“ (EG 25,4)

Amen.

 

Das Licht in der Finsternis

Predigt über Jesaja 9, 1- 6: Der Friedefürst wird verheißen

Heiligabend, 24.12.2018, 17 und 23 Uhr, Jakobi- und Lutherkirche Kiel

Jesaja 9, 1- 6

1 Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell.
2 Du weckst lauten Jubel, du machst groß die Freude. Vor dir wird man sich freuen, wie man sich freut in der Ernte, wie man fröhlich ist, wenn man Beute austeilt.
3 Denn du hast ihr drückendes Joch, die Jochstange auf ihrer Schulter und den Stecken ihres Treibers zerbrochen wie am Tage Midians.
4 Denn jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht, und jeder Mantel, durch Blut geschleift, wird verbrannt und vom Feuer verzehrt.
5 Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter; und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst;
6 auf dass seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende auf dem Thron Davids und in seinem Königreich, dass er’s stärke und stütze durch Recht und Gerechtigkeit von nun an bis in Ewigkeit. Solches wird tun der Eifer des HERRN Zebaoth.

 Liebe Gemeinde.

Besitzen Sie eine Lichtdusche? Vielleicht haben Sie heute ja eine geschenkt bekommen. Es ist eine Lampe, die das Sonnenlicht simuliert. Mit einer Stärke von 2500 bis 10000 Lux entspricht sie dem natürlichen Tageslicht, und es ist notwendig, sich dem täglich auszusetzen, gerade jetzt, in der dunklen Jahreszeit. Denn es ist erwiesen, dass sich das Licht auf den Körper und die Seele auswirkt. Man nennt das „Lichttherapie“. Dabei wird die Bestrahlung mit hellem Licht genutzt, um psychische Erkrankungen zu heilen, insbesondere die winterliche Depression. Schon eine halbe Stunde Aufenthalt im Wirkungskreis einer Lichtdusche kann für eine deutliche Verbesserung der Symptome sorgen, sagen die Anbieter. Das Licht vertreibt die Dunkelheit, es weckt Freude und neue Energie.

Deshalb ist es auch ein Symbol für Jesus Christus, von dem wir glauben, dass er der Sohn Gottes ist, und damit der wahre Lebensspender. Jesus sagt selber: „Ich bin das Licht der Welt.“ (Johannes 8, 12)  Und im Alten Testament gibt es diese Symbolik ebenfalls, wie z.B. in der Verheißung des Propheten Jesaja, die wir vorhin gehört haben. Da wird ein großes Licht angekündigt, das von Gott kommt, und alle Finsternis vertreibt. Die Botschaft beginnt mit den Worten: „Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell.“ Das ist eine sehr schöne Prophezeiung, und die Christen haben sie von Anfang an auf Jesus Christus übertragen. Für uns ist sie durch seine Geburt in Erfüllung gegangen.

Aber was heißt das nun, und ist das berechtigt? Scheint das göttliche Licht in Jesus Christus wirklich auf? Diese Fragen haben wir, denn offensichtlich ist das nicht. Lassen Sie uns deshalb darüber nachdenken, und uns zunächst klar machen, was der Prophet Jesaja selber mit seiner Verheißung meinte.

Er ist einer der großen alttestamentlichen Schriftpropheten und wirkte in einer Zeit, als Juda durch die Großmacht Assyrien bedroht wurde. Das Volk hatte also Angst und verlor langsam die Hoffnung, das ist der Hintergrund. Jesaja wollte den Menschen Mut machen. Deshalb verkündete er eine gewaltige Wende, und versprach den Israeliten im Namen Gottes einen universalen Frieden, Gerechtigkeit und Heil. Er verhieß ihnen den zukünftigen Messias: Der wird ein gerechter Richter und Retter der Armen sein, so lautet seine Botschaft.

Dabei ist der Abschnitt, den wir gehört haben, so etwas wie ein Auftragsgedicht für seine Thronbesteigungsfeier. Jesaja erinnert darin unter anderem an einen Tag in der Vergangenheit des Volkes, an dem die Israeliten mit Gottes Kraft einen herrlichen Sieg über ihre Feinde errungen hatten, mit nur ganz geringer menschlicher Macht. So etwas wird wieder geschehen, sagt Jesaja. Denn Gott wird ihnen einen Retter „geben“, wie es heißt. Dahinter steht die Vorstellung, dass ein König von der Gottheit gezeugt wurde. Und er erhält besondere Namen, auch das gehörte zu einer Thronbesteigungsfeier. Sie lauten: „Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst“.

Zum Schluss sagt der Prophet: „Auf dass seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende auf dem Thron Davids und in seinem Königreich, dass er’s stärke und stütze durch Recht und Gerechtigkeit von nun an bis in Ewigkeit. Solches wird tun der Eifer des HERRN Zebaoth.“

Das ist die Verheißung Jesajas, und die haben die Christen wie gesagt auf Jesus bezogen. Sie sehen in ihm diesen Retter, der die Finsternis vertreibt und eine ewige Herrschaft des Friedens aufrichtet.

Aber tun sie das eigentlich zu Recht, das hatten wir gefragt. Und was bedeutet das? Wo und wann erleben wir davon denn etwas? Die Welt hat sich in den letzten 2000 Jahren, seit Christus erschienen ist, doch so gut wie gar nicht geändert! Es gibt keinen Frieden und keine Gerechtigkeit, und schon gar keine Wunder. Was soll das also, dass wir so etwas alles in Jesus sehen? Er scheint machtlos zu sein, sein Licht leuchtet gar nicht. Das denken viele, und deshalb helfen sie sich lieber selber.

Wenn wir in die Welt schauen und auf unsere Erfahrungen vertrauen, ist das auch verständlich, denn es gibt viel Dunkelheit, die niemand vertreibt. Wir hören von Kriegen und Katastrophen, Menschen hungern und leiden, sie werden ausgebeutet, gefoltert und ermordet. Das war schon immer so und ist heutzutage nicht anders. Wir wissen, dass es sogar in unserem Land viel Ungerechtigkeit und Armut gibt. Davor dürfen wir nicht die Augen verschließen. Ebenso wichtig ist es, dass wir tun, was wir können, damit all das aufhört. Die Vision des Propheten bzw. die Weihnachtsbotschaft entlassen uns nicht aus unserer Verantwortung für die Welt, geschweige denn, dass sie uns zum Nichtstun einladen.

Das Ziel ist ein ganz anderes, und um das zu verstehen, ist es gut, wenn wir zunächst in unser persönliches Leben schauen und sie darauf anwenden. Da gibt es ja auch viel Leid und Dunkelheit. Oft sind wir selber schwach und traurig, nicht nur durch diese kalte und trübe Jahreszeit. Vielleicht ist kürzlich in Ihrer Familie etwas geschehen, das das Leben verdüstert hat: Eine Trennung, ein Unfall, ein Jobverlust, eine Krankheit. Das Gefühl der Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit dominiert dann, Enttäuschung, Angst und Zweifel.

Doch auch wenn hoffentlich zurzeit alles ruhig ist, kennen wir diese Gefühle alle. Kein Leben ist frei von Leid, es gehört dazu. Das müssen wir zugeben und uns eingestehen, denn darauf bezieht sich die Verheißung der Bibel. Der Prophet spricht in eine Zeit der Mutlosigkeit und Niedergeschlagenheit hinein, und er lädt uns zu einem ganz bestimmten Umgang damit ein.

Normalerweise helfen wir uns ja irgendwie selber, wenn es uns schlecht geht. Wir suchen Rat bei anderen Menschen, strengen uns an oder lenken uns ab. Auch eine Lichttherapie oder andere medizinische und psychologische Maßnahmen können die Dunkelheit vertreiben. Aber reicht das? Und ist der Effekt von Dauer? Oft bleiben unsere Versuche, uns selber zu retten, unzureichend. Es gelingt uns nicht richtig, denn viele Nöte lassen sich gar nicht therapieren.

Und das liegt nicht an den falschen Maßnahmen, sondern daran, dass die Ursachen viel weitreichender sind, als wir ahnen. Sie hängen damit zusammen, dass wir letzten Endes alle dem Tod und der Sünde verfallen sind. Das Leben ist vergänglich, und niemand bleibt im Laufe seines Lebens frei von Schuld. Die Dunkelheit ist eine Tatsache, die wir nicht vertreiben können. Sie gehört zu der Wirklichkeit unseres Daseins, und das lässt sich auch nicht ändern, wir müssen das aushalten. Und genau das ist der erste Schritt, der sich aus der biblischen Verheißung ergibt: Uns wird nahe gelegt, nicht mehr aus eigener Kraft gegen das Leid anzukämpfen, sondern es anzunehmen, d.h. still zu werden und erst einmal auszuharren.

Wir können das, weil es ein viel größeres Licht gibt, als wir ahnen: Es kommt von Gott, denn sein Jesus Christus ist in dieser Welt erschienen, und wir sind eingeladen, uns seinem Licht auszusetzen. Das ist der zweite Schritt. Wir müssen nur zu ihm gehen, uns ihm öffnen und ihn in unser Leben hineinlassen. Ohne an ihn zu glauben, entdecken wir ihn nicht. Wenn wir ihm aber vertrauen, kann er in uns und an uns wirken. Und das geht viel tiefer als jede Therapie. Denn sein Licht scheint uns nicht nur an, wie eine Lichtdusche das tut, es umfängt uns ganz, es ergreift den Geist und die Seele. Wir werden mit allem, was uns belastet, aufgefangen, mit Licht umhüllt und durchflutet. Uns wird eine tiefe Ruhe geschenkt, unsere Seele wird friedlich.

Das machen die Namen deutlich, die ihm von dem Propheten gegeben sind. Sie enthalten die Wörter „wunderbar“, „göttlich.“ und „ewig“. Das besagt, dass Jesus Geheimnisse enthüllen kann, die nicht mit der Vernunft zu fassen sind. Er ist größer als die Welt und hat ungeahnte Möglichkeiten. Er kann das Böse überwinden und uns innerlich stark machen. Er beschützt und trägt, er rettet und befreit. Und er bleibt immer da. Seine Gegenwart wird bis in eine unbegrenzte Zukunft hinein weitergehen.

All das können wir erfahren, wenn wir uns Christus zuwenden. Seine Macht zieht dann in unser Leben ein, sein Licht leuchtet auf und verändert alles. Jesus hat nicht mit Gewalt in diese Welt eingegriffen, aber eine neue, göttliche Wirklichkeit ist durch ihn in diese Welt gekommen, und wir entdecken sie, wenn wir uns darauf einlassen.

Es ist deshalb auch nicht nur unsere Privatsache, wenn wir das Licht Christi suchen und finden. Das ist kein ausschließlich innerlicher oder individualistischer Vorgang. Wenn Christus in ein Leben einzieht und es verändert, scheint das göttliche Licht vielmehr auch in dieser Welt, denn unser Handeln verändert sich dadurch, das, was wir sagen und wie wir mit unseren Mitmenschen umgehen. Wann immer Menschen sich zu Christus bekehren, kommt sein Friede in die Welt und das Böse wird überwunden. Denn die Anderen spüren das große und helle Licht und werden davon angesteckt.

Deshalb lautet sein letzter Name „Friedefürst“, man kann auch sagen „Befehlshaber des Friedens“. D.h. er wacht darüber, dass Frieden in den Menschen ist und passt darauf auf, dass er erhalten bleibt. Er garantiert ihn, d.h. er sorgt für Stabilität und Ruhe, Wohlergehen und Heil.

Die Verheißung des Propheten und die Weihnachtsbotschaft entlassen uns also nicht aus der Verantwortung oder dem Handeln, sondern fordern uns dazu auf, dass Christus in unserem Leben und damit in der Welt vorkommt, dass sein Licht leuchtet und die Menschen es sehen. Wir müssen zwar nicht selber diese Welt verändern, aber wir können zeigen, dass sich etwas verändert hat. Wir können und sollen Zeichen setzen, Hinweise geben und Botschafter des Friedens sein.

Zum Glück tun das auch viele Christen, und wer weiß, vielleicht sähe diese Welt noch viel düsterer aus, wenn es sie nicht gäbe. Heute sind wir alle dazu eingeladen, die Verheißung Gottes anzunehmen, uns auf ihn zu verlassen, das Wunder der Geburt seines Sohnes zu bestaunen und uns von ihm lieben zu lassen.

Das Licht, das wir anzünden, kann dafür ein schönes Symbol sein. Es liegt nahe, dass wir in der Weihnachtszeit Kerzen brennen lassen. Verglichen mit anderen Lichtquellen sind sie zwar nicht besonders hell – eine Kerze hat die Stärke von gerade mal einem Lux – aber sie vertreibt die Dunkelheit im Raum und erzählt uns etwas von dem großen Licht, das Gott zu Weihnachten aufscheinen lässt.

Amen.

Seht auf und erhebt eure Häupter

Predigt über Lukas 21, 25- 28: Das Kommen des Menschensohnes

2. Sonntag im Advent, 9.12.2018, Lutherkirche Kiel

Lukas 21, 25-28

25 Und es werden Zeichen geschehen an Sonne und Mond und Sternen, und auf Erden wird den Völkern bange sein, und sie werden verzagen vor dem Brausen und Wogen des Meeres,
26 und die Menschen werden vergehen vor Furcht und in Erwartung der Dinge, die kommen sollen über die ganze Erde; denn die Kräfte der Himmel werden ins Wanken kommen.
27 Und alsdann werden sie sehen den Menschensohn kommen in einer Wolke mit großer Kraft und Herrlichkeit.
28 Wenn aber dieses anfängt zu geschehen, dann seht auf und erhebt eure Häupter, aweil sich eure Erlösung naht.

Liebe Gemeinde.

Sicher kennt ihr alle die Marienkirche in Lübeck. Ihr Mittelschiff ist 40 Meter hoch, und damit hat sie das höchste gemauerte Backstein-Kirchenschiff der Welt. Sie wurde von 1277 bis 1351 gebaut und ist eine gotische Kathedrale. Sie scheint – wie alle diese Kirchen – dem Himmel zuzustreben. Und das war auch beabsichtigt. Die Baumeister damals wollten die senkrechte Richtung betonen, und das gelang ihnen durch eine neuartige Bauweise. Dazu gehören die gegliederten Säulen, gerippte Gewölbe und fliegende Strebepfeiler. Die Architektur verlor dadurch an Schwere und wirkt geradezu grazil. Die Wände sind durch die lang gestreckten Fenster und Portale wie aufgelöst, und so sind die gotischen Kathedralen auch immer lichtdurchflutet. Dazu trägt noch der sogenannte Obergaden bei. Das ist die obere Wandfläche des Mittelschiffs, die zusätzlich mit Fenstern durchbrochen ist. Dieses Fensterband ermöglicht eine direkte Belichtung des Innenraumes.

Und mit all dem symbolisieren die gotischen Kirchen wie kaum andere die Nähe zu Gott. Sie ziehen den Blick automatisch nach oben und lösen ein Gefühl von Erhabenheit und Schwerelosigkeit aus.

Daran musste ich denken, als ich unseren Predigttext las, denn dort werden wir auch aufgefordert nach oben zu schauen. „Seht auf und erhebt eure Häupter“ heißt es hier. Und die Begründung lautet: weil „sich eure Erlösung naht“, weil der Menschensohn kommt. Es wird also ein himmlisches, endzeitliches Ereignis geben, und Jesus fordert uns auf, uns darauf einzustellen.

Diese Ermahnung gehört zu seiner Endzeitrede. Darin trägt Jesus verschiedene Gedanken und Vorstellungen über das Kommen des Endes vor. Er erwähnt z.B. die baldige Zerstörung des Tempels, die Verfolgung der Gemeinde und das Ende Jerusalems. Außerdem, und damit beginnt unser Text, wird es Veränderungen an Sonne und Mond geben. Weltweite Naturkatastrophen werden eintreten, denen keiner entkommen kann. Sie werden die Menschen in Angst und Schrecken versetzen, denn die Urordnung der Schöpfung wird dabei umgewälzt.

Aber inmitten dieser Weltendramatik, wenn die ganze Erde erbebt und erzittert, wird der Menschensohn am Himmel sichtbar. Und er wird mit großer Macht und Herrlichkeit kommen.

Damit greift Jesus eine fromme jüdische Vorstellung auf. Denn man dachte bei dem Menschensohn an eine himmlische Gestalt, ein Lichtwesen, dem nach diesem letzten Gericht von Gott die Weltherrschaft übertragen werden sollte. Und das hat Jesus für sich in Anspruch genommen. Wenn er vom Menschensohn sprach, dann meinte er immer sich selbst, und zwar als den Auferstandenen, der einst wiederkommt, wenn alle kosmischen Ordnungen zerbrechen.

Und wenn das geschieht, dann sollen die Christen „ihre Häupter erheben“ und zum Himmel „aufsehen“, denn für sie bedeutet es Erlösung.

Jesus selber erwartete all das in Kürze. Noch in seiner Generation würde die Vollendung der Welt erfolgen, davon war er überzeugt. Seine Botschaft lautet deshalb: Verliert euch nicht allzu sehr an diese Welt oder in dieser Welt. Lebt nicht ausschließlich horizontal, sondern beachtet die Vertikale. Alles in dieser Welt wird vergehen, untergehen und zu Ende gehen. Das Eigentliche und Große kommt erst noch, und es kommt bald.

Und das ist auch für uns wichtig, denn wir lieben diese Welt oft mehr, als uns gut tut. Sie ist ja auch „schön und groß“ und bietet uns unendlich viele Möglichkeiten der Freude und des Genusses. Wir suchen und finden in ihr „Liebe und Ehre und Glück“ – wie es Eleonore Reuß im 19. Jahrhundert in einem ihrer Lieder formuliert hat. (Evangelisches Gesangbuch, Ausgabe für die Ev.-Luth. Kirchen in Bayern und Thüringen, Nr. 621) Möglicher Weise hören wir es deshalb auch gar nicht so gern, wenn wir uns davon lösen sollen. Das klingt nach Verzicht und Entsagung und nach einer Geringschätzung der Welt. Es gibt auch solche Christen, die sich alles Mögliche selber verbieten: Sie erlauben kein Tanzen, kein Kartenspiel, kein Alkohol usw. Auch Mönche und Nonnen suggerieren uns mit ihrer Lebensweise, dass es gut, wenn wir die Welt verachten und uns von ihr abwenden. Doch zu diesen Menschen gehören wir nicht und so wollen wir nicht leben. Es passt nicht zu unserer Überzeugung. Auch als Christen genießen wir die Welt mit ruhigem Gewissen, denn für die meisten von uns steht sie nicht in einem Gegensatz zum Reich Gottes.

Doch so ist die Endzeitrede Jesu auch nicht gemeint. Es geht nicht um die Alternative: entweder die Welt und das Diesseits oder Gott und die Ewigkeit. Jesus will uns einfach nur aufwecken und lädt uns ein, nüchtern zu sein. Und das tut uns gut, denn wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, dass die Welt nicht nur Freude macht. Es gibt ganz viel Unvollkommenes und Brüchiges. Kein Leben ist ausschließlich von Glück angefüllt, genau das ist vielmehr sehr flüchtig. Es entgleitet uns immer wieder, und dadurch sind wir oft unzufrieden und unruhig. Wir sehnen uns nach mehr als wir haben. Das kann ein Mehr an Aufmerksamkeit und Zuwendung sein, ein Mehr an Gesundheit und Kraft, ein Mehr an Geld und Abwechslung. Meistens bleibt immer irgendetwas zu wünschen übrig, oft steht das Gefühl des Mangels im Vordergrund.

Jesus lädt uns mit seiner Ermahnung zunächst dazu ein, das zu begreifen, es auszuhalten und anzunehmen. Wir sollen uns selber spüren, nichts verdrängen oder zudecken, uns nichts vormachen und uns nicht täuschen lassen. Das ist alles. Wir sollen keine Asketen werden und die Welt auch nicht verachten, aber wir sollen ihre Grenzen und ihre Unzulänglichkeit erkennen. Es kommt darauf an, dass wir keine falschen Erwartungen an die Welt haben, denn dann werden wir enttäuscht. Wir sind für noch mehr geschaffen, und es kommt auch noch mehr. Das sagt er uns als erstes.

Es geht also um das richtige Maß, um ein Gleichgewicht. Das ist der zweite Gedanke, der hier nahe liegt. Das „Aufsehen und das Haupt erheben“ gehört mit dem Handeln in der Welt zusammen wie das Einatmen und das Ausatmen. Wir brauchen beides, um zu überleben, genauso wie wir das Wachen und das Schlafen brauchen, die Arbeit und die Muße usw. Beides muss in einer gesunden Balance zueinander stehen. Das Problem ist also nicht, dass wir weltlich sind, sondern dass wir das rechte Maß verlieren.

Das ist gerade jetzt in der Adventszeit leider eine Gefahr. Überall gibt es Ablenkung und Zerstreuung. Wir sind auch meistens etwas im Stress in dieser Zeit, denn wir nehmen uns ganz viel vor: Wir müssen Geschenke kaufen oder basteln, Grüße schreiben, auf Adventsfeiern gehen und Besuche machen. Das macht alles Spaß und hilft uns, diese dunkle Jahreszeit besser durchzustehen, aber es ist auch anstrengend. Alles zieht und zerrt an uns, jeder und jede will etwas.

Und das Gefühl entsteht nicht erst durch die vielen Dinge, die uns in dieser Zeit beschäftigen und angeboten werden. Wir leben immer am liebsten genauso, weil es irgendwie am meisten Befriedigung und Erfüllung verspricht. Bildlich gesprochen atmen wir oft nur noch aus und vergessen das Einatmen.

Es bestünde darin, dass wir uns ebenso für Gott Zeit nehmen, die Vertikale einbeziehen und uns regelmäßig von der Ewigkeit anrühren lassen. „Es ist eine Ruhe vorhanden für das arme müde Herz“, so dichtete Eleonore Reuß weiter, und es ist wichtig, dass wir diese Ruhe suchen, uns der Gegenwart Gottes aussetzen und die Liebe Jesu walten lassen. Wir dürfen an den glauben, der im Leid und sogar im Tod noch lebendig ist und uns zur Seite steht. Auch wenn uns alles entgleitet und unser Leben zusammenbricht, wir sind geliebt und gehalten, denn Jesus kommt uns entgegen, um unser Leben in seine Hand zu nehmen. Und wenn wir uns bei ihm bergen, dann sind wir wirklich befreit und erlöst.

Dazu ist die Adventszeit eigentlich da. Wir bereiten uns jetzt auf das Fest des Kommens Gottes vor. Wir erwarten den Erlöser, und dazu gehört es, dass wir unsere „Häupter erheben“. Adventlich leben heißt: Aufrecht gehen, gelassen und ruhig werden, leicht und schwerelos. Wir strecken Kopf, Herz und Hände nach oben aus zu ihm, der uns entgegengeht und uns ruft. Das ist die Haltung der Erlösten, und wir sind eingeladen, sie immer wieder einzunehmen, uns darin zu üben und in ein inneres Gleichgewicht zu kommen. Das ist der zweite Punkt, den es zu bedenken gilt.

Und als drittes ist noch wichtig, dass wir natürlich alle unterschiedlich sind, und damit ist auch die Sehnsucht nach der Ewigkeit unterschiedlich stark ausgeprägt. Es hängt mit unserer Veranlagung und Lebensgeschichte zusammen, wie unzufrieden wir mit der Welt sind, wie oft wir „den Blick nach oben lenken“ müssen. Es ist nur wichtig, dass wir erkennen, wer wir selber sind und was wir wirklich brauchen. Oft verschütten wir mit unserer Lebensweise unsere religiöse Neigung. Ein tiefes Bedürfnis wird zugedeckt, wir geben uns mit weniger zufrieden als wir brauchen. Unseren Hunger nach der Ewigkeit kann die Welt nämlich nicht stillen. Wenn wir es versuchen, ist es so, als nähmen wir die falschen Medikamente. Das passiert ja leider manchmal, wenn die Diagnose nicht stimmt.

Und dasselbe kann auch geistig und seelisch geschehen: Wir erkennen nicht, woran wir eigentlich leiden und was uns in Wirklichkeit fehlt. Wir denken, es ist das eine oder andere Vergnügen, mehr Geld oder Geselligkeit, aber in Wirklichkeit ist es die Ewigkeit und das Reich Gottes. Und wenn wir das missachten, werden wir davon genauso krank. Viele Schmerzen und Nöte in unserem Leben hängen damit zusammen, dass wir zu wenig ernstnehmen, wofür wir eigentlich gemacht sind, und die falschen Maßnahmen ergreifen, um uns wohl zu fühlen. Gott hat uns „zu sich hin geschaffen“, wie Augustinus es so schön gesagt hat, und das dürfen wir nicht ignorieren.

Dabei macht es nichts, wenn uns eventuell erst spät im Leben bewusst wird, was wir in Wirklichkeit die ganze Zeit gesucht haben. Wir können den göttlichen Funken, der tief in uns glüht, jederzeit neu entfachen und unsre Sehnsucht nach Gott ausleben. Das ist dann wie ein ganz tiefes Einatmen. Wir werden neu mit Leben erfüllt. Ich bin mir sicher, dass dadurch auch die eine oder andere Krankheit weicht, denn viel seelische und körperliche Not hat ihre Ursache darin, dass wir unseren tiefsten Lebenshunger vergraben haben.

Die Menschen im Mittelalter wussten das vielleicht noch besser als wir, deshalb haben sie so schöne große Kathedralen gebaut. Sie sind Gebete aus Steinen, zu Bauwerken gewordener Glaube. Sie zeugen von der Sehnsucht nach Gott und können uns eine Ahnung davon geben, dass „unsere Erlösung nahe ist“.

Unsere Lutherkirche ist lange nicht so hoch, aber klein ist sie auch nicht. Vor 60 Jahren wurde sie wieder aufgebaut, das haben wir gerade gefeiert, und dabei habe ich erfahren, dass der damalige Propst nicht noch einmal so eine große Kirche in Kiel bauen wollte. Wir haben darüber alte Filme gesehen, die sehr schön deutlich machen, was für ein mutiges Vorhaben es war, die Trümmer zu beseitigen und diese Kirche neu zu errichten. Nun steht sie hier und auch in ihr können wir erleben, dass Gott nahe ist. Es ist deshalb schön, wenn wir hier zusammenkommen. Lasst uns dafür dankbar sein und immer wieder „aufsehen und unsere Häupter zu Gott erheben“, der uns entgegenkommt und uns erlöst.

Amen.

1. Ich bin durch die Welt gegangen,
und die Welt ist schön und groß;
und doch ziehet mein Verlangen
mich weit von der Erde los.

2. Ich habe Menschen gesehen,
und sie suchen spät und früh.
Sie schaffen, sie kommen und gehen,
und ihr Leben ist Arbeit und Müh.

3. Sie suchen, was sie nicht finden
in Liebe und Ehre und Glück,
und sie kommen belastet mit Sünden
und unbefriedigt zurück.

4. Es ist eine Ruhe vorhanden
für das arme, müde Herz.
Sagt es laut in allen Landen:
Hier ist gestillt der Schmerz!

5. Es ist eine Ruhe gefunden
für alle fern und nah:
In des Gotteslammes Wunden
am Kreuze auf Golgatha!

Text: Eleonore Fürstin Reuß (1835-1903)
Melodie: Karl Kuhlo 1885