Eine Richtschnur für das Leben

Predigt über Jakobus 1, 12- 18:
Sinn und Ursprung der Versuchung

1. Sonntag der Passionszeit, Invokavit, 9.3.2014, 11.00 Uhr
Jakobikirche Kiel

Liebe Gemeinde.
Ein Schiffbrüchiger treibt in einem kleinen Boot auf dem Meer umher. Das ist ein spannendes Thema für das Kino. Der neueste Film mit diesem Inhalt trägt den Titel „All is lost“. Der Hauptdarsteller ist Robert Redford. Er spielt einen Mann, dessen Schiff gesunken ist, und der nun auf seinem kleinen Ret-tungsboot unermüdlich mit den Elementen kämpft – um sein Überleben. Geredet wird in dem Film nicht, es ist ein stummer Kampf, denn Selbstgespräche führt der Schiffbrüchige nicht. Er gibt auch nicht auf, obwohl die Situation manchmal danach ist, denn er ist dem Meer, dem Wind, dem Wetter und der Hilflosigkeit schutzlos ausgeliefert. Der Film wühlt die Emotionen auf, denn so etwas macht Angst. Die Verlorenheit des Schiffbrüchigen nimmt einen mit. Es wird auch deutlich, wie nichtig unser Dasein ist, und wie schnell alles seinen Sinn verliert, was wir sonst so tun.
Und diese starken Gefühle entstehen wahrscheinlich deshalb, weil wir all das erfahren können, auch ohne echten Schiffbruch zu erleiden. Das Leben ist manchmal so: Wir treiben umher, uns fehlt die Orientierung, alles und jeder scheint gegen uns gerichtet zu sein, wir kämpfen nur noch ums Überleben und haben Angst.
Was gibt uns in solchen Zeiten Sinn und Ziel? Wer weist uns die Richtung? Woher bekommen wir unseren Willen und die nötige Kraft? Was ist richtig und was falsch?
Diese Fragen stehen hinter unserem Predigttext von heute. Es ist ein Abschnitt aus dem Brief des Jakobus. Insgesamt geht es in diesem Brief um das richtige Handeln. Er beschreibt die Verantwortung des Christen, das Ziel des Glaubens und den Weg dorthin. Jakobus will uns helfen, die richtigen Entscheidungen zu treffen, durchzuhalten und uns nicht einfach nur treiben zu lassen.
Unser Text steht im ersten Kapitel und lautet folgendermaßen:

Jakobus 1, 12- 18
12 Selig ist der Mann, der die Anfechtung erduldet; denn nachdem er bewährt ist, wird er die Krone des Lebens empfangen, die Gott verheißen hat denen, die ihn lieb haben.
13 Niemand sage, wenn er versucht wird, dass er von Gott ver-sucht werde. Denn Gott kann nicht versucht werden zum Bö-sen, und er selbst versucht niemand.
14 Sondern ein jeder, der versucht wird, wird von seinen eige-nen Begierden gereizt und gelockt.
15 Danach, wenn die Begierde empfangen hat, gebiert sie die Sünde; die Sünde aber, wenn sie vollendet ist, gebiert den Tod.
16 Irrt euch nicht, meine lieben Brüder.
17 Alle gute Gabe und alle vollkommene Gabe kommt von oben herab, von dem Vater des Lichts, bei dem keine Verän-derung ist noch Wechsel des Lichts und der Finsternis.
18 Er hat uns geboren nach seinem Willen durch das Wort der Wahrheit, damit wir Erstlinge seiner Geschöpfe seien.
Wenn wir das hören, müssen wir zunächst wissen, an wen der Brief sich wendet. Es ist nämlich nicht mehr die erste Generation von Christen. Die Gemeinden, an die er geschrieben wurde, gehören vielmehr in die sogenannte nachapostolische Zeit. Sie hatten sich bereits in dieser Welt eingerichtet. Die anfängliche Aufbruchsstimmung, die die Apostel noch erlebt und ausgelöst hatten, war dem Alltag gewichen mit seinen kleinen und großen Belastungen.
Außerdem waren die Christen nicht besonders gut von der Außenwelt geachtet. Sie wurden vielerorts und oft angefeindet und bedrängt.
Es gab deshalb die Versuchung, sich der Welt anzupassen, die Lehre der Apostel zu vernachlässigen und die Radikalität der christlichen Forderungen abzumildern. Man nahm es mit der Konsequenz eines Handelns und Lebens nach dem Evangelium nicht mehr so genau. Es fehlte manchmal der Ernst bei der Sache. Und dagegen wendet sich der Brief. Er will die Leser aufrütteln, sie korrigieren und zum Gehorsam auffordern.
Das wird gleich an dem ersten Vers deutlich, der zu unserem Text gehört: Es ist eine Seligpreisung, die daran erinnert, dass der Christ einen inneren Kampf zu führen hat: Wer Gott aufrichtig liebt, der hält ihm auch in der Anfechtung die Treue. Dabei hatten diejenigen, die das nicht mehr taten, sich offensichtlich eine Ausrede zurechtgelegt: Sie behaupteten, dass die Versuchung ja von Gott kommt. Er steckt dahinter, wenn sie angefeindet werden und es unbequem wird, an ihn zu glauben. Was sollen sie also tun? „Dagegen kommt man doch nicht an.“ Das waren wohl ihre Ausflüchte.
Denn solche Gedanken widerlegt Jakobus. Für ihn ist ganz klar, dass hinter dem Bösen niemals Gott steckt. Der Mensch kann sich also nicht entschuldigen. Sünde ist Schuld, nicht Schicksal oder Tragik.
Und dann legt er in einer Argumentationskette dar, wie wichtig es ist, bereits den Anfängen der Sünde zu widerstehen. Der Ursprung liegt nämlich nicht außerhalb des Menschen, sondern in ihm: Es ist die Begierde. Wenn der Mensch der nachgibt, öffnet er sozusagen dem Bösen und der Sünde eine Tür. Sie kommt in ihn hinein und ergreift von ihm Besitz. Und das hat den sicheren Tod zur Folge. Die Sünde vernichtet das Leben, Rettung und Heil sind vertan.
Und dann erinnert Jakobus seine Leser an etwas, was sie bereits wissen: Das von Gott nur Gutes kommt, und zwar „von oben herab“. Denn er ist der „Vater des Lichts“, wörtlich „der Lichter“, d.h. der Sterne, und damit unwandelbar. Während die Gestirne ihr Licht wechseln und sich durch ihre unterschiedliche Stellung verfinstern können, ist der Vater solchen Veränderungen nicht unterworfen. Seine Güte ist konstant und beständig. Er will das Heil, und er hat es durch Jesus Christus gesandt.
Unser Text endet dann mit der Vorstellung, dass durch Jesus Christus Gottes schöpferisches Handeln noch einmal wirksam wird: Aus alten Menschen werden neue „geboren“. Wer an Jesus Christus glaubt, ist deshalb ein „Erstling seiner Geschöpfe“, d.h. er ist ein göttliches Zeichen der neuen Schöpfung, die alles umgreift.
Und das sollen die Christen nicht verwirken, dem gemäß sollen sie leben und ihrer Bestimmung gerecht werden.
Wir werden hier also in die Verantwortung gerufen: Als Christen sind wir zwar gerettet und frei, aber wir können uns von dieser Bestimmung auch entfernen. Wir müssen uns immer wieder entscheiden, welchen Einflüssen wir uns öffnen, welchen Impulsen wir folgen. Jeder und jede trägt nach wie vor Begierden und dunkle Triebe in sich, die uns zur Sünde verleiten können. Deshalb ist es wichtig, dass wir unser Leben aktiv gestalten, das Gute tun und nicht einfach dem Lustprinzip folgen und der Bequemlichkeit nachgeben.
Doch worin besteht das Gute nun? In unserem Text wird ja nichts Konkretes genannt. Wir müssen uns also Gedanken darüber machen.
Und da liegt es nahe, zunächst einmal an die zehn Gebote zu erinnern. Sie geben vor, wie wir leben sollen, sie sind eine gute Richtschnur. An ihnen orientiert sich auch unser Gesetz, das wir natürlich einhalten müssen. Dazu kommen Anstand und Höflichkeit, Rücksicht und Nächstenliebe. Außerdem will Gott nicht, dass wir Leben zerstören, weder unser eigenes noch das der anderen. Er will das Heil und die Freude, Glück und Frieden. Gott will „das Gute“.
Aber reichen diese Maßgaben? Ist das Leben manchmal nicht doch etwas komplizierter? Wenn wir z.B. genauer bei den zehn Geboten nachfragen, ergeben sich viel ethische Probleme. „Ehre Vater und Mutter“ heißt es im vierten Gebot. Aber was soll ein Kind tun, das von seinen Eltern Gewalt erlebt oder sogar missbraucht wird? Das fünfte Gebot lautet: „Du sollst nicht töten“. Bezieht sich das auch auf den Krieg, oder wenn ein Mensch unheilbar krank ist, nur noch leidet und selber gerne sterben möchte? „Du sollst nicht Ehe brechen“. Gilt das auch, wenn die Ehe, in der ich lebe, bereits so gut wie tot ist und die Partner sich völlig auseinander gelebt haben? Und so kann man weiter fragen.
Auch die Sache mit dem Heil ist keine eindeutige Richtschnur, denn es gibt oft Situationen, in denen ich meine, es zu finden. Im Nachhinein stellt sich dann aber heraus, dass ich verführt wurde, entweder durch meine eigenen Begierden oder durch andere Menschen. Im Nationalsozialismus war das z.B. der Fall. Ich kannte einen alten Mann, der war in seiner Familie der jüngste Sohn. Er hat mir erzählt, dass er deshalb während des zweiten Weltkrieges vom Militärdienst befreit wurde. Sein Vater hatte darum gebeten, denn die beiden älteren Söhne waren bereits im Krieg, und er wollte den Jüngsten nicht auch noch verlieren. Diesem Wunsch wurde von der entscheidenden Stelle entsprochen. Aber der Betroffene selber wollte nicht als feige dastehen und sah es als eine Pflicht an, an die Front zu gehen. Er hatte anständige Motive und dachte, er würde richtig handeln. Erst viel später hat er erkannt, dass diese Entscheidung falsch war, und er hat sie bitter bereut.
Diese Reihe ließe sich unendlich lange fortsetzen. Es ist nie eindeutig und sicher, worin wirklich das Gute liegt. Das merkt man auch an der Vielzahl der Möglichkeiten, jetzt in der Fastenzeit auf etwas zu verzichten. Wir machen uns darüber Gedanken, was wir eventuell in unserem Leben ändern müssen, und da kommt bei jedem und jeder von uns etwas anderes heraus.
Es gibt also keine klare Richtschnur für unser Leben. Wenn wir anfangen, darüber nachzudenken, geraten wir ins schwimmen, und es kann das Gefühl entstehen, wie Schiffbrüchige auf dem weiten Meer umherzutreiben. Und das geschieht auch immer mal wieder in unserem Leben. Wir treffen nicht immer die richtigen Entscheidungen. Wir kämpfen an der falschen Stelle, setzen uns für trügerische Ziele ein und gehen in die Irre. Und davor kann uns auch niemand bewahren.
Was sollen wir also tun? Gibt es darauf eine Antwort und eine Lösung für unser Problem? Ich denke ja, und sie kommt auch in unserem Text vor. Es ist der der schöne Satz:
„Alle gute Gabe und alle vollkommene Gabe kommt von oben herab, von dem Vater des Lichts, bei dem keine Veränderung ist noch Wechsel des Lichts und der Finsternis.“
Hier wird eine ganz andere Ebene der Wirklichkeit benannt, und zwar mit den unscheinbaren Worten „von oben herab“. Es gibt etwas, das kommt auf uns herunter, aus einer vertikalen Richtung. Und das ist entscheidend. Darauf achten wir normaler Weise nämlich nicht, weil unser Leben sich hauptsächlich in der Horizontalen abspielt: Wir suchen die Antworten auf unsere Fragen in dieser Welt. Der Maßstab für unser Handeln ergibt sich durch Abwägen und Vergleichen. Wir berechnen die Folgen und fragen nach persönlichen Vorteilen. Wir schauen um uns herum. Das ist zwar nötig und auch nicht verkehrt, aber trotzdem ist genau das der Grund für unsere Unsicherheit. Denn oft sehen wir nicht klar. Uns fehlt der Durchblick, es gibt keine gültigen Wegweiser und keinen hinreichenden Kompass.
Den finden wir nur, wenn wir in eine ganz andere Richtung schauen, und zwar nach oben, zu Gott. Er sendet Licht in un-ser Leben, denn er ist nicht von dieser Welt. Er allein ist unwandelbar und ewig. Bei ihm gibt es keine Veränderung, Licht und Finsternis wechseln sich nicht ab, er ist immer da und schenkt uns das Gute.
In Zeiten der Unsicherheit müssen wir deshalb aufhören, uns zu fragen, was denn nun richtig ist, und stattdessen erst einmal still werden und zu Gott aufschauen. Dann geschieht etwas, was uns rettet: Wir empfangen von ihm die „gute und vollkommene Gabe“.
Sie ist uns in Jesus Christus erschienen. In ihm liegt das Heil, von dem Jakobus spricht. Denn er liebt uns und nimmt unser Leben in seine Hand. Es geht also darum, dass wir ihm vertrauen und uns an ihn halten. Bevor wir selber handeln, ist es notwendig, dass wir uns ihm hingeben. Wenn wir das Gute tun wollen, müssen wir uns selber loslassen und seine Liebe geschehen lassen. Wir müssen darauf vertrauen, dass er uns lenkt und uns den richtigen Weg zeigt.
Das ist der Kampf, den wir hauptsächlich zu führen haben. Es ist durchaus ein Kampf gegen unsere Begierden, denn wir folgen nicht unseren Trieben, sondern dem Evangelium. Wir lassen uns nicht verführen oder verwirren, weder von uns selber noch von anderen Menschen, sondern halten unseren Blick fest auf Jesus Christus gerichtet.
Und das rettet uns, denn wenn wir das tun, ergibt sich alles andere wie von selber. Wir erleben einen tiefen Sinn in unserem Leben und haben immer ein Ziel vor Augen. Wir kennen die Richtung und bekommen die nötige Kraft. Auch mit dem Willen, das Gute zu tun, werden wir ausgerüstet. Und für das, was richtig und falsch ist, entwickeln wir ein Gespür, denn wir lernen an der Hand Jesu und in seinem Licht, die Geister zu unterscheiden. Wir werden frei von Illusionen und kommen immer wieder auf den Boden der Realität.
Wenn wir an Jesus Christus glauben und ihm gehören, lenkt er unser Lebensschiff sicher durch das „Meer der Zeit“. Der Blick auf ihn ist wie ein Blick in den Sternenhimmel bei der Schifffahrt. Wir treiben nicht mehr umher und haben auch keine Angst vor dem Untergang. Denn die Orientierung ist da und alles, was geschieht, kann uns zum Besten dienen.
Amen.