Predigt über Jesaja 40, 26- 31:
Israels unvergleichlicher Gott
1. Sonntag nach Ostern, 27.4.2014, 9.30 und 11.00 Uhr
Luther- und Jakobikirche Kiel
Liebe Gemeinde.
Der Legende nach war der erste Marathonläufer ein Bote, der 490 v. Chr. nach dem Sieg der Athener in der Schlacht von Marathon loslief und knapp 40 Kilometer bis Athen rannte. Dort überbrachte er die Nachricht: „Wir haben gesiegt“ und brach anschließend tot zusammen. Das war tragisch.
Trotzdem lebte dieser legendäre Lauf im Rahmen der Olympischen Spiele von Athen 1896 als Wettkampf wieder auf und ist seitdem eine olympische Disziplin.
In den 70er Jahren etablierte er sich sogar als Breitensport. Heutzutage wird in unzähligen Städten in der Welt jährlich ein Marathonlauf organisiert, an dem jeder und jede teilnehmen kann, der oder die sich dazu in der Lage fühlt. Und auch wenn die Läufer und Läuferinnen am Ende zum Glück nicht sterben, es sieht oft ähnlich aus, wenn sie über die Ziellinie kommen: Viele brechen völlig erschöpft zusammen und lassen sich sofort fallen. Wir kennen diese Bilder aus dem Fernsehen, und vielleicht hat der eine oder die andere von Ihnen das ja auch schon selber erlebt, und zwar nicht nur beim Marathonlauf.
Das gibt es im Leben ja immer wieder mal: Wir verausgaben uns und rennen und rennen mit nur einem Ziel vor Augen. Lange Zeit geht das gut, aber am Ende sind wir völlig „müde und matt“, wir „straucheln und fallen“.
Dem Propheten Jesaja war diese Erfahrung jedenfalls nicht fremd. Er erwähnt sie in einem Abschnitt, der heute unser Predigttext ist. Es heißt bei Jesaja im vierzigsten Kapitel:
Jesaja 40, 26- 31
26 Hebt eure Augen in die Höhe und seht! Wer hat dies geschaffen? Er führt ihr Heer vollzählig heraus und ruft sie alle mit Namen; seine Macht und starke Kraft ist so groß, dass nicht eins von ihnen fehlt.
27 Warum sprichst du denn, Jakob, und du, Israel, sagst: »Mein Weg ist dem HERRN verborgen, und mein Recht geht vor meinem Gott vorüber«?
28 Weißt du nicht? Hast du nicht gehört? Der HERR, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt, sein Verstand ist unausforschlich.
29 Er gibt dem Müden Kraft, und Stärke genug dem Unvermögenden.
30 Männer werden müde und matt, und Jünglinge straucheln und fallen;
31 aber die auf den HERRN harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.
Der Prophet sagt das zu den Deportierten, deren seelische Spannkraft im Exil nachgelassen hatte. Sie waren müde und verzagt, von Gott enttäuscht und verbittert. Zu lange hatten sie schon darauf gewartet, dass er sie befreien würde. Nun waren ihre Kräfte verbraucht. Die Anstrengungen waren zu groß gewesen, sie lagen am Boden.
Deshalb klagten sie. Vorwurfsvolle Fragen wurden laut, mit denen der Prophet sich hier auseinandersetzt. Die Menschen quälten sich damit, dass Gott sich anscheinend nicht mehr um sie kümmerte. Sie sahen ihren Weg, ihr Geschick, im Weglosen verlaufen, weil Gott nicht mehr auf sie achtete. Er hatte sie offensichtlich vergessen und rührte sich nicht. Nun waren sie ermattet und fühlten sich zerschlagen.
Damit setzt der Prophet sich hier auseinander, und das will er gerne ändern. „Fort mit der Klage“ könnte man den Text überschreiben. Er ist ein Hymnus gegen Verzagtheit, der mit dem Glauben an Gott als den Schöpfer beginnt. Dazu lenkt Jesaja den Blick seiner Hörer gen Himmel und weist auf die Sterne: Gott hat sie geschaffen und leitet sie wie ein Feldherr ein großes Heer. Wenn sie aufgehen sollen, mustert er sie der Reihe nach und ruft sie alle mit Namen, und keiner wagt, wegzubleiben. Denn er ist der Ewige, der alle Zeiten umspannt und den ganzen Raum, die Enden der Erde umfasst. Seine Kraft ist unerschöpflich und seine Einsicht unerforschlich. Dabei thront er nicht selbstgenügsam in erhabener Einsamkeit, sondern besitzt diese ganze Fülle, um sie denen zu geben, die sie brauchen. Er lebt in Beziehung zu den Menschen und ist für sie da. Und natürlich kann er ihnen helfen, sie müssen nur ausharren, zu ihm aufschauen und auf ihn hoffen. Er wird seine Verheißungen verwirklichen, dieser Ausblick bleibt, sie müssen nur hinsehen. Dann werden sie neue Kraft empfangen, so dass sie dem Adler vergleichbar sind, der mit seinen Schwingen anscheinend mühelos und ausdauernd in den Lüften schwebt.
So ermahnt der Prophet die Gemeinde, die über das Ausbleiben der Rettung klagt, zum Glauben und zur Geduld. Er ermutigt sie, für das künftige Heil offen zu sein und sich der Führung Gottes anzuvertrauen, auch wenn sie sie gerade nicht begreifen. Er will sie aufbauen, damit sie wieder Kraft schöpfen.
Der Text wird für den heutigen Sonntag vorgeschlagen, weil darin auch etwas über den Auferstehungsglauben gesagt wird. Genauso hat Gott an Jesus gehandelt. Er hat ihn sogar von den Toten auferweckt, und jeder, der an ihn glaubt, bekommt seine Kraft: Er wird neu geboren, empfängt neues Leben und neuen Mut.
Und das ist eine schöne Botschaft, denn genau danach sehnen wir uns und das brauchen wir auch. Wir sind zwar nicht aus unsrer Heimat deportiert worden, aber Erschöpfung kennen wir alle. Das ist in unserer Gesellschaft sogar ein weit verbreitetes Phänomen. Wir nennen es heutzutage „Burnout“, auf Deutsch: „Ausgebrannt“.
Damit wird ein Zustand großer emotionaler Erschöpfung bezeichnet, der die Leistungsfähigkeit erheblich reduziert. So steht es im Lexikon. Der Grund ist eine berufliche oder anderweitige Überlastung, die sich weiterentwickelt. Es ist eine verhängnisvolle Linie: Am Anfang steht meistens eine idealistische Begeisterung. Doch dann setzen frustrierende Erlebnisse und Desillusionierung ein. Stress kommt auf, der nicht mehr bewältigt werden kann. Die beruflichen oder familiären Aufgaben werden nur noch als belastend empfunden, und am Ende steht die Apathie, d.h. die völlige Teilnahmslosigkeit. Oft kommen dann psychosomatische Erkrankungen dazu, Depression oder Aggressivität, und es besteht auch eine erhöhte Suchtgefahr. Auf jeden Fall wird ein Mensch mit einem Burnout arbeitsunfähig. Er muss aufhören, sich aus allen Zusammenhängen herausbegeben und sein Leben neu ordnen.
Zum Glück geht es nicht allen Menschen in unserer Gesellschaft so. Doch auch wenn die Erschöpfung nicht gleich im Burnout endet, die Vorstufen davon kennen wir alle. Unser Leben ist manchmal wie ein Marathonlauf, bei dem wir am Ende völlig verbraucht sind. Und die Gründe dafür sind dieselben wie beim Burnout, Stress und Überlastung und auch das Gefühl der Einsamkeit. Wir meinen ja oft, alles allein hinkriegen zu müssen. Außerdem definieren wir uns über das, was wir leisten, wir finden dadurch unsre Identität, uns selber. Deshalb geraten unsre Grundlagen ins Wanken, wenn wir merken, dass wir nicht mehr alles schaffen, was von uns erwartet wird. Wir sind von uns selbst enttäuscht, das Leben ist gegen uns, wir fühlen uns verloren. Auch Zweifel kommen eventuell dazu, an uns selber, an anderen, am Leben und möglicherweise sogar an Gott. Sinnlosigkeitsgefühle, Hoffnungslosigkeit und Scham quälen uns. „Wir sind müde und matt, straucheln und fallen.“ So etwas kennen wir, wie gesagt, alle.
Und dagegen setzt der Prophet seine Botschaft, davon will er uns heilen, aus diesem Zustand will er uns befreien. Dabei haben seine Aussagen etwas sehr Provozierendes, denn er behauptet, dass die Erschöpfung ein Zeichen von Gottlosigkeit ist. Sie entspringt einem heidnischen Lebensgefühl. Wenn der Glaube lebendig ist, und der Mensch Gottes Gegenwart und Gnade spürt, dann gibt es keine Kraftlosigkeit. Denn Gott ist da und seine Möglichkeiten und Schaffenskraft weisen weit über diese Welt hinaus. Sie sind unendlich groß und währen bis in alle Ewigkeit. Es gibt deshalb kein totales Ende, selbst der Tod stellt keine endgültige Grenze mehr da.
Dazu kommt, dass Gott das Heil des Menschen will. Er rechtfertigt den Sünder, nimmt jeden und jede an und schenkt uns seine Liebe. Niemand kann deshalb tiefer fallen als in die Hand Gottes. Das sollen die Menschen glauben und darin ihre Identität finden. Dann empfangen sie immer wieder neue Kraft.
Das ist hier die Botschaft, die Jesus mit seiner Auferstehung ein für alle Mal besiegelt hat. Wir müssen uns dafür nur öffnen und darauf vertrauen. Und wir sind tatsächlich vor der totalen Erschöpfung geschützt, wenn wir das tun. Der Glaube wirkt sich auf unsere seelische Befindlichkeit und damit auf unseren Gesamtzustand aus.
Denn wir wissen uns eingebettet in eine größere Wirklichkeit und fühlen uns geborgen, egal, was passiert. Wir haben eine Hoffnung, die sich durch Leid nicht trüben lässt. Denn da ist immer ein lebendiges und liebendes Gegenüber, selbst wenn die Menschen uns verlassen und enttäuschen. Wir ziehen unseren Wert nicht mehr aus dem, was wir leisten, und müssen uns nicht total in unseren Aufgaben verlieren. Wir spüren einen inneren Halt, Sinn und Trost. Wir können loslassen und müssen nicht auf Biegen und Brechen funktionieren. Wir dürfen stattdessen leben und einfach da sein.
All das wird uns hier verheißen. Jesaja beschreibt es mit dem schönen Bild vom Adler. Der erhebt sich in die Lüfte, wird schwerelos und ausdauernd. Es lohnt sich also, den Glauben zu ergreifen und den „Blick nach oben zu lenken.“
Konkret heißt das, dass wir anders mit dem Leben umgehen. Der Glaube hat Folgen für die Lebensführung, denn es führt zu einer Frömmigkeitspraxis. Sie ist sozusagen die Vorbeugung gegen Erschöpfung und Burnout. Denn um so zu leben, müssen wir uns Zeiten schaffen, in denen wir „die Augen tatsächlich in die Höhe erheben und sehen, was Gott kann.“ Das persönliche Gebet ist dafür eine gute Möglichkeit. Am besten bauen wir es fest in unseren Tagesrhythmus ein und verabreden uns sozusagen mit Gott. Wir können auch in der Bibel lesen und dabei aufmerksam und neugierig fragen, was sie uns wohl sagen möchte. Auf jeden Fall sollten wir für Gelegenheiten sorgen, die zweckfrei sind und der Muße dienen, Zeiten der Stille und Einkehr, der Meditation und des Schweigens. Wir müssen immer mal wieder passiv werden, und anstatt etwas zu tun, das Leben geschehen lassen. Denn nur dann kommen wir in die tieferen Schichten unserer Seele, wo Gott uns anrühren kann. Die Dichterin Hilde Domin hat einmal formuliert: „Wir müssen dem Wunder die Hand hinhalten.“
Und auch die geistliche Gemeinschaft mit anderen ist wichtig, die Gemeinde, der Gottesdienst und eventuell die Seelsorge. Es ist gut, wenn wir jemanden haben, mit dem wir regelmäßig über den Glauben sprechen, der uns begleitet und an die Hand nimmt.
Und selbst wenn wir meinen, zu all dem keine Zeit zu haben, dann bietet auch der Alltag uns viele Gelegenheiten, uns im Glauben und Hoffen zu üben und der Erschöpfung vorzubeugen. In Situationen z.B., die uns nervös machen, weil nicht das geschieht, was wir wollen, können wir uns in Geduld üben und das Warten lernen. Wir bemühen uns, sanft gegenüber den anderen und uns selber zu werden und Milde walten zu lassen. Es hilft, manchmal auch einfach gar nichts zu tun.
Dann bekommen wir tatsächlich neue Kraft. In unserem Leben geschieht Auferstehung. „Wir können laufen und werden nicht matt, wir wandeln und werden nicht müde.“ Diese Erfahrung können alle machen, die sich auf Gott und Jesus Christus einlassen. Die Botschaft des Propheten ist wahr, und der Glaube daran ist wirksam.
Das klingt nun fast wie ein ultimatives Rezept gegen jede Art der Erschöpfung oder Krankheit. Doch das ist es natürlich nicht. Es gibt Einschränkungen. Nicht alle Menschen werden dadurch gesund. Man kann z.B. unter einem „chronischen Müdigkeitssyndrom“ leiden. Das ist inzwischen ein Fachbegriff für eine bestimmte Krankheit. Die Situation der Betroffenen ist leider sehr viel schwieriger und komplizierter. Ihr Leben spielt sich „in engen Grenzen“ ab, sie brauchen Medikamente und ärztliche Hilfe.
Doch völlig irrelevant sind die Aussagen des Propheten und der Glaube an die Auferstehung auch für diese Menschen nicht. Denn selbst wenn sie nicht gesund werden, sie müssen nicht verzweifeln. Gott ist immer da, auch wenn sie müde bleiben. Sie müssen ihre Zuversicht nicht aufgeben, denn auch ihr Leben liegt in Gottes Hand.
Den Glauben daran sollten wir nicht verlieren, ganz gleich, wie es uns geht. Er hilft uns, von jeder Krankheit wegzublicken, „die Augen in die Höhe zu erheben und auf den zu sehen“, der ewig lebt, der Raum und Zeit öffnet und uns einen Weg zeigt, der aus allem hinausführt. Selbst wenn der Körper darniederliegt, die Seele kann trotzdem „auffahren wie ein Adler“. Vielleicht liegt darin sogar der verborgene Sinn einer unheilbaren Krankheit: Es muss Menschen geben, die mit ihrem Leben darauf hinweisen, dass man auch im Leid getrost bleiben kann, Menschen, die der Tod nicht mehr erschreckt, weil ihr Glaube sie weit über diese Welt hinaushebt.
Möge der Auferstandene uns allen diesen Glauben schenken und uns innerlich ihm entgegen schweben lassen.
Amen.