Christus ist unser guter Hirte

Predigt über Johannes 10, 11- 16. 27- 30: Jesu Rede über den guten Hirten

2. Sonntag nach Ostern, Misericordias Domini, 5.5.2019
Luther- und Jakobikirche Kiel

Johannes 10, 11- 16. 27- 30:

1 Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe.
12 Der Mietling aber, der nicht Hirte ist, dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen und verlässt die Schafe und flieht – und der Wolf stürzt sich auf die Schafe und zerstreut sie –,
13 denn er ist ein Mietling und kümmert sich nicht um die Schafe.
14 Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen und die Meinen kennen mich,
15 wie mich mein Vater kennt und ich kenne den Vater. Und ich lasse mein Leben für die Schafe.
16 Und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stall; auch sie muss ich herführen, und sie werden meine Stimme hören, und es wird eine Herde und ein Hirte werden.
27 Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie und sie folgen mir;
28 und ich gebe ihnen das ewige Leben, und sie werden nimmermehr umkommen, und niemand wird sie aus meiner Hand reißen.
29 Mein Vater, der mir sie gegeben hat, ist größer als alles, und niemand kann sie aus des Vaters Hand reißen.
30 Ich und der Vater sind eins.

Liebe Gemeinde.

Der Wolf ist wieder da. Seit einigen Jahren erobern sich die Tiere ihre ursprüngliche Heimat zurück, nachdem sie in Deutschland seit Anfang des 20. Jahrhunderts als ausgerottet galten. Doch in fast allen Bundesländern siedeln sie sich mittlerweile wieder an. Das ist deshalb möglich, weil Wölfe äußerst anpassungsfähig und nicht auf unberührte Wildnis angewiesen sind. Sie kommen in unserer Kulturlandschaft gut zurecht. Naturschutzverbände begrüßen die Wiederbesiedlung Deutschlands durch den Wolf.

Ob das gelingt, ist allerdings von der Akzeptanz und Toleranz durch die Bevölkerung abhängig. Besonders die Halter von Schafen sind da sehr kritisch, denn es gibt immer wieder Übergriffe von Wölfen, die dann ein oder mehrere Schafe reißen. In den Medien erregt das viel Interesse, denn die Debatte darüber ist sehr kontrovers. Dass die Nutztierherden besser geschützt und die Schäfer wirtschaftlich unterstützt werden müssen, ist sowohl den Gegnern als den Befürwortern von Wölfen in Deutschland klar. Angewiesen sind die Wölfe auf die Schafe nicht, denn eigentlich erbeuten sie wilde Tiere. Dass sie sich an Nutztieren vergreifen, ist eher die Ausnahme.

Die gab es allerdings bereits in biblischen Zeiten. Das Verhältnis zwischen Wolf und Hausschaf war offensichtlich schon immer angespannt. Das geht aus vielen Stellen in der Bibel hervor, so auch aus dem Evangelium von heute. Es steht bei Johannes und ist ein Teil der Rede Jesu über „den guten Hirten“. Das ist eine der großen Bildreden, die wir im Johannesevangelium finden. In ihnen offenbart sich Jesus seinen Jüngern mit bildhaften Selbstaussagen. Er bezeichnet sich darin unter anderem als „das Brot des Lebens“ (Joh. 6,35), „das Licht der Welt“ (Joh.8,12) oder „den wahrhaftigen Weinstock.“ (Joh.15,5) Alle diese Bilder sind mit einer Verheißung und einer Einladung an die Hörer verbunden, und so ist es auch in unserem Text: Das Bild ist hier der Hirte, die Verheißung besteht darin, dass er sein Leben für die Schafe hingibt, um sie zu bewahren, und die Einladung ist die, auf seine Stimme zu hören und ihm zu folgen.

Und dieses Bild taucht wie gesagt an mehreren Stellen in der Bibel auf, die berühmteste ist Psalm 23. Dort wird Gott als der gute Hirte bezeichnet, und das beinhaltet viele schöne, romantische Vorstellungen: Von einer „grünen Aue“ und „frischem Wasser“ ist da die Rede, von der „Erquickung der Seele“ und sicherer „Führung“.

Natürlich schwingt diese Idylle auch in der Rede Jesu mit, aber er erwähnt sie bewusst nicht. Was hier genannt wird, klingt vielmehr eher hart und sehr ernst, fast sogar ein bisschen düster. Denn Jesus beginnt gleich mit der Aussage: „Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe.“ Das wiederholt er nachher sogar noch einmal. Dieser Hirte leidet und stirbt also, er opfert sich selber, und das ist nun gar nicht idyllisch. Jesus redet dann auch im Weiteren erst mal nur von den grausamen Seiten dieses Bildes, denn er erwähnt die Gefahren, denen die Schafe ausgesetzt sind. Dazu gehörte als markantestes Problem offensichtlich der Wolf, der die Schafe zerriss. Das kannten die Menschen. Und es kam wohl nicht selten vor, dass der Schäfer dann floh und die Schafe im Stich ließ. Allerdings geschah das nur, wenn ihm die Herde nicht selber gehörte und er lediglich angestellt war. Er entzog sich einfach den Gefahren und der Verantwortung. Das greift Jesus jedenfalls als Gleichnis auf. In der Lutherübersetzung wird der Lohnarbeiter „Mietling“ genannt. Er „kümmert sich nicht um die Schafe“, wie Jesus sagt.

Er kennt sie ja auch gar nicht richtig, sie bedeuten ihm nichts. Das ist der Punkt, auf den Jesus hier hinaus will. Denn das ist bei dem Besitzer der Schafe anders, und mit ihm vergleicht Jesus sich. D.h. er hat zu denjenigen, die zu seiner Herde gehören, also zu den Menschen, die an ihn glauben, eine lebendige Beziehung. Jesus sagt: „Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen und die Meinen kennen mich, wie mich mein Vater kennt und ich kenne den Vater.“ Es gibt zwischen ihm und den Gläubigen also eine enge Verbundenheit, die sogar mit der himmlischen Gemeinschaft zwischen Gott und Jesus verglichen wird. Jesus nennt Gott hier seinen Vater, und so wie er und der Vater eins sind, so kommt es auch zu einer geistigen Einheit zwischen ihm und den Gläubigen.

Etwas weiter unten beschreibt er das noch einmal genauer, denn da sagt er: „Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie und sie folgen mir; und ich gebe ihnen das ewige Leben, und sie werden nimmermehr umkommen, und niemand wird sie aus meiner Hand reißen.“ Das ist seine Verheißung. Und damit ist die Einladung verbunden, wirklich auf ihn zu hören und ihm nachzufolgen, d.h. ihm zu vertrauen und sich seinem Schutz zu unterstellen. Wir sind aufgefordert, uns der Herde Jesu anzuschließen und uns von ihm führen zu lassen.

Sicher versuchen wir das auch, denn uns gefällt das Bild von dem guten Hirten. Aber möglicherweise fragen wir uns manchmal, ob das überhaupt etwas bringt. Vor welchen Gefahren beschützt Jesus uns denn? Was kann er und was tut er? Ist er tatsächlich da? Wir sind doch unzähligen Notlagen ausgesetzt, gegen die er nichts unternimmt. Es kommt uns oft so vor, als ob er sich gar nicht wirklich um uns kümmert. Denn auch wenn wir an Jesus glauben, ist das Leben häufig sehr leidvoll. Es kann z.B. eine schlimme Krankheit sein, die uns befällt. Oder eine Naturkatastrophe bricht über uns herein. Wir sehen gerade in Mozambique, wieviel Leid das verursacht. Auch Krieg und Ungerechtigkeit verhindert Jesus nicht, im Gegenteil, es werden mehr Christen verfolgt und getötet als Gläubige aus anderen Religionen. „Wölfe wüten“ in ihren Reihen, und Jesus scheint davor zu „fliehen“. Was sollen wir also mit dem Bild von dem angeblich „guten Hirten“ anfangen? Das fragen wir uns. Wir zweifeln an seiner Wahrheit.

Deshalb müssen wir darüber nachdenken, wie es gemeint sein kann, und dazu sind mir drei Punkte eingefallen.

Zunächst einmal sollten wir erkennen und zugeben, dass es nicht nur äußere Gefahren gibt, die unser Leben bedrohen und zerstören können. Es gibt auch „innere Wölfe“, die uns von innen her zerreißen. Das sind all unsere negativen Eigenschaften und Kräfte. Zu jeder äußeren Bedrohung gibt es immer ein inneres Gegenstück: Bei einer Krankheit sind es die Angst und die Sorge, bei Krieg und Katastrophen die Bitterkeit und der Groll, bei schweren Verlusten die Traurigkeit und Schwermut usw. Aber auch unsere Begierden gehören zu den Gefahren von innen: Es kann ein unstillbarer Drang nach einem Menschen sein, der gar nicht mit uns zusammen sein will, eine Besessenheit. Ebenso zählt eine Abhängigkeit dazu, ein schweres Laster oder eine Sucht, und vieles mehr. Unser Leben ist von unzähligen inneren Nöten bedroht, unsere Seele ist ständig in Gefahr, zerrissen zu werden.

Und vor all dem kann Jesus uns durchaus bewahren. Wir müssen nur auf seine Stimme hören und ihm folgen, ihm vertrauen und mit seiner Kraft rechnen. Anstatt uns den negativen Kräften hinzugeben, können wir zu ihm rufen und ihn um seinen Beistand bitten. Er kümmert sich dann um uns, er läuft nicht weg, sondern passt auf uns auf. Er verscheucht die negativen Gedanken und Gefühle. Wir werden nicht von innen her zerrissen, sondern durch seine Liebe und Gegenwart geheilt. Der „Wolf“ wird kontrolliert und verzieht sich irgendwann. Das ist das erste, was unser guter Hirte Jesus machen kann.

Als zweites müssen wir beachten, dass er uns kein problemfreies irdisches Leben verspricht, darum geht es hier gar nicht. Es geht ihm vielmehr um die Ewigkeit. In erster Linie wird Jesus die Seinen nicht in diesem Leben hier auf Erden versorgen, er gibt ihnen vor allem Anteil an der himmlischen Welt. Er versteht sich selbst als ein Gesandter der Ewigkeit und da will er die Seinen hinein holen, in das Reich Gottes, das grenzenlos ist.

Die Verheißung Jesu reicht also viel weiter, als ein liebliches Idyll. Er ist in das Leid der Menschen hinabgestiegen, er hat es auf sich genommen und sein Leben geopfert, damit wir in Ewigkeit leben. Er ist für uns gestorben und auferstanden, damit wir mit Gott verbunden werden. Und Gott „ist größer als alles“, das betont er hier. Niemand kann deshalb die Schafe „aus des Vaters Hand reißen“. Wenn sie einmal mit dem Vater verbunden sind, der größer als alles ist, dann sind sie bis in alle Ewigkeit gerettet. Das ist seine Verheißung.

Jesus denkt also an noch viel mehr, als an grüne Wiesen und frisches Wasser, und das ist auch realistisch. Damit wird er dem Leben viel eher gerecht. Denn was nützt die ganze Versorgung, wenn am Ende doch der Tod siegt? Wir brauchen tatsächlich noch mehr, als nur den Traum von einer schönen Landschaft, in der wir behütet werden. Wir brauchen eine Perspektive und eine Hoffnung, die über den Tod hinausweist. Nur dann werden wir in der Tiefe unserer Seele wirklich frei und ruhig. Und genau das schenkt Jesus uns. Das ist der zweite Punkt.

Und als drittes tut Jesus etwas, das er in unserem Text folgendermaßen anspricht: „Und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stall; auch sie muss ich herführen, und sie werden meine Stimme hören, und es wird eine Herde und ein Hirte werden.“ Um das zu verstehen, müssen wir uns folgendes in Erinnerung rufen: Die christliche Mission fing in den Synagogen und in der jüdischen Gemeinde an. Die ersten Christen waren demnach Juden, also Menschen, die an die Verheißung Gottes glaubten, das auserwählte Volk zu sein. Und für sie war es nicht selbstverständlich, dass das Evangelium von Jesus Christus allen galt, auch denen, die vorher keine Juden waren, sondern aus ihrer Sicht eben Heiden. An mehreren Stellen im Neuen Testament wird aber genau das betont: Dass alle Menschen auf der Welt zum Heil berufen sind. Die Kirche Gottes kennt keine Grenzen, sie ist weltweit und wird aus Menschen aller Völker und Nationen zusammengesetzt. Und genau diese Behauptung taucht hier innerhalb der Rede Jesu auf. Er meint mit „den anderen Schafen“ die „Heidenchristen“. Sie werden zusammen mit den „Judenchristen“ die eine Kirche Gottes bilden.

Was der gute Hirte stiftet, ist also eine Gemeinschaft, die völlig unabhängig von jedem menschlichen Zusammengehörigkeitsgefühl ist. Niemand muss vorher schon irgendetwas besonderes sein, es gibt keine Bedingungen, an die sich das Heil anknüpft. Wer sich Jesus anvertraut, gehört vielmehr dazu. Und dadurch werden Menschen verbunden, die einander vorher fremd waren. Der gute Hirte stiftet Frieden und überwindet Grenzen und Intoleranz. Das ist das dritte, was er kann und bewirkt.

Es ist also durchaus sinnvoll, dass wir ihm vertrauen und an ihn glauben. Die Vorstellung von Jesus als dem guten Hirten ist keineswegs unrealistisch. Er bannt vielmehr tatsächlich die Gefahren, denen wir in diesem Leben ausgesetzt sind: Den Gefahren von innen, der Gefahr einer ewigen Verlorenheit und der Gefahr des Unfriedens in der Gemeinde. All diese „Wölfe“ werden vertrieben oder kontrolliert. Sie müssen sich unter seine Macht beugen und haben keine Möglichkeit mehr, das Leben zu zerstören.

Amen.

 

 

 

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