Die große Krankenheilung

Predigt über Apostelgeschichte 3,1-10: Die Heilung des Gelähmten

12. Sonntag nach Trinitatis, 19.8.2018, 9.30 Uhr,
Lutherkirche Kiel

Apostelgeschichte 3, 1- 10

1 Petrus aber und Johannes gingen hinauf in den Tempel um die neunte Stunde, zur Gebetszeit.
2 Und es wurde ein Mann herbeigetragen, lahm von Mutterleibe; den setzte man täglich vor die Tür des Tempels, die da heißt die Schöne, damit er um Almosen bettelte bei denen, die in den Tempel gingen.
3 Als er nun Petrus und Johannes sah, wie sie in den Tempel hineingehen wollten, bat er um ein Almosen.
4 Petrus aber blickte ihn an mit Johannes und sprach: Sieh uns an!
5 Und er sah sie an und wartete darauf, dass er etwas von ihnen empfinge.
6 Petrus aber sprach: Silber und Gold habe ich nicht; was ich aber habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi von Nazareth steh auf und geh umher!
7 Und er ergriff ihn bei der rechten Hand und richtete ihn auf. Sogleich wurden seine Füße und Knöchel fest,
8 er sprang auf, konnte gehen und stehen und ging mit ihnen in den Tempel, lief und sprang umher und lobte Gott.
9 Und es sah ihn alles Volk umhergehen und Gott loben.
10 Sie erkannten ihn auch, dass er es war, der vor der Schönen Tür des Tempels gesessen und um Almosen gebettelt hatte; und Verwunderung und Entsetzen erfüllte sie über das, was ihm widerfahren war.

Liebe Gemeinde.

Vor Kurzem war in der Zeitung ein Bericht über junge Leute, die sich bei Instagram bewusst so zeigen, wie sie sind, auch wenn sie nicht dem gängigen Schönheitsideal oder der Norm entsprechen. Sie stehen zu sich selbst, zu einem angeblichen Makel oder auch einer Behinderung, die sie möglicherweise haben.

So wurde unter anderem eine Rollstuhlfahrerin vorgestellt, die sich selbstbewusst der Öffentlichkeit präsentiert und ihre Gedanken allen mitteilt, die sich dafür interessieren. Ein Bild wurde besonders erwähnt. Es zeigt sie in einer Kirche, und darunter hat sie geschrieben: „Laufen kann ich immer noch nicht. Danke Jesus, für nichts.“ Das klingt mutig, aber auch bitter und fast böse. Auf jeden Fall provoziert es alle, die gerne in die Kirche gehen, an Jesus glauben und ihm dankbar sind.

Dazu gehören wir auch. Wir kommen hierher, feiern unsere Gottesdienste und freuen uns des Lebens. Aber tun wir das eventuell nur, solange wir gesund und munter sind und kein schweres Schicksal zu tragen haben? Vielleicht hat Jesus in Wirklichkeit gar keine Macht. Möglicherweise hören der Glaube und das Danken auf, wenn es uns schlecht geht. Machen wir uns unter Umständen alle etwas vor?

Das müssen wir uns fragen, und zwar nicht nur, wenn wir Äußerungen lesen, die uns dazu provozieren. Auch über das, was im Neuen Testament steht, müssen wir nachdenken, denn es entspricht in weiten Teilen tatsächlich nicht unserer Wirklichkeit. Was sollen z.B. all die Wundergeschichten, in denen Menschen geheilt und gerettet werden? Sollten wir die nicht lieber zu den Akten legen? Es ist nachvollziehbar, dass sich Menschen mit einer Behinderung davon verhöhnt fühlen.

Auch die Erzählung, die wir eben gehört haben, wirft diese Fragen auf. Sie ist sogar fast noch schlimmer als die Berichte über Jesu Heilungstätigkeit, weil er gar nicht selber darin handelt, sondern zwei seiner Jünger. Sie steht in der Apostelgeschichte, und zwar ganz am Anfang. Es ist das erste Wunder, das nach seiner Himmelfahrt in seinem Namen geschah, und schließt an die Pfingstgeschichte an. Die Apostel hatten gerade den Heiligen Geist empfangen, und Petrus hatte seine erste Predigt gehalten. Er hatte verkündet, dass „Jesus, der ans Kreuz geschlagen und umgebracht worden war, von Gott auferweckt wurde. Er konnte nicht vom Tode festgehalten werden.“ (Apg.2,23f) Vielen, die ihm zuhörten, war das „durchs Herz gegangen“ (Apg.2,37). Sie ließen sich taufen, und es entstand die erste Gemeinde. Die Predigt von Petrus war also vollmächtig und sehr wirksam gewesen.

Mit der anschließenden Wunderheilung wird dem nun ein Zeichen hinzugefügt: Ein Mann, der von Geburt an gelähmt war, wird geheilt, und daran wird deutlich, dass das Wirken Jesu weitergeht.

Die Geschichte beginnt mit einer genauen Orts- und Zeitangabe: Im Tempelbezirk zur Zeit des Abendgebetes sahen Petrus und Johannes den gelähmten Mann, der dort täglich saß und um Almosen bettelte. Er sprach auch die beiden Apostel an. Doch von ihnen bekam er nun etwas ganz anderes, als er es gewohnt war, kein „Silber und Gold“, sondern etwas viel wunderbareres: Durch den Befehl des Petrus „im Namen Jesu“ konnte er plötzlich aufstehen. „Seine Füße und Knöchel wurden fest. Er ging mit ihnen in den Tempel, lief und sprang umher und lobte Gott.“ Das war das Wunder und es geschah ausdrücklich durch das Wirken Jesu. Das betonte Petrus in der anschließenden Auseinandersetzung mit den Umstehenden. Jesus lebt und er hat immer noch die Macht, Kranke zu heilen. Das ist hier die Botschaft.

Und auf die sollten wir uns ruhig einmal einlassen, auch wenn es nicht unseren Erfahrungen entspricht, dass Gelähmte durch den Glauben wieder laufen können. Drei Gedankengänge können uns dabei helfen.

Zunächst einmal gibt es in der Geschichte einige Details, über die es sich lohnt, nachzudenken. Das erste davon ist, dass ausführlich erzählt wird, wie Petrus und Johannes Kontakt zu dem Gelähmten aufnahmen: „Petrus aber blickte ihn an mit Johannes und sprach: Sieh uns an!“ Petrus bestand also auf Blickkontakt und damit auf einer persönlichen Begegnung. Er sah den Mann, und der sollte auch ihn anschauen. Die nächste interessante Einzelheit ist das Reichen der Hand: „Er ergriff ihn bei der rechten Hand und richtete ihn auf.“ Auch eine Berührung gehörte also dazu. Bei ihr übertrug sich die Kraft Jesu, von der Petrus erfüllt war. Und als letztes fällt auf, dass der Geheilte nicht nur aufstand und dann verschwand, sondern mit Petrus und Johannes in den Tempel ging und dort seiner neuen Lebensfreude Ausdruck gab. Er „sprang umher und lobte und dankte Gott.“

Und das sind Einzelheiten, die wir beherzigen sollten. Auch wenn wir niemanden, der im Rollstuhl sitzt, durch die Kraft Jesu heilen können, so ist es wichtig, dass wir diese – und überhaupt andere – Menschen anschauen, Kontakt aufnehmen, keine Berührungsängste haben und unsre Lebensfreude mit ihnen teilen.

Zum Glück sind wir in unserer Gesellschaft diesbezüglich auch auf einem guten Weg. Der soziologische Begriff dafür ist „Inklusion“. Er wird im Internet folgenderweise definiert: „Inklusion ist das Konzept einer Gesellschaft, in der jeder Mensch akzeptiert wird und gleichberechtigt und selbstbestimmt an dieser teilhaben kann – unabhängig von Geschlecht, Alter oder Herkunft, von Religionszugehörigkeit oder Bildung, von eventuellen Behinderungen oder sonstigen individuellen Merkmalen. In der inklusiven Gesellschaft gibt es keine definierte Normalität, die jedes Mitglied dieser Gesellschaft anzustreben oder zu erfüllen hat. Normal ist allein die Tatsache, dass Unterschiede vorhanden sind. Diese Unterschiede werden als Bereicherung aufgefasst und haben keine Auswirkungen auf das selbstverständliche Recht der Individuen auf Teilhabe. Aufgabe der Gesellschaft ist es, in allen Lebensbereichen Strukturen zu schaffen, die es den Mitgliedern dieser Gesellschaft ermöglichen, sich barrierefrei darin zu bewegen.“ (http://www.inklusion-schule.info/inklusion/definition-inklusion.html)

In biblischen Zeiten gab es das noch nicht. Da wurden z.B. kranke oder behinderte Menschen ausgegrenzt, ihnen blieb nichts anderes übrig, als zu betteln. Insofern verhielten sich Petrus und Johannes sehr modern. Das können wir durchaus der Geschichte entnehmen. Auch wenn wir heutzutage keine Wunder vollbringen, sagt sie uns, dass wir alle Menschen in gleicher Weise beachten sollten, ohne Vorurteile oder Abneigungen. Dann kann viel Heil und Freude entstehen, auch durch uns.

Das ist der erste Gedanke, der die Geschichte doch lesenswert macht. Es gibt darüber hinaus aber noch weitere Aspekte. Sie kommen auch in der Definition des Begriffs „Inklusion“ vor. Darin ist ja davon die Rede, dass es in Wirklichkeit gar keine Normalität gibt, und darüber lohnt es sich nachzudenken. Das wäre das Zweite. Wir sehen das nämlich meistens anders. Unbewusst haben wir alle ein Bild im Kopf, wie unser Leben sein sollte: Wir wünschen uns Gesundheit und Wohlstand, Freundschaft und Liebe, Abwechslung und Fröhlichkeit usw. Aber gibt es das so überhaupt? Haben wir nicht alle irgendwelche Defizite? Auch ohne eine körperliche Behinderung kann es sein, dass uns ganz viel fehlt und uns Grenzen gesetzt werden, unter denen wir leiden. Allein schon das Älterwerden gehört dazu. Es kann aber auch der Verlust eines Menschen sein, Kinderlosigkeit, Depressionen, Selbstzweifel, Ängste. Jeder und jede fühlt sich doch durch irgendetwas „behindert“, und wenn wir wollen, könnten wir alle aufhören, Gott dankbar zu sein. Das ist der zweite Gedanke.

Und daraus ergibt sich als drittes, dass wir uns selber entscheiden müssen, mit welcher Einstellung wir dem Leben begegnen wollen. Worauf sind wir fixiert? Natürlich kann ein älterer Mensch auf seine vergangene Jugend blicken, die Kinderlose auf die Mutter, die Rollstuhlfahrerin auf alle, die laufen können usw. Aber ist das ratsam? Dadurch entstehen doch nur Neid und Bitterkeit. Gibt es nicht auch noch andere Möglichkeiten des Bewusstseins? Viel besser wäre es doch, wenn wir aufhörten, uns mit anderen zu vergleichen, und auch uns selber gegenüber unvoreingenommen sind. Wir sind eingeladen, uns so anzunehmen, wie wir sind, und unsere Möglichkeiten zu nutzen. Dann entdecken wir ganz vieles, für das es sich lohnt, zu danken.

Und dabei kann uns der Glaube an Jesus helfen. So ganz einfach ist das ja nicht. Denn es gehört dazu, dass wir uns von den Bildern verabschieden, die wir vom Leben haben, Wünsche aufgeben, die nicht erfüllbar sind, und uns in Gelassenheit üben. Und da kann Jesus uns hinführen. Denn er sieht uns so, wie wir sind, und er steht uns zur Seite. Er kennt das Leid und das Sterben, doch er kennt auch die Überwindung und die Auferstehung. Und daran kann er uns Anteil geben. Er lebt und hat Macht, daran dürfen wir glauben. Das war die Botschaft des Petrus, und er verkündet das immer noch. Wir sind eingeladen, uns Jesus anzuvertrauen, mit allem, was uns fehlt und behindert. Er sieht uns, und auch wir dürfen unseren inneren Blick auf ihn richten. Wir sollten auf ihn fixiert sein und seine Gegenwart zu unserem Focus machen. Dann stärkt er uns von innen her, auch heute noch. Er schenkt uns eine Freude, die unabhängig ist von den äußeren Gegebenheiten, Hoffnung und Mut. Er macht uns zuversichtlich einfach dadurch, dass er da ist. Er selber ist die Gabe, für die wir dankbar sein können.

Auch die Rollstuhlfahrerin, die ich eingangs erwähnte, kann das erleben, sie müsste sich nur dafür entscheiden. Dass das gelingen kann, zeigen uns zum Glück andere Menschen mit demselben Schicksal. Ein prominentes Beispiel ist Wolfgang Schäuble. Er spricht darüber in der Öffentlichkeit zwar kaum, aber er wäre heute nicht Präsident des Bundestages, wenn er einen Groll entwickelt und gepflegt hätte. Und ich bin mir sicher, dass auch sein Glaube ihm geholfen hat, sein Leben zu meistern.

Lassen Sie uns also Gott loben, ganz gleich, wie es uns geht und was wir zu tragen haben. Irgendeinen Grund haben wir alle, und es lohnt sich, darauf zu achten: „Nun lasst uns Gott, dem Herren, Dank sagen und ihn ehren, für alle seine Gaben, die wir empfangen haben.“ (EG 320,1)

Amen.

Das Kreuz als Lebensbaum

Predigt über Lied 96 aus dem Evangelischen Gesangbuch:
„Du schöner Lebensbaum des Paradieses“

Vierte Sommerpredigt „In fremden Zungen“: Ungarn
5.8.2018, 11 Uhr, Jakobikirche Kiel

In diesen Wochen bereisen wir in unseren Gottesdiensten mit dem Gesangbuch andere europäische Länder. Heute geht es nach Ungarn, und zwar mit einem Lied aus dem 17. Jahrhundert. Es heißt: „Du schöner Lebensbaum des Paradieses“. Damit ist das Kreuz Christi gemeint, deshalb singen wir das Lied normaler Weise in der Passionszeit. Es enthält aber nicht nur eine Betrachtung des Sterbens Jesu, sondern vor allem handelt es vom Leben, das uns durch den Glauben an ihn möglich wird. Deshalb passt es auch gut in den Sommer. Es lädt uns ein, vor das Kreuz Christi zu treten und die Kraft zu empfangen, die davon ausgeht. Wir dürfen auf das Wort Jesu vertrauen, das er im Johannesevangelium zu Nikodemus sagt: „Der Menschensohn muss erhöht werden, auf dass alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben.“ (Joh. 3, 14b.15)

Liebe Gemeinde.

In jeder Kirche finden wir ein Kreuz, meistens an einer zentralen Stelle. Hier in der Jakobikirche steht auf dem Altar eins aus Glas und Metall. (s. Bild rechts) Es war allerdings nicht immer genau dieses. Die meisten von euch wissen sicher, dass es dazu ein Vorgängerkreuz gab. Es wurde leider gestohlen, wie viele andere vorher auch. So gab es eine Zeit, in der gar kein Kreuz mehr auf dem Altar stand. Doch das hielten einige Gemeindeglieder nicht aus, ihnen fehlte etwas ganz Wesentliches. Es gab daraufhin eine Initiative für ein neues Kreuz, und das haben wir hier nun: Es ist von einer Tiffany-Künstlerin aus Schilksee gefertigt. Der Entwurf und auch das Geld dafür kamen aus der Gemeinde. Nach dem Gottesdienst kommt es jetzt immer in einen Karton, mit dem es gut weggepackt werden kann ohne im Abstellraum zu zerbrechen. Während der offenen Kirche wird es dann durch ein Holzkreuz ersetzt, das ebenfalls dafür gestiftet wurde. Denn natürlich soll das schöne Glaskreuz nicht wieder gestohlen werden.

Aber wer macht so etwas überhaupt? Das habe ich mich gefragt. Entweder ist das jemand, dem das Kreuz viel bedeutet, der sich so ein schönes aber nicht leisten kann. Oder es ist eine Person, die den materiellen und künstlerischen Wert erkannt und es zu Geld gemacht hat. Das stell ich mir allerdings gar nicht so einfach vor, denn der oder die Käuferin müsste dann ebenfalls jemand sein, dem ein Kreuz etwas bedeutet. Doch vielleicht gibt es davon ja genug Menschen. Das Kreuz ist immerhin das zentrale Symbol für uns Christen. Es erinnert an den Tod Christi und wurde im Laufe der Geschichte in unzählig vielen Variationen dargestellt.

Eine schöne Möglichkeit ist das, das wir hier haben: Das Kreuz ist aus buntem Glas, also durchscheinend, leuchtend und farbig und damit lebendig und schön. Den sterbenden Christus sehen wir darauf nicht, und das ist durchaus legitim. Denn wir glauben, dass er lebt und unter uns ist. Wir müssen uns seinen Tod nicht ständig vor Augen halten.

Viele Christen sehen die sogenannte Kreuzestheologie heutzutage ja auch kritisch: Warum soll jemand für uns sterben? Sind wir nicht selber verantwortlich für das, was wir falsch machen? Wozu brauchen wir einen Stellvertreter? Das fragen sich etliche Gläubige, und es ist gut, dass darüber heutzutage öffentlich nachgedacht wird. Wir müssen uns mit der Frage auseinandersetzen, was der Tod Christi bedeutet, und dazu gibt es viele Ansätze.

Eine – oder sogar mehrere – Antworten finden wir in dem Lied „Du schöner Lebensbaum des Paradieses“ aus unserem Gesangbuch. Lasst uns das deshalb einmal betrachten.

Es wurde ursprünglich 1641 von Imre Pécseli Király gedichtet. Das war ein reformierter Pastor aus Ungarn, der eine poetische Veranlagung hatte. So hat er viele Gedichte und Lieder geschrieben und mit ihnen seinen Glauben, seine Theologie und seine Frömmigkeit zum Ausdruck gebracht.

In den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts kam dieses alte Lied dann zu uns nach Deutschland, und zwar durch den deutsch/ungarischen Theologen Vilmos Gyöngyösi, auch Wilhelm Güttler genannt. Er schuf eine Rohübersetzung, die dann wiederum der singbaren deutschen Liedfassung von Dieter Trautwein zu Grunde lag. (vgl. Wer ist wer im Gesangbuch, Hg. Wolgang Herbst, Göttingen, 2001, S. 126)  Der Urtext ist in unserem Gesangbuch ebenfalls abgedruckt, ich kann mich allerdings nur an der deutschen Fassung orientieren, weil ich natürlich kein Ungarisch spreche. Ich vertraue aber dem Text von Dieter Trautwein und finde es sogar interessant, dass er das Lied aufgegriffen hat.

Er ist ein Theologe des letzten Jahrhunderts, der in den sechziger Jahren maßgeblich an der Kirchen- und Gottesdienstreform mitgewirkt hat. Zu dieser Arbeit gehörte für ihn auch das Singen mit Gemeinden und Gruppen. Dabei hat er eine ganz neue christliche Singkultur geschaffen und mit seinen Liedern vielen Menschen einen Zugang zum Glauben ermöglicht. Vor allem durch die Kirchentage wurden seine Lieder bekannt. (vgl. Wer ist wer im Gesangbuch, a.a.O., S. S. 327ff)

Es ist deshalb so ein bisschen untypisch für ihn, dass er diesen alten Text mitsamt einer alten Melodie aufgenommen hat, aber wahrscheinlich war das Lied auch für ihn so aussagekräftig, dass er das gerne tat. Es hat in der deutschen Fassung sechs Strophen und lautet folgendermaßen:

1. Du schöner Lebensbaum des Paradieses, gütiger Jesus, Gotteslamm auf Erden. Du bist der wahre Retter unsres Lebens, unser Befreier.

2. Nur unsretwegen hattest du zu leiden, gingst an das Kreuz und trugst die Dornenkrone. Für unsre Sünden musstest du bezahlen mit deinem Leben.

3. Lieber Herr Jesus, wandle uns von Grund auf, dass allen denen wir auch gern vergeben, die uns beleidigt, die uns Unrecht taten, selbst sich verfehlten.

4. Für diese alle wollen wir dich bitten, nach deinem Vorbild laut zum Vater flehen, dass wir mit allen Heilgen zu dir kommen in deinen Frieden.

5. Wenn sich die Tage unsres Lebens neigen, nimm unsren Geist, Herr, auf in deine Hände, dass wir zuletzt von hier getröstet scheiden, Lob auf den Lippen:

6. Dank sei dem Vater, unsrem Gott im Himmel, er ist der Retter der verlornen Menschheit, hat uns erworben Frieden ohne Ende, ewige Freude.

Ich sagte ja schon, dass darin mehrere Deutungen des Sterbens Jesu vorkommen, und zwar können wir drei Abschnitte bzw. Themen entdecken:

Die ersten beiden Strophen beinhalten die Vorstellung, dass Jesus sich für uns geopfert hat und für unsere Sünden gestorben ist.

In den nächsten beiden Strophen ist Christus unser Vorbild: Er möge uns helfen, den anderen genauso zu verzeihen, wie er das getan hat, und unseren Lebenswandel heiligen.

Und in den letzten beiden Strophen ist er derjenige, der uns nahe ist, wenn wir sterben. Er schenkt uns das ewige Leben.

Diese drei Themen kommen hier vor, und es ist sehr schön, dass das Lied nicht nur einen Aspekt enthält. Denn dadurch relativiert sich auf jeden Fall die These, dass Christus sich für uns geopfert hat. Sie ist nur eine Möglichkeit, sein Sterben zu verstehen, es gibt auch noch andere Zugänge zu seinem Kreuz. Allerdings lädt uns das Lied ein, dieses Thema nicht gänzlich unter den Tisch fallen zu lassen, und das ist auch gut so, weil es durchaus Situationen gibt, in denen wir einen Retter brauchen, jemanden, der für uns eintritt und uns befreit.

Denn leider gibt es die Sünde und das Böse, und wir dürfen sie nicht unterschätzen. Durch sie ist Jesus ans Kreuz gekommen, denn seine Feinde waren im Unrecht und luden schwere Schuld auf sich. Und so etwas geschieht immer noch überall. Jeder Konflikt ist dafür ein Zeichen, jede Schwäche, jede Unvollkommenheit. Wir begehen alle Fehler und manchmal können wir sie auch nicht mehr aus eigener Kraft wieder gutmachen. Und vor Gott können wir schon gar nicht bestehen, denn er hat sich die Menschen und ihr Zusammenleben eigentlich ganz anders gedacht. Das müssen wir erkennen und einsehen.

Dann sind wir nämlich froh, dass Jesus Christus das alles auf sich genommen hat, um uns schwachen und bedürftigen Menschen einen Weg der Befreiung zu bereiten. Mit seiner Geduld und Leidensbereitschaft hat er am Kreuz die Not der Menschheit überwunden, und wir sind eingeladen, uns darauf einzulassen. Das ist kein einfacher Schritt, denn natürlich stößt das Kreuz uns ab. Es ist durchaus ein Ärgernis, aber wir sollten ihm trotzdem nicht ausweichen. Denn auf geheimnisvolle Weise ist es gleichzeitig ein „Lebensbaum des Paradieses“, d.h. wir gewinnen durch das Kreuz neues Leben. Wir dürfen hinzutreten und darauf vertrauen. Wir legen damit nicht die Verantwortung für unsere Taten ab, sondern lassen uns helfen, wenn wir allein nicht klar kommen. Und das gibt es ja, dass uns die Kraft fehlt, unsre Fehler selber gerade zu biegen, die Suppe auszulöffeln, die wir uns oder anderen eingebrockt haben. Wir sind oft auf Unterstützung angewiesen, und die bekommen wir durch das Kreuz Christi. Wenn wir uns ihm nähern, merken wir, dass eine Kraft vom ihm ausgeht, die wir uns nicht erklären können. Wir werden aufgerichtet, unsere Sünden werden von uns genommen, und das Böse in uns wird entmachtet. Uns wird durch das Kreuz Vergebung und Heil geschenkt. Das Dunkel lichtet sich, Ängste verschwinden, und neues Leben entsteht.

Und damit sind wir bei dem zweiten Teil des Liedes, bei der Verwandlung unseres Lebens durch den Glauben an Christus, seinen heilbringenden den Tod und die Auferstehung. Er schenkt uns ganz neue Möglichkeiten. Wir können die Liebe, die wir empfangen, auch anderen Menschen weitergeben. Wir können „vergeben, die uns beleidigt“ haben, „die uns Unrecht taten“ und „selbst sich verfehlten“, wie es in dem Lied heißt. Dabei wird uns hier ein sehr schöner Vorschlag gemacht, wie uns das gelingen kann: Wir werden zur Fürbitte für unsere Feinde eingeladen. Sie ist dafür ein guter Weg. Das hat Jesus am Kreuz ebenfalls getan, indem er betete: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ (Lk.23,34) Mit diesem Verhalten geht er uns als gutes Beispiel voran. Wenn wir ihm folgen, kommen wir „mit allen Heiligen“ zu Gott, und „Frieden“ wird möglich, wie Dieter Trautwein es formuliert. Im Vertrauen auf Jesus werden wir immer wieder mit der Kraft versorgt, die wir dazu brauchen. Das ist das zweite Thema.

Und als drittes enthält das Sterben Jesu eine große Verheißung: „Wenn sich die Tage unsres Lebens neigen, nimmt Christus unseren Geist in seine Hände“. Wir sterben nicht allein, sondern „getröstet“ und mit einem „Lob auf den Lippen“. Mit seinem Tod und seiner Auferstehung hat Christus eine neue Zeit heraufgeführt. Denn in ihm stirbt nicht nur ein Mensch, Gott selber hat sich hingegeben, und so ist er „der Retter der verlorenen Menschheit“. Sein Kreuz stellt eine Zeitenwende dar, „er hat uns Frieden ohne Ende und ewige Freude erworben.“ Der Tod hat seine Macht verloren. Im Glauben und im Vertrauen auf das Kreuz Christi gewinnen wir Anteil an der Ewigkeit, wir „erben den Himmel“, wie es in der Bibel heißt (Hebr.9,15), und werden mit unendlicher Liebe erfüllt. Zum Kreuz und zum Tod Jesu gehört immer die Auferstehung. Ohne sie wäre es sinnlos.

Es ist deshalb sehr passend, das Kreuz als „Lebensbaum des Paradieses“ zu bezeichnen. Wenn wir seine Früchte regelmäßig essen und genießen, empfangen wir Unsterblichkeit. Und dazu gibt es noch eine weitere schöne Möglichkeit der bildlichen Darstellung.

Es ist das sogenannte Triumphkreuz, das es schon lange in der christlichen Kunst gibt. In der Nikolaikirche hier in Kiel hängt z.B. eins (s. Bild rechts). Da sehen wir zwar Christus, wie er am Kreuz hängt und stirbt, aber gleichzeitig ist das Kreuz lebendig: Es treibt Blüten und Blätter und ist wie ein „Lebensbaum“.

Lasst uns „dem Vater, unsrem Gott im Himmel dafür danken und ihn loben“, indem wir das Lied „Du schöner Lebensbaum des Paradieses“ jetzt singen.

Amen.