Jesus zieht ein

Predigt über Johannes 12, 12- 19: Der Einzug in Jerusalem

6. Sonntag in der Passionszeit, Palmarum, 29.3.2015, Lutherkirche Kiel

Johannes 12, 12- 19

12 Als am nächsten Tag die große Menge, die aufs Fest gekommen war, hörte, dass Jesus nach Jerusalem käme,
13 nahmen sie Palmzweige und gingen hinaus ihm entgegen und riefen: Hosianna! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn, der König von Israel!
14 Jesus aber fand einen jungen Esel und ritt darauf, wie geschrieben steht (Sacharja 9,9):
15 »Fürchte dich nicht, du Tochter Zion! Siehe, dein König kommt und reitet auf einem Eselsfüllen.«
16 Das verstanden seine Jünger zuerst nicht; doch als Jesus verherrlicht war, da dachten sie daran, dass dies von ihm geschrieben stand und man so mit ihm getan hatte.
17 Das Volk aber, das bei ihm war, als er Lazarus aus dem Grabe rief und von den Toten auferweckte, rühmte die Tat.
18 Darum ging ihm auch die Menge entgegen, weil sie hörte, er habe dieses Zeichen getan.
19 Die Pharisäer aber sprachen untereinander: Ihr seht, dass ihr nichts ausrichtet; siehe, aalle Welt läuft ihm nach.

Liebe Gemeinde.
Wenn Staatsoberhäupter oder Stars empfangen werden, darf der Rote Teppich nicht fehlen. Er wird meist lang ausgerollt, auf Treppen, aber auch am Flughafen, und soll die Bedeutung der Personen, die darüber gehen, zum Ausdruck bringen.
Seine Geschichte ist Jahrtausende alt. Bereits im antiken Griechenland wurde der rote Teppich den Kriegshelden bei ihrer Rückkehr ausgelegt. Er war purpurrot, weil diese Farbe lange Zeit ein kostspieliger Luxus war, den sich nur einflussreiche Menschen leisten konnten. Bis heute verbinden wir mit dieser Farbe Eleganz und Einfluss, Liebe und Freude. Für die Helden von heute, Könige, Präsidenten und Filmgrößen gehört der Gang über den Roten Teppich zum Geschäft. Der Effekt ist derselbe geblieben: Bewunderung.
Wenn die Menschen in Jerusalem, die Jesus damals empfangen haben, einen roten Teppich zur Hand gehabt hätten, dann wäre er auch für ihn ausgerollt worden. Doch sein Einzug in die Stadt geschah eher spontan, er war nicht vorbereitet, und so improvisierten die Leute. Sie behalfen sich mit ihren Kleidern und Palmenzweigen.
Wir kennen die Geschichte alle. Beim Einzug Jesu in Jerusalem lief die Menge zusammen und begrüßte ihn überschwänglich. Es waren die Festpilger, die sowieso schon nach Jerusalem gekommen waren. Denn das alles ereignete sich kurz vor dem Passahfest. Da war die Stadt voller Menschen, die von überall her angereist waren, um zu feiern. Viele von ihnen kannten Jesus bereits oder hatten zumindest etwas von ihm gehört. Sie wussten, er konnte Wunder tun, und sie hielten ihn für den Messias, den großen Retter. So begrüßten sie ihn wie einen politischen König, einen Befreier, der ein neues Reich aufbauen würde. Sie nahmen Palmenzweige und riefen: „Hosianna“. Das heißt auf Deutsch: „Hilf doch“. Das war normaler Weise der Gruß für den König beim Einzug in den Tempel. Und so nennen sie Jesus auch: „König von Israel.“
Der Grund für diese Huldigung war ein Wunder, das er kurz vorher bewirkt hatte. Er hatte Lazarus von den Toten auferweckt, einen Mann, den einige von ihnen kannten. Die Nachricht darüber hatte sich in Windeseile in der Stadt verbreitet, und die Menschen waren entsprechend begeistert und aufgeregt. Es ist verständlich, dass sie ihn mit Tanz und Gesang willkommen hießen.
In Wirklichkeit passte das allerdings gar nicht zu ihm und zu dem, was dann folgte. Die Geschichte entwickelte sich ganz anders, denn die Pharisäer, Schriftgelehrten und Hohen-priester bekamen Angst vor dieser Massenbewegung. Sie waren wütend und entsetzt und sprachen untereinander: „Alle Welt läuft ihm nach!“ Das konnten sie nicht ertragen, und sie dachten sich einen Plan aus, mit dem sie ihn fassen und vernichten könnten.
Jesus wusste das, und es sieht so aus, als ob er absichtlich in die Falle gegangen ist, die ihm in Jerusalem gestellt werden sollte. Möglicherweise wollte er auch gar nicht so großartig empfangen werden, denn was er brachte, war etwas ganz anderes, als die Menschen erwarteten.
Es klingt in dieser Geschichte an, und wir können es mit den beiden Stichworten „Gehorsam“ und „Liebe“ benennen. Der Gehorsam wird daran deutlich, dass er hier nur tut, was in der Bibel vorgezeichnet war. Es war nicht seine Idee, so nach Jerusalem zu kommen, er folgte einfach seiner Bestimmung und sagte selber nichts. Er wollte nicht die Macht ergreifen, sondern schwieg und lieferte sich aus.
Und dass er in liebevoller, friedfertiger Absicht kam, wird an dem Reittier deutlich, dass er wählte. Es war bewusst ein Esel und kein Pferd, denn die wurden damals nur im Krieg verwandt. Sie zogen die Streitwagen und trugen die Soldaten. Ein Esel dagegen bedeutete von vorne herein, dass jemand frei von Aggressionen war und es gut meinte. Und das war die Grundhaltung Jesu, das machte ihn aus. Deshalb passte der triumphale Einzug, den die Menschen ihm bereiteten, eigentlich nicht zu ihm und seinem Weg.
Trotzdem ist die Geschichte wichtig, um Jesus zu verstehen, denn sie will gerade diesen Widerspruch hervorheben. Es soll gezeigt werden, dass Jesus entgegen allem, was danach geschah, doch etwas Göttliches an sich hatte, und dass es richtig war, wie die Menschen ihn empfingen. Er war der Sohn Gottes. Und das Kreuz, an dem er starb, war keine Niederlage, sondern von Gott gewollt und damit in geheimnisvoller Weise bereits seine Erhöhung. Und die ist in der Tat ein Grund zum Feiern und zur Freude.
Das ist hier die Botschaft, und die bedeutet für uns zweierlei: Zum einen sollen auch wir Jesus in unserem Leben wie einen König empfangen, in ihm den Sohn Gottes erkennen, ihm vertrauen und ihn mit Ehren begrüßen. Zum anderen sollen wir unser eigenes Leid annehmen und Jesus in Tod und Auferstehung folgen. Wir können uns also vorstellen, dass wir ihm in unserem Geist und unserer Seele einen roten Teppich ausrollen, ebenso in unserer Gemeinschaft und unserem Handeln. Denn er kommt immer noch zu uns und lädt uns zur Nachfolge ein. Er will uns seine Liebe schenken und auch uns zum Gehorsam befähigen.
Doch was heißt das nun? Und wollen wir das überhaupt? Das klingt zum einen recht fromm und innerlich. Wo bleiben die Taten und die Lebensgestaltung? Zum anderen mögen wir den Gehorsam nicht besonders, schon gar nicht, wenn es um Leiden und Sterben geht. Das vermeiden wir lieber, und so organisieren wir auch unser Leben.
Selbst als Christen sind wir am liebsten aktiv. Wir haben vor Augen, was Christus alles Gutes getan hat, und das streben wir ebenfalls an. Wir wollen unser Leben und die Welt mitgestalten, sie besser machen, etwas tun und bewirken. So setzen wir uns für unser Wohlbefinden und auch unsere Mitmenschen ein, engagieren uns für Frieden und Gerechtigkeit, üben Nächstenliebe und leben Gemeinschaft. Und das wird auch von uns erwartet. Die Welt hat genau dieses Bild von den Christen. Wir stehen Forderungen und Vorstellungen gegenüber und versuchen, sie zu erfüllen.
Dadurch haben wir so unsere Fragen an zu viel Innerlichkeit und Leidensbereitschaft. Das ist uns wie gesagt oft zu wenig und auch zu unbequem.
Aber ist unser Konzept schlüssig? Geht diese Strategie der Werke und Taten auf? Wir sollten auch einmal anders herum fragen, ob denn all die Aktivitäten, die wir so ausüben, wirklich heilbringend sind. Dabei können wir uns vorstellen, dass Jesus das tut. Er steht vor uns und fragt uns: Wo willst du hin? Wonach sehnst du dich, und findest du es? Erreichst du deine Ziele? Und wie geht es dir dabei? Dann müssen wir zugeben, dass vieles an unserer Lebensführung zweifelhaft ist. Zum einen stehen wir dauernd unter einem gewissen Druck. Wir beugen uns unter Leistungsanforderungen und sind irgendwann erschöpft. Müdigkeit stellt sich ein. Denn Enttäuschungen und Niederlagen bleiben nicht aus, und all das zehrt an unseren Kräften und unserer Motivation. Unsere eigenen Grenzen planen wir nicht ein, denn wir wollen gerne gut sein, sogar möglichst perfekt.
Doch irgendwann bekommen wir zu spüren, dass das nicht so einfach ist, und das tut dann weh. Wir bleiben irgendwo stecken, irgendetwas macht uns einen Strich durch die Rechnung und wir müssen aufgeben. Der Lebensentwurf, bei dem das eigene Handeln im Mittelpunkt steht, funktioniert nur so lange, wie wir gesund und kräftig sind. Alter, Schwachheit und Krankheit haben keinen richtigen Platz darin. Auch Trauer und Verlust, Angst und Sorgen müssen außen vor bleiben. Auf das Leid gibt uns diese Einstellung keine befriedigende Antwort. Es stört einfach nur, und der Tod erst recht.
Das alles sollten wir erkennen und zugeben, wenn Jesus uns fragt, ob unser Leben eigentlich gelingt. Denn das öffnet uns macht uns empfangsbereit. Wir begrüßen ihn plötzlich gerne, und das Evangelium gewinnt eine ganz neue Strahlkraft. Wir ahnen, dass Jesus auf die Fragen, die er uns stellt, eine Antwort hat. Und die besteht darin, dass er uns einlädt und befähigt, unser Leid anzunehmen, die Unvollkommenheit auszuhalten und nicht alles von unserer eigenen Kraft zu erwarten. Er zeigt uns, dass wir uns ruhigen Gewissens den Forderungen auch einmal entziehen und uns von dem Druck befreien dürfen. Denn wir müssen uns unter nichts anderes beugen, als unter ihn und seine Liebe. Er rührt uns an und kann uns verändern. Die Wirkung des Evangeliums beginnt im eigenen Leben, in der Seele und im Geist. Und nur wenn das geschieht ist, kann sich auch um uns herum etwas tun. Der Weg der Liebe Christi geht von innen nach außen.
Es ist also wirklich ratsam, Jesus immer wieder den roten Teppich in unserem Leben auszurollen, ihn einziehen zu lassen und ihn mit Ehren zu empfangen. Es gilt, sich selber zu spüren und die eigene Erlösungsbedürftigkeit anzunehmen. Leid und Tod lassen sich nicht vermeiden, geschweige denn abschaffen. Sie gehören zu unserem Leben dazu, und es ist heilsam, sie einzubeziehen. Dazu will Jesus uns befähigen, diese Kraft will er uns schenken.
Und nicht nur das, er befreit uns auch von unseren Nöten. Denn er kommt wirklich zu uns und nimmt unser Leben in seine Hand. Er ist längst auf dem Weg und schenkt uns seine vollkommene Liebe. Bei ihm finden wir, was wir suchen. Wir müssen nur zu ihm rufen, ihn im Geist begrüßen und ihm nachfolgen.
Dann verändert sich etwas. Wir kreisen damit nicht um uns selbst und versauern auch nicht in unseren Kirchen. Wenn wir wirklich erleben, wie nah Jesus uns ist, und seine Hilfe annehmen, dann treibt uns das auch zu den Menschen. Ganz von alleine geben wir seine Liebe weiter und schenken das, was wir empfangen haben, anderen. Wir gestalten die Welt und unser Miteinander durch die Kraft Christi.
Und das unterscheidet sich von dem, was andere Menschen erreichen. Wir Christen sind ja nicht die Einzigen, die sich für die Welt engagieren. Gerechtigkeit und Frieden werden auch von anderen Gruppen und Institutionen propagiert. Sie sind kein Alleinstellungsmerkmal der Kirchen, wie man so schön sagt. Wenn es nur darum ginge, bräuchten wir Christus auch nicht unbedingt. Das geht mit der Vernunft und einem besonnenen Verhalten genauso gut.
Wenn wir aber nach einer wirklich tiefgreifenden Antwort auf das Leid suchen, auf Fragen, für die es keine einfache Lösung gibt, die uns ratlos machen und verstummen lassen, um den Sinn des Lebens und die Schrecken des Todes, dann brauchen wir mehr. Dann brauchen wir den, den Gott gesandt hat, um uns einen Weg zu bahnen, der weiterführt, der die Ewigkeit für uns öffnet und uns ein Heil schenkt, das größer ist als diese Welt.
Wir sind eingeladen, an den Sohn Gottes zu glauben. Und nur wenn wir ihm immer wieder den roten Teppich ausrollen, werden wir wirklich befreit und erlöst. Amen.

Durch Sterben zum Leben

Predigt über Johannes 12, 20- 26: Die Ankündigung der Verherrlichung

4. Sonntag der Passionszeit, Lätare, 15.3.2015, 9.30 Uhr, Lutherkirche Kiel

Johannes 12, 20- 26

20 Es waren aber einige Griechen unter denen, die heraufgekommen waren, um anzubeten auf dem Fest.
21 Die traten zu Philippus, der von Betsaida aus Galiläa war, und baten ihn und sprachen: Herr, wir wollten Jesus gerne sehen.
22 Philippus kommt und sagt es Andreas, und Philippus und Andreas sagen’s Jesus weiter.
23 Jesus aber antwortete ihnen und sprach: Die Zeit ist gekommen, dass der Menschensohn verherrlicht werde.
24 Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht.
25 Wer sein Leben lieb hat, der wird’s verlieren; und wer sein Leben auf dieser Welt hasst, der wird’s erhalten zum ewigen Leben.
26 Wer mir dienen will, der folge mir nach; und awo ich bin, da soll mein Diener auch sein. Und wer mir dienen wird, den wird mein Vater ehren.

Liebe Gemeinde.
Es gibt vier liturgische Farben zu den verschiedenen Festen und Zeiten des Kirchenjahres, in denen jeweils passende Paramente aufgehängt werden, vor dem Altar und an der Kanzel. Jetzt sind sie violett, denn das ist die Farbe der Sammlung für die Buß- und Fastenzeiten. Ostern ist dann die Farbe Weiß dran, die als Innbegriff des Lichtes gilt. Wir nehmen sie für alle Christusfeste und besonderen Feiertage. Dann gibt es noch rot, die Farbe, die an die Liebe, das Feuer und das Blut erinnert und für die Feste des Heiligen Geistes und der Kirche vorgesehen ist. Und die vierte Farbe ist grün als Symbol für das Wachstum. Sie hängt hier in den Zeiten ohne besondere Feste.
Für den heutigen Sonntag, den vierten Sonntag der Fastenzeit steht nun im Sonn- und Feiertagskalender folgender Hinweis: „Wegen des freudigen Charakters des Tages kann das Violett zum Rosa aufgehellt werden.“ Rosa ist eine Mischfarbe aus viel Weiß und blaustichigem Rot. Es hat einen optimistischen, erfreulichen und positiven Charakter. Aber natürlich haben wir kein rosa Parament, denn wer schafft sich so etwas schon für einen einzigen Sonntag im Kirchenjahr an?
Trotzdem ist die Anweisung interessant. Sie besagt, dass der Ernst der Fastenzeit heute einmal kurz unterbrochen wird, ein kleiner Spalt öffnet sich und wir sehen bereits etwas von der Freude, auf die wir uns in dieser Zeit vorbereiten, von Ostern und der Auferstehung.
Das kommt auch sehr deutlich in der Lesung aus dem Johannesevangelium zum Ausdruck, die wir vorhin gehört haben. Sie ist ein Teil eines Gespräches, das Jesus mit seinen Jüngern führt. Sie waren bereits in Jerusalem, um am Passafest teilzunehmen. Die Stadt war also voll von Menschen, und Jesus hatte bei seinem Einzug auch Aufsehen erregt.
Nun wollten ein paar Griechen „ihn sehen“ und baten den Jünger Philippus, ihnen eine Audienz zu vermitteln. Damit fängt der Abschnitt an. Die Griechen spielen dann allerdings gar keine Rolle mehr, denn zu der Begegnung kommt es nicht. Wahrscheinlich werden sie hier nur erwähnt, weil sie keine Juden, sondern Heiden waren. Es soll gezeigt werden, dass die Heiden sich bereits vor Ostern für Jesus interessierten, ihn aber da noch nicht „sehen“ konnten. Erst nach seiner Auferstehung, durch die Wirkung des Heiligen Geistes kamen auch sie zum Glauben an ihn und gehörten zur Kirche. Hier geht Jesus noch nicht auf sie ein.
Er führt vielmehr mit seinen Jüngern ein Gespräch und kündigt ihnen seine „Verherrlichung“ an: „Die Zeit ist gekommen, dass der Menschensohn verherrlicht werde.“ Das sind seine einleitenden Worte. Die klingen zwar großartig, bedeuten aber, dass Jesus kurz vor seinem Kreuzestod stand. Das ganze Johannesevangelium ist von der Vorstellung durchzogen, dass Jesus am Kreuz bereits verherrlicht wurde. Die gesamte Erzählung läuft auf dieses Ereignis zu. Seine Sendung erfüllt sich darin, und nun ist diese Stunde nah.
Das wusste Jesus, und hier redet er darüber mit seinen Jüngern. Vor allen Dingen will er es ihnen erklären, und das tut er mit einem Bild aus der Natur oder der Landwirtschaft: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht.“ Damit beschreibt er seinen Tod und dessen Wirkung. Er wird nicht sinnlos sein, sondern Frucht tragen und neues Leben schaffen. Er wird den Menschen das Heil bringen.
Doch das geschieht nur, wenn sie ihm glauben und ihm nachfolgen. Und was das bedeutet, sagt er mit dem nächsten Satz: „Wer sein Leben lieb hat, der wird’s verlieren; und wer sein Leben auf dieser Welt hasst, der wird’s erhalten zum ewigen Leben.“ Liebe und Hass werden als Stichworte eingeführt, und die sind in diesem Zusammenhang überraschend und provozierend: Der Mensch soll sein Leben „hassen“ und Gott lieben. Er soll in dieser Welt ebenfalls den Tod annehmen und sich auf die Ewigkeit ausrichten, auf das Leben nach oder außerhalb dieser Welt. Das ist die Aufforderung Jesu, und sie ist eine starke Zumutung an die Hörer. Er fordert sie bewusst heraus, wie er es ja oft getan hat.
Hier setzt er die Aussage mit dem traditionellen Nachfolgespruch fort, der lautet: „Wer mir dienen will, der folge mir nach; und wo ich bin, da soll mein Diener auch sein. Und wer mir dienen wird, den wird mein Vater ehren.“ Wer zu Jesus gehören will, muss sich für ihn entscheiden und ihm auf dem Weg zum Kreuz folgen, d.h. er muss bereit zum Leiden und Sterben sein. Nur dann wird er dort hinkommen, wo Jesus sein wird: in die Herrlichkeit des Vaters, zu Gott. Der wird ihn dann „ehren“, und damit ist in diesem Zusammenhang retten und lieben gemeint. Er wird ewiges Leben empfangen, Freude und Glückseligkeit.
Das ist hier die Botschaft, und die hat in der Tat einen gemischten Charakter, so wie die Farbe rosa eine Mischung ist. Sie ist weder ganz weiß noch ganz dunkel, sondern liegt irgendwo dazwischen. Und wir müssen uns fragen, was wir damit anfangen können. Wie wirkt das auf uns?
Möglicherweise hören wir hauptsächlich die dunklen Töne, denn sie ärgern uns. Einiges passt ganz und gar nicht in unser Denken. Warum sollen wir unser Leben „hassen“? Das ist doch völlig ungesund! So ist unsere Meinung, denn das klingt nach „Selbsthass“, und die Psychologie hat längst erkannt, welche zerstörerische Wirkung der hat. Meistens sind bereits negative Erlebnisse die Ursache: Schuld oder Gewalt, die einem widerfahren ist. Menschen meinen, sich selber bestrafen zu müssen und sie tragen diese Neigung ständig mit sich herum. Ein Leben im „Selbsthass“ ist geprägt von Zweifeln und Vorwürfen, Angst und Depression. Zerstörerische Kräfte sind am Werk.
Wer darunter leidet, braucht deshalb auf jeden Fall Hilfe, und die kann er auch bekommen. Es gibt wirksame Therapien, erfolgreiche Methoden, mit denen die betroffenen Menschen lernen, sich selber wieder zu lieben und zu achten. Denn nur wenn wir das können, sind wir auch lebensfähig. Wir brauchen unsere Würde und Selbstsicherheit, die Akzeptanz und den Sinn für das, was uns eigen ist. Wir müssen lieben, was zu uns gehört, unser Leben annehmen und wertschätzen. Es ist wichtig, dass wir uns selber verwirklichen. Es macht ja auch Spaß. Darin sind wir uns alle einig, es scheint heutzutage sogar das oberste Gebot zu sein, dem wir gerne alle folgen. Selbstverwirklichung wird ganz groß geschrieben.
Was sollen wir also mit der Aussage Jesu anfangen, „unser Leben in dieser Welt zu hassen“? Ist es nicht besser, sie zu ignorieren und bei Seite zu legen? Das wäre eine Möglichkeit, denn es gibt kein Gesetz, das uns vorschreibt, die Worte Jesu ernst zu nehmen. Natürlich können wir sie ablehnen und bei unserer Meinung bleiben.
Dir Frage ist bloß, ob das etwas bringt. Möglicher Weise lohnt es sich, trotz allem, was wir dagegen haben, über die Aussagen Jesu nachzudenken. Er will uns provozieren, uns herauslocken, unsere Gedanken in Bewegung setzen, und darauf können wir uns ja einmal einlassen.
Dabei ist es ratsam, dass wir das Wort „Hass“ etwas abmildern und andere Formulierungen Jesu beachten, die das Gleiche zum Ausdruck bringen. Wir finden sie sogar in demselben Satz, denn es geht um das Gegenteil von „lieben“, und es ist vom „verlieren“ die Rede. Außerdem ist wichtig, dass Jesus vom „Leben in dieser Welt“ redet. Wir sollen uns gar nicht „selber hassen“, nicht unseren Charakter oder unsere Geschichte, sondern eine bestimmte Tatsache, die problematisch ist. Und das ist unsere Zugehörigkeit zu dieser Welt, wir können auch sagen, unsere Gefangenschaft im Diesseits. Jesus will uns an die Endlichkeit und Begrenztheit des Lebens erinnern. Es ist vergänglich und führt viel Leid und Not mit sich. Denn die Welt, von der wir ein Teil sind, ist noch unerlöst. Es geht Jesus darum, dass wir das Leben in dieser Welt deshalb nicht unnötig festhalten, es nicht überbewerten und immer wieder seine Unvollkommenheit entlarven. Er lädt uns zur Nüchternheit und zur Distanz gegenüber der Welt ein. Wir sollen uns nicht in ihr verlieren, sondern wachsam sein und immer wieder loslassen. Wer sich an der Welt festhält, ist nicht gut beraten, denn er hält sich an Flüchtiges und manchmal auch an Böses. Er zieht das Unvollkommene dem Vollkommenen vor, das Zeitliche dem Ewigen, und das ist kein guter Weg. Er führt nicht zum Heil.
Jesus meint also nicht den „Selbsthass“, den die Psychologie zu Recht als krankhaft eingestuft hat, sondern einen gesunden Realismus. Wir sollen uns nicht selber zerstören, sondern „lernen, dass wir sterben müssen“, uns selber loslassen und unser Ich hingeben. Und das ist etwas ganz anderes.
Es ist auch kein Selbstzweck, sondern ein Weg, auf dem wir ein bestimmtes Ziel erreichen. Jesus hat etwas vor Augen, etwas Schönes und Herrliches, und das will er auch uns ermöglichen: „Wir sollen sein, wo er ist“, und die Liebe Gottes empfangen. Und das ist etwas ganz Großes, das ist mehr als diese Welt, das ist Freude und ewiges Leben.
Es lohnt sich also tatsächlich, seine Worte ernst zu nehmen und nicht zu sehr an diesem Leben zu hängen. Wir müssen es nicht aktiv hassen, sondern einfach nur erkennen, dass es uns lange nicht alles bieten kann, was wir uns wünschen. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass Selbstliebe und Selbstverwirklichung zum Glück führen, dass sie der allein seligmachende Weg sind.
Wenn wir ehrlich sind, wissen wir das auch. Wo führt es denn hin, wenn wir uns nur um uns selber drehen? Sicher ist eine Therapie in vielen Fällen zunächst wichtig und nötig, aber irgendwann ist die ja auch mal abgeschlossen. Dann sind wir hoffentlich stabil, und es kann weitergehen. Und darum geht es, um eine Lebensweise, die noch viel mehr beinhaltet als psychische Stabilität, noch mehr als Gesundheit und Ichstärke. Es geht um eine ganz große Freiheit und Gelassenheit, um echte Erlösung und „Verherrlichung“. Und die erreichen wir nur, wenn wir bereit sind zu sterben, d.h. unser Ich relativieren und wieder loslassen. Jesus lädt uns zu einer Lebenseinstellung ein, die nicht dauernd nach Problemlösungen fragt, sondern die das Leid einbezieht, bei der wir auch zu dem, was schwer ist, „ja“ sagen. Geduld und Leidensbereitschaft spielen dabei eine Rolle, und das sind positive und lebensschaffende Tugenden. Sie führen uns in eine große Ruhe, zum inneren Frieden und zu Gott. Um ihn geht es letzten Endes, Jesus möchte uns seine Nähe schenken. Und sie wird uns auch nur durch ihn, Jesus, möglich. Denn nur wenn wir ihn vor Augen haben, können wir loslassen und uns hingeben.
Und das ist ein ganz anderes Leben, als wenn wir die Selbstverwirklichung im Diesseits zu unserem Ziel erklären und nur danach fragen, was für uns jetzt in der Welt gerade das Beste ist. Vor dieser Verkürzung will Jesus uns bewahren, vor einer Reduktion, die nicht zum Heil führt. Denn wenn wir nur Selbstliebe anstreben, bleiben wir in unserem Ich gefangen, werden möglicherweise egozentrisch und selbstsüchtig. Und sie ist auf die Dauer auch anstrengend, denn wir müssen uns ständig um unser Glück bemühen. Menschen, die bis an ihr Lebensende mit ihrer eigenen Selbstverwirklichung in dieser Welt beschäftigt sind, verpassen ganz viel und haben sogar etwas Lächerliches an sich. Sie verfehlen ihre Bestimmung. Denn wir sind alle zu mehr berufen, als zu einem Leben im Diesseits. Jesus will uns die „Herrlichkeit des Vaters“ schenken, eine Hoffnung, die über den Tod hinausgeht, eine Zuversicht, die sich durch nichts erschüttern lässt und uns auch im Leid erhalten bleibt.
Er will, dass wir „Frucht bringen“, so wie das Weizenkorn, das in die Erde fällt. Das ist ein wunderbares Bild für den Vorgang, den er hier beschreibt. Jeder Same muss im Erdreich verschwinden, bevor er zu einer Pflanze werden kann. So lange er an der Oberfläche bleibt, geschieht gar nichts. Irgendwann vertrocknet er. Erst wenn er in der Erde „erstirbt“, entsteht daraus neues Leben. Dieses Gesetz von Werden und Vergehen durchzieht die ganze Schöpfung. Es ist wie ein Schwingen vom Tod zum Leben, und darin müssen wir einwilligen, das müssen wir annehmen. Nur dann kann es hell in uns werden.
Und das ist in der Tat eine freudige Botschaft, zu der die Farbe rosa sehr gut passt. Das dunkle Violett mischt sich mit Weiß, denn wir erkennen bereits das Ziel, dem die Sammlung und die Buße der Fastenzeit dienen. Die Einladung Jesu, ihm zu folgen, hat einen optimistischen und positiven Charakter. Ein kleiner Spalt öffnet sich und wir erleben schon jetzt etwas von der Freude der Auferstehung, die wir Ostern feiern dürfen.
Amen.