Mission heute

Predigt über 2. Thessalonicher 3, 1- 5:
Wünsche de Apostels

5. Sonntag nach Trinitatis, 20.7.2014, 9.30 und 11.00 Uhr
Luther- und Jakobikirche Kiel

 

Liebe Gemeinde.

„Es ist kein Geheimnis, dass ich Jesus liebe.“ Dieser Satz stand auf Englisch als kleines Logo auf dem Pullunder von Pastor Calvin Koola aus Tansania. Wir haben ihn am Mittwoch vor einer Woche bei einem „Abend der Begegnung“ getroffen. Sechs Mitglieder des Kirchenkreises Ostkilimanjaro sind gerade zu Besuch in Kiel, um zu erfahren, wie wir hier leben. Die Einladung erfolgte im Rahmen des Projektes unseres Kirchenkreises Altholstein zu Gunsten der Aidswaisen.
Ich fand die Begegnung mit Pastor Koola sehr bewegend. Nicht nur der Satz auf seinem Pullunder, auch seine ganze Haltung waren für uns ungewohnt: Er ist Pastor, weil er sich dazu berufen fühlt, und er möchte gerne Menschen retten. Dafür nimmt er es in Kauf, relativ wenig Geld zu verdienen. Und es ist für ihn auch völlig abwegig, nebenbei noch etwas anderes für seinen Broterwerb zu tun. Er hat sein Leben dem Evangelium gewidmet. Er steht Jesus ganz zur Verfügung und vertraut darauf, dass er immer genug zum Leben haben wird. Er ist mit Leib und Seele nicht nur Pastor, sondern auch Missionar.
Und damit ist er den biblischen Gegebenheiten sehr nahe, genauso ging es Paulus und den ersten Aposteln. Für sie war nichts wichtiger, als dass das Wort des Herrn sich ausbreitete. Ihr Leben war unauflöslich mit der missionarischen Verkündigung verbunden. Sie freuten sich über die Gemeinden, die sie geründet hatten, baten sie um Unterstützung bei ihrem Auftrag und ermutigten sie, sich ebenfalls für die Weitergabe des Evangeliums einzusetzen. Das kommt an vielen Stellen in den Briefen von Paulus zum Ausdruck, so auch in einem Abschnitt im zweiten Brief an die Thessalonicher, der heute unser Predigttext ist. In Kapitel drei schreibt Paulus in Vers eins bis fünf:

2. Thessalonicher 3, 1- 5
1 Weiter, liebe Brüder, betet für uns, dass das Wort des Herrn laufe und gepriesen werde wie bei euch
2 und dass wir erlöst werden von den falschen und bösen Menschen; denn der Glaube ist nicht jedermanns Ding.
3 Aber der Herr ist treu; der wird euch stärken und bewahren vor dem Bösen.
4 Wir haben aber das Vertrauen zu euch in dem Herrn, dass ihr tut und tun werdet, was wir gebieten.
5 Der Herr aber richte eure Herzen aus auf die Liebe Gottes
und auf die Geduld Christi.

Das sind Wünsche des Apostels für sich selbst und die Gemeinde. Er ist auf ihre Hilfe bei seinem Dienst angewiesen, deshalb sollen sie für ihn im Gebet eintreten. Er möchte gerne, dass „das Wort des Herrn“ von einem Menschen zum anderen, von einer Stadt zur anderen „laufe“ und so zu allen Völkern dringt, damit die ganze Welt für Christus gewonnen wird. In Thessalonich war es bereits angekommen, dort wurde Christus „verherrlicht und gepriesen“, und das soll sich überall ereignen. Keine feindlich gesinnten Menschen sollen es hindern. Paulus wusste sehr wohl, dass der Glaube an Christus nicht bei jedem ankommt, aber wer dafür offen ist, der soll auch erreicht werden. Dabei vertraut er hauptsächlich auf Gott und seine Treue. Gott selber wird dafür sorgen, dass die Menschen von Jesus Christus hören und gerettet werden. Das war ja auch in Thessalonich geschehen, daran erinnert er noch einmal: Die Menschen dort haben dem Wort geglaubt. Deshalb wird Christus, der Herr, sie auch nicht verlassen, sondern stärken und vor den feindlichen Mächten beschützen. Das verheißt Paulus ihnen. Und er bittet Gott am Ende seinerseits für die Thessalonicher: Er möge „ihre Herzen auf die Liebe Gottes und auf die Geduld Christi lenken“. Paulus weiß, dass es nicht in des Menschen Hand liegt, ob jemand durchhält. Er bittet also um eine bestimmte innere Ausrichtung, um geistliche Führung und Lenkung der Herzen. Gott möge dafür sorgen, dass die Thessalonicher immer seine Liebe spüren und daraus leben. Gleichzeitig wünscht er ihnen Ausdauer und Standhaftigkeit, dass sie in der Lage sind, geduldig auf Christus zu warten und an seiner Gegenwart festzuhalten.
Und diese Wünsche gelten auch uns. So könnte Paulus zu allen Christen reden, das ist auch unser Auftrag und unsere Verheißung: Es lohnt sich, wenn wir zu unserm Glauben stehen und ihn gegenüber feindlichen Mächten verteidigen. Gott möchte, dass wir uns unbeirrt zu Christus bekennen. Wir müssen uns für ihn nicht schämen, es muss kein Geheimnis bleiben, dass wir an ihm vertrauen. Und auch uns wird verheißen, dass Christus uns dabei hilft, dass er uns Kraft und Ausdauer verleiht, und wir immer in seiner Liebe bleiben. Und wenn das geschieht, wenn wir unser Leben in seiner Gegenwart führen und daraus kein Geheimnis machen, tragen wir auch heute noch dazu bei, dass das Evangelium sich ausbreitet, dass Menschen den rettenden Ruf vernehmen und sich Christus anvertrauen.
Aber wollen wir das überhaupt? Sind Mission und Verkündigung eine wichtige Angelegenheit für uns? In dem Gespräch mit Pastor Koola wurde deutlich, dass diese Themen bei uns in den Hintergrund geraten sind, und wir hier in Deutschland in unseren Landeskirchen inzwischen ein anderes Bewusstsein haben. Für einige Gesprächsteilnehmer war es schwer nachzuvollziehen, was Pastor Koola bewegte. Denn wir halten es nicht mehr für zeitgemäß, Mission zu treiben, andere Menschen überzeugen und gewinnen zu wollen und dafür Opfer zu bringen.
Im Unterschied zu ihm haben wir uns in unseren Gemeinden häuslich eingerichtet und leben so eine Art „bürgerlichen Protestantismus“. Und dazu gehört es, dass noch viele andere Dinge das Leben ausmachen, die mindestens genauso wichtig sind, wie der Glaube: Unsere Arbeit und unser Wohlstand, unsere Familien und Freunde, Reisen und Kultur und vieles mehr. Die Prioritäten setzen wir dabei nach Interessen und Neigungen. Für den einen ist es wichtiger, den Garten zu pflegen, andere gehen lieber Segeln usw. Auf jeden Fall ist der Glaube und die Kirche dabei eine von vielen Möglichkeiten, das Leben anzureichern.
Und dabei sind wir natürlich auch tolerant gegenüber anders Denkenden. Wir unterstützen den Pluralismus und begrüßen es, dass jeder und jede in unserer Gesellschaft nach ihrer Überzeugung glücklich werden darf. Manchmal ist es uns vielleicht sogar peinlich, uns zu unserem Glauben zu bekennen. Wir behalten ihn am liebsten für uns selbst, betrachten ihn als etwas sehr Intimes und als eine Privatsache.
Deshalb fänden wir es auch ganz normal, wenn ein Pastor, der durch seinen kirchlichen Dienst nicht genug zum Leben hätte, noch andere Geldquellen auftut. Die Verkündigung kann ja auch so eine Art Hobby sein, wichtig ist, dass der Mensch seinen Lebensunterhalt verdient, das hat auf jeden Fall in unserem Denken Vorrang. In dem Gespräch mit Pastor Koola wurde das deutlich.
Dieses Bewusstsein schlägt sich auch in unserem Gesangbuch nieder. In der früheren Ausgabe vor 1995 gab es im Inhaltsverzeichnis noch die Stichworte „Mission“ und „Evangelisation“, die tauchen nun nicht mehr auf. Und insgesamt sind neun Lieder zu diesem Thema nicht wieder aufgenommen worden. Sie enthalten eine Theologie und auch Begriffe, die uns fremd geworden sind. Da wird Jesus oft als „König“ bezeichnet, sein „Reich“ soll sich ausbreiten, er soll uns „ausrüsten“ mit „Waffen aus der Höhe“. Es geht um „Kampf“ und „Streit“, um Einsatz und Opferbereitschaft. Und das klingt uns viel zu militärisch und imperialistisch. Vor 150 Jahren war das Denken in unseren Kirchen vielleicht so, inzwischen haben wir es abgelegt. Heute singen wir lieber von den „vielen Strahlen, die alle aus einem Licht brechen“ (EG 268), und in unserem Anhang fehlt die Rubrik „Sammlung und Sendung“ ganz.
Einerseits ist das natürlich ein Fortschritt. Vielleicht waren die Missionare wirklich vom Eroberungsgeist infiziert, der um die Wende vom 19. zum 20 Jahrhundert die Politik bestimmte. Vieles war in den damaligen Missionsbewegungen sicher nicht gut. Wir sind inzwischen mit unseren Erkenntnissen weiter gekommen, nehmen Rücksicht auf die Andersartigkeit fremder Kulturen und Denkweisen und respektieren das Lebensgefühl unserer Mitmenschen nah und fern.
Aber müssen wir uns deshalb mit unserem Glauben verstecken? Kann es nicht sein, dass es Menschen gibt, die sehnsüchtig auf Antworten warten, die wir ihnen geben könnten? Was kommt denn dabei heraus, wenn wir unsere Prioritäten so verteilen, wie ich es beschrieben habe, wenn Geld und Unterhaltung, Geselligkeit und Gesundheit die wichtigsten Themen sind? Unzählige Bereiche der Seele und des Lebens gehen auf diese Weise leer aus.
Denn es gibt in jedem und jeder von uns eine Sehnsucht, die weit über das alles hinausgeht, die sich nicht so leicht befriedigen lässt. Ebenso gibt es Ängste und Sorgen, die wir nicht so schnell loswerden. Sie entstehen z.B., wenn uns eine Krankheit befällt, für die die Medizin keine Lösung hat, oder wenn die Arbeitsstelle unsicher wird. Das Scheitern und die Niederlage sind immer um die Ecke und lauern darauf, uns aus der Bahn zu werfen. Auch Schuld, Traurigkeit und Sinnlosigkeit können uns heimsuchen, und vieles mehr. Die Liste der Nöte, die auch in einer Wohlstandsgesellschaft auftauchen, ist lang, und das Leid, das bei uns vorhanden ist, oft groß. Wir verdrängen das bloß ganz gerne und lenken uns, so lange es geht, von all diesen Problemen ab.
Doch letzten Endes reicht diese Strategie natürlich nicht, und das wissen wir zutiefst auch. Unser Wohlstand ist brüchig und gefährdet, und wir täuschen uns, wenn wir ihn zur Priorität machen. Es ist eine Illusion, wenn wir das Heil von der Welt erwarten, das ahnen wir alle. Tief in uns spüren wir, dass es noch mehr geben muss, etwas Größeres, einen Sinn und eine Hoffnung, die über diese Welt hinausweisen.
Und genau das hat Jesus uns gebracht. Er ist in die Welt gekommen, um uns eine Tür zur Ewigkeit zu öffnen. Er möchte uns mit Gott in Verbindung bringen und mit seiner Liebe. Er möchte uns einen Grund und eine Freude geben, die nicht vergehen, auch wenn alles andere sich verdunkelt. Und es ist gut, wenn wir das zu unserer Priorität machen, wenn auch bei uns das Evangelium wieder Thema Nummer eins wird.
Das muss nicht heißen, dass wir nun den ganzen Tag beten und jeden Menschen in ein Gespräch über den Glauben verwickeln. Es reicht, wenn auch wir „kein Geheimnis daraus machen, dass wir Jesus lieben“ und ihn in unserem Denken und Fühlen an erste Stelle setzen. Die Frage, die uns heute gestellt wird, ist hauptsächlich die nach unserem Bewusstsein und unserer inneren Ausrichtung.
Um die geht es auch Paulus gegenüber den Thessalonichern. Er bittet sie ja nicht darum, nun zu Aktivisten zu werden, sondern sie sollen „für ihn und für das Evangelium beten“. Das ist sein Hauptanliegen, und das können auch wir tun. Wir können uns an Gott wenden und ihm etwas zutrauen. Beim Beten stellen wir uns bewusst in seine Gegenwart und halten an ihm fest. Wir glauben an seine „Treue“ und an seine „Liebe“.
Es gilt zu erkennen, dass nicht Gott ein Teil unseres Lebens und Denkens ist, ein Thema unter vielen, sondern wir sind ein Teil von ihm. Unser Leben und das vieler anderer Menschen liegt in seiner Hand. Denn er ist der Eine, die Mitte und das Ziel, auf das alles hinausläuft. Im Gebet erkennen wir das an und leben danach.
Und das ist ein wunderbares Heilmittel: Wann immer uns Traurigkeit überfällt oder das Gefühl der Sinnlosigkeit, Angst oder Verzweiflung, können wir uns an Gott wenden und uns seiner Liebe hingeben. Wir halten ihm unser Herz hin, damit die „Geduld Christi“ auf uns übergeht. Wir werden dann ruhig und getröstet, wir erleben die Gegenwart Gottes und schöpfen neue Kraft und Hoffnung.
Und die ist nicht nur für uns wichtig, sondern für die ganze Welt. In Wirklichkeit warten alle Menschen auf diese Erlösung, auf eine bedingungslose Liebe und unbeirrbare Hoffnung. Wir dürfen ihnen das deshalb nicht vorenthalten. Wer weiß, wen wir alles retten können, wenn wir unseren Glauben öfter bekennen und nicht mehr als Privatsache betrachten. Es ist nicht beliebig, ob wir Christus vertrauen, sondern für uns und für die Welt von großer Bedeutung. Wir tragen zu ihrer Rettung bei, wenn wir unsere „Herzen auf die Liebe Gottes ausrichten“ und auf die „Geduld Christi“. Denn damit eröffnen wir einen Raum, in dem andere aufatmen können, der Licht und Erlösung in die Welt bringt. Es ist ein unsichtbarer Widerstand gegen das Böse und die zerstörerischen Mächte, und es lohnt sich, dem unser Leben zu widmen.
In der Mission wird längst davon geredet, dass die sogenannten jungen Kirchen in Übersee nicht mehr unsere Mündel sind, sondern unsere Partner. Deshalb laden wir sie auch zu uns ein, damit sie uns nun etwas sagen und ihren Glauben bezeugen können. Und vielleicht hat sich das Gefälle inzwischen ja sogar umgedreht. Pastor Koola aus Tansania hat mich jedenfalls beeindruckt und inspiriert. Sein Glaube und seine Hingabebereitschaft waren ein wunderbares Zeugnis dafür, dass Jesus uns retten kann, dass die Liebe Gottes die ganze Welt umfängt und dass es gut und heilsam ist, wenn das Evangelium „läuft und gepriesen wird“. Amen.

Jeder bekommt eine zweite Chance

Predigt über Hesekiel 18, 1-4.21-24.30-32:
Gott richtet jeden nach seinem Tun

3. Sonntag nach Trinitatis, 6.Juni 2014, 11.00 Uhr
Jakobikirche Kiel

Liebe Gemeinde.
„Jeder Mensch bekommt eine zweite, dritte oder vierte Chance“. Das ist ein weit verbreiteter Satz und Gedanke, den man immer wieder hören kann. Er kommt in Geschichten und Filmen vor, in Liedern und öffentlichen Diskussionen. Einige glauben daran und finden ihn gut, andere nicht. Dabei ist er längst gängiges Muster bei vielen Vorgängen in unsrer Gesellschaft und in unsrem Leben:
Wer durch eine Prüfung fällt, darf die z.B. normalerweise wiederholen. Er bekommt eine zweite Chance. Oder wenn eine Strafe zur Bewährung ausgesetzt wird, dann steht dahinter derselbe Gedanke: Dem Täter oder der Täterin wird die Chance gegeben, sich zu bewähren, d.h. sich zu ändern und nicht noch einmal straffällig zu werden. „Versuch’s doch noch einmal!“, das raten wir uns auch gegenseitig, wenn irgendetwas schief gelaufen ist.
Ich glaube auch an diesen Satz. Er ist eine wunderbare Aussage von Hoffnung und die Feststellung, dass das Leben niemals still steht. Es gibt kein endgültiges Scheitern, und wir dürfen niemanden für alle Zeiten verurteilen und auf seine früheren Taten festlegen. Auch uns selber nicht. Der Satz will jeden davor schützen, sich aufzugeben und zu resignieren.
Und das ist zutiefst biblisch. Überall in der Bibel wird diese Hoffnung bezeugt, so auch bei dem Propheten Hesekiel im 18. Kapitel. Verse daraus sind heute unser Predigttext. Sie lauten folgender Maßen:
Hesekiel 18, 1-4.21-24.30-32
1 Und des HERRN Wort geschah zu mir:
2 Was habt ihr unter euch im Lande Israels für ein Sprichwort: »Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden«?
3 So wahr ich lebe, spricht Gott der HERR: Dies Sprichwort soll nicht mehr unter euch umgehen in Israel.
4 Denn siehe, alle Menschen gehören mir; die Väter gehören mir so gut wie die Söhne; jeder, der sündigt, soll sterben.
21 Wenn sich aber der Gottlose bekehrt von allen seinen Sünden, die er getan hat, und hält alle meine Gesetze und übt Recht und Gerechtigkeit, so soll er am Leben bleiben und nicht sterben.
22 Es soll an alle seine Übertretungen, die er begangen hat, nicht gedacht werden, sondern er soll am Leben bleiben um der Gerechtigkeit willen, die er getan hat.
23 Meinst du, dass ich Gefallen habe am Tode des Gottlosen, spricht Gott der HERR, und nicht vielmehr daran, dass er sich bekehrt von seinen Wegen und am Leben bleibt?
24 Und wenn sich der Gerechte abkehrt von seiner Gerechtigkeit und tut Unrecht und lebt nach allen Gräueln, die der Gottlose tut, sollte der am Leben bleiben? An alle seine Gerechtigkeit, die er getan hat, soll nicht gedacht werden, sondern in seiner Übertretung und Sünde, die er getan hat, soll er sterben.
30 Darum will ich euch richten, ihr vom Hause Israel, einen jeden nach seinem Weg, spricht Gott der HERR. Kehrt um und kehrt euch ab von allen euren Übertretungen, damit ihr nicht durch sie in Schuld fallt.
31 Werft von euch alle eure Übertretungen, die ihr begangen habt, und macht euch ein neues Herz und einen neuen Geist. Denn warum wollt ihr sterben, ihr vom Haus Israel?
32 Denn ich habe kein Gefallen am Tod des Sterbenden, spricht Gott der HERR. Darum bekehrt euch, so werdet ihr leben.
„Die Befreiung aus der Schuldverhaftung“, so kann die Überschrift über dieses Kapitel lauten, oder auch „die Lehre von der individuellen Schuldhaftung“. Und die war dem Propheten Hesekiel wichtig, denn er hatte es mit Menschen zu tun, die fest daran glaubten, dass sie für die Sünden ihrer Väter büßen mussten. Sie sahen deshalb keinen Weg aus ihrer Misere, sie hatten resigniert. Die Situation, die dahinter steht, war die Unterwerfung Jerusalems durch die Babylonier und das Exil. Da schien für Israel alles aus zu sein, es war der totale Zusammenbruch gewesen, eine Katastrophe, die alles in Frage stellte, was sie bis dahin geglaubt hatten. Eine andere Erklärung, als dass Gott damit die Sünden von Generationen bestrafte, hatten sie nicht. Deshalb ging das Sprichwort um: „Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden“. Es ist die zynische und verbitterte Variante des Wissens um die Erbschuld, die bereits im Buch Mose festgeschrieben war. In den zehn Geboten heißt es: „Denn ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen.“ Und da das so ist, kann man gar nichts machen, so meinten die Verbannten. Sie sahen deshalb keinerlei Perspektive, an ihrem Schicksal etwas zu ändern. Sie hatten angesichts der eigenen Misere resigniert.
Und dagegen wendet sich Hesekiel hier. Eigentlich macht das Sprichwort ja schon deutlich, wie absurd diese Einstellung ist, und das legt er sehr ausführlich dar. Er zerreißt die Fesseln der kollektiven Schuld und ruft jeden Einzelnen in die Verantwortung: Es hat nichts mit dem Verhalten des Vaters oder des Großvaters zu tun, wie es einem Menschen geht, sondern mit ihm selbst. Hesekiel zerschlägt den Bann der Belastungen durch die vorhergehenden Generationen. Jeder hat die Möglichkeit, sich zu entscheiden, wie er handeln will, welches Leben er führen möchte und wie seine Perspektiven sind. Gott beurteilt nicht nach festgelegten Mustern oder nach der Abstammung, sondern er beurteilt jeden und jede nach ihrem individuellen Weg. Nicht Gesetzmäßigkeiten bestimmen das Schicksal, sondern das eigene Herz und der Geist. Da entscheidet sich, wie es einem Menschen ergeht. Und das kann jederzeit erneuert werden. Jeder Mensch kann sich ändern, sowohl zum Guten als zum Schlechten. Es gibt ein freies Spiel der Kräfte.
Und das ist dem Propheten sehr ernst, denn es geht nicht nur um eventuelles Wohlbefinden oder einige Misslichkeiten, es geht in seinen Augen um Leben und Tod. Wer umkehrt, findet Leben, wer dagegen beim Unrecht verharrt, wird sterben. Leben beginnt für den einzelnen in dem Maß, wie Herz und Geist neu werden. Deshalb mündet die Rede des Propheten in den Ruf zur Umkehr: „Werft von euch alle eure Übertretungen, die ihr begangen habt, und macht euch ein neues Herz und einen neuen Geist.“ Damit fasst er seine Rede sozusagen zusammen.
Und das ist für das Alte Testament eine ungewöhnliche Aussage, wir würden sie eher im Neuen Testament vermuten. So haben auch Johannes der Täufer und Jesus gepredigt. Jesus hat das sogar gelebt, denn er hat bewusst niemanden auf irgendetwas festgelegt, weder auf seinen Stand noch auf sein früheres Verhalten. Er hat sich bewusst den Sündern zugewandt, die von anderen längst aufgegeben worden waren, und hat ihnen eine neue Chance gegeben. Im Gleichnis vom verlorenen Sohn hat er dieses Verhalten mit einer wunderbaren Geschichte beschrieben.
Lassen Sie uns also darüber nachdenken, was das für uns bedeutet. Im ersten Moment denken wir wahrscheinlich, das ist doch alles sonnenklar, so handeln wir längst. Es ist wie gesagt eine weit verbreitete Meinung, dass jeder mindestens eine zweite Chance verdient hat.
Trotzdem verlassen wir diese Überzeugung oft, oder genauer gesagt, wir achten nicht darauf und handeln nicht danach. Diese Lebensanschauung rutscht in den Hintergrund und andere Gedanken bestimmen unser Bewusstsein. Und zwar geschieht das an zwei Fronten: Wir beurteilen unser eigenes Leben nicht mehr so und andere Menschen auch nicht.
Was uns selber betrifft, so denken wir oft: Da kann ich nichts für, das ist Schicksal, daran haben meine Eltern schuld, meine Herkunft, auf jeden Fall andere Personen und Umstände. Ich selber habe dazu nichts beigetragen. Besonders wenn etwas schief läuft, sind das unsere ersten Gedanken. Wir suchen nach dem Sündenbock. Fallen wir durch eine Prüfung, waren die Fragen zu schwer oder die Prüfer ungerecht. Wird unser Partner oder unsere Partnerin untreu, ist sie auf jeden Fall die Böse. Gerät einer auf den sozialen Abstieg, ist es die Gesellschaft, die brutal und rücksichtslos gegenüber den Schwächeren ist. Die Liste dieser Entschuldigungen ist endlos, wir kennen sie alle und benutzen sie gern.
Oft ist sicher auch etwas daran, aber weiter führen uns diese Gedanken nicht. Im Gegenteil, dahinter steht oft Resignation. Wir geben auf und es ändert sich nichts. Unser Leben kommt zum Stillstand, oder die Not wird sogar noch größer. Wir verhalten uns genauso wie die Israeliten, die keine Chance auf Änderung sahen.
Und dagegen zieht der Prophet zu Felde, das will er nicht gelten lassen. Er fordert zu einer neuen Sichtweise auf: Jeder und jede hat in jeder Situation die Möglichkeit, etwas zu tun. Es beginnt mit der Sicht nach innen, in das eigene Herz. Was ist da eigentlich los? Das sollen wir uns fragen. Wir sollen uns eine Innenansicht angewöhnen, ein „In-sich-Gehen“, dann entdecken wir Wahrheiten, die uns vorher verborgen blieben. Vor allen Dingen entdecken wir den eigenen Anteil an der Misere.
Vielleicht waren wir einfach nicht gut genug, um eine bestimmte Prüfung zu bestehen, hatten das falsche Studienfach gewählt; wir sind irgendwelchen Träumen hinterher gelaufen, aus denen es zu erwachen gilt. Und wenn der Partner oder die Partnerin untreu wird, dann haben wir sie vielleicht nicht genug beachtet, waren zu sehr mit uns selbst oder anderen Dingen und Menschen beschäftigt. Und selbst die Sozial Schwachen tragen zu ihrer Situation bei. Niemand muss obdachlos werden oder Drogen nehmen, das ist eine Entscheidung, die die Einzelnen selbst zu verantworten haben.
Und weil das so ist, gibt es eben immer eine zweite oder dritte oder vierte Chance, wir müssen sie nur ergreifen.
Man kann z.B. eine Umschulung machen, es nach einer Ehekrise es noch einmal versuchen, und wenn das misslingt, mit jemand anderem noch einmal von vorne beginnen, oder sein Leben endlich auf die Reihe bringen. Es gibt unzählige Möglichkeiten, dem Leben eine Wende zu geben. Wir müssen nur „Herz und den Geist erneuern“.
Natürlich ist das oft ein langer Weg und der ist nicht ganz einfach. Doch das behauptet der Prophet auch nicht, und Jesus schon gar nicht. Im Gegenteil, er ist gerade deswegen gekommen, „um zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.“ (Lukas 19,10b) Im Glauben an Jesus Christus können wir diese Umkehr also vollziehen, denn er kennt jeden und jede Einzelne von uns. Er verurteilt niemanden und er vergibt jede Sünde. Wir müssen uns vor ihm für nichts schämen. Kein noch so dunkler Winkel unserer Seele veranlasst ihn dazu, uns zu verurteilen. Im Gegenteil, er will uns heilen. Er will uns herausführen aus dem Elend und uns neues Leben schenken. Wir können uns ihm anvertrauen und von ihm die Kraft erwarten, die wir brauchen. Es ist die Kraft der unendlichen Liebe Gottes. Jesus vertraut auch auf uns, er traut uns etwas zu und gibt uns immer wieder eine neue Chance. Wir müssen sie nur entdecken und ergreifen. Dann kann unser Leben neu werden.
Und nicht nur das, wir können auch dazu beitragen, dass andere Menschen sich ändern. Dass ist die zweite Front, an der die Rede des Propheten aktuell wird. Denn wenn wir so denken und mit uns selber umgehen, dann sehen wir auch andere Menschen in einem anderen Licht. Unser starres Denken löst sich auf, wir können Vorurteile abbauen und werden offener. Auch bei anderen sehen wir von innen, was los ist, und können ihnen vielleicht helfen. Wir reichen jemandem die Hand, gehen auf ihn zu, weil wir ein Potenzial in ihm entdecken, das uns vorher verborgen war. Und so leisten wir einen Beitrag dazu, dass auch er sein Leben in einem anderen Licht sieht und „umkehrt“.
Es ist also eine wunderbare Botschaft, die uns heute verkündet wird, die Botschaft von der unendlichen Gnade und Kraft Gottes, die immer und überall etwas verändern und neues Leben schaffen kann.
Im Geist höre ich nun allerdings einen Einwand, und das ist die Frage nach dem Tod, nach einer unheilbaren Krankheit oder einer Naturkatastrophe. Gibt es nicht doch Situationen und Ereignisse, die durch Umkehr nicht zu ändern sind, die tatsächlich ausweglos sind? Von außen betrachtet ist das sicher so, denn – um einmal die größte Katastrophe zu nehmen, die uns treffen kann, den eigenen Tod – um den kommt natürlich niemand von uns herum. Der wartet unerbittlich auf jeden und jede von uns. Äußerlich wird sich auch nichts ändern, wenn es so weit ist. Doch gerade deshalb macht das Evangelium davor keinen Halt. Es verkündet uns vielmehr, dass auch in das Dunkel des Todes die Liebe Gottes durchdringt, ja, er ist sogar die letzte große Chance, die jeder und jede von bekommt: Denn wir sind eingeladen zu dem Glauben, dass wir durch den Tod in die Ewigkeit eingehen, dass auch er uns „nicht scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Jesus Christus ist, unserem Herrn.“   (Römer8, 30b)

Amen.