So ist Versöhnung

Predigt über Jesaja 5, 1- 7: Das Lied vom unfruchtbaren Weinberg

2. Sonntag der Passionszeit: Reminiszere, 9.30 Uhr, Lutherkirche Kiel

Liebe Gemeinde.

Menschen können singen und das tun sie aus ganz verschiedenen Anlässen: Wenn sie sich freuen und wenn sie traurig sind, aus Wut oder aus Begeisterung, um etwas zu erzählen oder zu vergessen. So gibt es Klage- und Loblieder, Dank- und Liebeslieder, Kampflieder, Balladen und vieles mehr. Wir besingen unsere Gefühle und Gedanken, unsere Erfahrungen und Einsichten. Und das tun wir, weil ein Lied noch mehr sagen kann, als das gesprochene Wort. Es berührt uns viel intensiver, spricht tiefere Schichten in unserer Seele an und inspiriert uns. Deshalb gibt es seit Menschengedenken Lieder, und viele aus uralten Zeiten sind auch überliefert. In der Bibel sind es die Psalmen, die alles enthalten, was Menschen in Lieder fassen können. Und verstreut finden wir noch etliche weitere, so z.B. bei den Propheten. Sie haben nicht nur geredet und gepredigt, sondern oft auch gesungen und zwar öffentlich.

Unser Predigttext von heute ist so ein Lied, das der Prophet Jesaja wahrscheinlich in Jerusalem vor dem Tempel gesungen hat, so dass alle es hören konnten. Es ist das sogenannte „Weinberglied“ und lautet folgendermaßen:

Jesaja 5, 1- 7

1 Wohlan, ich will meinem lieben Freunde singen, ein Lied von meinem Freund und seinem Weinberg.
Mein Freund hatte einen Weinberg auf einer fetten Höhe.
2 Und er grub ihn um und entsteinte ihn und pflanzte darin edle Reben. Er baute auch einen Turm darin und grub eine Kelter und wartete darauf, dass er gute Trauben brächte; aber er brachte schlechte.
3 Nun richtet, ihr Bürger zu Jerusalem und ihr Männer Judas, zwischen mir und meinem Weinberg!
4 Was sollte man noch mehr tun an meinem Weinberg, das ich nicht getan habe an ihm? Warum hat er denn schlechte Trauben gebracht, während ich darauf wartete, dass er gute brächte?
5 Wohlan, ich will euch zeigen, was ich mit meinem Weinberg tun will! Sein Zaun soll weggenommen werden, dass er verwüstet werde, und seine Mauer soll eingerissen werden, dass er zertreten werde.
6 Ich will ihn wüst liegen lassen, dass er nicht beschnitten noch gehackt werde, sondern Disteln und Dornen darauf wachsen, und will den Wolken gebieten, dass sie nicht darauf regnen.
7 Des HERRN Zebaoth Weinberg aber ist das Haus Israel und die Männer Judas seine Pflanzung, an der sein Herz hing. Er wartete auf Rechtsspruch, siehe, da war Rechtsbruch, auf Gerechtigkeit, siehe, da war Geschrei über Schlechtigkeit.

Was hat es damit auf sich? Am Anfang klingt dieser Text wie ein Liebeslied, am Ende wird er zum Klage- oder sogar Drohlied. Und was will der Prophet damit sagen?

Er sang sein Weinberglied wahrscheinlich anlässlich eines Herbstfestes in Jerusalem. Da war es üblich, dass man Lieder zur Unterhaltung der Menschen vortrug, auch Liebeslieder waren dabei. Und das Bild vom Weinberg für die Geliebte war bereits ein gängiges Motiv, weil es die Liebe schön beschreiben kann: Auch hier wird ja zuerst erzählt, wie der Liebhaber alles für seine Geliebte tut: Der Weinberg war auf einer fetten Höhe angelegt, es musste also das Beste daraus werden, wenn man sich seiner sorgsam annahm. Das tat der Weinbergbesitzer und wartete dann zu Recht darauf, dass er gute Trauben brächte. So weit gehen die heiteren Töne, die dann allerdings umschlagen: Alle Mühe war vergeblich, der Weinberg setzte faule, übel schmeckende Beeren an.

Ein enttäuschter Liebhaber beklagt sich also über seine treulose und undankbare Geliebte. Er wird zum Ankläger, der das Urteil der Menge herausfordert. Doch er wartet gar nicht auf den Urteilsspruch, sondern verkündet selber die Strafe, die die Untreue treffen wird: Er wird sie links liegen lassen, wird ihr Schutz und Pflege versagen, so dass sie gänzlich verkommt. Seine Liebe schlägt in Zorn um.

Das haben die festlich gestimmten Hörer und Hörerinnen vielleicht noch mit einer gewissen Schadenfreude aufgenommen, aber dann verging ihnen das Lachen sicher. Am Ende finden sie sich nämlich auf der Anklagebank vor. Das Bild wird enthüllt, indem der Prophet sagt: „Des HERRN Zebaoth Weinberg aber ist das Haus Israel und die Männer Judas seine Pflanzung, an der sein Herz hing.“ Jesaja will mit seinem Lied also die Liebe zwischen Gott und seinem Volk beschreiben, denn die war auch einmal innig und schön. Aber dann wurde das Verhältnis durch die Schuld des Volkes zerstört. Nicht mehr in Bildern, sondern in einer klaren und scharfen Sprache wird der Grund solcher Zerstörung benannt: Es ist die Rechtsvergessenheit des Volkes, insbesondere seiner Oberschicht, Auflehnung gegen Gott, Schlechtigkeit und Sünde. Gott hatte das Seinige zu vollem Gedeihen getan, der Mensch aber hat versagt und wird deshalb untergehen. Das Todesurteil ist verhängt, das ist die erschreckende Ankündigung Jesajas.

Bestimmt waren die Menschen darüber empört und verärgert. So etwas wollten sie nicht hören, schon gar nicht auf einem Fest!

Und möglicherweise geht uns genauso. Es ist ja letzten Endes eine Gerichtspredigt, und die gefällt uns nicht. Das ist uns zu brutal. Wo bleiben da die Liebe und Geduld Gottes, seine Gnade und Barmherzigkeit? Außerdem stört uns möglicher Weise auch der Stil: Eine grausame Botschaft wird mit schöner Sprache und lieblichen Bildern eingeleitet, um dann umso heftiger Angst und Schrecken auszulösen. Wir fragen uns, was das soll. Und wozu lesen wir das noch?

Um darauf eine Antwort zu bekommen, ist es gut, wenn wir das Lied als Ganzes betrachten und zunächst die heitere Botschaft hören, die in dem anfänglichen Bild ausgemalt wird. Wir dürfen uns dabei ruhig mit dem Volk Israel gleichsetzen. Dann wird uns gesagt, dass Gott sich rührend um uns kümmert. Er ist um uns bemüht, er hängt an uns, an jedem und jeder einzelnen. Und er hat schöpferische und gestaltende Kraft, mit der er unser Leben ordnen kann. Er pflegt und erhält es, er tut ganz viel, um uns zu bewahren. Gott ist lebendig und mitfühlend. Er will nicht der strenge und strafende Gott sein, sondern er ist voller Liebe und Leidenschaft für uns Menschen.

Und so ist es auch geblieben. Hier wird zwar außerdem sein Zorn benannt, aber der war nicht sein Wesensmerkmal, sondern eine Reaktion auf die Untreue seines Volkes. Die forderte er und er war enttäuscht. Das Strafgericht, das daraus folgte, wird ja an vielen Stellen im Alten Testament thematisiert.

Aber dabei ist es nicht geblieben, denn eines Tages änderte Gott seine Strategie. Er merkte, dass seine Strafe zu nichts führte, und so hat er sich eines anderen besonnen und den Menschen die versöhnende Hand gereicht. Das ist die Botschaft des Neuen Testamentes: Er hat uns wissen lassen, dass er uns „trotzdem mag“ und endgültig Frieden geschlossen. So wird es uns mit dem Kommen Christi verkündet. Das Evangelium ist „wie ein Brief nach langem Schweigen“ und „wie ein unverhoffter Gruß.“ Durch die Augen Jesu Christi schaut Gott uns mit einem „Blick“ an, „der Hoffnung weckt“. Wir sollen keine Angst vor ihm haben, sondern nur seine Liebe erwidern. Das ist sein großes und versöhnendes Angebot.

Trotzdem ist dadurch noch nicht alles gut, denn leider vergessen wir das oft. Häufig entscheiden wir ohne Gott, was wir für richtig halten. Dabei versuchen wir, die wir hier sitzen, natürlich das Gute zu tun, das, was uns und den anderen hilft, was gerecht und friedlich ist. Die Frage ist allerdings, ob uns das auch gelingt, denn wir werden dabei von Wünschen und Ideen gesteuert und leider oft auch von Besserwisserei und einem gewissen Kontrollbedürfnis. Und dadurch machen wir zwangsläufig Fehler.

In der jetzigen Situation wird das besonders deutlich: Die Politiker und Politikerinnen müssen ständig folgenschwere Entscheidungen treffen. Sicher machen sie etliches richtig, aber sie machen auch vieles falsch. Denn niemand weiß oder kann genau abwägen, was jetzt wirklich das ratsamste ist. „Wie man‘s macht, ist es verkehrt.“ Das ist z.Zt. das Dilemma, das wir ja auch aus dem persönlichen Leben kennen.

Da lauern ebenfalls ständig Gefahren der Zerstörung, weil niemand verhindern kann, dass er andere enttäuscht oder verletzt, übergeht oder vergisst. Wir können den Frieden und die Gerechtigkeit verlieren, auch wenn wir uns noch so sehr um sie bemühen. Unkraut überwuchert oft das Gute, unser Leben bleibt trocken und unfruchtbar. Das sollten wir erkennen und zugeben, denn dann sind wir bereits auf einem besseren Weg.

Es ist der Weg der Demut und der Ehrlichkeit uns selber gegenüber. Wir müssen uns unsere Fehlbarkeit und Begrenztheit eingestehen, die Kontrolle vorübergehend aus der Hand geben, unsere Besserwisserei beenden und zugeben: „Wir stolzen Menschenkinder sind eitel arme Sünder und wissen gar nicht viel. Wir spinnen Luftgespinste und suchen viele Künste und kommen weiter von dem Ziel.“ So hat Matthias Claudius das ausgedrückt in dem Lied „Der Mond ist aufgegangen“ (EG 482,4). Diese Selbsterkenntnis tut schon mal gut, sie macht uns nüchtern und relaistisch.

Aber noch heilsamer ist dann der nächste Schritt, der darin besteht, dass wir auf die Geduld und Liebe Gottes vertrauen und bitten: „Gott lass uns dein Heil schauen, auf nichts Vergänglichs trauen, nicht Eitelkeit uns freun; lass uns einfältig werden und vor dir hier auf Erden wie Kinder fromm und fröhlich sein.“ (EG 482,5)

Das Heil ist zum Greifen nahe, wir müssen es nur annehmen und uns für seine Kraft öffnen. Dann gewinnen wir einen viel größeren Schutz, als durch unsere Eigenmächtigkeit. Denn wir vertrauen auf die Macht der Liebe und der Versöhnung. Und das ist das wirksamste Mittel zu mehr Gerechtigkeit und Frieden. Es ist „ein Weg aus der Bedrängnis“, denn unser Leben wird geordnet, wir fühlen uns frei und gelassen, wir gewinnen Stärke und Kraft. Gottes schöpferische Energie kann wirken. Unser Leben wird wie ein fruchtbarer Weinberg, auf den „ein frischer Tau fällt“. Es fühlt sich an „wie ein Fest nach langer Trauer“.

So beginnt ein Lied, das noch viel besser als bloße Worte beschreiben kann, was Versöhnung bedeutet:

1. Wie ein Fest nach langer Trauer, wie ein Feuer in der Nacht, ein off’nes Tor in einer Mauer, für die Sonne aufgemacht. Wie ein Brief nach langem Schweigen, wie ein unverhoffter Gruß, wie ein Blatt an toten Zweigen, ein »Ich-mag-dich-trotzdem-Kuss«:
So ist Versöhnung. So muss der wahre Friede sein. So ist Versöhnung. So ist Vergeben und Verzeihn. So ist Versöhnung. So muss der wahre Friede sein. So ist Versöhnung. So ist Vergeben und Verzeihn.
2. Wie ein Regen in der Wüste,  frischer Tau auf dürrem Land, Heimatklänge für Vermisste, alte Feinde, Hand in Hand. Wie ein Schlüssel im Gefängnis, wie in Seenot »Land in Sicht« wie ein Weg aus der Bedrängnis, wie ein strahlendes Gesicht. So ist Versöhnung…
3. Wie ein Wort von toten Lippen, wie ein Blick, der Hoffnung weckt, wie ein Licht auf steilen Klippen, wie ein Erdteil neu entdeckt. wie der Frühling, wie der Morgen, wie ein Lied, wie ein Gedicht, wie das Leben, wie die Liebe, wie Gott selbst, das wahre Licht. So ist Versöhnung…

Text: Jürgen Werth 1988
Melodie: Johannes Nitsch 1988

Liebe, dir ergeb ich mich

Predigt über Jesaja 58, 1- 9: Falsches und rechtes Fasten
Sonntag vor der Passionszeit, Estomihi, 14.2.2021, 9.30 Uhr
Lutherkirche Kiel

Liebe Gemeinde.

Im Jahr 269 erlitt der Priester Valentin von Rom den Märtyrertod. Er wurde hingerichtet, weil er Soldaten getraut hatte, denen das Heiraten verboten war. Außerdem hatte er während der Christenverfolgungen im Römischen Reich Gottesdienste für Christen gefeiert.

200 Jahre später führte Papst Gelasius den 14. Februar als seinen Gedenktag ein.

Im 14. Jahrhundert wurde das Fest des heiligen Valentinus dann erstmals mit der romantischen Liebe verbunden, und im England des 18. Jahrhunderts entwickelte es sich zu einer Gelegenheit, bei der Paare ihre Liebe zum Ausdruck brachten. Sie schenkten einander Blumen und Süßigkeiten und schickten sich Grußkarten. Diese Sitte hat sich seitdem in ganz Europa und vielen Industrieländern verbreitet, und dadurch ist sie auch bei uns üblich geworden.

Der heutige Tag scheint also gut zu dem Thema zu passen, das unser Predigttext enthält. Er handelt nämlich von Liebe und Fürsorge, gegenseitiger Rücksicht und Hilfe. Es ist ein Abschnitt aus dem Buch des Propheten Jesaja und lautet folgendermaßen:

Jesaja 58, 1- 9a

1 Rufe getrost, halte nicht an dich! Erhebe deine Stimme wie eine Posaune und verkündige meinem Volk seine Abtrünnigkeit und dem Hause Jakob seine Sünden!
2 Sie suchen mich täglich und begehren meine Wege zu wissen, als wären sie ein Volk, das die Gerechtigkeit schon getan und das Recht seines Gottes nicht verlassen hätte. Sie fordern von mir Recht, sie begehren, dass Gott sich nahe.
3 »Warum fasten wir und du siehst es nicht an? Warum kasteien wir unseren Leib und du willst’s nicht wissen?«
Siehe, an dem Tag, da ihr fastet, geht ihr doch euren Geschäften nach und bedrückt alle eure Arbeiter.
4 Siehe, wenn ihr fastet, hadert und zankt ihr und schlagt mit gottloser Faust drein. Ihr sollt nicht so fasten, wie ihr jetzt tut, wenn eure Stimme in der Höhe gehört werden soll.
5 Soll das ein Fasten sein, an dem ich Gefallen habe, ein Tag, an dem man sich kasteit, wenn ein Mensch seinen Kopf hängen lässt wie Schilf und in Sack und Asche sich bettet? Wollt ihr das ein Fasten nennen und einen Tag, an dem der HERR Wohlgefallen hat?
6 Das aber ist ein Fasten, an dem ich Gefallen habe: Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg!“
7 Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!
8 Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen.
9 Dann wirst du rufen und der HERR wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich.

Der Prophet Jesaja ermahnte sein Volk also zu Nächstenliebe und gegenseitiger Fürsorge. Denn er erlebte, dass das in der Gesellschaft fehlte. Die Menschen in seiner Zeit – das war nach der Rückkehr aus dem Exil – hatten zwar mit dem Bau eines neuen Tempels begonnen und hielten bestimmte Fastentage ein, aber sie waren ihm dabei nicht fromm und ehrlich genug. Denn sie hofften eigentlich nur, dass Gott sie hörte und sah und sie dafür belohnen würde. Sie erwarteten seine Hilfe. Aber die kam nicht, und das ärgerte sie. „Warum fasten wir und du siehst es nicht an?“ Das war ihr Vorwurf: Sie aßen nichts, kleideten sich in Sack und Asche, unterdrückten alle leiblichen Freuden, doch nichts änderte sich! Der Aufbau ging nur schleppend voran, das Leben blieb ärmlich und bedürftig.

Darauf antwortet der Prophet hier und er sagt: Eure Fastentage gefallen Gott nicht, denn sie sind nur äußerlich. In Wirklichkeit beschäftigt euch doch etwas ganz anderes, als das Gebet und der Wille Gottes. Die Fastenden nutzten die Tage nämlich dazu, leichter Geschäfte betreiben zu können. Sie mahnten ihre Schuldner, ließen die Arbeiter schuften, und es kam obendrein auch noch zu Zank und Streit, sogar zu Gewalttaten. Es gab also erhebliche Missstände, und die klagt der Prophet hier an. So ein Fasten war völlig nutzlos.

Was Gott in Wirklichkeit will, ist zwar auch eine gewisse Selbstbeschränkung und ein Verzicht, aber nicht als kultisches Ritual, sondern als die tätige Liebe am Mitmenschen. Damit will Gott geehrt sein, darin besteht der wahre Gottesdienst. Und zwar geht es um Liebe an den Entrechteten und Misshandelten, den Sklaven und Gefangenen, den in ihrer wirtschaftlichen Existenz Bedrohten und in Schuldhaft Sitzenden. Und es geht ebenso um die Liebe an den Hungernden, Heimatlosen und Frierenden. Es geht stets um die Sorge für den Bruder und die Schwester, für den in Not befindlichen „Nächsten“.

Das ist hier die Mahnung, und es folgt darauf auch noch eine Verheißung. Für ein derartiges Leben in Liebe wird das ersehnte Heil kommen. Es wird sich also etwas ändern, langsam aber sicher.

Das klingt in unseren Ohren alles sehr vertraut, denn die Nächstenliebe ist längt ein wichtiges Thema in der Kirche geworden. Was hier erwähnt wird, sind Aufgaben, die von verschiedenen kirchlichen Initiativen und Einrichtungen schon seit langem übernommen werden. Brot für die Welt sorgt z.B. dafür, dass Menschen in ärmeren Gegenden der Erde genug zu essen bekommen. Bei uns gibt es so etwas wie die „Kieler Tafel“, Unterkünfte für Obdachlose werden bereit gestellt, wir sammeln immer wieder Altkleider, damit andere etwas anzuziehen haben. Und Pfarrstellen gibt es auch überall: in Gefängnissen, Krankenhäusern und Altenheimen. Das Feld der Diakonie ist sehr weit, es gibt unzählige Helfer und Helferinnen, haupt- und ehrenamtliche. Wer Zeit und Kraft hat, engagiert sich irgendwo und praktiziert die Nächstenliebe.

Trotzdem sollten auch wir einmal unser Gewissen überprüfen und uns fragen, mit welcher Einstellung wir das machen. Wir tun zwar Gutes, aber unser Handeln bleibt doch oft genauso äußerlich wie das Fasten der Israeliten. Es hat nicht viel mit Gott zu tun, sondern eher mit unseren moralischen Werten, Mitmenschlichkeit und Armenfürsorge. Es ist unser soziales Engagement, zu dem uns Anstand und Mitgefühl motivieren.

Es geht dem Propheten aber nicht nur darum. Er will vielmehr, dass Gott im Leben und in der Gesellschaft lebendig ist. Der Glaube erschöpft sich nicht in Ritualen und im organisierten Handeln, sondern in einem lebendigen inneren Vollzug, an dem der ganze Mensch beteiligt ist. Gott ist keine Idee, und der Glaube kein Programm. Gott ist vielmehr ein lebendiges Gegenüber und eine Realität. Wir können mit ihm rechnen und sollen ihn lieben. Es geht um persönliche Hingabe und Offenheit, um echte und gelebte Liebe, die von Herzen kommt.

Deshalb scheint das Thema wie gesagt gut zum Valentinstag zu passen. Doch ganz so einfach ist es nicht. Denn genauso wenig wie die Nächstenliebe einfach nur ein moralisches Verhalten ist, genauso wenig dürfen wir sie mit der romantischen Liebe verwechseln. Im Griechischen gibt es deshalb auch zwei Begriffe für Liebe: den Eros und die Agape, und die haben eine sehr unterschiedliche Bedeutung. 

Der Eros macht zwei Liebende zu einem Paar, und die Verbindung kommt durch den Wunsch nach Befriedigung zu Stande, durch die Sehnsucht nach Zuwendung und Aufmerksamkeit. Der Liebespartner bzw. die Liebespartnerin möchte etwas bekommen. Die Liebenden haben Bedürfnisse und Erwartungen, ihre Lust regt sich, und sie vereinigen sich seelisch und körperlich.

Die Agape dagegen möchte etwas geben und sich verausgaben. Wer sie lebt, vergisst sich selber, wird selbstlos, bringt Opfer für die anderen und ist leidensfähig. Sie wendet sich auch denjenigen zu, die nicht liebenswert sind, und fragt nach keiner Gegenleistung. Sie ist uneigennützig und von Gott inspiriert, d.h. eine Kraft des Geistes und des Glaubens.

Jesus Christus hat uns in wunderbarer Weise vorgelebt, wie diese Liebe aussieht. Er war davon erfüllt, hat sie anderen Menschen gegeben und ist am Ende dafür gestorben. Und natürlich meint der Prophet Jesaja genau das. Was er beschreibt, hat sich im Neuen Testament erfüllt. Vorher sind die Menschen trotz aller Ermahnungen auch immer wieder daran gescheitert. Erst durch Jesus Christus ist die Liebe, wie Gott sie sich vorstellt, möglich geworden. Und sie ist viel größer und tiefer als das, was wir am Valentinstag feiern.

Gegeneinander ausspielen sollten wir die beiden verschiedenen Weisen zu lieben allerdings nicht, denn wenn die erotische Liebe halten soll, muss sie sich irgendwann in selbstlose Liebe verwandeln. Wer liebt muss leiden können, denn in jeder Liebesbeziehung gibt es Enttäuschungen und Verletzungen. Niemand kann die Erwartungen des oder der anderen vollständig erfüllen, es bleibt immer etwas zu wünschen übrig. Es ist deshalb gut, wenn wir uns von der Liebe erfüllen lassen, die Jesus Christus uns schenkt, und bereit sind, selbstlos füreinander da zu sein und auch zu leiden.

Dazu werden wir eingeladen, und es ist gut, dass wir das von Jesus Christus lernen können. Ohne ihn würden wir es nämlich genauso wenig schaffen wie die Israeliten. Wir brauchen den göttlichen Beistand, um die Agape zu verwirklichen. Nicht umsonst gehen so viele Paare wieder auseinander. Aber das muss nicht sein, denn die Hilfe ist da, der Grund ist gelegt, wir müssen uns nur ganz Jesus Christus anvertrauen.

Der christliche Mystiker Johann Scheffler, dessen Lyrik wir auch unter dem Namen Angelus Silesius kennen, hat das 1657 wunderbar in einem Lied zum Ausdruck gebracht, das in unserem Gesangbuch steht. Es handelt von der „Liebe“, die ihn zum „Bilde ihrer Gottheit gemacht hat“, und damit meint er Jesus Christus. Denn er sagt von ihr, dass sie „Mensch geboren wurde“, und für ihn „gelitten“ hat und „gestorben“ ist. Scheffler bekennt sich mit dem Lied also zu Jesus Christus und seinem Heilswerk und er verspricht, sich ihm „ewiglich zu ergeben“. (EG 401)

Amen.