Sieghafter Glaube

Predigt über Matthäus 15, 21- 28: Die kanaanäische Frau

17. Sonntag nach Trinitatis, 27.9.2015, 9.30 Uhr
Lutherkirche Kiel

Matthäus 15, 21- 28

21 Und Jesus ging weg von dort und zog sich zurück in die Gegend von Tyrus und Sidon.
22 Und siehe, eine kanaanäische Frau kam aus diesem Gebiet und schrie: Ach Herr, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Meine Tochter wird von einem bösen Geist übel geplagt.
23 Und er antwortete ihr kein Wort. Da traten seine Jünger zu ihm, baten ihn und sprachen: Stell sie zufrieden, denn sie schreit uns nach.
24 Er antwortete aber und sprach: Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel.
25 Sie aber kam und fiel vor ihm nieder und sprach: Herr, hilf mir!
26 Aber er antwortete und sprach: Es ist nicht recht, dass man den Kindern ihr Brot nehme und werfe es vor die Hunde.
27 Sie sprach: Ja, Herr; aber doch fressen die Hunde von den Brosamen, die vom Tisch ihrer Herren fallen.
28 Da antwortete Jesus und sprach zu ihr: Frau, dein Glaube ist groß. Dir geschehe, wie du willst! Und ihre Tochter wurde gesund zu derselben Stunde.
Liebe Gemeinde.
Lorbeerkranz, Goldmedaille oder Triumphbogen sind Zeichen eines Sieges. Sie sollen dauerhaft an den abschließenden Erfolg im Kampf oder Wettkampf erinnern. Gefeiert wird ein Sieg mit entsprechenden Posen, dem Hissen von Fahnen, dem Victory-Zeichen oder einer Siegerparade. Denn es ist ein tolles Gefühl und ein großartiges Ereignis, wenn man den Sieg über einen Gegner errungen hat. Es geschieht im militärischen oder sportlichen Kampf, sowie im politischen oder künstlerischen Wettbewerb. Preise, Belohnungen, erobertes Gut und Ähnliches machen den Sieger darüber hinaus zum Gewinner.
Der Gegner erfährt eine Niederlage und oft einen Verlust, er ist der Verlierer. Und die gibt es bei jedem Sieg genauso. Den Sieger stört das meistens nicht, das gehört dazu und wird von allen akzeptiert. Trotzdem ist das natürlich eine Schattenseite jedes Sieges, er hat immer zwei Seiten, eine gute aber auch eine zerstörerische.
Ist es deshalb sinnvoll, ihn in Zusammenhang mit dem Glauben zu bringen? Unser Thema heute lautet: „Sieghafter Glaube“, und das klingt kämpferisch und ungemütlich. Irgendetwas wird beim Glauben offensichtlich überwunden und vernichtet. Was ist das? Und wollen wir das überhaupt? Das müssen wir uns fragen, und dabei hilft uns das Evangelium von heute. Es handelt von Jesus und einer Frau. Sie haben eine Auseinandersetzung, es ist so eine Art Kampf, und aus dem geht die Frau eindeutig als Siegerin hervor. Was ist geschehen, und wie kam es dazu?
Jesus befand sich „in der Gegend von Tyrus und Sidon“, damit beginnt die Erzählung, und das ist nicht unwichtig, denn das waren zwei Küstenstädte auf heidnischem Gebiet. Sie zeichneten sich durch blühenden Handel und großen Reichtum, aber auch durch Gottlosigkeit und Feindschaft gegen Israel aus. Mehrfach haben die Propheten des Alten Testamentes ihnen das Gericht Gottes angedroht. Hier nun begegnet Jesus einer Frau, und es ist klar, dass er nicht besonders gut auf sie zu sprechen ist.
Schreiend kommt sie zu ihm, verzweifelt und aufdringlich. Sie ruft um Erbarmen und benutzt zwei Anreden für Jesus: „Herr“ und „Sohn Davids“. Das heißt, sie erkennt an, dass er der Messias ist. Sie glaubt an ihn und traut ihm Großes zu. Der Grund für ihre Not ist ihre Tochter, die „von einem bösen Geist übel geplagt“ wird. Heute würde man sagen, sie leidet an einer schweren psychischen Krankheit. Die Frau erwartet von Jesus ein Heilungswunder.
Doch das geschieht zunächst nicht, im Gegenteil, dreimal weist Jesus die Frau zurück. Zunächst „antwortet er ihr kein Wort“, er schweigt und ignoriert sie. Auch auf das Eingreifen der Jünger hin, er möge sie doch zufrieden stellen, tut er nichts, sondern sagt: „Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel.“ Er ist für die Frau nicht zuständig, seine Sendung bezieht sich nur auf Israel. Das beides war vielleicht gerade noch zu ertragen. Die dritte Zurückweisung ist dagegen wirklich erniedrigend. Nachdem die Frau trotzdem „kommt, vor ihm niederfällt“ und ihr Bitte wiederholt, „antwortet er: Es ist nicht recht, dass man den Kindern ihr Brot nehme und werfe es vor die Hunde.“ „Hund“ war ein schlimmes Schimpfwort, selbst wenn in diesem Bildwort wahrscheinlich Stubenhunde gemeint sind, die unter dem Tisch herumlungern. Mit ihnen vergleicht Jesus die Frau, und das ist eine schlimme Demütigung. Doch auch das beeindruckt sie nicht. Sie unterläuft die Zurückweisung vielmehr, indem sie das Bild aufgreift und fortsetzt: „Die Hunde fressen aber ja von den Brosamen, die vom Tisch ihrer Herren fallen.“ So lautet ihre erneute Antwort. Und damit hat sie die Ablehnung Jesu endlich überwunden. Er staunt sich über ihre Beharrlichkeit und würdigt sie mit den Worten: „Frau, dein Glaube ist groß.“ Er erkennt ihre innere Stärke und auf Grund dessen gewährt er ihr Hilfe. „Ihre Tochter wurde gesund zu derselben Stunde.“ Damit endet die Geschichte: Die Frau hat gesiegt und alles gewonnen, was sie sich gewünscht hat.
Und das kann auch uns so gehen. Dazu müssen wir die Geschichte in unser Leben übertragen. Wir gehen heutzutage mit dem Wunsch nach Heilung einer Krankheit zwar anders um und erwarten keine Wunder, trotzdem kann die Frau uns viel für unsere Glaubenspraxis zeigen. Um zu erkennen, was das ist, müssen wir uns auf das konzentrieren, was sich zwischen ihr und Jesus abspielt. Daraus können wir hier etwas lernen.
Seine dreifache Zurückweisung ist von Bedeutung. Darin spiegelt sich eine leidvolle Erfahrung, die wahrscheinlich jeder und jede irgendwann im Glauben einmal macht: Es ist das Schweigen Gottes, die vergebliche Fürbitte und das Gefühl, vor Gott unwürdig zu sein. Diese drei Anfechtungen hat bereits Luther in seiner Auslegung der Geschichte entfaltet, und die kennen wir. Der Glaube funktioniert nicht einfach so als Heilmittel für alles. Viele Gebete bleiben ungehört. Gott tut nichts, auch wenn wir ihn noch sehr bitten. Er scheint sich von uns getrennt zu haben.
Glaubenszweifel und Mutlosigkeit sind dann meistens die Folgen, und davon sind viele Menschen befallen. „Wie kann Gott so etwas zulassen?“ diesen Satz hört man häufig, wenn wieder einmal etwas Schlimmes geschehen ist. Ein Kind wurde ermordet, ein Unfall oder eine Naturkatastrophe hat viele Menschenleben gefordert. Zwischen den Blumen und Kerzen, die am Ort des Geschehens niedergelegt werden, finden sich immer auch Schilder mit dem einen Wort: „Warum?“. Es drückt Ratlosigkeit und Verlassenheit aus, Entsetzen und Unverständnis für das, was geschehen ist. Auch Auflehnung spricht aus diesem Wort: Gott hätte das doch verhindern können! Wo war er? Er soll sich rechtfertigen.
Und diese Gefühle und Gedanken kennen wir alle auch aus unserem persönlichen Leben. Nicht nur einmal geraten wir in eine leidvolle Situation, die wir kaum verstehen: Schwere Konflikte mit unseren Mitmenschen, Krankheiten, die sich nicht heilen lassen, Todesfälle, die uns in tiefe Trauer stürzen. Sie lassen uns fragen: Warum trifft das ausgerechnet mich? Und warum schweigt Gott und tut nichts?
Mit dieser Situation befasst sich die Geschichte, denn so ähn-lich muss es der kanaanäischen Frau gegangen sein. Sie zeigt uns also, was wir tun können, wenn Gott stumm bleibt und uns zurückzuweisen scheint.
Dabei müssen wir allerdings als erstes einsehen, dass es auf die Frage, warum Gott Leid zulässt, keine direkte oder eindeutige Antwort gibt. Die bekommen wir hier auch nicht. Gott rechtfertigt sich hier nicht. Wir werden vielmehr eingeladen, anders mit einer schlimmen Situation umzugehen, als diese Frage zu stellen. Und das ist gut, denn wo führt es hin, wenn wir versuchen, Gott für das Leid verantwortlich zu machen? Was bringt uns das? Der Versuch führt ins Leere und verstärkt unsren Schmerz nur.
Wir sollten diese Frage deshalb einmal unter die Lupe nehmen und eine Gegenfrage stellen. Sie lautet: Wo kommt es eigentlich her, dass wir von Gott verlangen, er möge sich rechtfertigen? Hat das überhaupt etwas mit ihm zu tun? Offenbaren wir damit nicht viel eher, was in uns selber vorgeht? Wir suchen damit ja einen Schuldigen. Wenn etwas Schlimmes passiert, muss doch irgendjemand verantwortlich sein! Sonst halten wir es nicht aus. Und so erfinden wir eine höhere Macht, in die wir unsere Ratlosigkeit und Verzweiflung hinein projizieren. Wir stellen uns so eine nebulöse Instanz vor, und an sie richten wir unsere Wut und unsere Traurigkeit. Denn die muss ja irgendwo hin. Wir suchen Entlastung, und dafür schaffen wir in unserer Phantasie eine Adresse, die wir Gott nennen.
Doch das funktioniert nicht, denn dieses Verhalten kommt aus unserer Auflehnung. Es hat negative Wurzeln und kann uns deshalb nicht befreien. Es hat auch nichts mit dem Gott zu tun, den die Bibel uns verkündet. Deshalb kann dieser Weg uns nicht helfen. Die Lösung liegt ganz wo anders.
Anstatt uns einen Gott auszudenken, dem wir die Schuld für das Leid geben, können wir uns an den wenden, der wirklich da ist. Es gibt einen lebendigen und wahren Gott, und der hat sich auch gezeigt. Er ist nicht im Nebel geblieben und auch nicht weit weg, sondern er ist uns ganz nah gekommen, in seinem Sohn Jesus Christus. In ihm sehen wir, wer Gott wirklich ist, und an ihn können wir uns wenden, allerdings nicht mit der Frage, warum er das Leid zulässt, sondern mit der Bitte um Hilfe. Das ist das erste, was die Frau tut, und wir können es ihr nachmachen: Wir müssen mit ihr zu Jesus laufen, zu ihm rufen und um Erbarmen bitten. Wir können das ruhig laut tun und all unsere Not hinausschreien. Unser Ärger, unsere Wut und unsere Traurigkeit müssen sich Luft machen, aber es ist ratsam, dafür gleich die Adresse zu wählen, die es wirklich gibt: Jesus Christus, der uns auf jeden Fall hört, und der das Leid und den Tod kennt. An ihn müssen wir glauben, ihm vertrauen und zu ihm beten. Das ist das erste, was die Frau uns zeigt.
Als zweites ist es wichtig, dass wir beharrlich bleiben. Ich sagte, Jesus Christus hört uns, aber es kann eine Weile dauern, bis wir das auch spüren. Wir brauchen Geduld und Hartnäckigkeit. Die fehlt uns leider oft. Denn keiner möchte gerne leiden, wir lehnen es ab, wollen es so schnell es geht los werden. Doch Ungeduld führt uns nicht aus dem Leid heraus. Es wird sogar noch schlimmer, weil die Auflehnung den Schmerz verstärkt. Wenn wir den Weg des Glaubens gehen, gehört dazu immer, dass wir das Leid, Angst und Verlassenheit zunächst aushalten, keine schnelle Lösung erwarten und auch das Schweigen Gottes ertragen. Jesus mutet uns das zu, und wir dürfen uns davon nicht beirren lassen. Er verlangt manchmal, dass wir warten und uns ihm ausliefern.
Der Glaube, den die Frau uns zeigt, ist so etwas wie reiner Glaube, gegen alle Vernunft, gegen den Augenschein. Sie war eine Heidin, d.h. sie kannte sich im Glauben Israels nicht aus. Sie wusste nicht viel über die Heiligen Schriften und Vorschriften, aber das war auch nicht entscheidend. Ihr Glaube wird am Ende trotzdem „groß“ genannt, weil er nicht aus Inhalten bestand, sondern aus einer starken Haltung. Er war in sich selber sinnvoll. Er stütze sich auf nichts, und hatte gerade dadurch tragende und überwindende Kraft. Das ist das zweite.
Und als drittes hat die Frau sich demütigen lassen. Sie hat ihre eigene Niedrigkeit erkannt und sich sozusagen hinten angestellt. Falls sie vorher selbstherrlich gewesen ist, so hat sie das in der Begegnung mit Jesus abgelegt. Sie ist niedergefallen und hat sich ihre Abhängigkeit und Hilflosigkeit eingestanden. Und das müssen auch wir tun.
Das ist wahrscheinlich der schwerste Schritt, aber er führt zu einer Lösung. Wir sollen unseren Stolz ablegen, uns selber loslassen und uns hingeben. Das klingt im ersten Moment vielleicht negativ, aber in Wirklichkeit liegt darin eine ganz große Befreiung.
Wir versprechen uns zwar immer sehr viel davon, wenn wir uns selber behaupten. Wir versuchen damit, zu siegen, aber viel gewinnen wir in Wirklichkeit nicht. Das müssen wir zuge-ben. Wenn wir ehrlich sind, ist es sogar sehr anstrengend. Am Ende sind wir meistens müde und erschöpft. Viel heilsamer und wohltuender ist es, aufzugeben und vor Jesus niederzufallen, denn damit fällt auch alle Anstrengung von uns ab. Das ist der dritte Schritt, und der führt schließlich zu einem Sieg. Es geschieht zwar kein Wunder, wie in der Geschichte, aber wir empfangen eine wunderbare Kraft, die uns frei macht. Wir bekommen Freude und neue Zuversicht. Das sind die Zeichen unseres Sieges.
Ihnen ging ein Kampf voraus, denn es ist nicht selbstverständlich, gegen die Leere anzutreten, geduldig zu warten und sich selber loszulassen. Aber wir können diesen Kampf gewinnen und dürfen am Ende unseren Sieg feiern. Es ist ein innerer Kampf, den wir führen müssen, und der Preis den wir bekommen, ist ebenfalls ein inneres Gut: Es ist die Gegenwart und Liebe Christi, die uns erfüllt und aufrichtet. Unser Glaube wird zur festen Grundlage für das ganze Leben. Wir werden mit großer Kraft und Zuversicht belohnt. Und was wir dabei überwinden, ist nichts weniger als diese Welt. Aus ihren Gesetzmäßigkeiten werden wir befreit. Wir gewinnen eine heilsame Unabhängigkeit von den irdischen Gegebenheiten. Leid und Tod sind die Verlierer, sie werden überwunden und vernichtet Aber anders als bei militärischen oder sportlichen Wettkämpfen, muss ihre Niederlage uns nicht leid tun.
Amen.

Sorget nicht!

Predigt über Matthäus 6, 25- 34: Vom Schätzesammeln und Sorgen

15. Sonntag nach Trinitatis, 13.9.2015, 9.30 Uhr
Lutherkirche Kiel

Matthäus 6, 25- 34

25 Darum sage ich euch: Sorgt nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung?
26 Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr als sie?
27 Wer ist unter euch, der seines Lebens Länge eine Spanne zusetzen könnte, wie sehr er sich auch darum sorgt?
28 Und warum sorgt ihr euch um die Kleidung? Schaut die Lilien auf dem Feld an, wie sie wachsen: sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht.
29 Ich sage euch, dass auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht gekleidet gewesen ist wie eine von ihnen.
30 Wenn nun Gott das Gras auf dem Feld so kleidet, das doch heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird: sollte er das nicht viel mehr für euch tun, ihr Kleingläubigen?
31 Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden?
32 Nach dem allen trachten die Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß, dass ihr all dessen bedürft.
33 Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, bso wird euch das alles zufallen.
34 Darum sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat.

Liebe Gemeinde.
„Einmal einfach loszusingen, loszuschreien, loszuspringen, in das volle Leben greifen, zu umarmen, was gefällt. Versinkt das Gestern, versinkt das Morgen, es bleibt der Sorgen noch genug auf dieser Welt.“
So beginnt ein Lied, das den Titel „Freude“ trägt. Alexej Stachowitsch dichtete es 1963. Das war ein österreichisch-russischer Autor, Pädagoge, Liedermacher, Techniker, Pfadfinder und Wandervogel. Vor zwei Jahren starb er 95-järig in Limburg an der Lahn. Axi, so lautet sein Fahrtenname, war eine beeindruckende Persönlichkeit, ein „Wandervogel“ durch und durch.
1896 war diese Bewegung in Steglitz bei Berlin entstanden. Schüler und Studenten bürgerlicher Herkunft lösten sich darin von den engen Vorgaben des schulischen und gesellschaftlichen Umfelds. In den Städten schritt die Industrialisierung fort, und dagegen entwickelten sie in der freien Natur eine eigene Lebensart. Der „Wandervogel“ stellte den Beginn der sogenannten Jugendbewegung dar. In seinen Liedern hat Axi das Lebensgefühl der Wandervögel wunderbar zum Ausdruck gebracht.
Langsam, betont und fast hymnisch ist das Lied über die Freude, und es bringt die große Sehnsucht nach einem sorgenfreien, unverstellten und ursprünglichen Dasein zum Ausdruck: „Einmal einfach sich verschenken, in die Freude sich versenken, aufzuwachen, aufzulachen, aufzuatmen du und ich.“ So lautet die zweite Strophe.
Das Lied beschreibt, was auch Jesus seinen Jüngern wünschte: Ein Leben ohne Sorgen, frei wie das der „Vögel unter dem Himmel“ und der „Lilien auf dem Felde“. Wir haben diesen Teil aus der Bergpredigt vorhin gehört.
Jesus macht darin seine Jünger auf die Vögel und Blumen aufmerksam, sie sollen sie betrachten und durch sie etwas lernen. Denn sie sind anders als wir, führen eine andere Art von Dasein. Bestimmte Dinge tun sie im Unterschied zu uns nicht: Die Vögel „säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen“, und die Blumen „arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht“. Sie sorgen sich um nichts. Wenn die Vögel sich in ihrem Element, der Luft bewegen, sind sie frei, freuen sich am Dasein und sind voller Lebenslust. Denn immer und überall finden sie, was sie als Nahrung brauchen. Es liegt herum, wird ihnen gegeben, sie müssen es nur aufsammeln.
Und genauso ist es mit den Blumen. Sie sind schön, ohne dafür etwas tun zu müssen, ohne eitel zu sein, ohne sich mit anderen zu vergleichen. Ihre Pracht ist einfach da und wurde ihnen geschenkt. Wie die Vögel führen sie ein absichtsloses Dasein.
Darauf macht Jesus seine Jünger aufmerksam, denn das sollen sie von ihnen lernen. Sie sollen sich an den Vögeln und Blumen ein Bespiel nehmen und sich nicht zu viele Gedanken um Essen und Kleidung machen, und wo das alles herkommt. Besser ist es, darauf zu vertrauen, dass ihr himmlischer Vater für sie sorgen wird.
Dabei muss man wissen, dass das Sorgen für Jesus und seine Jünger nicht ganz unberechtigt war, denn sie führten ein ungesichertes Dasein. Sie hatten ihre Berufe zum großen Teil aufgegeben und hatten kein festes Einkommen. Oft wussten sie nicht, wo das Essen für den nächsten Tag herkommen würde. Aber gerade deshalb ermahnt Jesus sie zur Sorglosigkeit. Die Frage nach Essen und Kleidung soll nicht an erster Stelle stehen, sondern sie sollen zuerst auf Gott vertrauen, sein Reich suchen und seinen Willen tun: „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, dann wird euch solches alles zufallen.“ So lautet der abschließende Satz.
Das alles sagt Jesus auch zu uns, und das ist gut, denn natürlich machen wir uns immer wieder Sorgen. Im Moment beschäftigt uns z.B. alle der Strom von Flüchtlingen, der nach Europa und nach Deutschland kommt. Die Welle der Hilfsbereitschaft ist groß, aber es gibt auch Ängste und Sorgen: Wo führt das hin? Die Folgen dieser Zuwanderung sind im Moment unübersehbar. Wo sollen all die Menschen auf die Dauer wohnen? Wovon sollen sie leben? Welche Kultur bringen sie mit? Wird es in unserer Gesellschaft so friedlich bleiben? Was müssen wir abgeben? Worauf müssen wir eventuell verzichten? Menschen am unteren Rand der Gesellschaft machen sich Sorgen, dass sie vergessen werden und nun noch ärmer und einsamer werden.
Und auch auf politischer Ebene tauchen Probleme auf: Europa droht sich zu spalten, es gibt keine einheitlichen Wertvorstellungen mehr, Grenzen werden geschlossen, Menschenrechte werden übergangen. Trotz aller Hilfseuphorie gibt es viele ungeklärte Fragen und Ängste, und die müssen wir auch ernst nehmen. Es ist bei uns Menschen leider alles etwas komplizierter, als bei den Vögeln und Blumen. Der Aufruf Jesu „sorget nicht“ hilft im ersten Moment nicht.
Was sollen wir damit anfangen? Ist es ein guter Rat? Können wir danach leben? Es gibt ja auch noch andere Zusammenhänge, in die hinein Jesus das sagt: Wir machen uns genauso Sorgen in unserem privaten Leben, um unsre Kinder z.B., wenn sie heranwachsen. Was wird aus ihnen? Wir können keinen Einfluss mehr ausüben und müssen sie sich selbst überlassen. Wir wissen nicht, ob ihnen gelingt, was sie vorhaben.
Und diese Liste könnten wir unendlich fortsetzen: Wir sorgen uns um unsere Gesundheit, um unser Wohlergehen, um unser Geld oder unseren Arbeitsplatz. Auf Reisen machen wir uns Sorgen, ob wir ankommen, zu Hause machen wir uns Gedanken, ob alles stehen bleibt. Unser ganzes Leben ist davon durchzogen, und die Inhalte sind sehr unterschiedlich.
Doch eins haben sie alle gemeinsam: Wir halten unsere Sorgen für realistisch und meinen, dass wir sie brauchen. Wir nehmen damit die Herausforderungen des Lebens ernst, machen uns nichts vor und verschließen uns nicht vor allen möglichen Gefahren. Wir wägen ab und berechnen, und denken, dass das sein muss.
Der Aufruf Jesu, uns keine Sorgen zu machen, klingt deshalb beim ersten Hören reichlich unrealistisch. Sollen wir einfach die Augen verschließen, uns schönen Illusionen hingeben und Träumen nachgehen? So könnte man seine Einladung, die „Vögel unter dem Himmel“ und die „Lilien auf dem Felde“ zu betrachten, ja hören. Sie wirkt etwas weltfremd. So reden eigentlich nur Aussteiger, Menschen wie die Wandervögel. Im Zusammenhang mit der Flüchtlingssituation ist uns Deutschen das auch bereits zum Vorwurf gemacht worden. In England war vom „Hippie-Deutschland“ die Rede, das nur nach dem Herzen handelt und den Kopf ausgeschaltet hat.
Doch so ist der Aufruf Jesu nicht gemeint. Es gibt einen Vers in unserem Abschnitt, von dem her wir ihn am besten verstehen. Er lautet: „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, dann wird euch solches alles zufallen.“ Das „Reich Gottes“ erwähnt Jesus hier, und das ist der Schlüssel für seine Rede. Davon war sein Lebensgefühl bestimmt, von einem Reich, das nicht von dieser Welt ist. Jesus Christus kam in seinem Auftrag, er hat es für uns geöffnet. Es ist wie ein unsichtbarer Raum, in dem wir in Kontakt mit unserem Schöpfer kommen. Durch Jesus können wir in das Reich Gottes eintreten, denn in ihm ist Gott gegenwärtig. Wir müssen uns nur ihm anvertrauen und uns ganz auf ihn verlassen.
Jesus war also mitnichten unrealistisch, er war vielmehr von einer anderen Realität erfüllt als die meisten Menschen. Für ihn gab es noch mehr als diese Welt, mehr als das, was vor Augen liegt, und er wollte seinen Jüngern dafür die Augen öffnen. Sie sollten die ganze Realität erkennen. Und zu der gehört die Macht und Gegenwart Gottes: Gott ist da und er steht hinter allem, was geschieht.
Das war seine Botschaft, und die gilt auch uns. Jesus fordert uns auf, unseren Blick für das Reich Gottes zu öffnen, unser Bewusstsein auf ihn zu lenken und seine Gegenwart zu suchen, „dann wird uns alles andere zufallen.“
Jesus ruft uns also in die Entscheidung. Er fragt uns: Wie willst du denken und leben? Was soll dich bestimmen? Was soll in deinem Bewusstsein Vorrang haben? Er wusste: Ängste entstehen nicht nur dadurch, dass etwas Bestimmtes geschieht. Sie kommen nicht nur von außen, sondern hauptsächlich von innen und haben etwas mit dem Menschen zu tun, der sie hat. Sie bringen zum Ausdruck, wie er mit der Ungewissheit des Lebens umgeht.
Die ist ja da. Unserem Erkennen sind Grenzen gesetzt. Wir können nicht in die Zukunft schauen. Wir wissen nicht, wie es Menschen geht, mit denen wir gerade keinen Kontakt haben, über die wir keinen Einfluss haben. Unsere Möglichkeiten sind erheblich eingeschränkt, in jeder Hinsicht. Gedanken, die wir uns trotzdem über all das machen, was wir nicht kontrollieren können, bleiben Spekulationen, Vermutungen, Phantasien. Sie sind irreal.
Es ist deshalb eigentlich sinnlos und überflüssig, wenn wir uns zu viel damit beschäftigen. Denn sie lösen unnötige Sorgen aus. Das müssen wir erkennen. Unsere Sorgen führen uns nicht an die Realität heran, im Gegenteil, sie leiten uns oft in die Irre und trüben den Blick. Und ob das geschehen soll, können wir entscheiden. Wollen wir uns die Zukunft dunkel oder hell ausmalen?
Das ist die Frage, die Jesus uns stellt, und natürlich ist sie als Einladung gemeint, uns nicht zu viele Gedanken darüber zu machen, was alles geschehen könnte. Es ist besser, gegenwärtig zu leben, uns selber zu spüren, und Ängste als irreal zu entlarven. Denn dann werden wir offen für das, was jetzt gerade geschieht. Wir wachen auf und werden frei für die Liebe Gottes. Sie ist da, und wenn wir auf Jesus vertrauen, empfangen wir sie.
Und dadurch wird ein ganz anderer Umgang mit der Welt möglich. Die Probleme verschwinden zwar nicht, Gefahren und Unsicherheiten bleiben bestehen, aber die Sorgen lösen sich auf. Wir haben keine Angst mehr, denn wir lassen uns von etwas anderem leiten, als von trübenden Gedanken. Das Vertrauen auf Jesus verändert uns, und dazu lädt er uns hier ein.
Die Art und Weise, wie die Mehrheit der Deutschen jetzt mit den Flüchtlingen umgeht, ist dafür ein wunderbares Bespiel. Sie lassen sich nicht von Ängsten leiten, sondern von Mitmenschlichkeit und Mitgefühl. Und das kann gar nicht verkehrt sein. Es ist das oberste Gebot der Stunde. Gewalt oder Abschottung kann weder die Antwort an die Flüchtlinge noch die Reaktion auf unsere Ängste sein. Wenn es eine Lösung gibt, dann kann sie nur im Vertrauen, in der Hoffnung und in der Liebe liegen. Wahrscheinlich ist es auch die Sehnsucht danach, die hinter der Welle der Hilfsbereitschaft steht. Menschen wollen nicht nur etwas Gutes tun, sie sehnen sich nach einer humanen Gesellschaft, nach Frieden und Gerechtigkeit. Und im Moment tragen viele dazu bei, dass sie bei uns wahr wird.
Und das ist gut. Die sogenannte Willkommenskultur ist wie ein Kraftstrom, mit dem wir den Strom der Flüchtlinge begleiten können. Er sollte genauso unaufhaltsam sein. Wenn alle zusammenhalten, wenn die Politik, die Medien und Organisationen an einem Strang ziehen, dann kann daraus etwas Großartiges werden. Ich bin mir sicher, dass es in unserer Gesellschaft noch viel Spielraum nach oben gibt, dass wir noch lange nicht alles getan haben, was möglich ist.
In dem Lied, das ich am Anfang erwähnte, heißt es weiter: „Seht die Masken, wie sie schwinden, Augen, wie sie Augen finden; herrlich steigt und neugeboren aus den Fesseln eine Welt.“
Das ist die Vision, die wir vor Augen behalten sollten Es war die Ideologie der Wandervögel, und sie deckt sich mit dem Evangelium. Dort ist sie Wirklichkeit geworden. Das hat Jesus bewirkt, er hat diese „neue Welt“ heraufgeführt. Wenn wir ihm folgen, wird sie wahr, denn wir werden von allen Ängsten und Sorgen befreit. Im Glauben und Vertrauen auf Jesus brauchen wir sie nicht. Wir können uns verändern und neu werden. Denn was uns trägt und hält, ist die Gegenwart des Reiches Gottes, seine Liebe und Kraft. Wenn wir uns darauf ausrichten, geschieht etwas. Wunder werden wahr, und eine unbeschreiblich große Freude kommt auf.
„Freude, Freude, lasst sie wehen, über Tiefen über Höhen, bis die Fülle uns durchflutet, trinken wir des Lebens Quell.“
So lautet die letzte Strophe des Liedes von Axi. Und dann kommt noch einmal der Refrain: „Versinkt das Gestern, versinkt das Morgen, es bleibt der Sorgen noch genug auf dieser Welt.“
Lassen Sie uns danach leben und nicht den Sorgen, sondern der Freude Raum geben. Amen.