Predigt über Psalm 85: Bitte um neuen Segen
Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres, 7.11.2021, 9.30 und 11 Uhr Luther- und Jakobikirche Kiel
„Es sagte Rabbi Schimon: Als der Heilige – gepriesen sei er – kam, den ersten Menschen zu erschaffen, da bildeten die Dienstengel Gruppen und Parteien. Die einen davon sagten: ,Er werde erschaffen!‘, die anderen sagten: ,Er werde nicht erschaffen!‘ Es heißt ja: Liebe und Wahrheit stießen aufeinander, Gerechtigkeit und Frieden bekämpften sich. Die Liebe sagt: ,Er werde erschaffen, denn er wird Liebeswerke vollbringen!‘ Die Wahrheit sagt: ,Er werde nicht erschaffen, denn er ist ganz und gar Lüge!‘ Die Gerechtigkeit sagt: ,Er werde erschaffen, denn er wird Werke der Nächstenliebe vollbringen!‘ Der Friede sagt: ,Er werde nicht erschaffen, denn er wird ganz und gar streitsüchtig sein!‘ Was tat der Heilige – gepriesen sei er? Er nahm die Wahrheit und warf sie auf die Erde. Es sagten die Dienstengel vor dem Heiligen – gepriesen sei er: ,Herr der Welten, warum erniedrigst du sie, die über deinen Ordnungen steht? Lass doch die Wahrheit von der Erde aufsteigen!‘ Es heißt ja: Die Wahrheit sprieße von der Erde empor! Während die Engel noch diskutierten, schuf der Heilige – gepriesen sei er – den Menschen. Er sprach zu den Dienstengeln: ,Was nützt euch eure Diskussion? Der Mensch wurde bereits erschaffen.‘“ (in: Erich Zenger, Psalmen Auslegungen, Band 3: Dein Angesicht suche ich, Freiburg, Basel, Wien, 2006, S. 56f)
So illustriert ein Midrasch – das ist eine Auslegung aus dem rabbinischen Judentum – die Freiheit Gottes. Und sie spielt damit auf einen Vers aus Psalm Ps 85 an. Dort werden die vier Gestalten „Güte“ und „Treue“ – was auch „Wahrheit“ bedeutet, „Gerechtigkeit“ und „Friede“ erwähnt. Der Psalm ist heute unser Predigttext, und dort „begegnen sie einander und küssen sich“. Sie streiten also nicht, sondern kommen zusammen und vertragen sich. Der Beter weiß wahrscheinlich, dass die Auseinandersetzung oder sogar der Kampf zwischen diesen vier Figuren eigentlich naheliegt: Sie können sogar Gegensätze bilden: Die Liebe kommt durchaus ohne Wahrheit aus, sie kann verlogen und scheinheilig sein. Die Wahrheit dagegen ist nicht immer liebevoll. Und Frieden ist oft ungerecht, denn er verzichtet z.B. auf Vergeltung. Entsprechend bedeutet das Durchsetzen von Gerechtigkeit nicht unbedingt, dass Friede herrscht. Wenn diese vier Gestalten sich „treffen“ und sogar „küssen“ wie in unserem Psalm, geschieht also etwas Besonderes: Dann kommt Gott und schafft etwas Neues. Das ist hier die Botschaft.
In der Lutherübersetzung trägt der Psalm die Überschrift: „Bitte um neuen Segen“, und das passt gut, denn Gott wird hier bedrängt, etwas zu tun, so zu handeln, wie am Anfang der Geschichte Israels. Damit beginnt der Psalm. Der erste Teil lautet folgendermaßen:
Psalm 85, 2- 8:
2 HERR, der du bist vormals gnädig gewesen deinem Landeund hast erlöst die Gefangenen Jakobs;
3 der du die Missetat vormals vergeben hast deinem Volk und alle seine Sünde bedeckt hast;
4 der du vormals hast all deinen Zorn fahren lassen und dich abgewandt von der Glut deines Zorns:
5 hilf uns, Gott, unser Heiland, und lass ab von deiner Ungnade über uns!
6 Willst du denn ewiglich über uns zürnen und deinen Zorn walten lassen für und für?
7 Willst du uns denn nicht wieder erquicken, dass dein Volk sich über dich freuen kann?
8 HERR, erweise uns deine Gnade und gib uns dein Heil!
Der Beter blickt also zurück auf grundlegende Heilserweise Gottes, auf die Erschaffung der Welt, die Erwählung Israels, den Auszug auf Ägypten und die Landnahme, und er bittet darum, dass Gott noch einmal so handeln möge. Er soll helfen, wie er „vormals“ geholfen hat, und seine einmal eingegangenen Verpflichtungen erfüllen. Er soll sich selbst und Israel treu bleiben. Und damit ist nicht einfach nur eine Schicksalswende gemeint, sondern die Wiederherstellung des Früheren, die Wiederholung des Anfangs. Es geht also nicht um historische Ereignisse, sondern der Psalm erinnert Gott an die großen Verheißungen, die er Israel einmal gegeben hat. Er hatte ihnen eine endzeitliche und endgültige Wiederherstellung versprochen. Und das soll endlich eintreten, eine Rückkehr zum Uranfang, ein Neubeginn mit endzeitlicher Lebenskraft. Gottes Güte und Liebe sollen über seinen Zorn siegen, damit Israel aus dem Tod zum Leben hinübergeführt wird. Davon handelt der erste Teil des Psalms.
Im zweiten Teil wird auf diese Bitte geantwortet.
Psalm 85, 9- 14:
9 Könnte ich doch hören, was Gott der HERR redet, dass er Frieden zusagte seinem Volk und seinen Heiligen, damit sie nicht in Torheit geraten.
10 Doch ist ja seine Hilfe nahe denen, die ihn fürchten, dass in unserm Lande Ehre wohne;
11 dass Güte und Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen;
12 dass Treue auf der Erde wachse und Gerechtigkeit vom Himmel schaue;
13 dass uns auch der HERR Gutes tue und unser Land seine Frucht gebe;
14 dass Gerechtigkeit vor ihm her gehe und seinen Schritten folge.
Dieser Teil enthält eine wunderbare Friedensbotschaft: Gott wird dem Volk all das bringen, was es als Ganzes und was jeder und jede Einzelne braucht, um zufrieden und glücklich zu sein, heil und unversehrt, und zwar in solcher Fülle, dass alle genug haben. Die Verse klingen wie eine Zusammenfassung der großen Heilsverheißungen der biblischen Propheten, wie z.B. Jesajas: Das Heil ist nahe, und Gott wird dauerhaft im Lande wohnen.
Und dabei wird er begleitet von „Güte“ und „Treue“, „Gerechtigkeit“ und „Friede“, d.h. von Liebe und Wohlwollen, Barmherzigkeit und Gnade. Man wird sich auf ihn verlassen können, er bietet Sicherheit und Beständigkeit. Die Wahrheit und das Recht werden durchgesetzt, das, was richtig und gut ist. Und das bedeutet: Ein allumfassender Friede kehrt ein, es wird eine kosmische Wiederherstellung der Schöpfung geben. Und dabei kommen die Gaben und Wirkweisen Gottes auf die Welt. Denn „Güte“ und „Treue“, „Gerechtigkeit“ und „Friede“ sitzen nicht untätig irgendwo in Wartestellung, sondern sie haben sich zusammengetan und mit Gott aufgemacht. Als Begleiter Gottes bereiten sie dem Heil, das am Uranfang da war, den Weg und lassen es Wirklichkeit werden.
Das ist die Botschaft unseres Psalms, und die klingt sehr schön. Nicht umsonst ist der zentrale Vers sehr berühmt geworden. Er wurde unzählige Male bildhaft dargestellt, es gibt darüber Abhandlungen und Unterrichtsmaterial, Predigten und Hochzeitsansprachen.
Aber nützt er uns auch etwas? „Dass Güte und Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen“, entspricht ja nicht gerade unseren Erfahrungen. Im Gegenteil, der Streit der vier Gestalten, wie er z.B. in der Erzählung der Rabbiner geschildert wird, ist viel realistischer. Wir diskutieren oft lange, bis wir eine Entscheidung treffen, und dabei prallen die verschiedenen Meinungen und Lebensweisen oft hart aufeinander. Gruppen und Parteien bekämpfen sich eher, als dass sie „sich küssen“, stoßen sich ab, anstatt sich freundlich zu begegnen.
Ein gutes aktuelles Beispiel ist dafür der Abzug der westlichen Truppen aus Afghanistan. Das ist ja noch nicht lange her, und er ist höchst umstritten. Genauso war es schon mit dem Einsatz: War das alles richtig? Hat es etwas gebracht? Was sind überhaupt die Aufgaben der Bundeswehr und der Nato? Und brauchen wir sie eigentlich? Zu all dem gibt es wie gesagt viele verschiedene Meinungen, und man kann sie gut mit den Idealen „Güte“ und „Treue“, „Gerechtigkeit“ und „Friede“ beschreiben: Die einen betonen dies, die anderen das, und es passt tatsächlich nicht alles zusammen.
Mit dem Frieden und dem Guten für die Menschheit im Allgemeinen ist es genauso: Die einen wollen es am liebsten durchsetzen und anordnen, doch dabei entsteht schnell neue Gewalt. Die anderen bieten es liebevoll an und laden dazu ein, aber dabei bleibt es oft schwach und wirkungslos. Es ist ein Dilemma, denn niemand kennt den richtigen Weg. Wer das meint, wird fundamentalistisch und ideologisch, und es führt nicht weiter.
Und auf diesem Hintergrund können der Psalm und auch die Erzählung aus dem Midrasch uns durchaus etwas nützen, denn sie enthalten eine wunderbare Antwort auf unsere Ratlosigkeit. Uns wird dort nämlich gesagt: Während ihr euch noch streitet, hat Gott längst gehandelt. Er ist der Schöpfer, der Heilige und Allwisssende. Nicht umsonst wird er in der Erzählung immer mit dem Zusatz erwähnt „gepriesen sei er“. Sein Handeln ist vollmächtig und eindeutig. Er setzt sich über unsre Streitereien hinweg und unterläuft einfach alle Diskussionen. Denn er ist der Gott des allumfassenden Friedens.
Als Christen glauben wir, dass er das durch das Kommen seines Sohnes gezeigt und so gehandelt hat, wie „vormals“, als er Israel erwählte, wie am Uranfang, als er den Menschen schuf. Denn in Christus haben „Güte“ und „Treue“, „Gerechtigkeit“ und „Friede“ „sich getroffen und geküsst“. Er ist der neue Mensch, der eine kosmische Wende und einen endzeitlichen Frieden eingeleitet hat. Sein Reich ist größer als der Raum und die Geschichte, es währt ewig und war von Anfang an da. Denn Christus war als das ewige Wort Gottes bereits gegenwärtig, als die Welt erschaffen wurde, und er wird am Ende wiederkehren.
Dabei hat er zu seinen Lebzeiten gezeigt und verkündet, wie Gott sich die Welt am Anfang vorgestellt hatte: Voller Barmherzigkeit und Güte, Ehrlichkeit und Wahrheit, Gerechtigkeit und Glück. Die Menschen, die Jesus begegneten, haben das durch ihn erfahren, und so kann es uns auch heute noch gehen, wir müssen nur auf ihn schauen und ihm vertrauen. Dazu lädt er uns ein: Wir sollen mit ihm leben, ihm folgen und uns ihm hingeben. Dann empfangen wir seinen Geist und können so handeln, dass sein Reich entsteht, wenigstens ansatzweise.
Wir sind damit auch nicht allein und schon gar nicht die Ersten. Dafür gibt es viele Vorbilder. Einer, der das vertreten hat, ist z.B. der deutsche Physiker, Philosoph und Friedensforscher Carl Friedrich von Weizsäcker. Er wusste genau, wie gefährlich viele Erkenntnisse der Naturwissenschaft heutzutage sind: Die Atombombe wurde erfunden, Informationstechnik und Genmanipulation. Deshalb war für ihn die Wissenschaft untrennbar mit der Moral verbunden, und er bekannte sich zu einem radikalen Pazifismus: Seine Vision war die Einheit der Welt. Natürlich wusste er genau, dass das ein Ideal ist, aber darauf hatte er eine Antwort. Er sagte dazu: „Nicht Optimismus, aber Hoffnung habe ich zu bieten.“ Und deshalb ermahnte er die Gesellschaft, mutig und zuversichtlich im Frieden miteinander zu leben. Er forderte einen Bewusstseinswandel, der für ihn auf dem „Quellgrund religiöser Erfahrung“ ruhte. Das hat er einmal so formuliert: „Man kann in dieser Welt, wie sie ist, nur dann weiterleben, wenn man zutiefst glaubt, dass sie nicht so bleibt, sondern werden wird, wie sie sein soll.“ An diesem Glauben gilt es festzuhalten, gegen allen Augenschein, entgegen allen Streit und Krieg.
Ein weiteres Vorbild für eine unerschütterliche Frömmigkeit ist der Theologe und Liederdichter Paul Gerhardt. Er lebte zur Zeit des dreißigjährigen Krieges, d.h. er war umgeben von Hass und Gewalt, Unsicherheit und Gefahr. Überall herrschten Unrecht, Schrecken und der Tod. Die Zerstörung, die Not und das Leid in dieser Zeit sind für uns kaum vorstellbar. Trotzdem oder gerade deshalb hat Paul Gerhardt an seinem Glauben festgehalten und war überzeugt davon, dass eines Tages der Friede wiederkommt. Das geht aus allen seinen Liedern hervor. Auch Psalm 85 hat er in Reime übertragen und in der vorletzten Strophe folgende Worte gefunden: „Die Güt und Treue werden schön einander grüßen müssen; Gerechtigkeit wird einhergehn, und Friede wird sie küssen; die Treue wird mit Lust und Freud auf Erden blühn, Gerechtigkeit wird von dem Himmel schauen.“ (EG 283, 6)
Amen.
Der Predigt liegt die Auslegung von Erich Zenger zu Grunde, a.a.O. S. 44ff