Predigt über Lied 96 aus dem Evangelischen Gesangbuch:
„Du schöner Lebensbaum des Paradieses“
Vierte Sommerpredigt „In fremden Zungen“: Ungarn
5.8.2018, 11 Uhr, Jakobikirche Kiel
In diesen Wochen bereisen wir in unseren Gottesdiensten mit dem Gesangbuch andere europäische Länder. Heute geht es nach Ungarn, und zwar mit einem Lied aus dem 17. Jahrhundert. Es heißt: „Du schöner Lebensbaum des Paradieses“. Damit ist das Kreuz Christi gemeint, deshalb singen wir das Lied normaler Weise in der Passionszeit. Es enthält aber nicht nur eine Betrachtung des Sterbens Jesu, sondern vor allem handelt es vom Leben, das uns durch den Glauben an ihn möglich wird. Deshalb passt es auch gut in den Sommer. Es lädt uns ein, vor das Kreuz Christi zu treten und die Kraft zu empfangen, die davon ausgeht. Wir dürfen auf das Wort Jesu vertrauen, das er im Johannesevangelium zu Nikodemus sagt: „Der Menschensohn muss erhöht werden, auf dass alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben.“ (Joh. 3, 14b.15)
Liebe Gemeinde.
In jeder Kirche finden wir ein Kreuz, meistens an einer zentralen Stelle. Hier in der Jakobikirche steht auf dem Altar eins aus Glas und Metall. (s. Bild rechts) Es war allerdings nicht immer genau dieses. Die meisten von euch wissen sicher, dass es dazu ein Vorgängerkreuz gab. Es wurde leider gestohlen, wie viele andere vorher auch. So gab es eine Zeit, in der gar kein Kreuz mehr auf dem Altar stand. Doch das hielten einige Gemeindeglieder nicht aus, ihnen fehlte etwas ganz Wesentliches. Es gab daraufhin eine Initiative für ein neues Kreuz, und das haben wir hier nun: Es ist von einer Tiffany-Künstlerin aus Schilksee gefertigt. Der Entwurf und auch das Geld dafür kamen aus der Gemeinde. Nach dem Gottesdienst kommt es jetzt immer in einen Karton, mit dem es gut weggepackt werden kann ohne im Abstellraum zu zerbrechen. Während der offenen Kirche wird es dann durch ein Holzkreuz ersetzt, das ebenfalls dafür gestiftet wurde. Denn natürlich soll das schöne Glaskreuz nicht wieder gestohlen werden.
Aber wer macht so etwas überhaupt? Das habe ich mich gefragt. Entweder ist das jemand, dem das Kreuz viel bedeutet, der sich so ein schönes aber nicht leisten kann. Oder es ist eine Person, die den materiellen und künstlerischen Wert erkannt und es zu Geld gemacht hat. Das stell ich mir allerdings gar nicht so einfach vor, denn der oder die Käuferin müsste dann ebenfalls jemand sein, dem ein Kreuz etwas bedeutet. Doch vielleicht gibt es davon ja genug Menschen. Das Kreuz ist immerhin das zentrale Symbol für uns Christen. Es erinnert an den Tod Christi und wurde im Laufe der Geschichte in unzählig vielen Variationen dargestellt.
Eine schöne Möglichkeit ist das, das wir hier haben: Das Kreuz ist aus buntem Glas, also durchscheinend, leuchtend und farbig und damit lebendig und schön. Den sterbenden Christus sehen wir darauf nicht, und das ist durchaus legitim. Denn wir glauben, dass er lebt und unter uns ist. Wir müssen uns seinen Tod nicht ständig vor Augen halten.
Viele Christen sehen die sogenannte Kreuzestheologie heutzutage ja auch kritisch: Warum soll jemand für uns sterben? Sind wir nicht selber verantwortlich für das, was wir falsch machen? Wozu brauchen wir einen Stellvertreter? Das fragen sich etliche Gläubige, und es ist gut, dass darüber heutzutage öffentlich nachgedacht wird. Wir müssen uns mit der Frage auseinandersetzen, was der Tod Christi bedeutet, und dazu gibt es viele Ansätze.
Eine – oder sogar mehrere – Antworten finden wir in dem Lied „Du schöner Lebensbaum des Paradieses“ aus unserem Gesangbuch. Lasst uns das deshalb einmal betrachten.
Es wurde ursprünglich 1641 von Imre Pécseli Király gedichtet. Das war ein reformierter Pastor aus Ungarn, der eine poetische Veranlagung hatte. So hat er viele Gedichte und Lieder geschrieben und mit ihnen seinen Glauben, seine Theologie und seine Frömmigkeit zum Ausdruck gebracht.
In den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts kam dieses alte Lied dann zu uns nach Deutschland, und zwar durch den deutsch/ungarischen Theologen Vilmos Gyöngyösi, auch Wilhelm Güttler genannt. Er schuf eine Rohübersetzung, die dann wiederum der singbaren deutschen Liedfassung von Dieter Trautwein zu Grunde lag. (vgl. Wer ist wer im Gesangbuch, Hg. Wolgang Herbst, Göttingen, 2001, S. 126) Der Urtext ist in unserem Gesangbuch ebenfalls abgedruckt, ich kann mich allerdings nur an der deutschen Fassung orientieren, weil ich natürlich kein Ungarisch spreche. Ich vertraue aber dem Text von Dieter Trautwein und finde es sogar interessant, dass er das Lied aufgegriffen hat.
Er ist ein Theologe des letzten Jahrhunderts, der in den sechziger Jahren maßgeblich an der Kirchen- und Gottesdienstreform mitgewirkt hat. Zu dieser Arbeit gehörte für ihn auch das Singen mit Gemeinden und Gruppen. Dabei hat er eine ganz neue christliche Singkultur geschaffen und mit seinen Liedern vielen Menschen einen Zugang zum Glauben ermöglicht. Vor allem durch die Kirchentage wurden seine Lieder bekannt. (vgl. Wer ist wer im Gesangbuch, a.a.O., S. S. 327ff)
Es ist deshalb so ein bisschen untypisch für ihn, dass er diesen alten Text mitsamt einer alten Melodie aufgenommen hat, aber wahrscheinlich war das Lied auch für ihn so aussagekräftig, dass er das gerne tat. Es hat in der deutschen Fassung sechs Strophen und lautet folgendermaßen:
1. Du schöner Lebensbaum des Paradieses, gütiger Jesus, Gotteslamm auf Erden. Du bist der wahre Retter unsres Lebens, unser Befreier.
2. Nur unsretwegen hattest du zu leiden, gingst an das Kreuz und trugst die Dornenkrone. Für unsre Sünden musstest du bezahlen mit deinem Leben.
3. Lieber Herr Jesus, wandle uns von Grund auf, dass allen denen wir auch gern vergeben, die uns beleidigt, die uns Unrecht taten, selbst sich verfehlten.
4. Für diese alle wollen wir dich bitten, nach deinem Vorbild laut zum Vater flehen, dass wir mit allen Heilgen zu dir kommen in deinen Frieden.
5. Wenn sich die Tage unsres Lebens neigen, nimm unsren Geist, Herr, auf in deine Hände, dass wir zuletzt von hier getröstet scheiden, Lob auf den Lippen:
6. Dank sei dem Vater, unsrem Gott im Himmel, er ist der Retter der verlornen Menschheit, hat uns erworben Frieden ohne Ende, ewige Freude.
Ich sagte ja schon, dass darin mehrere Deutungen des Sterbens Jesu vorkommen, und zwar können wir drei Abschnitte bzw. Themen entdecken:
Die ersten beiden Strophen beinhalten die Vorstellung, dass Jesus sich für uns geopfert hat und für unsere Sünden gestorben ist.
In den nächsten beiden Strophen ist Christus unser Vorbild: Er möge uns helfen, den anderen genauso zu verzeihen, wie er das getan hat, und unseren Lebenswandel heiligen.
Und in den letzten beiden Strophen ist er derjenige, der uns nahe ist, wenn wir sterben. Er schenkt uns das ewige Leben.
Diese drei Themen kommen hier vor, und es ist sehr schön, dass das Lied nicht nur einen Aspekt enthält. Denn dadurch relativiert sich auf jeden Fall die These, dass Christus sich für uns geopfert hat. Sie ist nur eine Möglichkeit, sein Sterben zu verstehen, es gibt auch noch andere Zugänge zu seinem Kreuz. Allerdings lädt uns das Lied ein, dieses Thema nicht gänzlich unter den Tisch fallen zu lassen, und das ist auch gut so, weil es durchaus Situationen gibt, in denen wir einen Retter brauchen, jemanden, der für uns eintritt und uns befreit.
Denn leider gibt es die Sünde und das Böse, und wir dürfen sie nicht unterschätzen. Durch sie ist Jesus ans Kreuz gekommen, denn seine Feinde waren im Unrecht und luden schwere Schuld auf sich. Und so etwas geschieht immer noch überall. Jeder Konflikt ist dafür ein Zeichen, jede Schwäche, jede Unvollkommenheit. Wir begehen alle Fehler und manchmal können wir sie auch nicht mehr aus eigener Kraft wieder gutmachen. Und vor Gott können wir schon gar nicht bestehen, denn er hat sich die Menschen und ihr Zusammenleben eigentlich ganz anders gedacht. Das müssen wir erkennen und einsehen.
Dann sind wir nämlich froh, dass Jesus Christus das alles auf sich genommen hat, um uns schwachen und bedürftigen Menschen einen Weg der Befreiung zu bereiten. Mit seiner Geduld und Leidensbereitschaft hat er am Kreuz die Not der Menschheit überwunden, und wir sind eingeladen, uns darauf einzulassen. Das ist kein einfacher Schritt, denn natürlich stößt das Kreuz uns ab. Es ist durchaus ein Ärgernis, aber wir sollten ihm trotzdem nicht ausweichen. Denn auf geheimnisvolle Weise ist es gleichzeitig ein „Lebensbaum des Paradieses“, d.h. wir gewinnen durch das Kreuz neues Leben. Wir dürfen hinzutreten und darauf vertrauen. Wir legen damit nicht die Verantwortung für unsere Taten ab, sondern lassen uns helfen, wenn wir allein nicht klar kommen. Und das gibt es ja, dass uns die Kraft fehlt, unsre Fehler selber gerade zu biegen, die Suppe auszulöffeln, die wir uns oder anderen eingebrockt haben. Wir sind oft auf Unterstützung angewiesen, und die bekommen wir durch das Kreuz Christi. Wenn wir uns ihm nähern, merken wir, dass eine Kraft vom ihm ausgeht, die wir uns nicht erklären können. Wir werden aufgerichtet, unsere Sünden werden von uns genommen, und das Böse in uns wird entmachtet. Uns wird durch das Kreuz Vergebung und Heil geschenkt. Das Dunkel lichtet sich, Ängste verschwinden, und neues Leben entsteht.
Und damit sind wir bei dem zweiten Teil des Liedes, bei der Verwandlung unseres Lebens durch den Glauben an Christus, seinen heilbringenden den Tod und die Auferstehung. Er schenkt uns ganz neue Möglichkeiten. Wir können die Liebe, die wir empfangen, auch anderen Menschen weitergeben. Wir können „vergeben, die uns beleidigt“ haben, „die uns Unrecht taten“ und „selbst sich verfehlten“, wie es in dem Lied heißt. Dabei wird uns hier ein sehr schöner Vorschlag gemacht, wie uns das gelingen kann: Wir werden zur Fürbitte für unsere Feinde eingeladen. Sie ist dafür ein guter Weg. Das hat Jesus am Kreuz ebenfalls getan, indem er betete: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ (Lk.23,34) Mit diesem Verhalten geht er uns als gutes Beispiel voran. Wenn wir ihm folgen, kommen wir „mit allen Heiligen“ zu Gott, und „Frieden“ wird möglich, wie Dieter Trautwein es formuliert. Im Vertrauen auf Jesus werden wir immer wieder mit der Kraft versorgt, die wir dazu brauchen. Das ist das zweite Thema.
Und als drittes enthält das Sterben Jesu eine große Verheißung: „Wenn sich die Tage unsres Lebens neigen, nimmt Christus unseren Geist in seine Hände“. Wir sterben nicht allein, sondern „getröstet“ und mit einem „Lob auf den Lippen“. Mit seinem Tod und seiner Auferstehung hat Christus eine neue Zeit heraufgeführt. Denn in ihm stirbt nicht nur ein Mensch, Gott selber hat sich hingegeben, und so ist er „der Retter der verlorenen Menschheit“. Sein Kreuz stellt eine Zeitenwende dar, „er hat uns Frieden ohne Ende und ewige Freude erworben.“ Der Tod hat seine Macht verloren. Im Glauben und im Vertrauen auf das Kreuz Christi gewinnen wir Anteil an der Ewigkeit, wir „erben den Himmel“, wie es in der Bibel heißt (Hebr.9,15), und werden mit unendlicher Liebe erfüllt. Zum Kreuz und zum Tod Jesu gehört immer die Auferstehung. Ohne sie wäre es sinnlos.
Es ist deshalb sehr passend, das Kreuz als „Lebensbaum des Paradieses“ zu bezeichnen. Wenn wir seine Früchte regelmäßig essen und genießen, empfangen wir Unsterblichkeit. Und dazu gibt es noch eine weitere schöne Möglichkeit der bildlichen Darstellung.
Es ist das sogenannte Triumphkreuz, das es schon lange in der christlichen Kunst gibt. In der Nikolaikirche hier in Kiel hängt z.B. eins (s. Bild rechts). Da sehen wir zwar Christus, wie er am Kreuz hängt und stirbt, aber gleichzeitig ist das Kreuz lebendig: Es treibt Blüten und Blätter und ist wie ein „Lebensbaum“.
Lasst uns „dem Vater, unsrem Gott im Himmel dafür danken und ihn loben“, indem wir das Lied „Du schöner Lebensbaum des Paradieses“ jetzt singen.
Amen.
Liebe Gesa,
mir hat Deine Predigt zum Kreuz als Lebensbaum sehr gefallen. eine kleine persönliche Assoziation. Morgens, wenn ich mein oft steifes Kreuz aufrichte, sende ich zuweilen mein erstes Stoßgebet und denke an SEINE Leiden. Das relativiert meine. Mein Schmerz erinnert mich auch daran mich zu bewegen, im übertragenen Sinne kann ich daran denken, an diesem Tag meine Werke an IHM zu orientieren.Sein Kreuz, das ich in meinem spüre, erinnert mich an Jesu Opfer und die Anforderung an mich nicht zu sündigen. Habe ich mich bewegt, tut mein „Kreuz“ nicht mehr weh und ich beginne den aktiven Tag.
SEIN Kreuz als Lebensbaum erfahre ich in meinem Körper auch, wenn ich meinen Atem tief einhole und durch meinen Körper wandern lasse.Der Atem dehnt und streckt meinen Körper in die Länge und Breite. Er entfaltet die Äste des Baumes und füllt mich mit Leben. In der Ausatmung gebe ich ab, auch ein Stück meiner Lebensenergie, entspanne mich (wie ein winziges Sterben), halte inne (vielleicht um IHN gedanklich zu suchen) und fülle mich erneut mit frischem Atem. Beide körperlichen Vorgänge lassen mich täglich daran denken, dass ich ein Gotteskind bin. Ich bin es, weil ER uns seinen Sohn sandte. Welch ein Geschenk!
Danke, dass Deine Predigt mich wieder daran erinnerte, was ich täglich erleben kann mit dem Kreuz.
Herzliche Grüße
Brigitte