Predigt über Hebräer 4, 14- 16: Christus der wahre Hohepriester
1. Sonntag der Passionszeit, 14.2.2016, 9.30 Uhr
Lutherkirche Kiel
Hebräer 4, 14- 16
14 Weil wir denn einen großen Hohenpriester haben, Jesus, den Sohn Gottes, der die Himmel durchschritten hat, so lasst uns festhalten an dem Bekenntnis.
15 Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte mit leiden mit unserer Schwachheit, sondern der versucht worden ist in allem wie wir, doch ohne Sünde.
16 Darum lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben.
Liebe Gemeinde.
Der Tempel in Jerusalem hatte in den Tagen Jesu noch nichts von der Bedeutung verloren, die ihm in der Geschichte Israels von jeher zugekommen war. Er bot sich seinen Betrachtern eindrucksvoll dar. Wer nach Jerusalem hinaufzog, konnte schon von weitem den hochgelegenen Bau sehen.
Hatte man die Tore der Stadt durchschritten und kam zum Tempelbezirk, so gelangte man zunächst in den äußeren Vorhof. Schranken versperrten den freien Zutritt zum inneren Vorhof, in den kein Fremdstämmiger hinein durfte. Kam man in die Halle, sah man den goldenen Räucheraltar, den unablässig brennenden siebenarmigen Leuchter und den Schaubrottisch. Und dahinter lag noch ein besonderer Raum, das Allerheiligste, das durch dichte Vorhänge vom übrigen Tempel abgetrennt war. Früher befand sich da die Bundeslade mit den Gesetzestafeln, später stellte man sich vor, dass dort der Thron Gottes stand. Es durfte nur vom Hohenpriester betreten werden, wenn er am großen Versöhnungstag die Sühnehandlung für ganz Israel zu vollziehen hatte. Er empfing dort stellvertretend für das Volk die Vergebung Gottes.
Natürlich wussten die Menschen, dass ein kleiner Raum wie das Allerheiligste im Tempel Gott nicht fassen kann, aber es war ein Sinnbild. Es versicherte den Menschen: Unser Gott ist bei uns. Nur nähern durfte man sich ihm nicht. Nichts Unheiliges oder Unreines sollte Gott beleidigen. Gottes Herrlichkeit war zu furchtbar, zu groß, zu verzehrend, als dass ein normal Sterblicher sie aushalten würde. Das war der Glaube. Nur der Hohepriester vertrat die Menschen dort vor Gott.
Er war sozusagen der geistliche Spitzenmann und genoss großes Ansehen. In allen Fragen der Religion, der Priesterschaft und des Gottesdienstes hatte er die oberste Aufsicht und Weisung. Seit ca. 150 v. Chr. war er als Vorsitzender des Hohen Rates gleichzeitig der oberste politische Führer, denn der Hohe Rat war der höchste jüdische Gerichtshof und damit die wichtigste politische Institution. Selbst unter der Herrschaft der Römer verfügte er noch über erhebliche Autonomie. Für die Besatzungsmacht war der Hohepriester damit der zentrale Ansprechpartner.
Wie alle Priester musste er einen untadeligen Lebenswandel führen, ohne körperliche Fehler sein und alle Reinheitsvorschriften genau einhalten.
Er hatte sein Amt bis ans Lebensende inne.
(vgl. Edurard Lohse, Umwelt des Neuen Testamentes, Göttingen, 1980, S. 109ff)
Das alles wusste der Schreiber des Hebräerbriefes und er war damit offensichtlich vertraut. Denn er benutzt dieses Geschehen in seinem Brief an einigen Stellen als ein Bild. In dem Abschnitt, der heute unsere Epistellesung ist, stellt er sich vor, wie der Hohepriester durch die Vorhöfe und Hallen des Tempels in das Allerheiligste geht, und er sagt: So schreitet Jesus durch die Himmel und tritt für uns vor den Thron Gottes. Und auch wir dürfen in das Allerheiligste hineingehen.
Der Verfasser macht also die unglaubliche Feststellung, dass der Zutritt zu Gott nun frei für jedermann ist. Man kann Gott ohne Angst und Schrecken begegnen, uns wird nichts passieren. Er sagt deshalb: „Lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade.“ Wir dürfen damit rechnen, dass wir angenommen werden. Die Gemeinde darf sich des göttlichen Wohlwollens sicher sein und sich trösten, denn jedem wird geholfen.
Und das ist durch Jesus Christus möglich geworden, dem „neuen Hohenpriester“. Er hat ein für alle Mal Versöhnung zwischen Gott und Mensch bewirkt. Denn in ihm ist Gott selber Mensch geworden. Dabei wird hier sehr schön beschrieben, was das heißt: „Jesus leidet mit unserer Schwachheit mit und wurde versucht wie wir.“ D.h. er war ein Mensch aus Fleisch und Blut, er fühlte und kannte Angst und Not, wie sie jeder in dieser Welt schmerzlich erfahren muss. Persönliche innere Kämpfe sind ihm nicht erspart geblieben, er musste wie jeder Mensch den vielfältigen Versuchungen widerstehen.
Doch genau das ist ihm gelungen wie keinem anderen. Er blieb in all dem „ohne Sünde“ und ist Gott bis zum Tod am Kreuz gehorsam gewesen. Selbst in dieser radikalen Grenzsituation hat er dem Willen Gottes entsprochen.
Deshalb hat Gott ihn erhöht und ihn selber auf den „Thron der Gnade“ gesetzt. Wenn wir vor Jesus treten, stehen wir vor Gott und „empfangen Barmherzigkeit und finden Gnade.“ Die Einladung lautet: „Komm herein, die Tür steht offen. Du brauchst dich nicht mehr zu fürchten, Gott erwartet dich vielmehr und sieht dich freundlich an.“
Das ist eine frohe Botschaft, „darum lasst uns [wirklich] hinzutreten mit Zuversicht“. Lassen Sie uns der Einladung folgen, denn wir brauchen die Hilfe, die uns hier zugesagt wird. Wir sind ja nicht sündlos, sondern erliegen immer wieder allen möglichen Versuchungen. Diese Tatsache steht hinter der Sendung Jesu. Unsere „Schwachheit“ ist der Grund für sein Kommen und sein „Mitleiden“. Wir müssen uns das also eingestehen und bewusst machen, wenn wir seine Gnade empfangen wollen. Lassen Sie uns deshalb fragen, was unsere „Schwachheiten“ sind, welche inneren Kämpfe wir auszustehen haben, und wie Jesus uns da hindurch führen kann.
Dabei hilft es, wenn wir ins Evangelium schauen und nachlesen, womit der Teufel Jesus locken wollte. Die Situationen sind gute Beispiele für das, was uns alle in Gefahr bringt. Wir haben die Erzählung vorhin gehört. (Mt. 4, 1- 11) Der Versucher forderte Jesus zu drei Dingen auf: Er sollte aus Steinen Brot machen, von der Zinne des Tempels springen und sich von den Engeln auffangen lassen und schließlich den Teufel anbeten, um die Weltherrschaft zu erlangen.
In der ersten Versuchung steckt die Verlockung des Materialismus, und die betrifft uns alle. Wir essen und trinken gerne, nehmen, was wir bekommen können, wollen satt und reich sein.
Bei der zweiten Versuchung ging es um ein spektakuläres Eingreifen Gottes, um ein Wunder. Das wünschen wir uns auch manchmal, denn dann bräuchten wir keine Verantwortung mehr für das zu übernehmen, was in der Welt und in unserem Leben geschieht. Gott würde ja alles lenken. Wir reden uns gerne damit heraus, dass er das ja nicht tut, und drücken uns damit vor der Herausforderung des Lebens. Es ist die Versuchung zur Bequemlichkeit.
Und die dritte Situation beinhaltet die Versuchung zur Macht. Viele Menschen sind davon befallen. Sie wollen andere beherrschen und schrecken dabei vor nichts zurück.
Und das alles sehen und erleben wir überall. Ständig erliegen Menschen diesen Versuchungen. An persönlichen aber auch an gesellschaftlichen Entwicklungen ist das zu erkennen, im Kleinen wie im Großen. Möglicherweise hat sich der eine oder die andere von uns jetzt am Beginn der Fastenzeit vorgenommen, daran etwas zu ändern, den Versuchungen zu widerstehen. Wir wünschen uns oft ein besseres Leben und eine bessere Welt. Denn wir erleben immer wieder, wie zerstörerisch es ist, wenn wir den Versuchungen erliegen:
Das erste, der Materialismus führt uns in die Unzufriedenheit, weil er nicht für ein erfülltes Leben reicht. Wenn wir zu sehr auf die Dinge dieser Welt fixiert sind, brauchen wir immer mehr, und am Ende bleibt unsere Seele trotzdem leer. Das Leben fühlt sich sinnlos an, denn innere Werte bleiben dabei oft auf der Strecke. Wir vernachlässigen unsere Seele. Das zweite Beispiel, die Bequemlichkeit, macht uns träge und müde, unausgeglichen und vielleicht sogar krank. Auch die Sorge für die anderen verlieren wir aus dem Blick, und es entstehen Neid und Rücksichtslosigkeit. Und das letzte, die Machtausübung, läuft immer auf Hass und Zerstörung hinaus. Feindschaft und Krieg sind die Folgen, Ungerechtigkeit und Unterdrückung
Das alles spielt sich wie gesagt in jedem Leben und in jeder Gesellschaft ab. Vieles läuft da schief, und oft ist unsere Verstrickung in diese Gefahren wie ein Teufelskreis:
Wenn wir zu viel essen, trinken oder kaufen, schämen wir uns irgendwann und haben Schuldgefühle. Wir verurteilen uns selber, und das führt dazu, dass wir erst recht essen, trinken und einkaufen. Die Bequemlichkeit macht uns gleichgültig und müde und kann deshalb ebenso schwer aufgehoben werden. Wir leiden vielleicht unter unseren Mängeln, aber wir kommen nicht dagegen an. Und wer zu viel Macht ausübt, bringt die anderen gegen sich auf. Er wird einsam und bekommt Angst vor dem eventuellen Aufstand der Unterdrückten. Vielleicht würde er gerne einiges ungeschehen machen, aber das geht nicht, und so übt er weiter Macht aus. Die Situationen, in die wir durch unsere „Schwachheit“ geraten, sind oft verhängnisvoll. Aus eigener Kraft können wir ihnen kaum entkommen. Wir brauchen Hilfe von außen, eine Stelle, an die wir uns wenden können, einen Anstoß, der diese Teufelskreise durchbricht und uns da heraus führt.
Und genau das wird uns in unserem Abschnitt aus dem Hebräerbrief verheißen. Wir dürfen „hinzutreten dürfen mit Zuversicht zum Thron der Gnade“. Das ist die frohe Botschaft. Es gibt eine Rettung, und die liegt bei Gott selber. Er hat Jesus Christus gesandt und ihn all die inneren Kämpfe durchmachen lassen, die wir Menschen bestehen müssen. Doch im Unterschied zu uns blieb er darin „ohne Sünde“. Er hat den Willen Gottes ganz und gar erfüllt, er war ein vollkommener Mensch und er steht uns zur Seite. Wir dürfen auf ihn vertrauen, uns an ihn wenden und uns auf ihn verlassen, wenn wir gerettet werden wollen.
Dazu gehört als erstes, dass wir uns selber annehmen und unsere Scham ablegen. Wir müssen unsere Schuldgefühle nicht unterdrücken oder verstecken, wir dürfen unser Versagen zugeben und uns auch die Angst eingestehen. Gott verurteilt uns für all das nicht. Im Gegenteil, wir haben durch Jesus jemanden, der mit uns leidet, der uns kennt und sich um uns kümmert.
Er sitzt selber auf dem „Thron“ und schenkt uns seine Gnade. Wir empfangen durch ihn Barmherzigkeit und Hilfe. Wir müssen sie nur annehmen und uns dieses Geschenk gefallen lassen.
Dann werden wir frei, der Teufelskreis wird durchbrochen und wir werden erlöst: Wir können die Dinge der Welt plötzlich lassen, wir hören auf, zu viel davon zu erwarten. Wir sind in der Lage, Verantwortung zu übernehmen, und auch von der Macht können wir uns verabschieden, denn die Angst vor einer Niederlage verschwindet. Wir können getrost zurücktreten und ein neues Leben beginnen. Wenn wir Christi „Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden“, haben wir nichts mehr zu verlieren, denn es ist alles da, was wir uns wünschen.
Und dafür ist die Fastenzeit da. Oft denken wir ja, diese Zeit dient der Selbstüberwindung und dem Verzicht. Wir müssen es endlich einmal hinbekommen, diese Welt und unser Leben besser zu machen. Doch das ist gar nicht der Schwerpunkt. Viel entscheidender ist, dass es eine Zeit der besonderen Nähe Jesu wird. Wenn wir etwas verstärkt suchen, dann sollte es die Gemeinschaft mit ihm sein. Gerade in dieser Zeit geht es um seine menschlichste Seite, um sein Versucht-werden, sein Leiden und Sterben. Es geschah bei ihm „ohne Sünde“, und damit hat er uns das Heil geschenkt. Das bedenken wir in der Passionszeit, und deshalb ist sie eine besondere Heilszeit, eine Zeit der Gnade und Barmherzigkeit, der Hilfe und der Freude. Sie dient der Erneuerung und Veränderung, dem Frieden und der Gerechtigkeit.
Denn uns wird verkündet: Unser Gott ist bei uns, und wir dürfen uns ihm nähern, auch wenn wir unheilig oder unrein sind. Wir können Gott damit nicht beleidigen. Wir müssen uns vor ihm nicht fürchten. Er ist nicht zu groß für uns, kein Sterblicher wird durch seine Nähe verzehrt. Denn wir haben den wahren Hohenpriester, der alle Menschen vor Gott vertritt, „Jesus, den Sohn Gottes, der die Himmel durchschritten hat.“
Lassen Sie uns mit ihm zusammen sein.
Amen.