Leidensfähig werden

Predigt über Johannes 17, 1- 8: Das Hohepriesterliche Gebet
6. Sonntag der Passionszeit, Palmarum, 10.4.2022, Lutherkirche Kiel

Liebe Gemeinde.

Für die Suche nach dem Glück gibt es kein Rezept, weil die Wege zu einem erfüllten Leben ganz vielfältig sind. Und doch: Wie individuell das Vorgehen auch immer sein mag, es gibt ein gemeinsames Merkmal. Denn bei unserer Suche werden wir von drei Fragen geleitet: „Wer bin ich? Wohin gehe ich? Und mit wem?“

Sie werden in diversen Büchern behandelt, und eins davon trägt genau diesen Titel. Der argentinische Autor, Psycho- und Gestalttherapeut Jorge Bucay hat es 2013 geschrieben. Angeregt durch Ideen aus Psychologie, Pädagogik und Philosophie erläutert er darin den Prozess der Persönlichkeitsentwicklung. Für ihn sind die drei Fragen drei Aufgaben: „Die Antwort auf die erste Frage liegt in der aufrichtigen Begegnung mit mir selbst. Die auf die zweite darin, zu entscheiden, welchen Sinn und welche Erfüllung ich in meinem Leben finde. Und die dritte besteht darin, auszuwählen, was mir entspricht, sich dem Prozess der Liebe zu öffnen und meinen Wegbegleiter oder meine Wegbegleiterin zu finden.“ So wird das Buch beschrieben und der Inhalt zusammengefasst.

Einer, der diese drei Fragen mit Sicherheit für sich beantwortet und die Aufgaben erfüllt hat, die damit zusammenhängen, ist Jesus. Das können wir aus vielen seiner Reden und Worte schließen. Im Johannesevangelium wird das besonders deutlich. Ein wunderbares Beispiel ist das sogenannte Hohepriesterliche Gebet, das er – laut Johannes – nach den Abschiedsreden und vor seiner Gefangennahme gesprochen hat. Es steht im 17. Kapitel, und der Anfang daraus ist heute unser Predigttext. Er lautet folgendermaßen:

Johannes 17, 1- 8:

1 So redete Jesus und hob seine Augen auf zum Himmel und sprach: Vater, die Stunde ist da: verherrliche deinen Sohn, damit der Sohn dich verherrliche;
2 denn du hast ihm Macht gegeben über alle Menschen, damit er das ewige Leben gebe allen, die du ihm gegeben hast.
3 Das ist aber das ewige Leben, dass sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen.
4 Ich habe dich verherrlicht auf Erden und das Werk vollendet, das du mir gegeben hast, damit ich es tue.
5 Und nun, Vater, verherrliche du mich bei dir mit der Herrlichkeit, die ich bei dir hatte, ehe die Welt war.
6 Ich habe deinen Namen den Menschen offenbart, die du mir aus der Welt gegeben hast. Sie waren dein und du hast sie mir gegeben, und sie haben dein Wort bewahrt.
7 Nun wissen sie, dass alles, was du mir gegeben hast, von dir kommt.
8 Denn die Worte, die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben, und sie haben sie angenommen und wahrhaftig erkannt, dass ich von dir ausgegangen bin, und sie glauben, dass du mich gesandt hast.

Dieses Gebet ist im Johannesevangelium wie gesagt das letzte, das Jesus vor seiner Passion gesprochen hat. Es ist die Parallele zu dem Gebet im Garten Gethsemane, von dem in den anderen Evangelien erzählt wird. Jesus thematisiert darin seinen Weggang, der unmittelbar bevorstand.

Er wendet sich als der zurückkehrende Sohn nach oben, zum Vater und verlässt im Geist bereits das irdische Zusammensein mit seinen Jüngern. Das Gebet markiert den himmlischen Anfang des Weges Jesu. Und er sagt darin, dass er zu Gott geht, um das ewige Heil der Seinen zu bewirken.

Am Anfang – den ich vorgelesen habe – betet er für sich selbst, später für die Jünger. Was ihn betrifft, so bittet er um „Verherrlichung“, also darum, dass er wieder in den Himmel kommt. Er wurde gesandt mit dem Auftrag, Gott bekannt zu machen und ewiges Leben zu schenken. Dieses Werk ist nun erfolgreich „vollbracht“. Er hat den Willen Gottes erfüllt und den Menschen das Heil gegeben. Sie empfangen es, wenn sie im Glauben erkennen, dass er der Sohn Gottes ist. Er und der Vater sind eins, und in diese Einheit werden die Glaubenden einbezogen. Damit werden sie aus der Welt gerettet und gehen in das Reich Gottes ein.

Jesus weiß also, „wer er ist, wohin er geht und mit wem“. Das ist das Geheimnis seiner Kraft. Deshalb kann er auch so überlegen das Leiden ertragen. Besonders im Johannesevangelium ist er am Kreuz bereits der Erhöhte, der gelassen und ruhig den Tod auf sich nimmt und damit „verherrlicht“ wird.

Doch was bedeutet das nun für uns? Können wir ihm hierin nachfolgen, ihn zum Vorbild nehmen? Wir beantworten die drei Fragen normalerweise anders. „Wer ich bin“, ergibt sich für uns aus unserer Herkunft: Unsere Eltern und Vorfahren spielen eine Rolle, wie wir erzogen werden, in welchem Land und in welcher Kultur wir aufwachsen usw. „Wohin wir gehen“, wissen wir zwar oft nicht genau, wir setzen uns aber Ziele. Und die sind meistens innerweltlich: Wir wollen Wohlstand und Erfolg, Frieden und Gesundheit. Und dabei soll uns ein Partner oder eine Partnerin begleiten, Freunde und Freundinnen, Menschen, die uns lieben und unterstützen.

Das sind unsere Antworten auf die drei Fragen, und es ist auch wichtig, dass wir sie finden. Dann entwickelt sich unsere Persönlichkeit gut und das Leben kann tatsächlich gelingen.

Doch ganz so einfach ist es leider nicht, denn auch wenn wir das geklärt haben, kann viel dazwischen kommen. Krieg, Krankheit, Katastrophen verursachen Leid und Not. Das sehen wir gerade in der Ukraine, aber es geschieht auch andernorts: Der Tod raubt uns unsre Liebsten, wir erreichen unsre Ziele nicht, wir verlieren unseren Besitz. Und all das löst viel „Schmerz und Gram“ aus, „Betrübnis, Verzagtheit“ (EG 11,6) und Verzweiflung.

Es wäre deshalb gut, wenn wir uns wie Jesus noch tiefer verankern und unseren Ursprung, unsre Ziele und unsere Hilfe nicht nur in der Welt suchen. Viele Menschen haben das getan und sind durch ihren Glauben berühmt geworden. Sie wussten um ihre ewige Herkunft und waren auf den Himmel ausgerichtet. Martin Luther gehört dazu. Er war ein starker Kämpfer, hat vieles auf sich genommen und blieb dabei zuversichtlich. Und das hatte etwas damit zu tun, dass er sich nicht als ein Produkt des Zufalls verstand und nur deshalb lebte, weil seine Eltern ein Kind haben wollten. In seiner Erklärung zum ersten Artikel des Glaubensbekenntnisses formuliert er vielmehr:  

„Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen, mir Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält; dazu Kleider und Schuh, Essen und Trinken, Haus und Hof, Weib und Kind, Acker, Vieh und alle Güter; mit aller Notdurft und Nahrung des Leibes und Lebens mich reichlich und täglich versorget, wider alle Fährlichkeit beschirmet und vor allem Übel behütet und bewahret; und das alles aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit, ohn all mein Verdienst und Würdigkeit: des alles ich ihm zu danken und zu loben und dafür zu dienen und gehorsam zu sein schuldig bin. Das ist gewisslich wahr.“

Luther hat fest darauf vertraut, dass er von Gott herkam und in dessen Wollen seinen Anfang hatte. Gott war bei ihm, er hat ihn erhalten und begleitet, und dadurch fühlte Luther sich sicher und geborgen. Auch von anderen Christen und Christinnen, die Schweres erlitten haben, wissen wir das. So z.B. von dem evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer oder der katholischen Nonne und Philosophin Edith Stein. Beide wurden von den Nazis verfolgt und hingerichtet. Der eine, weil er im Widerstand aktiv gewesen war, die andere, weil sie jüdische Wurzeln hatte. Von beiden wird erzählt, dass sie – als sie bereits gefangen waren, und ihr Schicksal feststand – eine große Ruhe ausgestrahlt haben, mit der sie andere trösten konnten. Sie haben ihr Leid souverän ertragen, weil sie wussten, woher sie kamen, wohin sie gingen und wer bei ihnen war: Es war die Nähe Jesu und die Gegenwart Gottes, durch die sie ihren Weg gehen konnten. Es ist nicht nur eine Redewendung, wenn wir vom „Heimgehen zum Vater“ sprechen. Wir dürfen wie viele andere vor uns und mit uns glauben, dass wir nach dem Tod in Ewigkeit bei Gott sein werden.

Und das hat eine große Bedeutung für unser gegenwärtiges Leiden, weil angesichts der Ewigkeit alles, was wir erdulden müssen, weniger schwer wiegt. Zu dieser Erfahrung können wir kommen. Durch die Freude über die kommende Verherrlichung können wir zu unserer gegenwärtigen Not Distanz gewinnen. Unsere Leidensbereitschaft wächst. Wir erwerben die Fähigkeit, uns mit Christus erniedrigen zu lassen. Krankheit, Scheitern, Einsamkeit – die vielen „Plagen und Lasten“ (EG 11,5) – sind kein Lebensverlust. Wir können vielmehr im Kreuz schon die Erhöhung sehen, Leben auch im Leiden. Denn Christus ist nicht nur unser Vorbild, er geht auch mit uns. Wir müssen nur eine Lebensgemeinschaft mit ihm eingehen, ein liebevolles intensives Zusammensein.

Von den vielen Zielen, die wir uns setzen können, sollte das an erster Stelle stehen. Unser Glück hängt nicht davon ab, ob wir eine gute Herkunft haben, gebildet, erfolgreich und beliebt sind, sondern dass wir Gott in Jesus Christus „erkennen“. Erst wenn wir in die „Einheit des Sohnes mit dem Vater“ aufgenommen werden, gewinnen wir das Heil, nach dem wir uns sehnen, Glück und Erfüllung. Das ist die Botschaft des Evangeliums: Das Werk Christi, seine Erlösungstat und seine Liebe machen uns froh und frei. Und das ist wunderbar!

Doch möglicherweise stellen wir uns die Frage, ob das ausreicht. Steckt darin nicht eine gewisse Leidensideologie? Ergeben wir uns einfach nur unsrem Schicksal, und alles bleibt, wie es ist? Müssen wir als Christen nicht auch gegen das Böse angehen, Ungerechtigkeit bekämpfen, dem Krieg wehren, Krankheiten heilen, Angst mildern usw? Natürlich gehört auch das zu unsrem Auftrag. Wir müssen all das Schlimme in der Welt durchaus benennen und so gut es geht, etwas dagegen tun. Aber zugleich gilt es zu erkennen, dass Glück und Heil nicht festzumachen sind an Frieden, Wohlstand und Gesundheit. Nur wer bei Gott ist im Leben und im Sterben, hat das Leben in seiner ganzen Fülle. Nur wenn wir gewiss sind, dass wir von Gott kommen, das ewige Leben empfangen und von Jesus Christus begleitet werden, finden wir, was wir zutiefst suchen. Dann atmet unser Leben etwas von der Gewissheit, mit der auch Jesus und die vielen anderen ausgerüstet waren, die glaubten, dass sie Gottes Eigentum und für seine Herrlichkeit bestimmt waren.

Lasst uns die Lebensgemeinschaft mit Jesus erneuern. Die Menschen, die ihn empfingen, als er in Jerusalem einzog, taten das mit Palmenzweigen. Wir können ihm unser Herz schenken, damit es „grünt in stetem Lob und Preis.“ So hat Paul Gerhard es in dem Lied formuliert „Wie soll ich dich empfangen.“ (EG 11,1.2) Er bekennt darin, dass Jesus nichts „unterlassen hat zu seinem Trost und Freud“ (EG 11,3) . Auch Paul Gerhard hat großes Leid erlebt, „das Reich war ihm genommen, da Fried und Freude lacht“, aber da ist „sein Heil gekommen und hat ihn froh gemacht.“ (EG 11,4)

Amen.

Der Predigt liegt eine Meditation von Wolfgang Günther zu Grunde, in: Meditative Zugänge zu Gottesdienst und Predigt, Predigtreihe V,1, Advent bis Kantate, Göttingen 1994, S.120ff

Wachet und Betet!

Predigt über Matthäus 26, 36- 46: Jesus in Gethsemane
2. Sonntag der Passionszeit, Reminiszere, 13.3.2022, Luther- und Jakobikirche Kiel

Matthäus 26, 36- 46

36 Da kam Jesus mit ihnen zu einem Garten, der hieß Gethsemane, und sprach zu den Jüngern: Setzt euch hier, solange ich dorthin gehe und bete.
37 Und er nahm mit sich Petrus und die zwei Söhne des Zebedäus und fing an zu trauern und zu zagen.
38 Da sprach Jesus zu ihnen: Meine Seele ist betrübt bis an den Tod; bleibt hier und wacht mit mir!
39 Und er ging ein wenig weiter, fiel nieder auf sein Angesicht und betete und sprach: Mein Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber; doch nicht wie ich will, sondern wie du willst!
40 Und er kam zu seinen Jüngern und fand sie schlafend und sprach zu Petrus: Könnt ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen?
41 Wachet und betet, dass ihr nicht in Anfechtung fallt! Der Geist ist willig; aber das Fleisch ist schwach.
42 Zum zweiten Mal ging er wieder hin, betete und sprach: Mein Vater, ist’s nicht möglich, dass dieser Kelch an mir vorübergehe, ohne dass ich ihn trinke, so geschehe dein Wille!
43 Und er kam und fand sie abermals schlafend, und ihre Augen waren voller Schlaf.
44 Und er ließ sie und ging abermals hin und betete zum dritten Mal und redete dieselben Worte.
45 Dann kam er zu seinen Jüngern und sprach zu ihnen: Ach, wollt ihr weiter schlafen und ruhen? Siehe, die Stunde ist da, dass der Menschensohn in die Hände der Sünder überantwortet wird.
46 Steht auf, lasst uns gehen! Siehe, er ist da, der mich verrät.

Liebe Gemeinde.

Habt ihr gut geschlafen? Das wünsche ich euch. Schlecht zu schlafen ist ja leider ein weit verbreitetes Problem. Nicht jeder, der abends müde in sein Kissen fällt, wacht morgens erholt wieder auf. Etwa 20- 25% der Deutschen leiden unter Schlafstörungen. Dafür gibt es ganz unterschiedliche Ursachen: Ein häufiger Grund sind Stress im Beruf oder im Privatleben, Angst und Sorgen. Aber auch Lärm, schlechte Lebensgewohnheiten, Bewegungsmangel oder Schichtarbeit können dazu führen. Dem Körper gelingt es dann nicht mehr, sich ausreichend in einen Erholungszustand zu versetzen.

Es gibt dagegen viele Mittel zum Einnehmen. Man kann sich auch beraten lassen und ein Schlaftraining absolvieren. Wenn es ein dauerndes Problem ist, sollte man das vielleicht in Erwägung ziehen.

Doch was können wir tun, wenn es nur gelegentlich vorkommt und ein akuter Grund vorliegt? Das ist möglicherweise in diesen Tagen der Fall, in denen die Nachrichten über den Krieg in der Ukraine uns beunruhigen. Sie können uns durchaus den Schlaf rauben. Und dagegen brauchen wir etwas anderes als Tabletten oder eine Therapie: Jesus zeigt uns, was jetzt sinnvoll ist und uns helfen kann.

Wir wissen von ihm, dass er ebenfalls einmal eine schlaflose Nacht verbracht hat, und zwar im Garten Gethsemane. Die Erzählung darüber ist ein Teil der Passionsgeschichte: Nach dem letzten Abendmahl, das Jesus mit seinen Jüngern gehalten hat, geht er in diesen Garten. Das war wohl ein Landstück oder Landgut auf dem Ölberg vor den Toren Jerusalems, an der östlichen Mauer. Dort wurde er nach seinem Gebetskampf dann auch festgenommen. Diese Szene hier ist also ein Zwischenstück, wo Jesus noch einmal allein ist und sich auf das, was kommt, innerlich vorbereitet.

Er nimmt zwar drei von seinen Jüngern mit, aber die sind ihm keine Hilfe, sie schlafen ein. Die Geschichte handelt also hauptsächlich von ihm. Dreimal wiederholt sich mehr oder weniger dasselbe, es wird bloß jedes Mal mit sparsameren Worten beschrieben: Dreimal betet Jesus und dreimal spricht er mit den Jüngern. Er hat Angst und ist traurig, weil er weiß, was auf ihn zukommt. Er ist also kein Held, sondern zeigt hier ganz menschliche Regungen. So würde es uns auch gehen, wenn wir erfahren, dass wir hingerichtet werden. Aber ein Entkommen gibt es hier für Jesus nicht mehr, das weiß er, er muss sich letzten Endes fügen, und darum geht es in dieser Episode.

Er wirft sich nieder und betet zu Gott. Er spricht ihn mit „Vater“ an, wie er es immer getan hat, und bittet ihn zunächst, „den Kelch vorübergehen zu lassen“. Dahinter steht die alttestamentliche Vorstellung vom Zornesbecher Gottes, den der Einzelne trinken muss, wenn er gesündigt hat. Er bringt Unheil, Unglück und göttliches Gericht. Jesus nimmt ihn hier zur Sühne für alle, das kommt mit dem Bild zum Ausdruck. Aber er tut es schweren Herzens, nur weil Gott es will. Er würde lieber davor verschont bleiben. Davon handelt der erste Gebetsgang.

Seine Jünger sollten eigentlich mit ihm wachen, aber sie sind eingeschlafen. Es war ja auch Nacht, die natürliche Müdigkeit hat sie also übermannt, und Jesus tadelt sie deshalb: Er ist enttäuscht über ihre Bereitschaftslosigkeit, denn sie gefährdet den Glauben. Sie sollten auch wachen und beten, dazu hatte er sie schon des Öfteren ermahnt, aber es gelingt ihnen nicht. Deshalb betet er ein zweites Mal allein, und in seinem zweiten Gebet ist ein Fortschritt zu erkennen: er hat sein Schicksal angenommen und stößt jetzt zu einem „Ja“ durch. Er nimmt den Becher und unterwirft sich ganz dem Willen des Vaters. Die Augen der Jünger waren indessen weiter voller Schlaf.

Das dritte Gebet wird wörtlich nicht mehr ausgeführt, es wiederholt sich, was vorher schon geschehen ist. Der Dreischritt ist eine volkstümliche Erzählweise, die hier die Intensität des Betens Jesu deutlich machen soll. Es hinterlässt dann auch eine Wirkung. Jesus geht anders aus dieser Nacht hervor, als er hineingegangen ist: Sein Gebet führt ihn zu einer völligen Gefasstheit. Er sieht den kommenden Ereignissen jetzt ruhig entgegen. „Die Stunde ist da“, sagt er zu seinen Jüngern, und damit meint er die nun einsetzende Passion.

Jesus hat hier also im Wachen und Beten Klarheit über seinen weiteren Weg gefunden und stimmt im Gehorsam zu. Er hat sich in den Willen Gottes hineingebetet, und deshalb wusste er sich von dieser Stunde an darin geborgen. Und das hat eine ganz wichtige Bedeutung: Jesus hat hier in Gethsemane den Kampf für sich entschieden. Wenn man das Evangelium als Ganzes betrachtet, dann ist das hier bereits der Wendepunkt und damit auch der Höhepunkt, denn im Geist nimmt Jesus in Gethsemane sein Sterben und Auferstehen vorweg. Durch seine Hingabe, sein Wachen und Beten hat sich etwas verändert: Er ist nicht nur seine Angst losgeworden, er war danach auch ruhig und klar. Er hat das Dunkel überwunden, denn der Wille Gottes, seine Kraft und seine Liebe haben gesiegt.

Und damit hat Jesus einen Weg gebahnt, den auch wir gehen können. Er wird ein Vorbild für uns. Wir sollen ihm nach Gethsemane folgen. Der Weg des Glaubens führt uns praktisch dorthin, denn nur dann kann sich das, was er für uns bewirkt hat, auch in unserem Leben ereignen. Die Mahnung zur Wachsamkeit gilt bereits der späteren Gemeinde. Sie ist nicht nur an die Jünger gerichtet, sondern an alle Gläubigen, die das Evangelium lesen. Wir sollten diese Aufforderung zum Wachen und Beten, zum Sieg über das Fleisch, deshalb ernst nehmen. Denn die natürlichen Bedürfnisse des Leibes und der Seele können uns von Gott und vom Glauben abhalten. Das ist hier die Botschaft.

Leider klingt die nun allerdings reichlich unbequem. Überhaupt ist die Gethsemanegeschichte eine eher ungemütliche Angelegenheit. Sie ist von Angst und Verzicht geprägt, und das wirkt dunkel und anstrengend. Aber wir sollten uns ihr trotzdem stellen. Furcht und Gehorsam ist ja nicht das Einzige, was hier vorkommt. Jesus hat sich vielmehr aus der leidvollen Situation hinauskatapultiert, weil er sich in einer anderen Wirklichkeit verwurzelt hat, in der Wirklichkeit des Willens Gottes, der ihn dann zum Sieg verholfen hat.

Und das ist etwas, was auch wir tun können. Wir sind in einer Situation, in der uns der innere Kampf nicht erspart bleibt, denn das Kriegsgeschehen in der Ukraine macht uns Angst. Wir können uns nicht gut davon ablenken. Es löst Wut und Entsetzen aus, Empörung und Schrecken. Es kann sein, dass es uns den Schlaf raubt. Wir haben Mitleid mit den Menschen, die jetzt betroffen sind. Und dass so etwas in in Europa stattfindet, haben die meisten von uns noch nicht erlebt. Nur die, die über achtzig sind, kennen es noch aus dem zweiten Weltkrieg.

Was uns dabei am meisten zu schaffen macht, ist die Hilflosigkeit, die wir verspüren. Wir würden gerne etwas tun, aber was ist jetzt das Sinnvollste? Was kann den Krieg stoppen? Antworten darauf werden zwar händeringend gesucht und es wird alles getan, was nicht zu einem noch größeren Blutvergießen führt, aber es scheint wenig zu nützen. Deshalb beschleicht uns ebenfalls eine gewisse Hoffnungslosigkeit: Kann das Gute wirklich über das Böse siegen, das Heil über die Zerstörung, der Frieden über den Krieg?

Das sind unsere Fragen, und auf die will uns die Gethsemanegeschichte eine Antwort geben. Sie ermahnt uns ja zu einem bestimmten Verhalten, das hauptsächlich darin besteht, wach und nüchtern zu bleiben. Wir sollen uns an Gott halten und die Hoffnung nicht aufgeben. Es geht darum, die vielen negativen und beunruhigenden Gedanken abzulegen und stattdessen mit Jesus zu beten. Nur dann gewinnen wir echte und haltbare Freiheit, das Gebet führt uns zur Überwindung, denn wir öffnen uns damit für eine andere Wirklichkeit.

Und das ist immer gut, wenn wir in einer Situation sind, die uns zu schaffen macht und die wir nicht ändern können. Dann sollten wir wie Jesus die beiden Sätze sprechen: „Mein Vater, nicht wie ich will, sondern wie du willst.“ Es ist das Gebet der Hingabe und des Loslassens, und das kann uns weiterführen.

Vielleicht klingt das jetzt so ein bisschen nach Schicksalsergebenheit, Feigheit und Passivität. Aber das ist damit überhaupt nicht gemeint. Im Gegenteil, es geht um eine geistige Anstrengung: Wir liefern uns nicht der Hilflosigkeit aus, lassen unsere Angst und Wut los, pflegen keine Gedanken der Rache und des Zorns. Wir verscheuchen sie und ersetzen sie durch Gebet. All das steckt in dem ersten Satz Jesu: „Nicht wie ich will“. Und dann folgt der zweite Satz: „sondern wie du willst.“ Es ist ein Gebet, das Geduld bewirkt. Wir gewinnen Kraft, die uns hoffnungsvoll und zuversichtlich macht. Wir lassen die Liebe Gottes zu, die auch uns zur Liebe und Hilfsbereitschaft führt.

Eine bewährte Praxis ist es, die Worte Jesu mit jedem Atemzug zu wiederholen: Beim Ausatmen beten wir „Mein Vater, nicht wie ich will“ und beim Einatmen „sondern wie du willst“. Auch mit anderen kurzen Gebetssätzen können wir uns in dieser Weise an Gott wenden, wie z.B. den Bitten „Herr, erbarme dich“, „O Herr, hilf“, „Stärke uns den Glauben“ oder „Dein Reich komme“.

Und im Unterschied zu den Jüngern sprechen wir solche Gebete mit Jesus, in dem Glauben an seine Auferstehung. Es hat auch nur dann Sinn, wenn wir davon ausgehen, dass er für uns den Sieg errungen hat. Daran können wir Anteil haben und neues Leben gewinnen. Das ist die Verheißung, die hinter der Ermahnung zum Wachen steht.

Schlaflose Nächte müssen also nicht nur ein Problem sein. Wir können sie dafür nutzen, dasselbe zu tun wie Jesus in Gethsemane, zu beten und zu vertrauen, Gott anzurufen und an seine Gegenwart zu glauben. Das hat auch der christliche Mystiker, Dichter, Seelsorger und Prediger Gerhard Tersteegen einmal empfohlen. Er lebte im 18. Jahrhundert in Mühlheim an der Ruhr, und viele Lieder von ihm stehen in unserem Gesangbuch. In einem Abendlied (EG 480) – oder besser gesagt, einem Nachtlied – thematisiert er die Stunden in der Nacht, in denen wir nicht schlafen können. Er schlägt vor, dass wir sie zur Anbetung Gottes nutzen. Wenn wir sowieso wach sind, können wir uns auch ihm zuwenden und „für ihn wachen“, uns ihm hingeben und ihn „machen lassen“. Dann werden wir ruhig und gelassen. Der Friede, nach dem wir uns sehnen, wird lebendig. Er ist wie ein Kraftfeld, das uns umgibt und stärker ist, als die Mächte der Finsternis.

Lasst uns gemeinsam dafür sorgen, dass dieser „Friede, der höher ist als alle Vernunft“, immer wieder siegt und unsere „Herzen und Sinne bewahrt“.

Amen.

  1. Nun schläfet man;
    und wer nicht schlafen kann,
    der bete mit mir an
    den großen Namen,
    dem Tag und Nacht
    wird von der Himmelswacht
    Preis, Lob und Ehr gebracht:
    O Jesu, Amen.
  2. Weg, Phantasie!
    Mein Herr und Gott ist hie;
    du schläfst, mein Wächter, nie,
    dir will ich wachen.
    Ich liebe dich,
    ich geb zum Opfer mich
    und lasse ewiglich
    dich mit mir machen.
  3. Es leuchte dir
    der Himmelslichter Zier;
    ich sei dein Sternlein, hier
    und dort zu funkeln.
    Nun kehr ich ein,
    Herr, rede du allein
    beim tiefsten Stillesein
    zu mir im Dunkeln.

Der Kampf des Christen mit sich selbst

Predigt über 1. Korinther 9, 24- 27: Das Beispiel des Apostels

3. Sonntag vor der Passionszeit, Septuagesimae, 13.2.2022 11 Uhr Jakobikirche Kiel

1. Korinther 9, 24- 27

24 Wisst ihr nicht, dass die, die in der Kampfbahn laufen, die laufen alle, aber einer empfängt den Siegespreis? Lauft so, dass ihr ihn erlangt.
25 Jeder aber, der kämpft, enthält sich aller Dinge; jene nun, damit sie einen vergänglichen Kranz empfangen, wir aber einen unvergänglichen.
26 Ich aber laufe nicht wie aufs Ungewisse; ich kämpfe mit der Faust, nicht wie einer, der in die Luft schlägt,
27 sondern ich bezwinge meinen Leib und zähme ihn, damit ich nicht andern predige und selbst verwerflich werde.

Liebe Gemeinde.

In China kämpfen die Wintersportler und -sportlerinnen gerade um Medaillen. Sie nehmen viel auf sich, um zu gewinnen, denn Leistungssport bedeutet immer Enthaltsamkeit, Disziplin, Ausdauer und Anstrengung.

Dazu kommen dieses Mal noch die Corona-Regeln, die einen zusätzlichen Verzicht mit sich führen, denn es wurde eine sogenannte „Olympia-Blase“ eingerichtet. Wer nach China eingereist ist, ist darin eingeschlossen. Er oder sie darf diese Blase bis zur Abreise nicht verlassen. Die Athleten und Athletinnen bewegen sich also lediglich zwischen dem Hotel, dem Olympischen Dorf, den Trainings- und Wettkampfstätten. Diese erreichen sie in gesonderten Bussen oder Zügen. Dazu kommen tägliche PCR-Testungen. Jemand, der positiv getestet ist, muss umgehend in ein Quarantäne-Hotel, bzw. in ein Krankenhaus. Die Sorge, dass einen das treffen kann, schwingt also immer mit und führt sicher zu noch mehr Druck. Gemütlich ist das Ganze nicht. Aber die Sportler und Sportlerinnen nehmen es auf sich, denn der Wettkampf ist ihnen sehr wichtig.

Das gab es ja bereits in der Antike. Die älteste Sportart, die bereits für das Jahr 776 v.Chr. dokumentiert ist, ist der Stadionlauf, das waren damals ca. 200 m. Etwa 100 Jahre später kamen auch Kampfdisziplinen zu den sportlichen Wettbewerben dazu, die erste war der Faustkampf. Der Sieg wurde bei allen Sportarten als eine Gunst empfunden, die Zeus einem Menschen zu teil werden ließ.

Paulus kannte offensichtlich solche Turniere und ihre Rituale, denn er benutzt sie in seinen Briefen gern als Bild für das, was im Glaubensleben wichtig ist. So auch in unserer Epistel von heute.

Paulus will mit diesem Bild beschreiben, dass auch der Glaube wie ein Wettkampf ist, bei dem es um einen Sieg geht. Dabei ist der Vergleichspunkt hauptsächlich die Entsagung, die dafür nötig ist: Ohne Verzicht erreichen die Christen nicht das himmlische Ziel, das ihnen verheißen wird. Doch es unterscheidet sich natürlich von dem Ziel des heidnischen Sportlers: Sein Siegespreis ist vergänglich, der der Christen ist dagegen ewig. Und Paulus deutet an, dass der Christ bei diesem Kampf auf jeden Fall gewinnen wird.

Das Thema ist hier also die Enthaltsamkeit, die im Glauben wichtig ist. Paulus hat sie auch selber geübt. Er lebte ohne Luxus und war leidensfähig. Er verzichtete auf Bequemlichkeiten , denn er wusste, dass seine Verkündigung nur dann überzeugend ist, wenn er sich auch selber an seine Ermahnungen hielt. Er wollte nicht nur reden und Briefe schreiben, sondern auch ein Vorbild sein. Dann konnte er guten Gewissens sagen: Verhaltet euch so, wie ihr es an mir seht. 

Und diese Aufforderung gilt immer noch allen Christen und Christinnen: Wer es mit dem Glauben ernst meint, soll zum Kämpfen und zur Geduld bereit sein, zur Ausdauer und zur Entschlossenheit, Verzicht und Enthaltsamkeit.

Doch wie sollen wir das nun verstehen? Und wollen wir das überhaupt? Eine ganze Reihe von Fragen tut sich auf, wenn wir das hier hören.

Der erste spontane Gedanke ist sicher: Wie ungemütlich und anstrengend ist das denn!?

Zweitens fragen wir uns, ob die Erfahrung der Gegenwart Gottes denn im Widerspruch zu unseren menschlichen, irdischen Freuden steht, sodass wir alle lustvollen Gefühle verdrängen sollen, alles Schöne aus dem Leben verbannen müssen, um Gott zu gewinnen?

Und als drittes wundern wir uns darüber, dass in diesem Entwurf irgendwie die Gnade fehlt. Müssen wir uns das Heil plötzlich doch selber erkämpfen, es sozusagen verdienen?

Lasst uns diese Fragen einmal durchgehen und uns als erstes damit beschäftigen, dass es ja sehr unbequem ist, enthaltsam zu sein. Da regt sich erst mal Widerstand in uns, wenn wir das hören. Doch so ungewöhnlich ist es gar nicht, eine gewisse Anstrengung auf sich zu nehmen. Das tun die meisten Menschen aus ganz verschiedenen Gründen auch sonst im Leben. In vielen Berufen ist es nötig, besonders z.B. im Pflegebereich. Wer nicht bereit ist, einen großen Teil seiner Zeit und Kraft für andere zu opfern, sollte nicht Ärztin oder Krankenpfleger werden. Wochenenddienste, Rufbereitschaft, Überstunden, lange Arbeitstage – all das gehört dazu. Auch Eltern sind oft sehr gefordert, besonders, wenn die Kinder noch klein sind. Ihr Leben ist dann geprägt von schlaflosen Nächten, wenig Freizeitvergnügen, kein Ausgehen mehr, keine Partys usw. Genauso gibt es viele Hobbys, die Enthaltsamkeit fordern, wie das Bergsteigen, ein Musikinstrument oder eine Sprache lernen, Schach spielen usw. Aber all diese Menschen nehmen das gern auf sich, denn sie erreichen etwas, das ihnen wichtig ist. Anstrengung ist nicht von vorne herein körperfeindlich oder lebensverneinend. Im Gegenteil, Askese und Disziplin führen oft zu einem höheren Lebensgewinn. Denn wer auf etwas verzichtet, das ihn daran hindert, sein Ziel zu erreichen, kommt auf jeden Fall weiter. Wir lösen Probleme, machen neue Erfahrungen, sind fit und gesund, erweitern unser Wissen usw.

Das wird auch deutlich, wenn wir uns das Gegenteil einmal ausmalen, einen Menschen, der nur nach dem Lustprinzip lebt und am liebsten jede Anstrengung vermeidet. So attraktiv ist eine Lebensweise ohne Herausforderungen gar nicht. Im Gegenteil, das ist ohne Sinn, kraft- und hoffnungslos. Weder der Seele noch dem Körper tut das gut. Es ist inzwischen allgemein bekannt, wie wichtig Bewegung und eine ausgewogene Ernährung für die Gesundheit sind. Wer sie vermeidet und ignoriert, wird krank und ist nicht vorbereitet, wenn das Alter kommt.

Es ist also gar nicht so schlecht, sich anzustrengen, enthaltsam zu sein, Herausforderungen anzunehmen und sich im Lebenskampf zu trainieren. Dafür müssen wir nicht erst die Bibel lesen. Menschen haben das seit jeher erkannt und umgesetzt. Wahrscheinlich wählt Paulus deshalb auch das Bild vom Sportler: Es ist sehr ansprechend. Jeder versteht, warum ein Sportler oder eine Sportlerin sich in Enthaltsamkeit übt. Und es ist geschickt, dieses Bild für das Glaubensleben anzuwenden, denn der Verzicht aus Glaubensgründen ist ebenfalls sinnvoll. Lasst uns also fragen, worin die Entsagung besteht, die Paulus meint, und was wir dabei gewinnen.

Damit sind wir bei der zweiten Frage: Es gibt durchaus einen göttlichen und einen menschlichen Bereich. Die Wirklichkeit ist nicht nur irdisch, sondern der Himmel und die Gegenwart Gottes gehören genauso dazu. Doch das heißt nicht, dass sich das Beides gegenseitig ausschließt. Es bedeutet nur, dass das vergängliche Dasein nicht alles ist. Und das ist eine ganz beruhigende Vorstellung, denn so toll ist das Leben in seinen irdischen Grenzen oft gar nicht. Im Gegenteil, es gibt viel Elend und Not. Sowohl persönliche als auch weltweite Probleme halten uns in Atem. Oft leiden wir, und unser Dasein wäre ganz schön armselig, wenn das, was uns auf der Erde widerfährt, alles wäre.

Es muss deshalb eine Möglichkeit der Überwindung geben, einen Himmel, die Ewigkeit, die Gegenwart Gottes. Und es ist auch gut, wenn die sich von dem irdischen Leben unterscheidet. Und dazu sagt Paulus nun: Wir können sie gewinnen, wenn wir uns darum bemühen. Das meint er mit „Kampf“: Es ist der Lebenseinsatz für das, was uns Hoffnung gibt, was uns Mut macht und uns durch alles Leid hindurch trägt. Und dafür ist ein Kampf auch nötig, denn es gibt Kräfte der Finsternis, die uns davon abhalten wollen. Traurigkeit und Sinnlosigkeit können in unserem Leben die Oberhand gewinnen, und dann sind wir verloren. Wir müssen die dunklen Triebe in unsrer Seele und unserem Geist bezwingen. Diesen Kampf meint Paulus hier.

Und dabei ist er sich nun interessanter Weise des Sieges sicher. Das ist die Antwort auf die dritte Frage, wo denn die Gnade bei diesem Kampf bleibt. Sie lautet: Genau sie gewinnen wir, denn Gott ist immer schon da, wenn wir nach ihm fragen. Er wartet nur darauf, dass wir zu ihm kommen, er sieht uns ununterbrochen in Liebe an. Der Sieg, den wir davon tragen, besteht darin, dass wir Gott als den erkennen, der uns liebt und um uns Sorge trägt. Das Ergebnis unseres Kampfes ist also in ein reines Geschenk: Wir empfangen das, was Gott für uns durch Jesus Christus bewirkt hat, Barmherzigkeit, Vergebung und Gnade.

Und dadurch entsteht ein ganz tiefes Gefühl von Freiheit und Überwindung, Ruhe und Freude. Wir gewinnen Liebe und Hoffnung, Sicherheit und Mut. Wir erkennen: Es ist alles da, wonach wir uns sehnen. Es reicht ein Augenblick des Vertrauens, und der Himmel öffnet sich. Für diesen Augenblick gilt es zu kämpfen.

Darin liegt ein gewisser Widerspruch, das hat auch die Psychologie erkannt. Es gibt dafür das englische Wort „flow“, auf Deutsch „fließen“, und das „Flow-Erleben“. D.h. es fließt – durch die Anstrengung – plötzlich eine wohltuende Energie: Wir werden eins mit uns selber, empfinden tiefe Erfüllung und Zufriedenheit. Das erleben die Menschen, die ich vorhin nannte, und es ist der Grund dafür, warum sie so viel auf sich nehmen. 

Im Glaubenskampf ereignet sich genau dasselbe, allerdings in noch viel tieferen Schichten unserer Seele. Und der Widerspruch zu der Anstrengung, die wir vorher investiert haben, ist auch frappierender, aber genau darin liegt das Geheimnis dieses Kampfes: Wir müssen alles geben, Leib und Leben einsetzen, und trotzdem besteht der Sieg darin, dass wir in einem Augenblick alles geschenkt bekommen, wonach wir verlangen. Wir haben es nicht verdient, sondern es wird uns aus lauter Gnade zu teil. Paulus hat absichtlich das Bild vom Wettlauf gewählt und die widersprüchliche Bemerkung über die Gewissheit des Sieges hinzugefügt. Sie ist von Anfang an dabei, sie motiviert ihn und sie wird Realität.

Lasst uns also „laufen und nicht aufgeben, kämpfen und nicht müde werden“, damit wir den „Siegespreis“ erlangen. Die Sportler in der Antike empfanden ihn als eine Gunst von Zeus. Die olympischen Spieler und Spielerinnen in China wissen, dass auch viel Glück dazu gehört, wenn sie dabei bleiben und am Ende eine Medaille gewinnen. Und wir dürfen gewiss sein, dass jeder, der kämpft, mit der Gegenwart und Liebe Christi beschenkt wird.

Amen.

Fürchtet euch nicht!

Predigt über Mt. 14, 22- 33: Jesus und der sinkende Petrus auf dem Meer,
6.2.2022, 4. Sonntag vor der Passionszeit, 9.30 und 11 Uhr, Luther- und Jakobikirche Kiel

Matthäus 14, 22- 33

22 Und alsbald trieb Jesus seine Jünger, in das Boot zu steigen und vor ihm hinüberzufahren, bis er das Volk gehen ließe.
23 Und als er das Volk hatte gehen lassen, stieg er allein auf einen Berg, um zu beten. Und am Abend war er dort allein.
24 Und das Boot war schon weit vom Land entfernt und kam in Not durch die Wellen; denn der Wind stand ihm entgegen.
25 Aber in der vierten Nachtwache kam Jesus zu ihnen und ging auf dem See.
26 Und als ihn die Jünger sahen auf dem See gehen, erschraken sie und riefen: Es ist ein Gespenst!, und schrien vor Furcht.
27 Aber sogleich redete Jesus mit ihnen und sprach: Seid getrost, ich bin’s; fürchtet euch nicht!
28 Petrus aber antwortete ihm und sprach: Herr, bist du es, so befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem Wasser.
29 Und er sprach: Komm her! Und Petrus stieg aus dem Boot und ging auf dem Wasser und kam auf Jesus zu.
30 Als er aber den starken Wind sah, erschrak er und begann zu sinken und schrie: Herr, hilf mir!
31 Jesus aber streckte sogleich die Hand aus und ergriff ihn und sprach zu ihm: Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt?
32 Und sie traten in das Boot und der Wind legte sich.
33 Die aber im Boot waren, fielen vor ihm nieder und sprachen: Du bist wahrhaftig Gottes Sohn!

Liebe Gemeinde.

„Ein Ehepaar will verreisen und denkt darüber nach, welches Verkehrsmittel das sicherste ist. Sie machen sich Sorgen, weil ein Flugzeug abstürzen, ein Schiff sinken und ein Zug entgleisen kann. Das Auto scheint am gefährlichsten zu sein, denn oft hören und lesen sie von vielen schlimmen Unfällen. Und so nehmen sie ihre Koffer und entscheiden sich am Ende dafür, zu Fuß über die Autobahn zu laufen.“

Vor vielen Jahren habe ich die Karikatur, auf der die beiden Personen bei dieser Aktion dargestellt waren, einmal gesehen und das Bild seitdem nie wieder vergessen. Es zeigte so schön, wie dumm es ist, vor allem Angst zu haben. Es kann zu völlig absurden und irrationalen Entscheidungen führen. Die Angst ist kein guter Ratgeber.

Das wird auch in dem Evangelium von heute deutlich, der Geschichte vom „sinkenden Petrus“, denn sie hat genau das zum Thema: Die Angst und ihre Folgen.

Sie beginnt zunächst ganz harmlos und alltäglich: Die Jünger Jesu stiegen in ein Boot, um über den See Genezareth zu fahren. Sie hatten gerade einen sehr schönen Tag mit Jesus hinter sich, voller Freude und Fülle. Er brauchte am Abend dann erst mal eine Zeit für sich allein und „stieg auf einen Berg um zu beten.“ Seine Jünger saßen also ohne ihn im Boot, weil er sie gebeten hatte, schon mal loszufahren. Soweit lief alles ganz normal.

Doch dann geschah etwas Unheimliches: Als das Boot schon weit vom Ufer entfernt war, kam es plötzlich „in Not durch die Wellen, denn der Wind war ihnen entgegen“. Es wurde also ungemütlich und auch wirklich gefährlich. Die Nacht war bereits da, und das Wasser wurde heftig vom Wind bewegt. Der See Genezareth war zwar bekannt für plötzlich aufkommende Fallwinde, aber das nahm der Situation nicht ihre Bedrohlichkeit. Die Jünger mussten sehr kämpfen, um über Wasser zu bleiben, und sie hatten Angst.

Und dann kam noch etwas viel Gruseligeres dazu: Am frühen Morgen, irgendwann zwischen drei und sechs Uhr, sahen sie, wie eine Gestalt sich ihnen auf dem Wasser näherte, und das versetzte sie erst recht in Panik. „Sie schrien vor Furcht“, weil sie dachten, es wäre ein Gespenst. Aber es war Jesus, das wird fast wie etwas Selbstverständliches erwähnt. Er kam zu ihnen auf dem Wasser, um ihnen zu helfen. Er gab sich auch sofort zu erkennen, als er ihre Furcht sah, und zwar indem er ihnen gut zuredete. „Seid getrost, ich bin’s, fürchtet euch nicht“, sagte er. Sie sollten keine Angst mehr haben, und wahrscheinlich verflog die auch sofort.

Bei Petrus schlug sie sogar genau ins Gegenteil um, er wurde nicht nur mutig, sondern sogar übermütig. Aus lauter Freude über das Erscheinen Jesu, wollte er auch auf dem Wasser gehen und bat Jesus sozusagen um Erlaubnis. Und Jesus sagte nicht, „bleib mal schön im Boot“, sondern er ließ ihn wirklich zu sich kommen.

Allen Wellen und aller Vernunft zum Trotz „stieg Petrus also aus dem Boot und ging auf dem Wasser und kam auf Jesus zu“. Eine Zeitlang merkte er gar nicht, dass er da etwas Widernatürliches tat, aber plötzlich wurde es ihm bewusst. Er schaute nicht mehr auf Jesus, sondern auf den Wind und die Wellen und begann im selben Moment zu sinken. Zum Glück war Jesus da schon ganz in seiner Nähe. Er „streckte sogleich seine Hand aus und ergriff ihn“ und zog ihn aus dem Wasser. Und dann sagte er keineswegs, „warum warst du auch so dumm und wolltest zu mir kommen?“, sondern er schalt ihn wegen seines kleinen Glaubens. Der Schritt aus dem Boot heraus war völlig in Ordnung gewesen, der Fehler war der plötzliche Zweifel und der Kleinglaube, die Angst und die Panik.

Das ist wie gesagt das Thema der Geschichte. Sie will zum Glauben und Vertrauen aufrufen und zum Gebet in der Not. Jesus ist stärker als die Naturgewalten, das wird uns hier verkündet. Er hat eine übernatürliche Macht und ist der Herr Welt. Kein Sturm und kein Wind kann ihm etwas anhaben. Selbst die Erdanziehungskraft spielt für ihn keine Rolle. Daran sollen wir glauben, selbst wenn das eventuell unvernünftig zu sein scheint: Die Gegenwart Jesu ist ein Schutz vor Bedrohung und Finsternis. Wer sich im Vertrauen auf ihn übt, wird von ihm gehalten und gerettet. Die Geschichte enthält also trotz ihres phantastischen Charakters eine Botschaft, über die es sich lohnt, nachzudenken. Dabei ist der Kern der Erzählung der Moment, in dem Petrus versinkt.

So etwas kennen wir im übertragenen Sinne alle. Wir wissen, wie es ist, Angst zu haben und unterzugehen, denn es gibt im Leben unzählig viele Gefahren. So können wir Angst vor Verkehrsmitteln haben, allgemeine Zukunftsangst, Höhenangst, Angst vor der Dunkelheit, vor einem Terroranschlag, vor einer Krankheit, vor dem Tod usw. Zurzeit ist die Corona-Angst weit verbreitet. Und das ist kein schönes Gefühl, wir wollen es deshalb so schnell wie möglich wieder los werden.

Doch wie geht das am besten? Ist es ratsam, sich immer sämtliche Gefahren bewusst zu machen, so vorsichtig wie möglich zu sein und alles Erdenkliche zu vermeiden? Der Zeichner der Karikatur, die ich am Anfang beschrieb, hat sich über so eine Haltung lustig gemacht. Sie hilft nicht weiter und ist eigentlich nur gut für einen Witz. Das war sein Gedanke. Und er hat recht, denn die Gefahr verschwindet dadurch nicht, und die Angst werden wir damit auf keinen Fall los.

Sie ist ja auch nicht nur etwas, das von außen ausgelöst wird, sondern sie sitzt in uns, dort entsteht sie, in unseren Gedanken und Gefühlen, dort muss sie deshalb bekämpft werden. Und das können wir gut in drei Schritten tun, die in der Geschichte vom sinkenden Petrus vorkommen.

Als erstes ist hier der Moment entscheidend, in dem bei ihm die Angst einsetzt. Das war keineswegs bei dem Entschluss, selber über das Wasser zu gehen. Da schaute er auf Jesus, hörte auf seine Stimme und glaubte an dessen übernatürliche Kraft. Erst als Petrus damit aufhörte und stattdessen in die Wellen starrte, ergriff ihn die Panik.

Und das lädt uns ein, einmal ehrlich über uns selber nachzudenken und selbstkritisch wahrzunehmen, wie wir uns oft verhalten. Wir können uns fragen: Wo schaue ich eigentlich am liebsten hin? Auf welche Stimme höre ich? Und was prägt mein Bewusstsein? Wenn wir wollen, können wir uns ständig verrückt machen lassen, den ganzen Tag Schreckensnachrichten hören, Unfallstatistiken lesen, Wahrscheinlichkeitsrechnungen aufstellen usw. Wir können uns auf die Dinge, vor denen wir Angst haben, konzentrieren. Natürlich ist es bis zu einem gewissen Grad berechtigt, achtsam und aufmerksam zu sein, die Angst kann durchaus das Überleben sichern. Aber wir dürfen uns auf die Gefahren nicht fixieren. Denn dann bewirkt die Angst genau das Gegenteil: Sie wird selber zu einer Gefahr.

Es gibt viele Situationen, die durch unsere Angst schlimmer werden, und zwar immer dann, wenn wir uns ihr zu sehr überlassen und darin versinken. Das gibt es ja, dass wir davon nicht loskommen, ganz gleich, was geschieht. Wir geraten dann immer tiefer in das Gefühl hinein, dass nichts mehr geht. Es schnürt uns die Kehle zu und macht uns schwächer, wir werden hilflos und verzweifeln am Ende. Und dahinein fragt uns die Geschichte vom sinkenden Petrus: In welcher Realität willst du leben? Was soll dich bestimmen?

Diese Frage führt uns zu dem zweiten Schritt, der darin besteht, dass wir unsere Blickrichtung einmal ändern. Wir sollen aufhören, in das Unheil zu starren. Die Geschichte sagt uns: Schau nicht ständig auf das, was dich ängstigt. Die Wirklichkeit besteht aus noch viel mehr, als aus dem, was du jetzt gerade hörst oder siehst. Ändere deine Einstellung!

Wir können uns z.B. ruhig öfter mal bewusst machen, was jeden Tag alles gut läuft in unserem Land und in der Welt. Z.B. kommen fast alle Kinder jeden Morgen sicher zur Schule, die überwiegende Mehrzahl der Autos, Züge, Flugzeuge und Schiffe werden in keinen Unfall verwickelt, es gibt unzählig viele gesunde Menschen usw. Das scheint uns wahrscheinlich zu banal, es wird jedenfalls nicht in den Nachrichten erwähnt, doch wir sollten das ruhig mit bedenken, wenn wir die Sicherheitslage in unserem Leben betrachten. All das Gute gehört genauso zur Realität wie das Schreckliche.

Aber natürlich geht unsere Geschichte darüber noch hinaus. Sie erzählt von einer Wirklichkeit, die noch größer ist als die Natur, von der Macht Jesu, dem Sturm und Wellen nichts anhaben, und der der Erdanziehungskraft trotzt. An seine Herrschaft sollen wir glauben, sie soll uns prägen und bestimmen, von daher sollen wir leben. Es gilt also, dass wir uns immer wieder für Jesus entscheiden, auf ihn blicken, zu ihm rufen und seine Hand ergreifen. Das ist der zweite Schritt.

Und der Dritte besteht darin, dass sich das natürlich auswirkt. Der Glaube an Jesus hat Folgen, denn er macht uns innerlich fest und frei. Wenn wir uns seiner Stärke anvertrauen, gewinnt er die Oberhand. Seine Gegenwart umgibt und beschützt uns dann. Und das heißt, die Ängste fallen von uns ab, sie umklammern uns nicht mehr, und wir fühlen uns stattdessen gehalten und geborgen. Es ist wirklich so, als würden wir auf dem Wasser gehen. Eine unsichtbare Kraft erfüllt uns, die stärker ist als der Sog nach unten. Das ist das Dritte.

Und das verhilft uns schließlich noch zu einer wichtigen letzten Einsicht: Die Gefahren werden nie aufhören. Unser ganzes Leben ist vielmehr wie ein Gang über das Wasser, wir sind ständig bedroht, und eines Tages wird jeder und jede von uns untergehen. Dem Tod kann niemand entkommen. Die Vergänglichkeit und das Sterben gehören zu unserem Leben dazu. Wir verdrängen das am liebsten, aber das ist nicht nötig und auch nicht ratsam. Viel besser ist es, sich von Jesus an die Hand nehmen zu lassen. Dann können wir selbst angesichts des Todes noch zuversichtlich bleiben. Denn das, was uns erfüllt und wofür wir leben, wird nicht sterben: Es sind seine Gegenwart und seine Liebe, die Hand, die er uns reicht, und seine Hilfe.

Wenn wir das alles beherzigen, werden wir die Angst los. Sie verschwindet aus unseren Gedanken und Gefühlen, denn wir haben sie an der richtigen Stelle bekämpft. Unsere Entscheidungen treffen wir nun ruhig und besonnen. Wir gehen heiter und frohgemut unseren Weg, freuen uns an allem Schönen und sind am Ende bereit zum Sterben. Es ist also gut, wenn wir wie Petrus immer wieder rufen: „Herr, hilf mir!“ und uns nach Jesus ausstrecken, damit er unsere Hand ergreift und uns rettet.

Amen.

Sieh ins Licht

Predigt über Jesaja 42,1- 9: Der Knecht Gottes, das Licht der Welt

1. Sonntag nach Epiphanias, 9.1.2022, 9.30 und 11 Uhr, Luther- und Jakobikirche Kiel

Jesaja 42, 1- 9

1 Siehe, das ist mein Knecht – ich halte ihn – und mein Auserwählter, an dem meine Seele Wohlgefallen hat. Ich habe ihm meinen Geist gegeben; er wird das Recht unter die Heiden bringen.
2 Er wird nicht schreien noch rufen, und seine Stimme wird man nicht hören auf den Gassen.
3 Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen. In Treue trägt er das Recht hinaus. Er selbst wird nicht verlöschen und nicht zerbrechen, bis er auf Erden das Recht aufrichte; und die Inseln warten auf seine Weisung. So spricht Gott, der HERR, der die Himmel schafft und ausbreitet, der die Erde macht und ihr Gewächs, der dem Volk auf ihr den Odem gibt und den Geist denen, die auf ihr gehen:
6 Ich, der HERR, habe dich gerufen in Gerechtigkeit und halte dich bei der Hand und behüte dich und mache dich zum Bund für das Volk, zum Licht der Heiden,
7 dass du die Augen der Blinden öffnen sollst und die Gefangenen aus dem Gefängnis führen und, die da sitzen in der Finsternis, aus dem Kerker.
8 Ich, der HERR, das ist mein Name, ich will meine Ehre keinem andern geben noch meinen Ruhm den Götzen.
9 Siehe, was ich früher verkündigt habe, ist gekommen. So verkündige ich auch Neues; ehe denn es aufgeht, lasse ich’s euch hören.

Liebe Gemeinde.

Langsam werden die Lichterketten, die in vielen Fenstern, an Bäumen und Häusern hängen, wieder abgebaut, und das finde ich ein bisschen traurig. Denn es passt gut in die dunkle Jahreszeit, dass überall kleine Glühbirnen leuchten. Sie machen die Stadt heller.

Einige Häuser haben es ja sogar in die Medien geschafft: Ihre Bewohner und Bewohnerinnen haben nicht nur ein paar Lampen aufgehängt, sondern großartige Lichtershows installiert. Die Nachbarn sind zusammengekommen, um das zu bewundern, und das Fernsehen war da. Es war ein Riesenspektakel, das sich jedes Jahr wiederholt. Ihre Schöpfer investieren immer viel Geld und Zeit, damit alles so wird, wie es sein soll. Möglicherweise sind sie auch ein bisschen süchtig nach dem Licht und der Faszination, die es verbreitet. Es vertreibt die Dunkelheit, macht Spaß und weckt Freude.

Und selbst wenn die meisten von uns mit weihnachtlichen Lichterketten eher Maß halten, möchten wir alle der Dunkelheit etwas entgegensetzen. Es soll hell sein, und so zünden wir Millionen künstlicher Lampen an.

Da steckt auch noch mehr hinter, als nur der Versuch, die äußere Finsternis zu verjagen. Es ist ein Ausdruck unserer Sehnsucht nach Licht im übertragenen Sinn: Am liebsten würden wir das Dunkel ganz aus unserem Leben verbannen, aus der Gesellschaft, aus der Welt.

Und das war schon immer so. Seit jeher sehnen sich die Menschen nach Licht und benutzen es als Bild für Frieden und Wohlergehen, Freude und Rettung. In vielen Verheißungen im Alten Testament taucht das auf, so auch in der, die wir vorhin gehört haben. Sie steht bei dem Propheten Jesaja und ist heute unser Predigttext.

Es ist ein Lied über einen Menschen, den Jesaja den „Knecht Gottes“ nennt. An einer Stelle sagt er über ihn: „Ich, der HERR, mache dich zum Licht der Heiden, dass du die Augen der Blinden öffnen und die, die da sitzen in der Finsternis, aus dem Kerker führen sollst.“ Es wird hell durch ihn! Das ist hier die Verheißung, und die dürfen wir ruhig auf uns beziehen. Lasst uns deshalb fragen, wie wir das erleben können.

Dafür ist es gut, wenn wir zunächst klären, mit was für einem Text wir es hier überhaupt zu tun haben. Er gehört nämlich mit drei weiteren Abschnitten aus dem Buch Jesaja zusammen, und zwar ist es das erste von insgesamt vier sogenannten „Gottesknechtsliedern“. Sie heißen so, weil Gott darin einen Menschen als seinen „Knecht“ bezeichnet. Er rüstet ihn aus und gibt ihm einen Auftrag.

Wer dieser Mann ist, und welche Bestimmung er genau hat, ist undeutlich, ebenso der Zusammenhang, in dem die Einsetzung erfolgt. Es wird bewusst verhüllend über ihn geredet, wie in einem Rätsel, so dass wir nicht abschließend klären können, wer hier gemeint ist. Wir erkennen lediglich, dass sich etwas zwischen diesem Knecht und Gott vollzieht, und dann auch zwischen ihm und denen, welchen sein Auftrag gilt. Und zwar wird Dreierlei über ihn gesagt:

Das Erste ist der Satz: „Siehe, das ist mein Knecht – ich halte ihn – und mein Auserwählter, an dem meine Seele Wohlgefallen hat.“ Er ist also der Beauftragte seines Herrn, sein Werkzeug, das besonderen Schutz genießt und in enger Beziehung zu ihm steht. Er wird von Gott an der Hand gehalten und geliebt.

Zweitens wird als seine Ausrüstung der „Geist Gottes“ genannt, der ihm Kraft gibt, und zwar als dauernden Besitz. Denn Gott sagt über ihn: „Ich habe ihm meinen Geist gegeben“.

Und drittens wird der Zweck der Erwählung und Ausrüstung angeführt: „Er wird das Recht unter die Heiden bringen.“ D.h. der Knecht wird die Ordnung und das Gesetz Gottes verbreiten und wieder herstellen, seinen Willen verkünden, oder anders gesagt: das Glaubensbekenntnis und die religiöse Wahrheit. Und das wird er nicht nur für Israel tun, sondern für alle Völker, also für die ganze Welt.

Danach werden die Eigenschaften dieses Knechtes beschrieben, und die klingen sehr schön. Wenn man es hört, wird einem ganz warm ums Herz, denn genauso stellen wir uns den Heilsbringer vor, der die Welt hell macht: Er benutzt keine schimpfenden und drohenden Worte und versucht nicht, die Massen zu beeinflussen. Er verkündet keine Unheilsbotschaft, die die Menschen niederschmettert. Es ist vielmehr seine Eigenart, dass er „das geknickte Rohr nicht zerbrechen und den glimmenden Docht nicht auslöschen wird.“ Was dem Tod verfallen ist, wird behutsam und fürsorglich behandelt. Der Gottesknecht nimmt Rücksicht, ist gnädig und gütig. Er strapaziert das Schwache nicht, sondern schützt und hegt es.

Ich sagte ja schon, dass wir nicht wissen, wen der Prophet damit gemeint hat. Klar ist nur, dass Jesaja in einer Zeit gelebt und gewirkt hat, in der die Menschen sich nach so einem „Gottesknecht“ sehnten, und die Verheißung geht auf diesen Wunsch ein.

Wir denken natürlich sofort an Jesus Christus, denn genauso war er. Wir können die Aussagen wunderbar auf ihn beziehen. Das haben die Christen deshalb auch von Anfang an getan, mit Recht, denn wir glauben, dass das alles bei Jesus so war: Er war von Gott beauftragt und trug seinen Geist in sich. Er hat den Willen Gottes getan und verkündet und Barmherzigkeit geübt. Den Schwachen hat er sich zugewandt, niemanden vernichtet, und allen seine Liebe geschenkt. Er war gewaltlos, sanftmütig und friedfertig. Und damit hat er in der Welt ein Licht angezündet, das heller ist als alle anderen. Das glauben wir als Christen.

Aber stimmt dieser Glaube eigentlich mit der Wirklichkeit überein? Ist es durch Jesus Christus wirklich heller in der Welt geworden? Wo werden denn die Schwachen geschont? Wo sind der Frieden und die Gerechtigkeit? Die Menschen bringen sich nach wie vor gegenseitig um, führen Kriege und unterdrücken einander. Das Unrecht schreit zum Himmel, und Gott tut nichts! Diesen Einwand gegen die Verheißungen in der Bibel und unseren Glauben hören wir oft. Lasst uns deshalb darüber nachdenken und dabei in drei Schritten vorgehen.

Zunächst ist es gut, wenn wir nicht mit der allgemeinen Dunkelheit in der Welt beginnen, sondern bei uns selbst. Oft sind wir selber wie ein „geknicktes Rohr“ oder ein „glimmender Docht“. Wir fühlen uns schwach, liegen am Boden, und unsere innere Flamme droht zu erlöschen. Das kann ganz verschiedene Gründe haben. Zurzeit ist es in vielen Fällen die Corona-Situation, die uns zu schaffen macht. Sie raubt uns aus unterschiedlichen Gründen die Kraft und den Frohsinn. Die einen haben Angst vor einer Infektion und ziehen sich zurück. Das macht sie dann einsam und depressiv. Die anderen werden wütend und „gehen spazieren“. Das sind die Pole, zwischen denen es dann viele Spielarten gibt. Die beiden Extreme scheinen gegensätzlich zu sein. Doch was diese Menschen gemeinsam haben, ist das Leid, das sie empfinden. Sie kommen nicht klar, es bedrückt sie, nimmt ihnen die Freude und verdüstert ihre Seele.

Und das kennen wir auch sonst im Leben: Probleme in der Familie, mit der Gesundheit oder im Beruf können genauso dazu führen, dass es uns schlecht geht. Manchmal ist es auch nur eine Gemütsverfassung, für die wir die Gründe nicht kennen. Wir haben einfach nur das Gefühl, dass wir am Ende sind, und nichts mehr geht.

Und das ist traurig. Da helfen dann auch die Lichterketten nicht. Wir zünden sie zwar an, um gegen die Dunkelheit anzukommen, aber wir schaffen es nicht, die Finsternis zu vertreiben. Meistens bleibt alles, was wir diesbezüglich tun, nur ein kläglicher Versuch, und der Kampf ist anstrengend. Das müssen wir als erstes zugeben.

Denn dann können wir zum zweiten Schritt übergehen, der darin besteht, dass wir die Dunkelheit einmal aushalten. Es ist gar nicht immer ratsam, wenn wir sie selber verdrängen wollen. Wir können sie auch relativieren und annehmen.

In der momentanen Situation heißt das, dass wir uns einmal fragen: Was ist eigentlich so furchtbar daran? Es gibt ein paar Vorschriften, die wir nicht gewohnt sind. Wir dürfen einiges nicht, was uns Spaß macht. Das ist lästig und nervig. Aber ist es wirklich schlimm? Wenn wir darunter leiden, ist das auch ein Zeichen dafür, dass wir ganz schön verwöhnt und sogar verweichlicht sind. In anderen Ländern und zu anderen Zeiten gibt und gab es viel schrecklichere Restriktionen. Großer Unsinn ist es z.B., unsere Staatsform als Diktatur zu bezeichnen. In echten Diktaturen geht es völlig anders zu. Da drohen allen Leuten, die sich öffentlich aufregen und äußern, Gefängnis und Folter. Es gibt keine Meinungsfreiheit und keine unabhängige Justiz. Die Menschen werden überwacht, und natürlich existiert auch die Todesstrafe und wird angewandt. Bei uns dagegen geht es lediglich um ein paar Einschränkungen bezüglich unserer Vergnügungen und Treffen mit anderen.

Und was ist mit dem Virus selbst? Es verursacht lange nicht bei allen, die sich damit infizieren, den unabwendbaren Tod. Wir können uns gut davor schützen, haben einen Impfstoff und Krankenhäuser. Es gab in der Menschheitsgeschichte viel fürchterlichere, wirklich todbringende Seuchen. Es ist deshalb gut, wenn wir die Situation weder über- noch unterbewerten, sondern sie relativieren und annehmen. Das ist das Zweite, das immer ratsam ist, wenn es uns mal schlecht geht.

Und als drittes können wir tun, was ein altes chinesisches Sprichwort uns empfiehlt: „Wende dein Gesicht der Sonne zu, dann fallen die Schatten hinter dich.“ Diese „Sonne“ gibt es. Es ist Jesus Christus und seine Barmherzigkeit und Liebe. Die sind da, wir müssen nur hinsehen. Der Schauplatz seines Wirkens sind nicht die großen Bühnen der Welt, die Kriege oder Hungergebiete, so wie wir uns das vielleicht wünschen. Er handelt ganz anders. Der Ort des Wirkens Jesu ist das Herz jedes und jeder Einzelnen. Da gilt das, was hier über ihn gesagt wird: Er zerbricht es nicht und löscht das Glimmen darin nicht aus, ganz gleich wie geknickt oder schwach es ist. Und das können wir erfahren, wenn wir uns auf ihn einlassen. Das wäre der dritte Schritt, dass wir uns von Jesus lieben lassen und unser Leben in seine Hand legen. Er offenbart sich dann und beantwortet alle Fragen, nicht mit Gewalt und großen Gesten, auch nicht mit lauten Worten und einem starken Auftreten, sondern mit Liebe und Zuwendung. Wir empfangen Barmherzigkeit, und die wirkt heilend und wohltuend. Die Zweifel kommen zur Ruhe, weil wir erleben, dass er da ist. Wir werden aufgerichtet und froh.

Es wird hell, auch ohne Lichterketten, und dieses Licht bleibt da. Es wird nicht wieder abgebaut, sondern leuchtet das ganze Jahr über, unser Leben lang, bis ans Ende der Zeit und in alle Ewigkeit.

Amen.

Der Mensch denkt, Gott lenkt

PREDIGT über Sprüche 16, 9

Neujahrstag, 1.1.2022, 18 Uhr Lutherkirche Kiel                          

Liebe Gemeinde.

„Mal sehen, ob daraus was wird.“ Diesen Satz benutzen wir gerade sehr oft. Ob es um eine geplante Reise geht, eine Veranstaltung, die wir besuchen wollen, eine Familienfeier, eine Tagung – es kann sein, dass wir das alles zwar vorbereitet haben, dass es aber kurzfristig doch ausfällt oder abgesagt werden muss. Seit zwei Jahren ist das nun schon so, und das ist nervig und anstrengend. Denn es gehört eigentlich zu unserem Lebensstil und -gefühl, dass wir uns Dinge vornehmen und uns darauf dann auch freuen. Gerade am Jahresanfang blicken wir gern nach vorne und halten Ausschau. Das ist unsere Gewohnheit.

Doch in der Pandemie geht das nicht richtig. Alle Vorhaben sind mit vielen Unsicherheiten und Sorgen verbunden, Ängsten und Unwägbarkeiten. Was wird kommen? Wie geht unser gesellschaftliches und persönliches Leben weiter? Wir wissen es nicht.

Bei Lichte betrachtet, ist das allerdings gar nicht so ungewöhnlich. Im Gegenteil, wenn wir nüchtern und realistisch sind, müssen wir zugeben, dass unser Leben immer unsicher ist. Es gibt nicht erst seit der Pandemie Gefahren und Bedrohungen, die alles verändern können, das war von jeher der Fall und deshalb auch schon immer ein Thema für die Menschen.

So steht bereits in den Sprüchen Salomos ein Satz, der sich genau darauf bezieht. Er lautet: „Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg; aber der HERR allein lenkt seinen Schritt.“ Das ist heute unser Predigttext, und es lohnt sich, darüber nachzudenken.

Die Sprüche Salomos handeln davon, wie das Leben gelingen kann. Dabei heißt diese Sammlung nicht deshalb so, weil die Einzelsprüche alle von Salomo stammen, sondern weil sie in seiner Zeit und an seinem Hof entstanden sind. Da gab es sogenannte Weisheitsschulen, in denen junge Menschen in Lebenskunde unterrichtet wurden. Mit Beobachtungen und Ermahnungen gibt ein älterer Mensch seine Lebenserfahrung und seine Einsichten an einen Schüler weiter. Er ist davon überzeugt, dass im ganzen Dasein eine bestimmte Ordnung herrscht, die man beachten muss. Wenn man sie erkennt und danach handelt, wird man mit Glück und Wohlergehen belohnt. Eine große Rolle spielt dabei der Glaube an Gott, denn Gott gilt als der Lenker von allem. Es ist deshalb gut, wenn man seinen Willen erkennt und tut.

Das kommt auch in unserem Spruch und in den Versen, die davor stehen, zum Ausdruck, denn hier wird etwas über Gott und den Menschen und ihre Beziehung zueinander gesagt:

Gott ist derjenige, der hinter dem steht, was wir erleben und was in der Welt geschieht. Sein Walten durchzieht die ganze Schöpfung, und alles was passiert dient einem geheimen Zweck, den er bestimmt. Er hat einen Plan und Gedanken, nach denen er die Geschicke beeinflusst. Sein Wille bestimmt das All. Dabei ist er frei und unabhängig. Er existiert auch ohne uns und war vor allem da.

Über den Menschen wird nun gesagt, dass er sich selber zunächst einmal genauso versteht. Er fühlt sich ebenfalls frei und unabhängig. Er macht Pläne und nimmt sich etwas vor. Er will immer irgendetwas. Er hat Wünsche und Erwartungen und ist dabei ehrgeizig und zielstrebig. Er nimmt sein Leben in die eigene Hand und hält sich für den Lenker seines Schicksals.

Doch genau davor warnt der Weisheitslehrer hier. Er ermahnt seine Schüler, sich in Beziehung zu Gott zu setzen, und sein Leben nicht ohne ihn zu führen. Es ist besser, wenn er sich Gott anbefiehlt, ihn fürchtet und auf ihn vertraut. Er sollte nach seinem Willen fragen und ihm zum Wohlgefallen handeln. Es ist auch gut, wenn er versucht, den geheimen Sinn hinter allem zu erkennen. Es ist klüger, wenn er seine eigenen Pläne immer wieder relativiert und sich in den größeren Zusammenhang stellt, den Gott ihm vorgibt. Denn Gott ist bei denen, die ihn fürchten und auf ihn vertrauen, und lässt ihre Vorhaben gelingen. Dieser Gedanke steht hinter dem Spruch und seinem Kontext, und das ist auch für uns ein hilfreicher Hinweis.

Drei Dinge werden uns damit gesagt:

Zunächst sind wir eingeladen, nüchtern zu sein und zu erkennen, wie das Leben wirklich ist. Wenn wir uns sicher fühlen, machen wir uns im Grunde genommen etwas vor. Denn wir können unser Schicksal nicht vollkommen selber bestimmen. Es geschehen immer Dinge, die wir nicht geplant haben. Jetzt ist es gerade ein Virus und die damit verbundene Politik, die alles durcheinander bringen. Aber so ist das Leben oft. Es gibt unzählig viele Gefahren und Ereignisse, die imstande sind, unsere Vorhaben über den Haufen zu werfen: So können wir z.B. im Straßenverkehr verunglücken, Umweltzerstörungen zum Opfer fallen, in einem Krieg aufgerieben, verletzt, vertrieben oder umgebracht werden, durch eine Krankheit darniederliegen oder sogar sterben usw. Und das gilt es, anzunehmen und zu bejahen. Es ist zwecklos, sich dagegen aufzulehnen, in Panik zu verfallen oder alles zu leugnen. Besser ist es, wenn wir alle unsere Vorhaben von vorne herein relativieren. Das ist das erste, wozu der Weisheitslehrer uns einlädt.

Als zweites folgt daraus, dass es etwas anderes geben muss, das unser Bewusstsein prägen und an erste Stelle in unserem Denken stehen sollte. Und das ist das Vertrauen auf Gott. Es ist genau das Gegenteil von der eigenen Anstrengung, von Plänen und Vorhaben, Leistung und Erfolgen. Das alles soll der Mensch einmal abstreifen. Er soll sich selber loslassen und sein Leben ganz in die Fürsorge Gottes legen. Wir dürfen uns bei Gott ausruhen und ihn tun lassen, uns im Glauben und Vertrauen üben. Damit rüsten wir uns am besten für die unvorhergesehenen Eventualitäten.

Denn dadurch gewinnen wir einen Grund im Leben, der sich nicht so schnell erschüttern lässt. Wir bekommen einen Halt, werden begleitet und getragen. Auch unser Bewusstsein weitet sich, wir werden klug und sehen, dass es noch viel mehr gibt zwischen Himmel und Erde, als nur das, was wir mit den Sinnen wahrnehmen, mit unserer Arbeit verwirklichen und gestalten oder mit unsren Worten bewegen. Wir erkennen die ganze Wirklichkeit, wachen auf und sind geschützt. Denn wir fallen nie tiefer als in Gottes Hand, wo wir eigentlich auch hingehören. Das ist das zweite.

Und das dritte ist ein neues Zeit- und Lebensgefühl. Meistens denken wir an das, was kommt, oder an das, was war. Auch Gott bauen wir da gerne ein, indem wir ihn entweder darum bitten, uns bei dem zu helfen, was werden soll, oder ihm für etwas danken, das geschehen ist. Doch Gott ist viel größer als Zukunft und Vergangenheit, er untersteht nicht dieser Zeit. Wir werden ihm nicht gerecht, wenn wir ihn nur in unseren Erfahrungen suchen oder für unsere Vorhaben um Hilfe bitten. Denn er hat nicht gestern gehandelt und wird es auch nicht erst morgen oder übermorgen tun, sondern er ist jetzt da, in diesem Augenblick.

Die Zukunft gibt es nur in unserer Vorstellungswelt. Unsere Gedanken daran sind nichts als Phantasie. Sie bleibt ein Gebäude von Bildern und Ideen. Und die Vergangenheit ist ebenfalls nicht mehr real, sie existiert in unserer Erinnerung und unserem Gedächtnis. Gott dagegen lebt und regiert jetzt. Wir müssen in der Gegenwart mit ihm rechnen, ohne an das Morgen oder an das Gestern zu denken, und zwar mit jedem Augenblick aufs Neue.

Und das ist am Anfang eines Neuen Jahres besser, als alles andere. Wir sollten unsere Phantasie nicht allzu sehr spazieren gehen lassen, weil doch niemand weiß, was kommen wird. Besser ist es, wenn wir uns jetzt Gott anvertrauen und unser Leben jetzt in seine Hand legen.

Als Christen haben wir dafür einen großen und starken Helfer, der das alles vorgelebt hat und uns diesen Weg ebnet. Es ist unser Herr und Heiland Jesus Christus. Lasst uns ihn deshalb darum bitten, dass das neue Jahre in dieser Weise gelingen möge. Wir können das sehr schön mit vier Strophen aus dem Lied tun: „Hilf, Herr Jesu, lass gelingen.“ (EG 61,1.2.4.5)

Amen.

Zeit der Erfüllung

Geistlicher Impuls zu Micha 5, 1- 4a:

Der kommende Herrscher aus Bethlehem


Heiligabend, 24.1.22021, 16.45 Uhr, Lutherkirche Kiel

Liebe Gemeinde.

Ein historischer Bericht ist die Weihnachtsgeschichte im Lukasevangelium (Lukas 2, 1- 20) nicht. Wann und wo und unter welchen Umständen Jesus wirklich geboren wurde, wissen wir nicht, es gibt dazu keine Quellen. Trotzdem enthält sie eine Wahrheit, und ihre Botschaft hat bis heute eine große Gültigkeit. Die wird durch etwas anderes belegt, als geschichtliche Dokumente oder antike Urkunden, und zwar gibt es zwei Sorten von Beweisen:

Das sind zum einen die Glaubenszeugnisse, die seit der Überlieferung des Evangeliums entstanden sind, Hymnen und Gebete, Weihnachtschoräle und -lieder, Predigten und Meditationen. Ein wunderbares Beispiel ist dafür das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach. Er hat nicht nur die schöne und kraftvolle Musik komponiert. Auch die Zusammenstellung der Chöre und Choräle, Arien und Rezitative lassen die frohe Botschaft lebendig werden. Sie rührt uns an und geht zu Herzen.

Doch es sind nicht nur die Zeugnisse aus der Zeit der Kirchengeschichte, also der Zeit danach, durch die das Evangelium immer wieder wirkt. Auch vorher gab es Verheißungen, die das Geschehen vorhergesagt haben. Wir finden im Alten Testament viele Stellen bei den Propheten, die den Messias ankündigen, und die Christen haben das von Anfang an auf Jesus bezogen. Es ist wahr geworden, was Gott einst versprochen hatte, das war ihr Glaube. Die Worte haben deshalb von je her das Evangelium begleitet. Viele Erzählungen über Jesus sind so auch entstanden: Man hat Geschichten gedichtet, die den Verheißungen entsprechen. Eine dieser Prophezeiungen steht bei Micha im fünften Kapitel, und sie lautet folgendermaßen:

Micha 5, 1- 4a

1 Doch dir, Betlehem im Gebiet der Sippe Efrat, lässt der Herr sagen: »So klein du bist unter den Städten in Juda, aus dir wird der künftige Herrscher über mein Volk Israel kommen. Sein Ursprung liegt in ferner Vergangenheit, in den Tagen der Urzeit.«
2 Der Herr gibt sein Volk den Feinden preis, bis eine Frau den erwarteten Sohn zur Welt bringt. Dann werden die Verschleppten, die noch am Leben sind, zu den anderen Israeliten zurückkehren.
3 Im höchsten Auftrag des Herrn, seines Gottes, und mit der Kraft, die der Herr ihm gibt, wird er die Leute von Israel schützen und leiten. Sie werden in Sicherheit leben können, weil alle Völker der Erde seine Macht anerkennen.
4a Er wird Frieden bringen

Der Prophet Micha kündigt mit diesen Worten den kommenden Herrscher der Endzeit an, durch den es einen vollständigen Neuanfang geben wird. Gott hat einen verborgenen Plan, für den er sich bewusst das kleinste Geschlecht Israels ausgesucht hat. Er beweist damit seine Wundermacht. Und er hat sich das auch nicht erst im Laufe der Geschichte ausgedacht, sein Heilsplan war bereits in seinen Schöpfungsgedanken verankert: Ein Kind wird geboren werden, das eines Tages sein Volk retten wird. Seine Herrschaft wird durch keinerlei Wechselfälle der Geschichte erschüttert werden. Er wird wie ein Hirte sein und wie ein Statthalter in Gottes universalem Reich. Auf ihm ruht die Hoffnung ewigen Friedens.

Das ist die Botschaft des Propheten, und sie kann uns den Wahrheitsgehalt über Jesus Christus erschließen, auch wenn es kein geschichtlicher Bericht ist. Es ist ohnehin sinnlos, das Evangelium mit dem Verstand begreifen zu wollen. Wir müssen es anders hören und aufnehmen, und zwar mit unserem Leben und unserem Glauben. Und dafür gibt es hier drei Aussagen.

Als erstes ist wichtig, dass Jesus immer wieder geboren wird, dass er ein Teil unseres Lebens wird und in unser Herz einzieht. Er möchte in uns sein und wartet darauf, dass wir uns für seine Gegenwart öffnen und uns ihm hingeben. Er schenkt uns seine Liebe, und wünscht sich, dass wir sie erwidern. Damit das gelingt, können wir uns vorstellen, dass unsere Geist zur Krippe wird, in der Jesus „ruht“. Dann nimmt er einen festen Platz in unseren Gedanken und in unserem Gedächtnis ein, und es gilt, dass wir ihm den immer wieder bereiten.

Der nächste Punkt ist die Wahl der kleinen Stadt Bethlehem. Sie bedeutet, dass Jesus sich das Kleine sucht. Er hat es nicht auf das Großartige und Glänzende abgesehen, sondern kommt dorthin, wo Menschen ihre Kleinheit annehmen, ihre Schwäche und Kümmerlichkeit. Davon ist unser Lebensgefühl ja oft geprägt. Wenn es so ist, versuchen wir normalerweise, das irgendwie abzustellen oder wenigstens zu vertuschen. Denn wir geben nur ungern zu, wenn wir verzagt sind. Wir verdecken es lieber und machen uns und anderen etwas vor. Doch das muss nicht sein, wir können damit getrost aufhören, denn genau dahinein ist Gott gekommen: in die Dunkelheit und in das Unbedeutende. Wir müssen es einfach nur bejahen und Jesus dort begrüßen, wo er ist: in der Unscheinbarkeit und im Unauffälligen. Das ist der zweite Punkt.

Und als drittes dürfen wir die Verheißung ernst nehmen, dass Jesus den Frieden bringt. Er verhilft uns dazu, dass auch wir friedlich leben. Denn wenn wir seine Liebe in uns haben, können wir auch liebevoll miteinander umgehen. Gerade zu Weihnachten sind wir dazu eingeladen. Möglicherweise gibt es Konflikte und Spannungsfelder in der Familie, die leicht zum Streit führen. Doch das muss nicht sein. Wir können heikle Situationen bewusst dazu nutzen, ruhig zu bleiben. Und das kann uns dadurch gelingen, dass wir uns den Frieden und die Kraft Jesu Christi in Erinnerung rufen, ihn „mit Fleiß bewahren“ und danach handeln und reden.

Wenn wir das alles beachten, tragen wir selber dazu bei, dass das Evangelium lebendig wird. Wir sorgen dafür, dass eine Wirklichkeit entsteht, die größer und bedeutender ist als die Weltgeschichte und alles politische Geschehen. Es ist die Wirklichkeit des Glaubens und der Hoffnung, des Gebetes und der Zuversicht. Der Himmel kommt auf die Erde, denn „der Gast“, den wir „ersehnt“ haben, kommt zu uns. Lasst uns ihm dafür „aus voller Kraft Lob, Preis und Ehre“ geben.

Amen.

Seid treu gegenüber den Geheimnissen Gottes

Predigt über 1. Korinther 4, 1- 5: Paulus ist der Diener Christi

3. Advent, 12.12.2021, Lutherkirche Kiel

1. Korinther 4, 1- 5

1 Dafür halte uns jedermann: für Diener Christi und Haushalter über Gottes Geheimnisse.
2 Nun fordert man nicht mehr von den Haushaltern, als dass sie für treu befunden werden.
3 Mir aber ist’s ein Geringes, dass ich von euch gerichtet werde oder von einem menschlichen Gericht; auch richte ich mich selbst nicht.
4 Ich bin mir zwar nichts bewusst, aber darin bin ich nicht gerechtfertigt; der Herr ist’s aber, der mich richtet.
5 Darum richtet nicht vor der Zeit, bis der Herr kommt, der auch ans Licht bringen wird, was im Finstern verborgen ist, und wird das Trachten der Herzen offenbar machen. Dann wird einem jeden von Gott sein Lob zuteil werden.

Liebe Gemeinde.

Das Bild, das ihr am Eingang bekommen habt, heißt „Der Brief“. Bruno Griesel hat es in den Jahren 2018 bis 2020 gemalt, in Öl und Acryl auf Leinwand. Das Original ist 170 mal 110 cm groß.

Ich kenne diesen Maler persönlich, er macht sich immer sehr viele Gedanken, und aus diesen Gedanken entstehen dann seine Bilder. Er hat also zu allen seinen Gemälden etwas zu sagen, hinter jedem steht ein Anliegen. Zu dem Vorliegenden hat er mir geschrieben: 

„Ich habe es begonnen, nachdem ich mich intensiv mit Schrift, Information und Translation beschäftigt habe. Der Brief trägt keine Schrift, er ist schriftfrei. Sicherlich hat er, trägt er trotzdem eine Information.“

„Der Brief, die Botschaft, das Kryptische… Der Brief ohne Schriftzeichen, ohne Schrift, nur gewisse Faltungen, welche das Licht in verschiedenen Schatten und Reflektionen zurückwerfen. Sicherlich von künstlicher Intelligenz augenblicklich in verschiede Algorithmen leicht zu ordnen und zu neuen Ordnungen zu erheben. Jedoch, welches ist die wirkliche Botschaft für die Menschen?“

Diese Frage stellen wir uns sicher alle irgendwann einmal. Und selbst, wenn wir es zu wissen meinen – wie bringen wir sie zu den Menschen? Verstehen sie unser Anliegen? Ist es nicht so, dass alles, was wir sagen oder aufschreiben, beim Hören und Lesen eher schillert, von allen unterschiedlich aufgenommen und umgesetzt wird, wie bei einem „Brief ohne Schriftzeichen“? Jede Mitteilung weckt Assoziationen, wird durch das eigene Empfinden und Denken gefiltert, übersetzt und oft verändert.

Das hat auch Paulus schon erlebt. Er war ja ein großer Verkünder, der erste Missionar, und er hat viele Menschen mit seiner Botschaft erreicht. Doch oft dauerte es in den Gemeinden, die er gegründet hatte, nicht lange, bis Menschen auftraten, die ihn nicht verstanden, Stimmen laut wurden, die ihm widersprachen, Prediger aktiv wurden, die seine Botschaft veränderten. Das führte dann zu harten Auseinandersetzungen, es gab Diffamierungen, Anfeindungen und Verleumdungen.

So war es auch in der Gemeinde in Korinth. Dort zweifelten einige Personen öffentlich daran, dass Paulus ein echter Apostel war. Sie wollten seine Autorität zerstören, und das hat ihn natürlich getroffen. Er warnt deshalb die Gemeinde vor voreiligem Richten. Seinen Gegnern streitet er das Recht zu ihrer Kritik an ihm ab und erklärt, dass sie mit ihrem Urteil danebenliegen.

Denn er beansprucht gar keine besondere Autorität, sondern versteht sich nur als „Diener Christi und Haushalter über Gottes Geheimnisse.“ Er übt keine Herrschaft über die Gemeinde aus, weil sie nicht ihm, sondern Gott gehört. Sich selber versteht er nur als Verwalter. Deshalb ist von ihm nichts anderes als „Treue“ gefordert, und die kann er ohne Abstriche bekennen. Er hat sich nichts zu Schulden kommen lassen, deshalb ist es für ihn auch ein „Geringes, dass er von den Korinthern gerichtet wird.“ Er untersteht ihrem Gericht gar nicht und auch keinem anderen „menschlichen Gericht.“ Er beurteilt sich noch nicht einmal selbst. Denn das alles wäre menschlich und von daher in diesem Zusammenhang bedeutungslos.

Außerdem ist er sich – wie gesagt – keinerlei Schuld bewusst, er muss er sich keine Unaufrichtigkeit vorwerfen, „aber darin bin ich nicht gerechtfertigt“ sagt er weiter. Denn „der Herr ist’s, der mich richtet.“ Damit betont er, dass sein Gewissen, obwohl es rein ist, nicht die letzte Instanz und erst recht nicht die Stimme Gottes ist. Die geht weit über unsere menschliche Erkenntnis hinaus. Wir sehen immer nur einen Teil der Wirklichkeit, nie haben wir die volle Einsicht in uns selber oder die anderen. Die hat Gott allein.

„Darum richtet nicht vor der Zeit, bis der Herr kommt.“ fährt Paulus fort. Dem Endurteil Gottes soll niemand vorgreifen, denn das hieße, sich in das Richteramt Christi einzumischen. Niemand kann vollständig in den anderen hineinschauen, geschweige denn, ihn durchschauen. Vieles von dem, was in der Seele vor sich geht, liegt „im Finsteren verborgen“, und nur Christus „wird es ans Licht bringen. Er wird das Trachten der Herzen offenbar machen. Dann wird einem jeden von Gott sein Lob zuteilwerden.“ So endet der Textabschnitt, der heute unsere Epistel ist.

Paulus hat es also ganz und gar Gott überlassen, die Wahrheit aufzudecken und zu transportieren. Er wehrt sich gegen Rechthaberei und Fundamentalismus, ganz zu schweigen von Radikalismus. 

Und das ist auch für uns eine gute Botschaft, gerade in der jetzigen Zeit, denn zu vielen gesellschaftlichen Themen gibt es ganz unterschiedliche Meinungen, allem voran zu der Frage, wie wir am besten mit der Pandemie umgehen. Da ist das Spektrum an Auffassungen sehr weit, denn alle hören und verarbeiten die Nachrichten in den Medien anders. Es reicht von denjenigen, die große Angst davor haben sich anzustecken und an dem Virus zu sterben, bis hin zu denen, die leugnen, dass es überhaupt eine Gefahr gibt. Sie halten die gängigen Nachrichten für Lügen. Und das führt zu vielen Konflikten, die sich langsam zuspitzen. Die Stimmung wird gereizter, sowohl auf der gesellschaftlichen Ebene als auch in Familien und Freundeskreisen, Gemeinden und Gruppen. Die einen vertreten dies, die anderen das. Das gegenseitige Verstehen nimmt ab und die Auseinandersetzungen werden schärfer. Ich weiß von Menschen, die vor Kurzem langjährige Beziehungen beendet haben, weil es nicht mehr möglich war, miteinander zu reden. Die Fronten waren zu verhärtet, und man blieb unversöhnlich. So kommt es zu Spaltungen und Trennungen. Und darunter leiden wir genauso wie damals zur Zeit des Paulus die Korinther. Seine Antwort ist also auch für uns relevant, und sie besteht im Wesentlichen aus drei Gedanken:  

Zunächst einmal distanziert Paulus sich von jeglicher Art der Rechthaberei. Er will nur „treu“ sein, d.h. er schwankt nicht hin und her, bleibt bei seiner Sache und hält den Anfeindungen stand. Ein treuer Mensch geht nicht einfach so weg, wenn es schwierig wird, er ist geduldig, kann lieben und leiden. Er verzichtet darauf, seinen spontanen Wünschen und Bedürfnissen zu folgen, er kann diese zurückstellen und sich unterordnen.

Und diese Haltung können auch wir einnehmen, das wäre der erste Schritt. Er führt dazu, dass wie einander aushalten. Wir lassen das Schillern der vielen verschiedenen Meinungen zu, den „Brief ohne Schriftzeichen“. Es gibt keine eindeutige absolute Handlungsanweisung, weder für den Einzelnen noch für die Gesellschaft. Denn natürlich haben alle Menschen und Staaten Interessen und Wünsche, und die passen nicht immer zusammen. Vieles steht einander im Weg und ist nicht für jeden und jede sinnvoll. Das müssen wir wie gesagt ertragen.

Doch dabei muss es nicht bleiben. Auch für Paulus ist das nur der erste Schritt, denn er ist nicht „treu“ um der Treue willen, sondern „gegenüber Christus und den Geheimnissen Gottes“, wie er sagt, d.h. er steht im Dienst einer höheren Sache. Er wird transparent für die ewige Wahrheit.

Er glaubt an die Gegenwart Jesu, er kennt eine Instanz, die außerhalb der menschlichen Beurteilung liegt, die größer und umfassender ist. Sie geht weit über unsere individuelle Erkenntnis hinaus. Wir sehen immer nur einen Teil der Wirklichkeit, nie haben wir die volle Einsicht in uns selber oder die anderen. Die hat Gott allein.

Darauf will Paulus aufmerksam machen. Es geht ihm um die Gegenwart Christi, um seine Liebe und seine Gnade. Er lädt seine Leser und Leserinnen dazu ein, sich Jesus Christus anzuvertrauen und sein Erbarmen walten zu lassen. Ihm können wir alles abgeben, uns ihm hingeben und ihn urteilen lassen. Er weiß mehr als wir, er hat einen ganz anderen Blick, er allein kennt die „Tiefen jedes menschlichen Herzens“. Das ist das Zweite.

Und daraus folgt drittens, dass wir unsere Diskussionen einmal unterbrechen, die Gedanken zur Ruhe kommen lassen und schweigen. Wir sollten uns in „Nachrichtenaskese“ üben und weniger Gespräche führen. Beziehungen, in denen es kritisch wird, können auch mal eine Pause vertragen. Man muss sich ja nicht gleich für immer entzweien. Wenn wir das beherzigen, werden wir merken, dass das gut tut, denn es ist etwas ganz anderes, als irgendetwas zu behaupten oder durchzusetzen. Es ist heilsam und befreiend, wir werden ruhig und heiter, gelassen und froh. Ein tiefer Friede zieht in unser Herz ein.

Und nicht nur für unsere Seele ist das heilsam, auch unser Zusammenleben kann dadurch friedlicher werden. Unser Umgang miteinander wird ebenfalls verändert, unsere Beziehungen, unsere Gemeinden und unsere Gesellschaft. Es führt uns zusammen und lässt uns beieinander bleiben. Die Einheit, nach der wir uns sehnen, entsteht nicht dann, wenn eine Sichtweise sich durchsetzt, sondern wenn wir dem Einen treu bleiben, dessen Gegenwart alle unsere Meinungen transzendiert.

Die Frau auf dem Bild – es ist übrigens die Tochter des Künstlers – schaut in die Ferne. Sie blickt weder uns noch den Brief an, den sie in der Hand hält. Sie sieht vielmehr irgendetwas am Horizont. Man kann das so interpretieren, dass sie durchlässig ist, die Botschaft geht durch sie hindurch. Auch ihre Körperhaltung spricht dafür: Sie ist offen und in Bewegung. Sie hat eine Nachricht und ist bereit, sie zu versenden.

Für mich ist das Bild eine moderne Darstellung des Verkündigungsengels: Seine Botschaft war größer, als alles, was sich mit Schrift und mit Worten ausdrücken lässt. Aber er hat sie in die Welt geschickt, sie wurde aufgenommen und übersetzt. Zuerst kam sie zu Maria, dann zu den Hirten auf dem Feld, und sie alle haben auf ihn gehört.

Auch wir sind dazu eingeladen. Es bedeutet, dass wir die Heilige Schrift lesen und dem Evangelium „treu“ bleiben. Wir bereiten damit Christus den Weg und verwalten die „Geheimnisse Gottes“. Er zieht dann in unser Herz und in unsre Gesellschaft ein. Die Kraft der Liebe und Barmherzigkeit setzt sich durch und verändert die Welt.

Amen.

Im Frieden Gottes leben

Predigt über Psalm 85: Bitte um neuen Segen

Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres, 7.11.2021, 9.30 und 11 Uhr Luther- und Jakobikirche Kiel

„Es sagte Rabbi Schimon: Als der Heilige – gepriesen sei er – kam, den ersten Menschen zu erschaffen, da bildeten die Dienstengel Gruppen und Parteien. Die einen davon sagten: ,Er werde erschaffen!‘, die anderen sagten: ,Er werde nicht erschaffen!‘ Es heißt ja: Liebe und Wahrheit stießen aufein­ander, Gerechtigkeit und Frieden bekämpften sich. Die Liebe sagt: ,Er werde erschaffen, denn er wird Liebeswerke vollbringen!‘ Die Wahrheit sagt: ,Er werde nicht erschaffen, denn er ist ganz und gar Lüge!‘ Die Gerechtigkeit sagt: ,Er werde erschaffen, denn er wird Werke der Nächstenliebe vollbringen!‘ Der Friede sagt: ,Er werde nicht erschaffen, denn er wird ganz und gar streitsüchtig sein!‘ Was tat der Heilige – gepriesen sei er? Er nahm die Wahrheit und warf sie auf die Erde. Es sagten die Dienstengel vor dem Heiligen – gepriesen sei er: ,Herr der Welten, warum erniedrigst du sie, die über deinen Ordnungen steht? Lass doch die Wahrheit von der Erde aufsteigen!‘ Es heißt ja: Die Wahrheit sprieße von der Erde empor! Während die Engel noch diskutierten, schuf der Heilige – gepriesen sei er – den Menschen. Er sprach zu den Dienstengeln: ,Was nützt euch eure Diskussion? Der Mensch wurde bereits erschaffen.‘“ (in: Erich Zenger, Psalmen Auslegungen, Band 3: Dein Angesicht suche ich, Freiburg, Basel, Wien, 2006, S. 56f)

So illustriert ein Midrasch – das ist eine Auslegung aus dem rabbinischen Judentum – die Freiheit Gottes. Und sie spielt damit auf einen Vers aus Psalm Ps 85 an. Dort werden die vier Gestalten „Güte“ und „Treue“ – was auch „Wahrheit“ bedeutet, „Gerechtigkeit“ und „Friede“ erwähnt. Der Psalm ist heute unser Predigttext, und dort „begegnen sie einander und küssen sich“. Sie streiten also nicht, sondern kommen zusammen und vertragen sich. Der Beter weiß wahrscheinlich, dass die Auseinandersetzung oder sogar der Kampf zwischen diesen vier Figuren eigentlich naheliegt: Sie können sogar Gegensätze bilden: Die Liebe kommt durchaus ohne Wahrheit aus, sie kann verlogen und scheinheilig sein. Die Wahrheit dagegen ist nicht immer liebevoll. Und Frieden ist oft ungerecht, denn er verzichtet z.B. auf Vergeltung. Entsprechend bedeutet das Durchsetzen von Gerechtigkeit nicht unbedingt, dass Friede herrscht. Wenn diese vier Gestalten sich „treffen“ und sogar „küssen“ wie in unserem Psalm, geschieht also etwas Besonderes: Dann kommt Gott und schafft etwas Neues. Das ist hier die Botschaft.

In der Lutherübersetzung trägt der Psalm die Überschrift: „Bitte um neuen Segen“, und das passt gut, denn Gott wird hier bedrängt, etwas zu tun, so zu handeln, wie am Anfang der Geschichte Israels. Damit beginnt der Psalm. Der erste Teil lautet folgendermaßen:

Psalm 85, 2- 8:
2 HERR, der du bist vormals gnädig gewesen deinem Landeund hast erlöst die Gefangenen Jakobs;
3 der du die Missetat vormals vergeben hast deinem Volk und alle seine Sünde bedeckt hast;
4 der du vormals hast all deinen Zorn fahren lassen und dich abgewandt von der Glut deines Zorns:
5 hilf uns, Gott, unser Heiland, und lass ab von deiner Ungnade über uns!
6 Willst du denn ewiglich über uns zürnen und deinen Zorn walten lassen für und für?
7 Willst du uns denn nicht wieder erquicken, dass dein Volk sich über dich freuen kann?
8 HERR, erweise uns deine Gnade und gib uns dein Heil!

Der Beter blickt also zurück auf grundlegende Heilserweise Gottes, auf die Erschaffung der Welt, die Erwählung Israels, den Auszug auf Ägypten und die Landnahme, und er bittet darum, dass Gott noch einmal so handeln möge. Er soll helfen, wie er „vormals“ geholfen hat, und seine einmal eingegangenen Verpflichtungen erfüllen. Er soll sich selbst und Israel treu bleiben. Und damit ist nicht einfach nur eine Schicksalswende gemeint, sondern die Wiederherstellung des Früheren, die Wiederholung des Anfangs. Es geht also nicht um historische Ereignisse, sondern der Psalm erinnert Gott an die großen Verheißungen, die er Israel einmal gegeben hat. Er hatte ihnen eine endzeitliche und endgültige Wiederherstellung versprochen. Und das soll endlich eintreten, eine Rückkehr zum Uranfang, ein Neubeginn mit endzeitlicher Lebenskraft. Gottes Güte und Liebe sollen über seinen Zorn siegen, damit Israel aus dem Tod zum Leben hinübergeführt wird. Davon handelt der erste Teil des Psalms.

Im zweiten Teil wird auf diese Bitte geantwortet.

Psalm 85, 9- 14:
9 Könnte ich doch hören, was Gott der HERR redet, dass er Frieden zusagte seinem Volk und seinen Heiligen, damit sie nicht in Torheit geraten.
10 Doch ist ja seine Hilfe nahe denen, die ihn fürchten, dass in unserm Lande Ehre wohne;
11 dass Güte und Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen;
12 dass Treue auf der Erde wachse und Gerechtigkeit vom Himmel schaue;
13 dass uns auch der HERR Gutes tue und unser Land seine Frucht gebe;
14 dass Gerechtigkeit vor ihm her gehe und seinen Schritten folge.

Dieser Teil enthält eine wunderbare Friedensbotschaft: Gott wird dem Volk all das bringen, was es als Ganzes und was jeder und jede Einzelne braucht, um zufrieden und glücklich zu sein, heil und unversehrt, und zwar in solcher Fülle, dass alle genug haben. Die Verse klingen wie eine Zusammenfassung der großen Heilsverheißungen der biblischen Propheten, wie z.B. Jesajas: Das Heil ist nahe, und Gott wird dauerhaft im Lande wohnen.

Und dabei wird er begleitet von „Güte“ und „Treue“, „Gerechtigkeit“ und „Friede“, d.h. von Liebe und Wohlwollen, Barmherzigkeit und Gnade. Man wird sich auf ihn verlassen können, er bietet Sicherheit und Beständigkeit. Die Wahrheit und das Recht werden durchgesetzt, das, was richtig und gut ist. Und das bedeutet: Ein allumfassender Friede kehrt ein, es wird eine kosmische Wiederherstellung der Schöpfung geben. Und dabei kommen die Gaben und Wirkweisen Gottes auf die Welt. Denn „Güte“ und „Treue“, „Gerechtigkeit“ und „Friede“ sitzen nicht untätig irgendwo in Wartestellung, sondern sie haben sich zusammengetan und mit Gott aufgemacht. Als Begleiter Gottes bereiten sie dem Heil, das am Uranfang da war, den Weg und lassen es Wirklichkeit werden.

Das ist die Botschaft unseres Psalms, und die klingt sehr schön. Nicht umsonst ist der zentrale Vers sehr berühmt geworden. Er wurde unzählige Male bildhaft dargestellt, es gibt darüber Abhandlungen und Unterrichtsmaterial, Predigten und Hochzeitsansprachen.

Aber nützt er uns auch etwas? „Dass Güte und Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen“, entspricht ja nicht gerade unseren Erfahrungen. Im Gegenteil, der Streit der vier Gestalten, wie er z.B. in der Erzählung der Rabbiner geschildert wird, ist viel realistischer. Wir diskutieren oft lange, bis wir eine Entscheidung treffen, und dabei prallen die verschiedenen Meinungen und Lebensweisen oft hart aufeinander. Gruppen und Parteien bekämpfen sich eher, als dass sie „sich küssen“, stoßen sich ab, anstatt sich freundlich zu begegnen.

Ein gutes aktuelles Beispiel ist dafür der Abzug der westlichen Truppen aus Afghanistan. Das ist ja noch nicht lange her, und er ist höchst umstritten. Genauso war es schon mit dem Einsatz: War das alles richtig? Hat es etwas gebracht? Was sind überhaupt die Aufgaben der Bundeswehr und der Nato? Und brauchen wir sie eigentlich? Zu all dem gibt es wie gesagt viele verschiedene Meinungen, und man kann sie gut mit den Idealen „Güte“ und „Treue“, „Gerechtigkeit“ und „Friede“ beschreiben: Die einen betonen dies, die anderen das, und es passt tatsächlich nicht alles zusammen.

Mit dem Frieden und dem Guten für die Menschheit im Allgemeinen ist es genauso: Die einen wollen es am liebsten durchsetzen und anordnen, doch dabei entsteht schnell neue Gewalt. Die anderen bieten es liebevoll an und laden dazu ein, aber dabei bleibt es oft schwach und wirkungslos. Es ist ein Dilemma, denn niemand kennt den richtigen Weg. Wer das meint, wird fundamentalistisch und ideologisch, und es führt nicht weiter.

Und auf diesem Hintergrund können der Psalm und auch die Erzählung aus dem Midrasch uns durchaus etwas nützen, denn sie enthalten eine wunderbare Antwort auf unsere Ratlosigkeit. Uns wird dort nämlich gesagt: Während ihr euch noch streitet, hat Gott längst gehandelt. Er ist der Schöpfer, der Heilige und Allwisssende. Nicht umsonst wird er in der Erzählung immer mit dem Zusatz erwähnt „gepriesen sei er“. Sein Handeln ist vollmächtig und eindeutig. Er setzt sich über unsre Streitereien hinweg und unterläuft einfach alle Diskussionen. Denn er ist der Gott des allumfassenden Friedens.

Als Christen glauben wir, dass er das durch das Kommen seines Sohnes gezeigt und so gehandelt hat, wie „vormals“, als er Israel erwählte, wie am Uranfang, als er den Menschen schuf. Denn in Christus haben „Güte“ und „Treue“, „Gerechtigkeit“ und „Friede“ „sich getroffen und geküsst“. Er ist der neue Mensch, der eine kosmische Wende und einen endzeitlichen Frieden eingeleitet hat. Sein Reich ist größer als der Raum und die Geschichte, es währt ewig und war von Anfang an da. Denn Christus war als das ewige Wort Gottes bereits gegenwärtig, als die Welt erschaffen wurde, und er wird am Ende wiederkehren.

Dabei hat er zu seinen Lebzeiten gezeigt und verkündet, wie Gott sich die Welt am Anfang vorgestellt hatte: Voller Barmherzigkeit und Güte, Ehrlichkeit und Wahrheit, Gerechtigkeit und Glück. Die Menschen, die Jesus begegneten, haben das durch ihn erfahren, und so kann es uns auch heute noch gehen, wir müssen nur auf ihn schauen und ihm vertrauen. Dazu lädt er uns ein: Wir sollen mit ihm leben, ihm folgen und uns ihm hingeben. Dann empfangen wir seinen Geist und können so handeln, dass sein Reich entsteht, wenigstens ansatzweise. 

Wir sind damit auch nicht allein und schon gar nicht die Ersten. Dafür gibt es viele Vorbilder. Einer, der das vertreten hat, ist z.B. der deutsche Physiker, Philosoph und Friedensforscher Carl Friedrich von Weizsäcker. Er wusste genau, wie gefährlich viele Erkenntnisse der Naturwissenschaft heutzutage sind: Die Atombombe wurde erfunden, Informationstechnik und Genmanipulation. Deshalb war für ihn die Wissenschaft untrennbar mit der Moral verbunden, und er bekannte sich zu einem radikalen Pazifismus: Seine Vision war die Einheit der Welt. Natürlich wusste er genau, dass das ein Ideal ist, aber darauf hatte er eine Antwort. Er sagte dazu: „Nicht Optimismus, aber Hoffnung habe ich zu bieten.“ Und deshalb ermahnte er die Gesellschaft, mutig und zuversichtlich im Frieden miteinander zu leben. Er forderte einen Bewusstseinswandel, der für ihn auf dem „Quellgrund religiöser Erfahrung“ ruhte. Das hat er einmal so formuliert: „Man kann in dieser Welt, wie sie ist, nur dann weiterleben, wenn man zutiefst glaubt, dass sie nicht so bleibt, sondern werden wird, wie sie sein soll.“ An diesem Glauben gilt es festzuhalten, gegen allen Augenschein, entgegen allen Streit und Krieg.

Ein weiteres Vorbild für eine unerschütterliche Frömmigkeit ist der Theologe und Liederdichter Paul Gerhardt. Er lebte zur Zeit des dreißigjährigen Krieges, d.h. er war umgeben von Hass und Gewalt, Unsicherheit und Gefahr. Überall herrschten Unrecht, Schrecken und der Tod. Die Zerstörung, die Not und das Leid in dieser Zeit sind für uns kaum vorstellbar. Trotzdem oder gerade deshalb hat Paul Gerhardt an seinem Glauben festgehalten und war überzeugt davon, dass eines Tages der Friede wiederkommt. Das geht aus allen seinen Liedern hervor. Auch Psalm 85 hat er in Reime übertragen und in der vorletzten Strophe folgende Worte gefunden: „Die Güt und Treue werden schön einander grüßen müssen; Gerechtigkeit wird einhergehn, und Friede wird sie küssen; die Treue wird mit Lust und Freud auf Erden blühn, Gerechtigkeit wird von dem Himmel schauen.“ (EG 283, 6)

Amen.

Der Predigt liegt die Auslegung von Erich Zenger zu Grunde, a.a.O. S. 44ff