Predigt über Hesekiel 37, 24- 28: Der neue Hirte und der Bund des Friedens
Heiligabend, 24.12.2019, 17.00 Uhr, Lutherkirche Kiel
Hesekiel 37, 24- 28
24 Und mein Knecht David soll ihr König sein und der einzige Hirte für sie alle. Und sie sollen wandeln in meinen Rechten und meine Gebote halten und danach tun.
25 Und sie sollen wieder in dem Lande wohnen, das ich meinem Knecht Jakob gegeben habe, in dem eure Väter gewohnt haben. Sie und ihre Kinder und Kindeskinder sollen darin wohnen für immer, und mein Knecht David soll für immer ihr Fürst sein.
26 Und ich will mit ihnen einen Bund des Friedens schließen, der soll ein ewiger Bund mit ihnen sein. Und ich will sie erhalten und mehren, und mein Heiligtum soll unter ihnen sein für immer.
27 Ich will unter ihnen wohnen und will ihr Gott sein und sie sollen mein Volk sein,
28 damit auch die Heiden erfahren, dass ich der HERR bin, der Israel heilig macht, wenn mein Heiligtum für immer unter ihnen sein wird.
Liebe Gemeinde.
Es gibt Weihnachtsverweigerer, die sich am Heiligabend bewusst in ihre eigenen vier Wände verziehen, um vor der ganzen Gefühlsduselei sicher zu sein. Nichts erinnert so jemanden an Heiligabend, alles ist wie immer, und er verbringt ein paar ungestörte und produktive Stunden, vielleicht mit einem edlen Glas Rotwein und klassischer Musik, denn das fördert die Ausgeglichenheit. Er ist freiwillig allein und genießt das. Vielleicht arbeitet er liegengebliebene Akten auf und freut sich, dass ihm das gut von der Hand geht.
Ein anderer ist auch allein, aber es geschieht unfreiwillig, weil niemand ihn haben will, und weil er keine Wohnung hat. So jemand macht es sich am Heiligabend dann vielleicht auf einem Schiffsanleger gemütlich, mit einem Klapptisch, auf dem ein Tannenzweig liegt, eine Kerzen brennt, und ein Pappbecher mit Wein steht. Die Musik für sein Weihnachtsfest spielt er selbst auf einer Flöte. Er vermisst das Zusammensein mit einer Familie und ist wahrscheinlich traurig beim Anblick der Lichter in den Häusern, dem Duft von leckerem Essen oder dem Ertönen von Weihnachtsmusik.
Denn das ist das Normale, dass am Heiligabend die Familien zusammenkommen um zu feiern. Wir stellen dazu einen Weihnachtsbaum auf, an dem Kerzen brennen, geben einander Geschenke, genießen gutes Essen und hören Geschichten oder Musik. Wir lassen es uns gut gehen und machen es uns gemütlich. Denn Weihnachten ist das Fest der Liebe, wir erfüllen uns unsere Sehnsucht nach Frieden und Geborgenheit, Ruhe und Harmonie.
Aber gelingt uns das eigentlich? So ganz einfach ist das ja nicht, denn die Schwierigkeiten und Probleme, die wir mit uns herumtragen, verschwinden dadurch nicht einfach so. Wir versuchen zwar, sie bei Seite zu drängen und einmal nicht daran zu denken, aber sie sind da, und es gibt sie in jeder Familie. Es können Spannungen und Konflikte sein, immer wieder erlebte Enttäuschungen und Verletzungen. Sogar in der Zeitung gab es dazu am Wochenende einen langen Artikel mit Tipps von einer „Expertin für gewaltfreie Kommunikation für ein besinnliches Fest“. Denn „Weihnachten zusammenzusitzen ist eine unheimlich schwierige Aufgabe“, heißt es dort. Auch eine Krankheit kann das Fest trüben, oder noch schlimmer, ein Todesfall. Vielleicht ist der in einigen Familien noch gar nicht so lange her, und dadurch ist jetzt alles anders, als wir es erwartet haben. Es geht uns schlecht, und das Zusammensein mit den anderen hilft uns nicht. Wir fühlen uns auch in der Gemeinschaft einsam und allein. Das Kerzenlicht, die Geschenke und das Essen reichen nicht, um ruhig zu werden. Die tieferen Schichten in unserer Seele werden dadurch nicht angerührt.
Dafür brauchen wir noch mehr, und genau das wird uns heute verheißen. Denn in Wirklichkeit feiern wir nicht nur so ein bisschen menschliche Liebe und Wärme, sondern etwas viel Größeres: Gott ist zu uns gekommen und Mensch geworden, und das hat noch eine ganz andere Bedeutung.
Der Prophet Hesekiel hat das sehr schön beschrieben. Wir haben seine Verheißung vorhin gehört: Er kündigt einen König an, der alles neu macht, und er bezeichnet ihn als „Hirte und Fürst“. Hesekiel prophezeite ihn, als er mit dem Volk Israel im Exil lebte. Sie saßen als Gefangene in Babylon und auch ihnen ging es schlecht. Sie träumten von ihrem Heimatland, das der König von Babel erobert und zerstört hatte. Sie litten unter dieser Situation und waren traurig.
Aber all das wird ein Ende haben, sagt der Prophet Hesekiel. Es wird ein „Knecht“ kommen, von Gott selber gesandt, der wie ein „Hirte“ sein wird. Er wird sie heimführen und ihr Leid beenden. Und in ihrem eigenen Land wird er dann einen dauerhaften Frieden herstellen. Er wird immer bei ihnen bleiben und „unter ihnen wohnen.“ Alle Menschen werden ihn erkennen, weil seine Gegenwart sichtbar und erlebbar wird. D.h. er wird sich um sein Volk kümmern, sie beschützen und bewahren und ihnen den rechten Weg zeigen. Es wird ihnen äußerlich und innerlich wieder gut gehen. Denn er wird bewirken, dass sie das Böse meiden, die Gebote halten und friedlich miteinander umgehen.
Das ist die Verheißung des Propheten Hesekiel an sein Volk, und die ist wunderbar. Sie lässt alle Träume wahr werden.
Die Christen beziehen sie deshalb auf Jesus Christus, wie alle Ankündigungen dieser Art im Alten Testament. Sie glauben, dass er der verheißene „Hirte und Fürst“ ist, der „sein Volk weiden“ kann. Er ist dieser „Knecht“, der Gesandte von Gott, durch den das Heil in die Welt gekommen ist. Gott ist unter uns und wird in Ewigkeit bei uns bleiben. Er schafft Frieden und Gerechtigkeit, Liebe und Hoffnung, das ist die Weihnachtsbotschaft.
Aber können wir das glauben? Was hat Jesus denn bis heute getan? Wo ist er nun, und was hat sich durch ihn verändert? Es gibt nach wie vor viel Elend, Krieg, Ungerechtigkeit und Einsamkeit. Auch Krankheiten hat er nicht abgeschafft und den Tod schon gar nicht. Es fällt uns deshalb oft schwer, wirklich an sein Erscheinen zu glauben. Wir zweifeln an seiner Macht.
Die ist allerdings auch ganz anderer Art, als wir uns das zunächst vorstellen oder wünschen. Jesus ist kein Held, der mit großartigen Taten die Welt verändert. Und mit Gewalt setzt er sich schon gar nicht durch. Sein Weg und seine Mittel sind ganz anders: Er hat das Leiden und die Liebe gewählt, um den Menschen zu helfen. Mit seiner Geburt hat er sich selber so klein gemacht, wie auch wir uns oft fühlen. Und am Ende hat er gelitten und den Tod auf sich genommen. Er war geduldig und ist gestorben. Denn er wusste: Der Tod wird nicht das letzte Wort haben. Gott war bei ihm, ja in ihm, und so ist er durch den Tod hindurch gegangen und wieder lebendig geworden. Das ist die Botschaft des Evangeliums. Er ist also ganz nah bei allen, die leiden und sterben, er lässt sie nicht allein. Er geht vielmehr mit ihnen, mit den Schwachen und Traurigen, mit denen, die allein und verbittert sind, die es schwer haben und sich quälen. Und er ist voller Liebe und Zuwendung zu ihnen.
Doch um das zu erfahren, müssen wir denselben Weg gehen, und das heißt: Wir müssen unser Leid annehmen und unsere Einsamkeit bejahen. Wir müssen aufhören, alles Glück von dieser Welt oder den anderen Menschen zu erhoffen. Sie können es uns nie vollständig geben. Die Weihnachtsverweigerer haben gar nicht nur Unrecht. Sie sind wenigstens nüchtern und machen sich nichts vor. Und das tut auch uns gut, dass wir unser Leben akzeptieren, wie es ist, nichts mehr zudecken, nichts verdrängen und auch nicht zu viel von unseren Mitmenschen erwarten. Es ist viel befreiender, wenn wir all das Unvollkommene so lassen, wie es ist, und unser Herz für die Gegenwart Gottes aufschließen.
Genau das ist die Herausforderung, die er uns zumutet: Wenn wir ihn erkennen wollen, dann müssen wir an ihn glauben. Wenn wir seine Macht erleben wollen, müssen wir mit unserer Sehnsucht zu ihm gehen und ihm unsere ungelösten Probleme zeigen. Wenn wir seine Kraft spüren wollen, müssen wir ihm vertrauen – mit unserer Traurigkeit und unserer Einsamkeit. Ohne unsere eigene Bereitschaft, uns an ihn zu wenden und uns auf ihn einzulassen, bleibt die Botschaft von seinem Kommen und seiner Liebe für uns leer und im Dunkeln. Erst wenn wir uns dafür öffnen, kann sie uns erreichen und etwas in uns verändern.
Doch das kann dann wirklich geschehen. Unsere Wünsche nach Geborgenheit können erfüllt werden, denn durch den Glauben an Jesus Christus, den Sohn Gottes sind wir nie mehr allein. Unsere Sorgen fallen von uns ab und unsere Traurigkeit wird gemindert. Auch der Druck verschwindet, dass alles möglichst schön sein soll. Wir werden gelassen und frei von Erwartungen. Wir werden wirklich erlöst und getröstet. Jesus wärmt uns von innen her und macht uns froh. Er ist der „König“ und „Hirte“, der uns das Heil bringt.
Wir brauchen weder die selbstgewählte Einsamkeit noch die oberflächliche Geselligkeit. Was wir brauchen, ist dagegen die Liebe Gottes, und die wird uns heute durch Jesus Christus geschenkt. Erst durch sie wird auch unser Herz mit Liebe angefüllt, und unser Zusammenleben wird so, wie wir uns das vorstellen. Und dadurch entsteht dann die wahre und tiefe Gemeinschaft, nach der wir uns sehnen. Ruhe und Harmonie kehren ein.
Und wenn das geschieht, dann ist der Höhepunkt des Festes da, dann ist wirklich Weihnachten. Der Friede, den er in unser Herz legt, zieht in unsere Familien und Häuser ein, in unsere Stadt und unser Land.
Stellen Sie sich vor, dass plötzlich auch derjenige, der heute angeblich lieber allein ist, davon eine Ahnung bekommt. Möglicherweise stellt sich doch keine rechte Zufriedenheit ein, irgendetwas stört ihn. Vielleicht sind es die Geräusche aus den Nachbarwohnungen, eine innere Unruhe, ein Bewegungsdrang. So geht er doch noch einmal hinaus und macht einen Abendspaziergang. Und dabei hört er mit einem Mal eine zarte, zaghafte Flötenmelodie. Es scheint irgendein Weihnachtslied zu sein. Er lauscht und geht den Tönen nach. Und dann bietet sich ihm eine ungewohnte Szene: Er sieht den älteren Herrn in altmodischen Kleidern auf dem Schiffsanleger, vor ihm ein Klapptisch mit einem Tannenzweig und einer Kerze. Der einsame Spieler schaut auf, entdeckt ihn und lädt ihn höflich ein, sich doch zu ihm zu setzen und einen Becher Wein mit ihm zu trinken. Er hat ein unrasiertes aber freundliches Gesicht, und es herrscht eine eigenartige Stimmung. Die beiden sitzen nun zusammen, und alle Unruhe fällt von ihnen ab. Schweigend blicken sie auf die Wasserfläche vor sich, und der Einsiedler sagt: „Eigentlich bräuchte es gar kein Alleinsein zu geben. Man muss nur den Mut haben, aufeinander zuzugehen.“ „Aber wenn man doch seine Ruhe haben will?“ sagt der andere daraufhin. Der Mann neben ihm nickt bedächtig mit dem Kopf und antwortet: „Sicher, seine Ruhe, die braucht man wohl. Aber die Unruhe in uns, die macht uns hart und bitter. Die wird uns erst genommen, wenn wir wieder zueinander finden.“ Und der Besucher denkt: „Oder vielleicht zu Gott!“ Denn das hat er plötzlich verstanden.
Amen.
nach der Erzählung von Hinrich C.G. Westphal, „Flötenspiel über der Alster – Einen ungestörten, produktiven Abend verleben“, in: Wie schön leuchtet der Morgenstern, Erzählungen zwischen Advent und Neujahr, Hamburg, 1991, S. 8ff