Das Maß des Glaubens halten

Predigt über Römer 12, 1- 5: Das Leben als Gottesdienst

1. Sonntag nach Epiphanias, 10.1.2016, 11 Uhr
Jakobikirche Kiel

Römer 12, 1- 5:

1 Ich ermahne euch nun, liebe Brüder, durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr eure Leiber hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig ist.
Das sei euer vernünftiger Gottesdienst.
2 Und stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist,
nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene.
3 Denn ich sage durch die Gnade, die mir gegeben ist, jedem unter euch,
dass niemand mehr von sich halte, als sich’s gebührt zu halten, sondern dass er maßvoll von sich halte, ein jeder, wie Gott das Maß des Glaubens ausgeteilt hat.
4 Denn wie wir an einem Leib viele Glieder haben,
aber nicht alle Glieder dieselbe Aufgabe haben,
5 so sind wir viele ein Leib in Christus,
aber untereinander ist einer des andern Glied.

Liebe Gemeinde.
In regelmäßigen Abständen gibt es in den Kieler Nachrichten eine Gesundheitsseite. Da steht dann etwas über einen erholsamen Schlaf, gute Ernährung, genügend Bewegung usw. Das ist alles sehr lesenswert. Früher nannte sich die Rubrik „Gesundheit“, doch das hat sich geändert. Ist Ihnen das schon aufgefallen? Interessanter Weise steht als Titel in der Kopfzeile jetzt das Wort „Balance“, auf Deutsch „Gleichgewicht“, und damit verraten die Redakteure bereits ihre Sichtweise auf das Thema: Wer gesund leben möchte, muss in allem das richtige Gleichgewicht finden. Es geht um Ganzheit und Ausgewogenheit. Gesundheit hat nicht nur etwas mit Diagnosen und Therapien, Behandlung und Medizin zu tun, sie ist vielmehr ein Lebenskonzept. Dafür kann man sich entscheiden, man hat es selber in der Hand und kann es pflegen. Deshalb lohnt es sich auch, drüber zu schreiben.
Ich finde diesen Titel allerdings etwas irreführend, denn unter das Stichwort „Balance“ könnte noch viel mehr fallen. Sie spielt ja in allen Lebensbereichen eine Rolle, in der Erziehung und Wirtschaft, im Miteinander, im Denken und im Glauben usw.
Paulus hat das auch schon erkannt. Wir haben es vorhin in unsrer Epistel gehört. Da heißt es an einer Stelle. „Denn ich sage durch die Gnade, die mir gegeben ist, jedem unter euch, dass niemand mehr von sich halte, als sich’s gebührt zu halten, sondern dass er maßvoll von sich halte, ein jeder, wie Gott das Maß des Glaubens ausgeteilt hat.“ Paulus ermahnt damit zu genau dem, was ich eben erwähnte, zu der richtigen Balance – in diesem Fall im Glaubensleben. Die ist ihm offensichtlich wichtig.
Lassen Sie uns deshalb fragen, was er damit meint. Dabei ist es aufschlussreich, welche Wörter hier im Urtext stehen: Anstatt sich selber „über“ zu bewerten – auf Griechisch „hyperphronein“ – soll man lieber „mit“-denken – „symphronein“ – , d.h. versuchen, mit den anderen übereinzustimmen. Hochmut und Stolz werden als Gegensatz zum Verstehen und Erkennen benannt. Keiner soll eigenmächtige Denkwege beschreiten, sondern sich in Besonnenheit üben und Maß halten, und d.h., sich um Ausgewogenheit und Gleichgewicht bemühen.
Paulus eröffnet mit diesen Gedanken im Römerbrief die Ermahnungen an die Gemeinde. Er will das richtige christliche Verhalten beschreiben. Wie in jedem seiner Briefe stehen sie am Ende. In den vorhergehenden Kapiteln hatte Paulus seine Theologie entfaltet und die wichtigsten Glaubensfragen beantwortet. Er hatte dargelegt, wer Christus ist, was er bewirkt hat, was wir glauben und worauf wir hoffen dürfen. Nun sagt er, was das alles ganz konkret für das Leben heißt. Er beschreibt, wie ein Leben mit Christus aussieht, wie Christus es prägen kann, und was dabei das Entscheidende ist.
Dabei geht es auch ihm um Ganzheitlichkeit. Das wird gleich am ersten Satz deutlich: „Ich ermahne euch nun, liebe Brüder, durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr eure Leiber hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig ist. Das sei euer vernünftiger Gottesdienst.“
Die ganze Person ist zur Hingabe aufgefordert. Die Antwort auf das Heilswerk Jesu ist Leib und Leben der Glaubenden. Der richtige Gottesdienst ereignet sich nicht in nur in Gaben, Gebeten, Liedern und Predigen, sondern im Lebensvollzug. Er bleibt nicht auf besondere Andachtszeiten oder Opfer beschränkt, sondern muss in den Alltag und das Verhalten hineinwirken.
Es unterscheidet sich von dem, was vorher war, von den Nicht-Christen und der übrigen Welt. Paulus sagt: „Und stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes.“ Es geht also um eine Umwandlung und Veränderung. Der Glaube an Christus führt zu einer neuen Wahrnehmung des Willens Gottes. Die Christen erkennen, was Gott wohlgefällt. Ihnen wird Weisheit geschenkt, die sie zu dem neuen Lebenswandel anleitet.
Und in diesem Zusammenhang spielt nun die Besonnenheit eine Rolle, das Gleichgewicht, die Balance. Auch im Glauben und im Gemeindeleben gilt es, darauf zu achten. Die einzelnen Gemeindeglieder sollen auf alles Trachten verzichten, das die Gemeinschaft der Glaubenden und die gemeinsame Basis sprengen könnte.
Paulus veranschaulicht das mit dem Beispiel von den vielen verschiedenen Gliedern am Leib. Er sagt: „Denn wie wir an einem Leib viele Glieder haben, aber nicht alle Glieder dieselbe Aufgabe haben, so sind wir viele ein Leib in Christus, aber untereinander ist einer des andern Glied.“ Wir sind alle aufeinander angewiesen, keiner kann und darf es sich leisten, auf Kosten der anderen seine eigene Denk- und Lebensweise zu verfolgen. Es gilt vielmehr, sich an Jesus Christus zu orientieren. Dann kann das Evangelium lebendig werden.
Das sind wichtige Ermahnungen, die auch wir beachten sollten. Sie verhelfen uns zu einem gesunden Glauben und Gemeindeleben. Lassen Sie uns also fragen, was wir dafür beachten müssen. Dabei hilft es, wenn wir uns klar machen, worin die Gefahren liegen, was wir eventuell falsch machen. Auch wir neigen dazu, das Gleichgewicht und das Maß zu verlieren, Inhalte und andere Menschen über- oder unter zu bewerten.
Es passiert ja z.B. leicht, dass einer seine Art des Glaubens für besser hält, als die des anderen. Er findet, dass er das Evangelium konsequenter lebt, es ernster mit dem Willen Gottes meint, frömmer und bibelfester ist. Er tut vielleicht auch mehr in der Kirche, lässt sich öfter blicken, geht regelmäßig in den Gottesdienst und hält sich deshalb für einen Vorzeigechristen. Doch selbst wenn es so ist, dass er wirklich viel tut, daraus können auch Stolz und Hochmut, entspringen, und die führen dann zu Vorbehalten und Argwohn, Spannungen und Abspaltungen. Der Geschwisterlichkeit dient das jedenfalls nicht. Die Selbstüberschätzung wäre also eine Gefahr, die uns aus dem Gleichgewicht bringt und die Balance stört.
Es kann aber auch genau das Gegenteil der Fall sein, dass ich mich nämlich unterbewerte. Dann finde ich, dass der andere besser ist. Ich stelle mein eigens Licht in den Schatten, traue mir nichts zu, habe Selbstzweifel, fühle mich schlecht und überfordert. Angst und Neid sind ständige Begleiter. Wer so denkt, leidet viel und wird eventuell sogar krank. Ein positives Miteinander wird ebenfalls blockiert, genauso wie bei der Überbewertung der eigenen Möglichkeiten. Diese falsche Bescheidenheit trägt nicht zur Ausgewogenheit bei und entspricht auch nicht der Weisheit, die Paulus meint. Sie ist vielmehr die zweite Gefahr.
Und eine dritte Grundüberzeugung, die ebenfalls nicht förderlich ist, besteht darin, dass man alle für schlecht hält. Um ja niemanden über zu bewerten, lehnt man am besten alle ab, stellt die Gemeinschaft und den Glauben grundsätzlich in Frage. „Ich bin schlecht, die anderen sind es aber auch.“, dieser Gedanke prägt dann das Lebensgefühl. Ein erfreuliches Miteinander ist dabei natürlich am wenigsten möglich. Wahrscheinlich ist es sogar der Anfang vom Ende eines gesunden Glaubenslebens. Sinnlosigkeitsgefühle gehen damit einher, es führt zur Passivität und Ziellosigkeit. Das wäre die dritte Fehlhaltung.
Alle drei Grundpositionen stören das Gleichgewicht, sie sind töricht und einseitig, destruktiv und ungesund. Die sogenannte Transaktionsanalyse hat das in den achtziger Jahren herausgearbeitet. Sie diente dazu, uns selber besser zu verstehen und unsre Einstellung verändern zu können. Ihre Schöpfer Thomas A. Harris und Eric Berne benutzten für die verschiedenen Grundüberzeugungen markante Sätze, mit denen wir uns gut merken können, worum es jeweils geht. Der Satz für die erste Fehlhaltung lautet: „Ich bin okay. Du bist nicht okay.“ Die zweite Variante heißt dementsprechend: „Ich bin nicht okay. Du bist okay.“ Und die dritte: „Du bist nicht okay. Ich bin nicht okay.“ (Manfred Gührs und Claus Nowak, Das konstruktive Gespräch, Kiel 1991, S. 44f)
Jetzt können Sie können sich sicher schon denken, worin die Lösung liegt. Am besten wäre es nämlich, zu sagen: „Ich bin okay. Du bist okay.“ Das wäre konstruktiv und ausgewogen. Die Autoren bezeichnen es als „integrierte Haltung“, bei der ich mich weder über- noch unterlegen fühle. Dieses Bewusstsein fördert gute Kommunikation und ein gedeihliches Zusammenleben. Der liebevolle Umgang miteinander wird möglich, bei dem das rechte Maß gehalten wird.
Am besten wäre es also – und dazu will Paulus uns auch ermuntern – zu sagen: Ich bin gut, und du bist auch gut. Selbst wenn wir unterschiedlich intensiv glauben, uns verschieden stark einbringen und andere Prioritäten setzen, wir gehören zusammen und wir können auch übereinstimmen. Verständnis füreinander wird möglich. Man erkennt sich selber und den anderen und sieht alles im rechten Licht. Man übt sich in Besonnenheit und Weisheit. So wird der Glaube ausgewogen, und es entsteht ein gesundes Gleichgewicht.
Doch das ist natürlich nicht ganz einfach, niemand kann das konsequent durchhalten. Es gibt sicher keinen Menschen, der sich ausschließlich in dieser Lebensposition befindet. Aber davon geht auch niemand aus. Wenn es so wäre, bräuchte Paulus ja seine Ermahnungen nicht zu schreiben, und die Transaktionsanalyse wäre nicht entwickelt worden. Wir müssen uns darum bemühen, es anstreben und immer wieder darauf achten.
Dabei ist es gerade im Glauben wichtig, dass wir einsehen: Aus eigener Kraft wird uns das nicht möglich sein. Paulus ermahnt die Gemeinde bewusst „durch die Barmherzigkeit Gottes“. Sie ist die Voraussetzung für alles, was wir tun. Darüber hatte er in den vorhergehenden Kapiteln ausführlich geschrieben. Gott weiß um unsre Fehlbarkeit und Unausgewogenheit und er hat Mitleid mit uns. Das steht hinter seiner Barmherzigkeit. Er bedauert uns und hat deshalb etwas getan: Er sandte seinen Sohn Jesus Christus.
Von ihm kann man sagen, dass er „das Maß des Glaubens“ in vollkommener Weise gelebt hat. In ihm sehen wir das Bild Gottes und das Bild des Menschen, wie Gott ihn sich wünscht. Es gilt deshalb, auf ihn zu schauen, auf Jesus Christus zu vertrauen und uns mit seinem Geist beschenken zu lassen. Er befreit uns von uns selber, er löst die verhärteten Denkmuster und führt uns auf neue Wege. In seiner Gegenwart und durch seine Kraft können wir uns verändern. Denn er kann sowohl unseren Ehrgeiz, als auch unsere Schwäche überwinden.
Falls wir dazu neigen, uns selber zu überschätzen, werden wir in seinem Licht in wohltuender Weise nüchtern und realistisch. Wir sind in der Lage, auch unsere Fehler zu erkennen und anzunehmen, denn es macht nichts, dass wir sie haben. Und automatisch erscheint der andere dadurch in einem viel positiveren Licht als vorher.
Christus kann die erste Fehlhaltung überwinden, und ebenso die zweite. Auch Minderwertigkeitsgefühle können durch den Glauben aufgehoben werden, denn wir wissen, Jesus liebt uns. Er kennt unseren Wert, und der ist nicht geringer, als der von anderen Menschen. Ganz gleich, was und wie viel wir einbringen, wir sind in seinen Augen gut.
Und die dritte Fehlhaltung, bei der wir alles negativ sehen, entsteht gar nicht erst, denn unser Leben wird in das helle Licht der Liebe Christi getaucht. Er gibt uns Sinn und Ziel. Von ihm her wird unser Denken und Fühlen ganz von selber positiv. Christus schenkt uns das Gleichgewicht, das rechte Maß, Besonnenheit und Weisheit. Wir erkennen, dass wir alle aufeinander angewiesen sind und nur im Zusammenspiel eine lebendige Gemeinde werden. Wir sind der Leib Christi, an dem jedes Glied wichtig ist. Das Vergleichen und Bewerten hört auf, denn jeder ist gut und trägt zum Ganzen etwas bei.
Am besten ist es, mit diesem Wunsch ins Gebet zu gehen und Christus darum immer wieder zu bitten. Wir können das gut mit folgenden Worten aus der „Nachfolge Christi“ von Thomas von Kempen:
„Herr, gib mir himmlische Weisheit, dich vor allem andern zu suchen und in allem zu finden, dich über alles zu lieben und in allem zu genießen und die übrigen Dinge an jene Stelle zu setzen, die deine Weisheit ihnen zugewiesen hat. Lehre mich, den glatten Schmeicheleien des falschen Freundes klug auszuweichen und die harten Worte meines Gegners geduldig zu ertragen. Denn es ist eine große Weisheit, weder die scharfe Zugluft des Tadels noch das sanfte Gelispel des Lobes auf sein Herz wirken zu lassen. Und nur diese Weisheit führt sicher zwischen Abwegen links und rechts hindurch.“ (Thomas von Kempen, Das Buch von der Nachfolge Christi, übersetzt von Michael Sailer, Hrg. Immanuel Jungclausen OSB und Christian Feldmann, Herder 1999, S. 227f)
Amen.

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