Predigt über Lukas 5, 1- 11: Berufung des Petrus und seiner Freunde
5. Sonntag nach Trinitatis, 5.7.2015, 9.30 Uhr
Lutherkirche Kiel
Lukas 5, 1- 11
1 Es begab sich aber, als sich die Menge zu ihm drängte, um das Wort Gottes zu hören, da stand er am See Genezareth
2 und sah zwei Boote am Ufer liegen; die Fischer aber waren ausgestiegen und wuschen ihre Netze.
3 Da stieg er in eines der Boote, das Simon gehörte, und bat ihn, ein wenig vom Land wegzufahren. Und er setzte sich und lehrte die Menge vom Boot aus.
4 Und als er aufgehört hatte zu reden, sprach er zu Simon: Fahre hinaus, wo es tief ist, und werft eure Netze zum Fang aus!
5 Und Simon antwortete und sprach: Meister, wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen; aber auf dein Wort will ich die Netze auswerfen.
6 Und als sie das taten, fingen sie eine große Menge Fische und ihre Netze begannen zu reißen.
7 Und sie winkten ihren Gefährten, die im andern Boot waren, sie sollten kommen und mit ihnen ziehen. Und sie kamen und füllten beide Boote voll, sodass sie fast sanken.
8 Als das Simon Petrus sah, fiel er Jesus zu Füßen und sprach: Herr, geh weg von mir! Ich bin ein sündiger Mensch.
9 Denn ein Schrecken hatte ihn erfasst und alle, die bei ihm waren, über diesen Fang, den sie miteinander getan hatten,
10 ebenso auch Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, Simons Gefährten. Und Jesus sprach zu Simon: Fürchte dich nicht! Von nun an wirst du Menschen fangen.
11 Und sie brachten die Boote ans Land und verließen alles und folgten ihm nach.
Liebe Gemeinde.
„Alles stehen und liegen lassen“, diese Redensart kennen und gebrauchen wir gerne. Sie bedeutet laut Wörterbuch, dass „man aus Eile eine Sache nicht erledigt und überstürzt die bisherige Tätigkeit beendet, um etwas Dringenderes zu tun.“
Es ist eine Flucht, und die geschieht aus unterschiedlichen Gründen und verschiedenen Situationen heraus. Wir erleben es gerade in großem Umfang, dass Menschen aus anderen Ländern zu uns kommen, weil bei ihnen Krieg herrscht oder Hunger und Armut. Man kann aber auch vor einer Aufgabe fliehen, aus einer Beziehung, aus einem Konflikt, weil man Angst hat, unter Druck steht und irgendetwas nicht mehr aushält. So ist es z.B. bei jemandem, der im Internet um Rat fragte. Er schreibt: „Einfach abhauen, weil alles nur noch schrecklich ist. Kein Job, Freundin ist weg und man kann seine Rechnungen nicht mehr zahlen.“ Und deshalb hat er sich überlegt, dass er einfach ein paar Sachen packt und irgendwo mit dem Zug hinfährt.
Normalerweise geschieht es gezwungenermaßen, „dass man alles stehen und liegen lässt“, weil man keinen anderen Ausweg mehr sieht.
In unserem Evangelium ist es anders. Es endet mit dem Satz: „Und sie brachten die Boote ans Land und verließen alles und folgten ihm nach.“ Sie ließen also „alles stehen und liegen“, aber in diesem Fall passiert es freiwillig, aus eigenem Antrieb heraus.
Die Geschichte kennen Sie sicher alle, sie handelt von Jesus und den Fischern Simon, Jakobus und Johannes. Am See Genezareth treffen sie sich am Anfang der Wirksamkeit Jesu. Es beginnt mit seiner vollmächtigen Verkündigung: Er hält eine Missionspredigt und hat viele interessierte Zuhörer. Hinter ihm auf dem See liegen zwei leere Boote. Die Fischer waren ausgestiegen, um die Netze zu waschen. Ohne um Erlaubnis zu bitten, steigt Jesus in eines der beiden. Denn von dort aus will er die Menge nach der Verkündigung belehren, d.h. seine Predigt näher erklären und die Menschen in weiteren Einzelheiten unterweisen. Um eine gute Akustik zu haben, soll das Boot einige Meter auf den See hinausgefahren werden. Es befindet sich wahrscheinlich in einer Bucht, und die Menge nimmt am Ufer im Halbkreis Platz.
„Und als er aufgehört hatte zu reden, sprach er zu Simon: Fahre hinaus, wo es tief ist, und werft eure Netze zum Fang aus!“
So geht die Geschichte dann weiter. Plötzlich ist nicht mehr die Menschenmenge im Blick, sondern das, was im Boot geschieht: Es ergeht ein Befehl an den Besitzer, der Simon heißt, und der gehorcht aufs Wort. Und das ist erstaunlich, denn eigentlich ist die Aufforderung unsinnig. Die Fischer sind die ganze Nacht unterwegs gewesen um etwas zu fangen, weil das dafür die günstigste Zeit ist. Nun ist bereits morgen, und sie waren erfolglos geblieben. Aber „auf sein Wort“ wirft Simon die Netze noch einmal aus. Es ist stärker als seine berufliche Erfahrung. Und dann fangen sie so viele Fische, dass die Netze zu reißen beginnen. Fischer von einem anderen Bott müssen helfen, um sie an Bord zu ziehen. „Und sie kamen und füllten beide Boote voll, sodass sie fast sanken.“
Es geschieht also ein Wunder, und das überwältigt Simon. Er begreift, dass Jesus kein gewöhnlicher Mensch, sondern ein göttliches Wesen ist, Herr der Naturereignisse. Und Simon gerät außer sich, fällt zu Jesu Knien und spricht: „Herr, geh weg von mir! Ich bin ein sündiger Mensch.“ Er redet Jesus mit „Kyrios“ an, einer Ehrenbezeichnung, die sich bis heute in der christlichen Gemeinde gehalten hat. D.h. er hat die Sache erfasst und versteht sich plötzlich neu. Er spürt, dass er ein „sündiger Mensch“ ist und bekehrt sich zu Jesus. Die Fülle des Fangs hat ihn und die anderen verändert.
Und dann folgt Jesu Wort, das dem erschreckten Gewissen Simons und auch seiner Gefährten, Johannes und Jakobus gilt: „Fürchte dich nicht! Von nun an wirst du Menschen fangen.“ Sie sollen Missionare werden und Menschen für Jesus und das Reich Gottes gewinnen.
Zum Schluss wird kurz festgestellt, was ich schon am Anfang erwähnte: „Sie brachten die Boote ans Land und verließen alles und folgten ihm nach.“ Sie „ließen alles stehen und liegen“ und gingen mit Jesus. Sie wurden zu seinen engsten Vertrauten und taten von nun an, was Jesus von ihnen wollte. Sie lernten von ihm und wurden später als Missionare ausgesandt.
Die Geschichte besteht also aus drei Schritten: Den ersten Schritt macht Jesus, er kommt und sieht Simon und tut ein Wunder. Daraufhin ruft er Simon in die Nachfolge, wählt ihn aus und will etwas von ihm. Und am Ende entscheidet Simon sich für Jesus, er erkennt eine große Aufgabe, für die er sein bisheriges Leben verlässt. Etwas Besseres und Größeres lockt ihn und lässt ihn nachfolgen.
Das wird uns hier erzählt, und beim Hören oder Lesen entsteht unwillkürlich die Frage: Sollen wir dasselbe tun? Viele von uns schrecken davor natürlich zurück. Wir lieben unser Leben, wie es ist, haben uns etabliert, hängen an unseren Aufgaben und Familien, bevorzugen den festen Wohnsitz und genießen den Wohlstand. Ich kenne zwar einen Menschen, der tatsächlich für Jesus seinen Beruf als Unternehmensberater an den Nagel gehängt hat und Mönch wurde, und ein anderer aus derselben Berufsgruppe, von dem mir erzählt wurde, arbeitet heutzutage als Missionar. Aber sind das Vorbilder, die allgemein gelten, denen wir alle nacheifern sollten?
Dann würde doch die Gesellschaft zusammenbrechen, das ist ein Einwand, den ich oft höre. Die vielen Aufgaben, die das Zusammenleben regeln und erst möglich machen, könnten nicht mehr bewältigt werden. Ganz zu schweigen davon, dass die Fortpflanzung gefährdet wäre. Außerdem ist es uns viel zu unbequem, so wollen wir nicht leben, und die meisten könnten es wahrscheinlich auch nicht.
Aber das ist auch nicht nötig, um die Geschichte in unser Leben zu übertragen. Wir müssen es nicht genauso machen, wie Simon und seine Gefährten, und äußerlich „alles stehen und liegen lassen“. Die Erzählung enthält eine Botschaft, die noch tiefer geht, als eine äußere Veränderung. Sie will uns im Inneren treffen und uns dort in Bewegung setzen.
Und dazu gehört, dass wir erkennen: So schön, wie wir meinen, ist unser Leben gar nicht so. Oftmals ist es ganz von alleine unbequem und ungemütlich, anstrengend und unsicher. Bei dem Ratsuchenden im Internet z.B. waren der Job und die Freundin weg, und er hatte Schulden. Andere Menschen, Armut oder eine Krankheit können alles durcheinander bringen, was wir erreicht haben. Das sogenannte etablierte Leben, der Wohlstand und die Familie reichen nicht, damit das Leben gelingt und es uns gut geht. Es gibt unzählige Probleme, die wir im Laufe unsres Lebens bewältigen müssen, und das ist manchmal gar nicht so einfach. Es hilft auch nicht, einfach abzuhauen, wenn alles schrecklich wird. Das hat unser Ratsuchender durchaus zu hören bekommen. Es ging ihm bloß so wie vielen, dass er nicht mehr wusste, was er tun sollte.
Und genau in diese Situation hinein kann die Geschichte uns etwas sagen. Sie kann uns in die Freiheit führen und uns retten. Denn sie lädt zum Glauben ein. Wir sollen Jesus als Herrn und Erlöser annehmen. Und das beginnt auch bei uns damit, dass er zu uns kommt, weil er uns kennt. Die Welt und das Leben erschöpfen sich nicht im Diesseits. Es gibt nicht nur unsre Aufgaben und unser Miteinander, sondern Jesus ist mitten unter uns und steigt zu uns ins Boot. Das kann ein Bild für unser Leben sein. Jesus betritt es, und mit ihm kommt Gott. Und der wirkt in unserem Leben, er schenkt uns das, was wir brauchen, denn er schenkt sich selber in Hülle und Fülle. Es gilt zu erkennen, dass wir unser Leben von ihm haben, dass wir nicht uns selber gehören, sondern da sind, weil er es möchte. Er kennt uns und will uns begegnen. Auch wir sollten deshalb vor Gott niederfallen, uns für ihn öffnen und auf seine Stimme hören.
Denn er spricht mit uns genauso wie mit Simon. Er will, dass auch wir für ihn leben, ihn in die Mitte treten lassen und ihm nachfolgen. Er ruft uns unaufhörlich mit liebender und eindringlicher Stimme. Wir müssen sie nur einmal beachten. Dann relativiert sich plötzlich alles andre, und es erscheint in einem neuen Licht. Wir erkennen, was wirklich zählt. Die Probleme werden kleiner und verlieren ihre Macht.
Und wir verstehen uns selber plötzlich neu. Wir spüren, dass wir „sündige Menschen“ sind. Das klingt uns vielleicht etwas zu negativ, aber es heißt zunächst einmal nur, dass es zu einer Selbsterkenntnis kommt, zu einem Blick nach innen, weg von der Situation oder den anderen Menschen. Oft meinen wir ja, dass die Schuld haben. Der Ratsuchende aus dem Internet machte wahrscheinlich seine Freundin und seinen Chef für das Elend verantwortlich, in das er geraten war. Und weil er sie nicht ändern konnte, war er der Verzweiflung nahe. Entscheidend wäre es für ihn, den eigenen Anteil an den Problemen zu erkennen, denn ganz oft haben sie etwas mit uns selber zu tun: Wir halten gern etwas fest, das uns nicht guttut. Das können Verhaltensmuster sein, Erwartungen, Gedanken und Ideen. Wir verschwenden viel Lebenszeit, indem wir uns „bezaubern und betören“ lassen, wie es in einem Lied von Gerhard Tersteegen heißt. (EG 392,1) Und das ist gefährlich für unsre Seele. Wir finden keinen Trost und keine Ruhe, bleiben gefangen und werden nicht frei. Wir sind hilflos und verloren und gehen in die Irre. Das ist hier gemeint, wenn Simon sich als „sündigen Menschen“ bezeichnet.
Normalerweise verschließen wir davor gerne die Augen. Doch in der Gegenwart Jesu können wir es zulassen, denn es macht nichts. Jesus liebt uns trotzdem, er will jeden und jede einzelne von uns, so wie wir sind. Wir müssen seine Liebe nur annehmen, vor ihm niederfallen und uns dann für ihn entscheiden.
Um diesen letzten Schritt zu gehen, ist es ratsam, wenn wir hinter uns lassen, was uns gefangen hält. Und das sind nicht die äußere Situation oder andere Menschen, es ist vielmehr unser eigener Anteil an dem, was uns zu schaffen macht. Er besteht wie gesagt aus Wünschen und Vorstellungen, aber auch aus dem, was dabei in unserer Seele vorgeht, wenn sie nicht erfüllt werden. Neid oder Ärger entstehen dann, Trauer, Wut oder Bitterkeit beherrschen uns. Wir werden von Angst und Sorgen geplagt. Meistens erkennen wir das nicht richtig, weil es uns vertraut geworden ist. Im Angesicht Jesu durchschauen wir dagegen unsre Verhaltensmuster. Wir verstehen die „Bande“, die uns gefangen halten (EG 392,3), und es gilt, sie abzulegen, von ihnen abzulassen, aus dem auszusteigen, was unsere Seele in Unruhe versetzt.
Und das geht genauso wie bei Simon nur ganz oder gar nicht. Es fordert wirklich unsre Entscheidung, ein klares Bekenntnis. Die Liebe und die Kraft Jesu können nur dann in unserem Leben wirken, wenn wir anderen Kräften Einhalt gebieten, wenn wir nicht unserem eigenen Willen folgen, sondern ganz auf Jesus vertrauen und uns ihm hingeben.
Und das ist letzten Endes nichts, was wir sollen, sondern etwas was wir dürfen. Der Ruf Jesu ist ein rettender Ruf, und es ist ein erlösender Schritt, darauf zu hören. Er führt uns aus dem Elend in eine ganz große Freiheit. Das Leben verändert sich, denn es gelten plötzlich neue Regeln, eine neue Lehre. Nicht mehr die vielen Stimmen, die uns verführen wollen, geben den Ton an, sondern die eine Stimme der Barmherzigkeit. Sie heilt uns von innen her und öffnet ganz neue Möglichkeiten des Denkens und Handelns. Unser Lebensgefühl verändert sich, und damit auch unser Verhalten und unser Miteinander. Wir werden barmherziger und ruhiger, wir gewinnen einen festen Halt, die Angst verschwindet, die Trauer weicht, und es kehrt Freude ein. Wir können zuhören und helfen, verstehen und lieben. Der Mensch aus dem Internet, der nur noch abhauen wollte, findet bestimmt einen neuen Job und eine neue Freundin, und dann kann er irgendwann auch seine Schulden bezahlen. Äußerlich muss er nicht „alles stehen und liegen lassen“, aber innerlich ist das oft ein notwendiger Schritt.
Und der ist schon ähnlich wie eine Flucht: Wir lassen das Alte hinter uns und es öffnet sich vor uns ein Weg. Wir finden eine neue Heimat. Unser Herz wird „in Ewigkeit frei“, wie es in dem Lied heißt, das ich schon erwähnte (EG 392,5). Der Unterschied zu einer Flucht, die wie gezwungener Maßen antreten, ist allerdings der, dass wir es freiwillig tun, weil wir etwas Größeres und Schöneres entdeckt haben. Wir folgen der Stimme und dem Wink Jesu und „lassen dafür alles andere stehen und liegen“. Amen.