Predigt über Lukas 6, 36- 42
4. Sonntag nach Trinitatis, 28.6.2015, 9.30 Uhr
Lutherkirche Kiel
In dem Gottesdienst wurden zwei Babys getauft.
Lukas 6, 36- 42
36 Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.
37 Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben.
38 Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn aeben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch wieder messen.
39 Er sagte ihnen aber auch ein Gleichnis: Kann auch ein Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden sie nicht alle beide in die Grube fallen?
40 Der Jünger steht nicht über dem Meister; wenn er vollkommen ist, so ist er wie sein Meister.
41 Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und den Balken in deinem Auge nimmst du nicht wahr?
42 Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge und sieh dann zu, dass du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst!
Liebe Gemeinde.
„Zu ihrem Sohn hatte sie keinen Kontakt mehr.“ Diesen traurigen Satz höre ich manchmal bei Beerdigungsgesprächen: Eltern und Kinder haben sich aus irgendeinem Grund entzweit. Leider gibt es so etwas in vielen Familien. Ursachen sind Meinungsverschiedenheiten und Konflikte, Enttäuschungen oder Verletzungen. Auch im Freundeskreis, am Arbeitsplatz, in der Gemeinde oder im Verein ereignet sich so etwas.
Denn so sind wir Menschen: Wir denken alle unterschiedlich, haben gegensätzliche Bedürfnisse und können die Meinung und das Handeln der anderen manchmal nicht ertragen. Dazu kommt das Bestreben, Recht zu behalten und sich durchzusetzen. Und so kommt es zu Spaltungen und Zerwürfnissen.
Die Zeitung besteht eigentlich nur aus solchen Nachrichten: Überall in der Welt gibt es Streit und Konflikte, einige sind harmlos, andere wiegen schwer. Politische, weltanschauliche oder religiöse Auseinandersetzungen führen zu Beschuldigungen, Verleumdungen und leider oft zu Kriegen.
Und das war schon immer so, seit es die Menschheit gibt. Auch Jesus kannte dieses Phänomen und er hat darunter gelitten. Er sah, wie destruktiv die Menschen oft miteinander umgehen, und er hat etwas dagegen gesetzt. Wir haben es in der Lesung vorhin gehört. Sie ist ein Teil aus der sogenannten „Predigt auf dem Felde“, die wir im Lukasevangelium finden, der Parallele zur Bergpredigt bei Matthäus. Von daher kennen wir die Aussagen auch. Sie handeln von der „Stellung zum Nächsten“ und werden mit dem Aufruf zur Barmherzigkeit eingeleitet. Es geht um Verständnis füreinander und um die Annahme von Mitchristen und Mitchristinnen als Geschwister innerhalb der Gemeinschaft. Der Grund zu dieser Aufforderung, liegt in der Barmherzigkeit Gottes.
Konkret bedeutet das: Nicht richten und nicht verurteilen. Oft führen die Maßstäbe, die jemand durch den Glauben gewonnen hat, zu rigorosen Verdammungen. Davor sollen die Christen sich hüten. Jesus weist dafür auf das Gericht Gottes am Ende der Zeiten hin: Da entscheidet sich alles, vorher sollen die eigenen, menschlichen Normen nicht die Barmherzigkeit verdrängen. Das wird durch zwei praktische Forderungen ergänzt: Einmal sollen wir Gnade walten lassen, einander vergeben und uns von unserer Schuld befreien. Und zum anderen sollen wir geben, d.h. einander beschenken, mit den irdischen Gütern also nicht geizen, sondern freizügig sein.
Und dann folgt das bekannte Bild vom „Splitter im Auge des Bruders und dem Balken im eigenen Auge.“ Wenn wir uns das konkret vorstellen, ist klar, dass ein Balken im eigenen Auge blind macht. Das Fatale ist, dass wir genau das Gegenteil denken: Wir meinen, wir sehen klar und spielen uns als „Blindenführer“ auf. Dabei merken wir nicht, dass wir selber gar nichts sehen, und so „fallen beide in die Grube“. Wer seine Mitchristen unbedingt ändern und bessern will und nicht mehr merkt, was er selber alles falsch macht, führt sich und die anderen ins Verderben.
Mit diesem harten Bild warnt Jesus seine Jünger eindringlich vor dem gegenseiteigen Richten. Und diese Mahnung sollen sie auch nicht dadurch außer Kraft setzen, dass sie als Jesusjünger denken, vielleicht etwas Besseres oder sogar „über dem Meister“ zu sein. Sie sollen vielmehr ganz auf die Kritik innerhalb der Gemeinde verzichten. Jeder soll zuerst seine eigenen Fehler beseitigen, bevor er sich anderen als Helfer anbietet. Alles andere ist Heuchelei.
Das ist der Predigttext von heute, und der ist auf dem Hintergrund unsres üblichen Umgangs miteinander geradezu revolutionär. Bei einem Streit sehen wir normalerweise nur die Fehler der anderen, „die Splitter in ihren Augen“. Wir geben ihnen die Schuld, finden sie gemein und ungerecht, egoistisch und herrschsüchtig. Dagegen stellt Jesus seine Aussagen. Er entwirft hier ein völlig neues Bild vom menschlichen Zusammensein, er schlägt etwas vor, was alle herkömmlichen Muster umkrempelt. Und das ist gut, denn er öffnet damit ganz neue Möglichkeiten, aus vertrackten und verfahrenen Situationen herauszukommen.
Das wünschen wir uns ja eigentlich. Keiner will einen Konflikt wirklich. Im Grunde wollen wir Ruhe haben. Und wir denken, sie tritt ein, wenn der andere sich endlich fügt, endlich tut, was wir wollen, oder noch besser, verschwindet. Wir wollen „den Splitter entfernen“, d.h. die Störung beseitigen, sie loswerden, und schlagen dafür manchmal wild um uns. Zu einer Lösung führt das allerdings nicht, im Gegenteil, normalerweise wird der Streit dadurch nur noch schlimmer. Die Situation eskaliert und alles geht kaputt.
Ein Ausweg öffnet sich nur dann, wenn jeder und jede bei sich selber anfängt, vom anderen ablässt und sich selbst erforscht. Doch das scheint ganz schwierig zu sein. Warum tun wir das so selten? Es fällt uns unwahrscheinlich schwer. Und das liegt wahrscheinlich daran, dass wir Angst davor haben. Was bekommen wir denn zu sehen, wenn wir in uns blicken? Es können unangenehme Dinge sein, auf jeden Fall entdecken wir dabei nicht nur Schönes. Es sind „die Balken im eigenen Auge“, d.h. Fehler und Schwächen treten zu Tage, und die beunruhigen uns. Führt es nicht in die Niederlage, wenn wir sie zugeben? Wir fürchten uns vor den negativen Seiten in unsrer Seele und unserem Verhalten, weil wir uns dabei zu verlieren drohen. Es fühlt sich an, als würden wir untergehen. Es hat etwas Selbstzerstörerisches an sich, das ist jedenfalls unser spontanes Empfinden.
Doch so sind die Mahnungen Jesu nicht gemeint. Von einer krampfhaften Selbstzerknirschung ist hier nicht die Rede. Es geht in einem ersten Schritt vielmehr darum, dass wir uns selber überhaupt spüren. Anstatt in einem Konflikt nur auf den anderen zu starren und ihn ändern zu wollen, sollen wir uns fragen: Was ist eigentlich mit mir los? Was bewegt mich denn? Was erfüllt mich gerade? Dabei stellen wir zunächst fest, dass es wahrscheinlich Wut und Angst ist, Misstrauen und Sorge, und das sind lauter negative Kräfte. Die tun uns gar nicht gut. Trotzdem lassen wir sie ungehemmt zu und versinken darin manchmal. Das gilt es zunächst einmal zu erkennen. Wir müssen es nicht verurteilen oder abschalten, sondern anschauen und wahrnehmen, denn dadurch tauchen wir daraus bereits auf. Wir steigen aus der zerstörerischen Dynamik eines Konfliktes aus und machen uns von unseren Festlegungen frei. Und das ist in Wirklichkeit gar nicht so schwer, wir müssen nur darauf kommen und dazu bereit sein.
Dann verändert sich auch unser Verhalten. Das ist der nächste Schritt. Es gibt dazu in der Gesprächsführung sogar eine Methode. Erfahrene Gesprächsleiter oder Gesprächsleiterinnen laden die Kontrahenten z.B. gerne dazu ein, dem anderen keine Vorwürfe mehr zu machen, sondern von sich selber zu reden, sogenannte Ich-Botschaften zu senden. Der oder die andere wird eingeladen, dabei einmal nur zuzuhören. So wird eine positive Energie freigesetzt, die oft schon zu einer Lösung des Konfliktes führt. Wir können uns entspannen, sehen klarer und erkennen, was den anderen wirklich bewegt. Menschen, die sich streiten, finden wieder zueinander, wenn sie sich ernsthaft darum bemühen.
Und als Christen sollte uns das erst recht möglich sein, denn wir haben immer jemand Drittes in unserer Mitte: Es ist Jesus Christus, der uns mit der positiven Kraft versorgt, die wir brauchen. Wir müssen nur auf ihn blicken, ihm vertrauen und uns für seine Gegenwart öffnen. Dann empfangen wir Barmherzigkeit, und die setzt sich durch. Das ist das Dritte. Im Glauben an Jesus Christus kann uns gar nichts passieren, selbst wenn wir Fehler und Schwächen haben, denn er nimmt uns persönlich auf jeden Fall so an, wie wir sind. Er liebt uns alle und schenkt uns seine Kraft. Es ist die Kraft der Gnade, des Vertrauens und Wohlwollens. Damit erfüllt er uns, und das kann alles heilen. Unsere Seele kommt zur Ruhe. Ärger, Angst und Enttäuschung weichen. Das Negative löst sich ins Nichts auf. Wir legen Lasten ab, und es wird etwas neu. Die Dinge rücken sich zurecht. Das Kleine wird klein, und das Große wird groß. Wir werden fähig, zuzugeben, dass der oder die andere doch nicht so ganz verkehrt liegt, dass wir selber auch Fehler gemacht haben. Wir können über unsren eigenen Schatten springen und uns entschuldigen.
Und das wünsche ich der Welt und unserem Land, jeder Familie, jedem Freundeskreis und jeder Gemeinde, dass die Kraft der Liebe Christi uns Frieden ermöglicht.
Besonders wünsche ich es den Familien, deren Kinder heute getauft werden. Sie haben beide gerade damit angefangen, eine Familie zu sein: Christian Erichsen ist letztes Jahr im August geboren, Max Ehlers kam im Februar zur Welt, und sie sind beide der jeweils erste Sohn. Durch die Taufe werden sie mit Jesus Christus verbunden. Er nimmt sie an, er schenkt ihnen seine Liebe, und darauf dürfen auch ihre Eltern und Großeltern, Paten und Verwandten vertrauen. Dann haben Sie immer jemanden in der Mitte Ihrer Familie, von dem eine positive Kraft ausgeht. Wenn Sie an ihn glauben, dann wird es nie dazu kommen, dass der Kontakt zu Ihrem Sohn aus irgendeinem Grund einmal abbricht. Dann wird die Liebe und die Barmherzigkeit Sie immer wieder auffangen und erfüllen und Sie durch alle Höhen und Tiefen Ihres gemeinsamen Lebens begleiten.
Amen.