„Wachen ist unser Dienst“

Predigt über Markus 13, 31- 37: Mahnung zur Wachsamkeit

Letzter Sonntag im Kirchenjahr, 20.11.2022, Lutherkirche Kiel

Markus 13, 31- 37

31 Himmel und Erde werden vergehen; meine Worte aber werden nicht vergehen.
32 Von dem Tage aber und der Stunde weiß niemand, auch die Engel im Himmel nicht, auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater.
33 Seht euch vor, wachet! Denn ihr wisst nicht, wann die Zeit da ist.
34 Wie bei einem Menschen, der über Land zog und verließ sein Haus und gab seinen Knechten Vollmacht, einem jeden seine Arbeit, und gebot dem Türhüter, er solle wachen:
35 so wacht nun; denn ihr wisst nicht, wann der Herr des Hauses kommt, ob am Abend oder zu Mitternacht oder um den Hahnenschrei oder am Morgen,
36 damit er euch nicht schlafend finde, wenn er plötzlich kommt.
37 Was ich aber euch sage, das sage ich allen: Wachet!

Liebe Gemeinde.

Die Temperaturen sind gesunken, es hat gefroren und die ersten Schneeflocken sind gefallen. Die Blätter fallen schon lange, die Bäume sind kahl geworden, die Natur legt sich zur Ruhe. Viele Dichter und Dichterinnen haben die Stimmung und das Erleben dieser Jahreszeit in Poesie ausgedrückt, so auch Rainer Maria Rilke (1875- 1926). Von ihm gibt es mehrere Herbstgedichte, wie z.B. dieses:

„Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.
Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.
Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: Es ist in allen.
Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.“

Das klingt melancholisch und tröstlich zugleich, denn einerseits drückt Rilke aus, dass wir alle sterben müssen, andererseits glaubt er, dass wir gleichzeitig aufgefangen werden. Der Dichter sieht das Fallen der Blätter und die Vergänglichkeit des Lebens, aber parallel dazu spürt er die Hand des Ewigen, der alles hält.

Und so ist es auch in der Bibel. Wir haben zwei Lesungen gehört, die vom Ende der Welt handeln und dazu eine neue Welt verheißen. So enthält das Evangelium von heute den letzten Teil der Endzeitrede Jesu. Er spricht darin von den letzten Ereignissen vor dem Weltuntergang: Kriege, Hungersnöte und Erdbeben bilden den „Anfang der Wehen“, wie er sagt. Dann kommt eine große Drangsal, wie sie vorher noch nicht da gewesen ist. Eine kosmische Katastrophe wird alles vernichten. Doch am Ende wird Christus wieder kommen. Das ist der Höhepunkt, auf den alles zuläuft.

Zum Schluss seiner Ausführungen ermahnt Jesus seine Jünger, dafür bereit zu sein, sie sollen wachen und aufpassen, damit sie bei diesem Ereignis zu denen gehören, die gerettet werden. Sie müssen sich bewähren, eigentlich auch schon vorher. Ihr ganzes Leben soll von diesem Ende her geprägt sein, denn der Zeitpunkt, zu dem es eintritt, ist ungewiss. Darum geht es in diesem letzten Abschnitt, der die Mahnung zur Wachsamkeit enthält.

Dafür erzählt Jesus noch ein Gleichnis: Es ist wie bei einem Hausherrn, der auf Reisen ist. Er hat sein Haus dem Personal überlassen, damit sie in seiner Abwesenheit seine Geschäfte führen und für Ordnung sorgen. Natürlich sind sie ihm Rechenschaft schuldig, wenn er wieder kommt. Da sie aber nicht wissen, wann das sein wird, müssen sie dafür immer bereit sein. Die Bücher müssen jeden Tag stimmen, das Haus muss aufgeräumt sein, es muss Frieden und Ordnung herrschen.

Genauso versteht Jesus die Wachsamkeit der Christen: Die ungewisse Zukunft soll ihr Bewusstsein schärfen und zur Aufmerksamkeit für das Zeitgeschehen führen. Sie müssen jederzeit bereit sein, Rechenschaft abzulegen, und dürfen auch das Leiden nicht scheuen. Am wichtigsten aber sind das Vertrauen und der Glaube, dass Gott der Herr der Geschichte bleibt und in der Endphase die Dinge ordnet.

Um diese Grundhaltung geht es hier. Und die ist auch für uns wichtig. Wir rechnen zwar nicht unbedingt mit dem nahen Ende der Welt, aber wir wissen, dass jeder und jede einzelne irgendwann „fallen“ und sterben wird. Es ist noch nicht lange her, dass viele von uns das gerade erlebt haben. Und sie sind deshalb traurig. Es ist deshalb gut, an etwas zu glauben, das über unser Leben und diese Welt hinausgeht. Es kann uns trösten, wenn wir unseren inneren Blick auf den großen Horizont der Ewigkeit richten und ihn in das gegenwärtige Leben einbeziehen. Dazu lädt Jesus uns hier ein.

Aber was heißt das nun? Wie sollen wir unser Leben führen, damit das wahr wird und uns wirklich beruhigt? Lasst uns darüber nachdenken und uns einzelne Regungen der Seele bewusst machen. Es gibt vier Vorgänge in unserem Inneren, die uns oft bestimmen: Das Verlangen, die Furcht, der Schmerz und die Freude. Hinter dieser Aufzählung steht ein kurzes Wort von Theresa von Avila, einer spanischen Nonne aus dem 16. Jahrhundert (1515- 1582). Sie wusste viel über die Seele und das Gebet und sie schrieb einmal:

„Dein Verlangen sei, Gott zu schauen,
deine Furcht, ihn zu verlieren,
dein Schmerz, ihn noch nicht zu genießen,
deine Freude, dass er dich zu sich führen kann.
Dann wirst du in großem Frieden leben.“

Mich bewegt dieses Wort, seit dem ich es kenne, denn es beschreibt sehr schön, wie sich die Seele auf Gott einstellen kann: Wir müssen dafür unser Verlangen, unsere Furcht, unseren Schmerz und unsere Freude auf ihn beziehen. Das tut gut und schenkt uns einen tiefen Frieden. Denn diese Regungen beunruhigen uns normalerweise, manchmal zerreißen sie uns innerlich sogar.

Beginnen wir mit dem Verlangen: Es geht meistens in eine andere Richtung. Wir wollen immer alles Mögliche: Wer viel arbeitet, wünscht sich mehr Freizeit, die Einsame sehnt sich nach Gemeinschaft, der Arme möchte mehr Geld, die Kranke Gesundheit, der Traurige Trost usw. Unsere Wünsche sind vielfältig und mächtig. Sie haben uns manchmal im Griff, und das fühlt sich gar nicht gut an. Meistens leiden wir unter ihnen, denn sie werden nur so selten erfüllt. Wir bleiben in ganz vieler Hinsicht unglücklich und unzufrieden.

Deshalb tut es gut, anstatt all dieser vielen Dinge einmal nur nach Einem zu verlangen, danach nämlich, Gott zu schauen. Dann wird alles andere plötzlich kleiner und unbedeutender. Denn dann richten wir uns nach dem Größten aus, und das hebt unseren Geist empor. Das Verlangen nach diesem oder jenem verliert seine Macht.

Genauso ist es mit der Furcht, die kennen wir auch alle. Wir fürchten uns vor dem Krieg und vor anderen Menschen, vor den eigenen Schwächen, vor dem Älterwerden und dem Tod. Die Furcht macht uns normalerweise klein und schwach. Sie nimmt uns unsere Lebenskraft.

Anders ist, wenn unsere größte Furcht darin besteht, Gott zu verlieren. Denn dann merken wir, dass er im Leben eigentlich das Entscheidende ist. Die anderen Ängste verblassen ihm gegenüber.

Die dritte Empfindung, die in unserem Wort genannt wird, ist der Schmerz. Auch vor dem bleiben wir nicht verschont. Er entsteht durch Trauer, Enttäuschung, Verletzungen und Krankheit. Wenn er da ist, bestimmt er unser ganzes Leben. Doch auch das ändert sich, wenn unser größter Schmerz darin besteht, „Gott noch nicht zu genießen“. Uns wird bewusst, dass er uns in Wirklichkeit fehlt. Wir leben viel zu oft so, als bräuchten wir ihn nicht. Und das sollte uns weh tun, das sollte unser Schmerz sein, denn der lässt sich merkwürdigerweise ertragen. Es ist ein süßer Schmerz, der nichts mit Krankheit oder Trauer zu tun hat, sondern uns wach und lebendig macht.

Denn es gibt eine Lösung, eine Antwort auf unser Verlangen, unsere Furcht und unseren Schmerz. Gott selber hat sie uns gegeben, denn er kommt und ist schon da und will uns zu sich führen. Es muss nicht so bleiben, wie es ist, dass wir nur nach ihm verlangen, uns sorgen, ihn zu verlieren, oder es weh tut, dass er nicht da ist. Das kann sich alles ändern, und zwar ohne unser Zutun. Denn Gott selber will, dass das alles aufhört, und dass es uns gut geht. Er kommt uns deshalb entgegen und schenkt uns seine Liebe und Nähe. Und das löst eine tiefe Freude aus. Sie entzündet sich nicht an vergänglichen Dingen, sondern ist umfassend und erfüllend. Deshalb endet das Gedicht Theresas von Avila auch mit der Verheißung eines großen inneren Friedens. Der kennzeichnet ein Leben, das von Gott bestimmt ist.

Es ist deshalb gut, wenn wir wachen und beten, und zwar so viel und so oft wie möglich. Wir tun das nicht nur für uns, sondern auch für die Welt. Sie braucht Menschen, die nicht dem Lärm und der Unrast erliegen, sondern gelassen das Fallen der Blätter anschauen können, und die das Sterben und die Vergänglichkeit nicht beunruhigt.

Eine Nonne, ihr Name ist Silja Walter (1919- 2011), hat das einmal sehr schön formuliert mit ihrem „Gebet des Klosters am Rand der Stadt“. Es lautet folgendermaßen:

„Jemand muss zuhause sein, Herr, wenn du kommst.
Jemand muss dich erwarten, unten am Fluss vor der Stadt.
Jemand muss nach dir Ausschau halten, Tag und Nacht.
Wer weiß denn, wann du kommst?
Jemand muss wachen, unten an der Brücke,
um deine Ankunft zu melden.
Herr, du kommst ja doch in der Nacht, wie ein Dieb.
Wachen ist unser Dienst.
Wachen. Auch für die Welt. Sie ist oft so leichtsinnig,
läuft draußen herum und nachts ist sie auch nicht zuhause.
Denkt sie daran, dass du kommst?
Dass du ihr Herr bist und sicher kommst?
Jemand muss es glauben,
zuhause sein um Mitternacht,
um dir das Tor zu öffnen
und dich einzulassen, wo du immer kommst.
Herr, und jemand muss dich aushalten,
dich ertragen, ohne davonzulaufen.
Deine Abwesenheit aushalten,
ohne an deinem Kommen zu zweifeln.
Dein Schweigen aushalten und singen.
Dein Leiden, deinen Tod mit aushalten und daraus leben.
Das muss immer jemand tun mit allen andern und für sie.
Und jemand muss singen,
Herr, wenn du kommst!
Das ist unser Dienst:
Dich kommen sehen und singen.
Weil du Gott bist.
Weil du die großen Werke tust, die keiner wirkt als du.
Und weil du herrlich bist und wunderbar, wie keiner.“

Amen.

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s