Die wichtigste Stunde ist immer die Gegenwart

Predigt über Hebräer 13, 8- 9b: Jesus Christus bleibt immer derselbe

Altjahrsabend, 31.12.2019

Hebräer 13, 8- 9b

8Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit. 9Lasst euch nicht durch mancherlei und fremde Lehren umtreiben, denn es ist ein köstlich Ding, dass das Herz fest werde, welches geschieht durch Gnade.

Liebe Gemeinde.

„Schon wieder ist ein Jahr vergangen“, das stellen wir mit Staunen und einem leichten Entsetzen fest. Dieses Mal ist es sogar ein ganzes Jahrzehnt, das wir rückblickend betrachten, denn dazu bietet die runde Jahreszahl sich an, die wir ab morgen schreiben. Wo bleibt bloß die Zeit? Das fragen wir uns.

Es kommt uns oft so vor, als ob sie rast. Und das macht uns Angst, denn wir wissen, was vergangen ist, kommt nie wieder, die Zeit lässt sich nicht aufhalten, unerbittlich geht sie weiter. An einer Sanduhr können wir das besonders gut erkennen: Der Sand rinnt durch die kleine Öffnung zwischen den beiden Behältern und zeigt uns an, wie die Minuten und Stunden verstreichen. Und genauso verrinnt auch unser Leben. Irgendwann ist es ganz zu Ende.

Deshalb empfinden wir das Dahinschwinden der Zeit wohl auch umso intensiver, je älter wir werden. Der Zeitraum, der noch bleibt, wird immer kürzer und überschaubarer. Und das versetzt uns in Unruhe. Wir fühlen uns auch hilflos gegenüber dieser Tatsache, denn wir können nichts dagegen machen.

Deshalb tut so ein Satz gut, wie der, den wir eben gehört haben: „Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit.“ Das ist eine liturgische Formel aus der Ostertradition, die der Schreiber am Ende seines Briefes in die Ermahnungen einfügt. Es ist ein Bekenntnis, das auf die Unveränderlichkeit Jesu hinweist, denn er ist Gott gleich. Und das klingt sehr beruhigend: Es gibt Einen, der nicht der Zeit unterworfen ist. In Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist er derselbe, bis in alle Ewigkeit. Er steht also über der Zeit, und wir können uns an ihm festhalten. Es gibt noch eine andere, viel größere als die zeitliche Dimension, das ist hier die Botschaft. Es ist die göttliche Wirklichkeit, die Jesus für uns geöffnet hat. Und es ist gut und wohltuend, sich darauf zu besinnen. „Unser Herz wird fest“, wie es in unserem Predigttext weiter heißt. Und dazu werden wir hier ausdrücklich eingeladen oder sogar ermahnt.

Wir wissen nicht genau, wer den Hebräerbrief geschrieben hat, der Autor hat seinen Namen nicht genannt. Aber es ist klar, was er beabsichtigt: Sein Brief ist wie eine Predigt, und er wurde sicher im Gottesdienst vorgelesen. Die meisten Adressaten hörten seine Botschaft also. Und er hat wahrscheinlich eine Gemeinde vor sich, die irgendwie frustriert war. Die erste Begeisterung für Jesus war verflogen, sie wussten gar nicht mehr so genau, was der christliche Glaube überhaupt bedeutete. Sie waren desorientiert und auch etwas gleichgültig geworden. Der Brief enthält deshalb das leidenschaftliche Zeugnis für den erhöhten Herrn. Es wird theologisch sehr gründlich dargelegt. Die Hörer bzw. Leser sollten die Christustat Gottes wirklich verstehen, damit sie neu glauben und hoffen konnten. Die Gemeinde sollte zu neuer Gewissheit und Ausdauer geführt werden, damit ihre Mitglieder sich wieder entschieden und klar zu Christus bekennen konnten.

Deshalb werden sie vor anderen „schillernden und fremdartigen Lehren“ gewarnt. Die gab es wahrscheinlich in der Gemeinde und in ihrer Umgebung. Es war z.B. die jüdische Gesetzeslehre, griechische Philosophie, heidnische Zauberei und vieles mehr. Obendrein war es sowieso gefährlich, Christ zu sein, weil man mit Verfolgung von Seiten der staatlichen Behörden rechnen musste. Die fremden Lehrmeinungen waren also verlockend. Das wusste der Verfasser des Hebräerbriefes und deshalb ermahnte er seine Gemeinde, ihnen gerade nicht zu folgen. Seine Leser oder Hörer sollten vielmehr einen festen Standpunkt beziehen und Christus treu bleiben.

Und es ist gut, wenn auch wir uns diese Ermahnung zu Herzen nehmen. Unsere Situation und unsere Lebenswelt sind heutzutage zwar anders, aber ein „festes Herz“ zu haben, kann auf keinen Fall schaden. Es ist so etwas wie ein Gegengewicht zu dem Gefühl der verrinnenden Zeit. Es ist ein Herz ohne Angst und Unruhe, ohne Verwirrung und Unsicherheit. Lasst uns also fragen, wie wir es erlangen können.

Und dazu ist es gut, wenn wir uns klar machen, welchen „verlockenden“ Lehren wir so folgen. Das sind natürlich nicht mehr die Gesetzeslehrer oder Sophistiker, aber unser Lebensgefühl ist trotzdem nicht unbedingt von dem bestimmt, „der gestern, heute und in Ewigkeit derselbe ist.“ Dieses Bekenntnis zu Christus spielt in unserem Denken keine so große Rolle, denn wir sind nicht in der Ewigkeit verankert, sondern in der Zeit. Wenn wir uns einmal fragen, was uns ausfüllt, dann ist es doch immer entweder die Vergangenheit oder die Zukunft. Das hängt wahrscheinlich von unserem Lebensalter ab. Als junger Mensch denkt man mehr an das, was vor einem liegt, im Alter spielt die Vergangenheit eine größere Rolle.

Ich habe gerade im Familienkreis einen Jungen getroffen, von dem ich nicht genau wusste, wie alt er ist, und so fragte ich ihn danach. Er ist zehn, und ich kommentierte die Antwort mit einem anerkennenden Glückwunsch, dann hätte er ja nun seinen ersten runden Geburtstag gefeiert. Er guckte mich etwas verständnislos an, und ich erklärte ihm, was runde Geburtstage sind, und dass sie das Leben in große Abschnitte einteilen. Je älter man wird, umso mehr fürchtet man sie. Er selber war davon natürlich weit entfernt, denn als Kind erlebt man das nicht, da möchte man gern älter werden. Als Jugendlicher will man dann bestimmte Ziele erreichen, hat familiäre und persönliche Pläne. Wir sind in dieser Lebensphase mit unseren Gedanken meistens schon einen Schritt weiter als das, was jetzt gerade passiert.

Wenn wir älter werden, ändert sich das wie gesagt. Dann denken wir mehr und mehr an das, was bereits war, was wir erreicht oder auch verloren haben. was uns geprägt hat, was schön und was schrecklich war. In jedem Fall aber ist unser Lebensgefühl von der Zeit bestimmt.

Gewinnen wir dadurch allerdings ein „festes Herz“? Wir müssen doch zugeben, dass weder das Denken an die Zukunft noch an die Vergangenheit uns glücklich oder zufrieden macht. Im Gegenteil, die Vergangenheit versetzt uns oft in Wehmut oder sogar Traurigkeit. Die Erinnerungen zerren manchmal an uns. Wir sehnen uns zurück, früher war alles besser, denken wir.

Und genauso ist es mit der Zukunft, die ist zieht ebenfalls an unseren Gefühlen. Wir malen sie uns aus, wir denken daran, wir wünschen und wollen bestimmte Dinge, und das ist manchmal anstrengend und geht mit Sorgen einher. Denn wir wissen nicht, ob unsere Wünsche wahr werden. Wir gehen zwar davon aus, dass das meiste machbar ist, aber das ist nicht sicher, und das wissen wir im Grunde genommen auch.

Wenn wir wirklich glücklich und ruhig und innerlich fest werden wollen, müssen wir also einen anderen Weg beschreiten, und genau der wird uns in unserem Textabschnitt vorgeschlagen. Mit der Einladung, an den zu glauben, der „heute, gestern und in Ewigkeit derselbe“ ist, werden wir aufgefordert, uns einmal auf die Gegenwart zu konzentrieren. Denn das Bekenntnis besagt, dass Christus jetzt da ist, in diesem und in jedem Augenblick. Es gilt also, den einmal zu fassen zu bekommen. Ein Jahreswechsel bietet sich gut für diese Übung an, denn da denken wir besonders an Zurückliegendes und Zukünftiges. Dazwischen aber, heute Abend z.B. können wir die Zeit in unserem Geist einmal anhalten, eine Pause einlegen, still werden und schweigen.

In unserem Alltag geht das auch, immer dann, wenn es uns gerade einfällt, zwischendurch, auf der Straße, bei der Hausarbeit oder beim Spazieren gehen. Es gibt unzählige Momente, die wir einfach einmal als Momente auch erleben können. Wir müssen das nur tun, aufmerksam sein, inne halten und uns besinnen. Das wäre ein erster Schritt, der zu einem „festen Herzen“ führt.

Aber es gehört noch mehr dazu. Zu dem Anhalten muss ein „Ja“ kommen. Das hat ebenfalls Seltenheitswert in unseren Gedanken. Irgendetwas sollte doch am liebsten immer anders sein. Wir wünschen uns mehr Geld, mehr Gesundheit, weniger Stress, nettere Mitmenschen, mehr Aufmerksamkeit usw. Wir sind nur selten zufrieden, weil unser Leben immer so vieles zu wünschen übrig lässt. Doch anstatt daran etwas ändern zu wollen, traurig darüber zu sein und sich zu beklagen, wäre es gut, wenn wir es annehmen und bejahen. Wir müssen und können nicht alles selber machen, das gilt es einzusehen. Dazu gehören Geduld und Leidensfähigkeit, und es ist heilsam, wenn wir uns darin üben. Denn das macht uns offen und empfangsbereit, und unversehens kann etwas Neues beginnen.

Ich habe dazu ein schönes Gedicht von der Dichterin und Schriftstellerin Eva Strittmatter gefunden. Es lautet:

„Mein Leben setzt sich zusammen: ein Tag wie dieser. Ein anderer Tag. Glut und Asche und Flammen. Nichts gibt es, was ich beklag.

Früher habe ich so gefühlt: irgendetwas Großes wird sein. Inzwischen bin ich abgekühlt: Es geht auch klein bei klein.

Was soll schon Großes kommen? Man steht auf, man legt sich hin. Auseinandergenommen, verlieren die Dinge den Sinn.

Doch manchmal sind solche Stunden von Freiheit vermischt mit Wind. Da bin ich ungebunden und möglich wie als Kind.

Und alles ist noch innen in mir und unverletzt. Und ich fühle: gleich wird es beginnen. Das Wunder kommt hier und jetzt.

Was es sein soll? Ich kann es nicht sagen. Und ich weiß auch: das gibt es gar nicht. Aber plötzlich ist hinter den Tagen noch Zukunft ohne Pflicht.

Und frei von Furcht und Hoffen, und also frei von Zeit. Und alle Wege sind offen. Und alle Wege gehen weit.

Und alles kann ich noch werden, was ich nicht geworden bin. Und zwischen Himmel und Erde ist wieder Anbeginn.“

(in : Eva Strittmatter, Sämtliche Gedichte, Berlin 2006)

Damit so ein „Anbeginn“ allerdings gelingt, ist noch ein dritter Schritt hilfreich und wichtig: Und zwar ist es gut, wenn wir uns dem anvertrauen, der in allem Wandel derselbe bleibt, der „groß“ ist und uns „Sinn“ schenkt, der „Wunder“ bewirken kann und uns „frei“ macht. Er „öffnet alle Wege vor uns“ und schenkt uns „Weite“: Es ist Jesus Christus, der „hier und jetzt“ da ist, wir können also jederzeit zu ihm aufblicken und zu ihm beten. Denn er geht mit uns, auch wenn wir ihn nicht sehen. Oft ist unser Blick nur verhangen. Wir können ihn aber immer um seinen Segen bitten und unser Leben in seine Hand legen. Und die Momente, in denen wir das tun, können mehr werden, sie können sich aneinander reihen und unser Lebensgefühl verändern. Die Gnade ergreift unser Herz und erfüllt uns irgendwann ganz. Wir werden ruhig und froh, und die Vergänglichkeit stört uns nicht mehr.

Es gibt dazu noch viele weitere Zeugnisse in unserer geistlichen Tradition. Wenn wir unser Gesangbuch danach durchsuchen, so finden wir z.B. auch dort eine ganze Reihe von Dichterinnen. Dabei fällt auf, dass keine von ihnen ein einfaches Leben hatte, im Gegenteil, alle hatten sogar enge Erfahrungen mit dem Tod gemacht. So war es auch bei Marie Schmalenbach.

Sie lebte von 1835 bis 1924 in Ostwestfalen, war die Tochter eines Pfarrers und hatte insgesamt zehn Geschwister. Sieben davon starben allerdings sehr früh. Sie hat also schon in ihrer Kindheit erfahren, wie vergänglich das Leben ist. Als Ehefrau und Mutter erlebte sie das dann wieder, denn auch sie verlor eins ihrer fünf Kinder durch den Tod. Und obwohl das vor 150 Jahren keine Ausnahme war – die Kindersterblichkeit war ja viel höher als heutzutage – hat sie das sicher traurig gemacht. Sie musste das verarbeiten, und dabei half ihr der Glaube an die Ewigkeit. Das bezeugt ihr Lied: „Brich herein, süßer Schein selger Ewigkeit. Leucht in unser armes Leben, unsern Füßen Kraft zu geben, unsrer Seele Freud, unsrer Seele Freud.“ (EG, Ausgabe für Niedersachsen und Bremen, 643)

Amen.

 

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