Predigt über Johannes 18, 28- 19, 5: Jesus vor Pilatus
5. Sonntag der Passionszeit, Judika, 7.4.2019
9.30 und 11 Uhr, Luther- und Jakobikirche Kiel
„Auf dem Weg – Gerechtigkeit und Schöpfung“
Der fünfte Sonntag in der Passionszeit hat den Namen „Judika“. Das ist das lateinische Wort für „Schaffe mir Recht“, mit dem Psalm 43 beginnt. Die ersten beiden Verse daraus lauten: „Schaffe mir Recht, o Gott, und errette mich! Denn du bist der Gott meiner Stärke.“ In der kirchlichen Tradition ist das die Antiphon (dt.: Vorton) zu dem Wochenpsalm. Dieser Sonntag thematisiert also in besonderer Weise Recht und Gerechtigkeit. Deshalb schlägt die Nordkirche seit vier Jahren vor, die Gottesdienste unter das Motto zu stellen: „Auf dem Weg zur Gerechtigkeit“. In diesem Jahr stehen die Klimagerechtigkeit und die Schöpfung dabei im Mittelpunkt. Wir haben uns dem Vorschlag heute angeschlossen und bedacht, was Gott in diesem Zusammenhang von uns will und wozu er uns befähigt.
Johannes 18, 28- 19, 1
18 28 Da führten sie Jesus von Kaiphas zum Prätorium; es war früh am Morgen. Und sie gingen nicht hinein, damit sie nicht unrein würden, sondern das Passamahl essen könnten.
29 Da kam Pilatus zu ihnen heraus und fragte: Was für eine Klage bringt ihr gegen diesen Menschen vor?
30 Sie antworteten und sprachen zu ihm: Wäre dieser nicht ein Übeltäter, wir hätten ihn dir nicht überantwortet.
31 Da sprach Pilatus zu ihnen: So nehmt ihr ihn hin und richtet ihn nach eurem Gesetz. Da sprachen die Juden zu ihm: Wir dürfen niemand töten.
32 So sollte das Wort Jesu erfüllt werden, das er gesagt hatte, um anzuzeigen, welchen Todes er sterben würde.
33 Da ging Pilatus wieder hinein ins Prätorium und rief Jesus und fragte ihn: Bist du der König der Juden?
34 Jesus antwortete: Sagst du das von dir aus oder haben dir’s andere über mich gesagt?
35 Pilatus antwortete: Bin ich ein Jude? Dein Volk und die Hohenpriester haben dich mir überantwortet. Was hast du getan?
36 Jesus antwortete: Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Wäre mein Reich von dieser Welt, meine Diener würden darum kämpfen, dass ich den Juden nicht überantwortet würde; nun aber ist mein Reich nicht von dieser Welt.
37 Da fragte ihn Pilatus: So bist du dennoch ein König? Jesus antwortete: Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme.
38 Spricht Pilatus zu ihm: Was ist Wahrheit?
Und als er das gesagt hatte, ging er wieder hinaus zu den Juden und spricht zu ihnen: Ich finde keine Schuld an ihm.
39 Es besteht aber die Gewohnheit bei euch, dass ich euch einen zum Passafest losgebe; wollt ihr nun, dass ich euch den König der Juden losgebe?
40 Da schrien sie wiederum: Nicht diesen, sondern Barabbas! Barabbas aber war ein Räuber.
19 1 Da nahm Pilatus Jesus und ließ ihn geißeln.
2 Und die Soldaten flochten eine Krone aus Dornen und setzten sie auf sein Haupt und legten ihm ein Purpurgewand an
3 und traten zu ihm und sprachen: Sei gegrüßt, König der Juden!, und schlugen ihm ins Gesicht.
4 Da ging Pilatus wieder hinaus und sprach zu ihnen: Seht, ich führe ihn heraus zu euch, damit ihr erkennt, dass ich keine Schuld an ihm finde.
5 Und Jesus kam heraus und trug die Dornenkrone und das Purpurgewand. Und Pilatus spricht zu ihnen: Seht, welch ein Mensch!
Liebe Gemeinde.
„Gerechtigkeit bedeutet für mich, dass alle Geschöpfe Gottes, Mensch und Tier, heute und in Zukunft den Lebensraum haben, den sie benötigen, um sich entfalten zu können.“ Das ist eine von vielen Antworten auf die Frage, was Gerechtigkeit bedeutet, die zur Vorbereitung auf diesen Sonntag gesammelt wurden. Jan Christensen hat das gesagt, der Pastor für Umweltfragen der Nordkirche. Und er hat damit sehr schön auf den Punkt gebracht, wie Gerechtigkeit und Schöpfung zusammengehören. Man hört aus seinem Satz auch sofort die Klage heraus, dass das leider sehr oft missachtet wird: Wir zerstören den Lebensraum anderer mit unserem Verhalten.
Und das ist nicht erst heutzutage so. Die ganze Menschheitsgeschichte ist von unendlich viel Ungerechtigkeit durchzogen, es scheint ein nie endendes Problem zu sein. So ging es auch im Prozess gegen Jesus sehr ungerecht zu, das wird deutlich, wenn wir folgende Antwort beachten: „Gerechtigkeit bedeutet für mich, dass jeder Mensch dieselbe Wertschätzung und denselben Respekt erfährt.“ Das ist die Erklärung von Nina Golde, der Verantwortlichen für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit im Ökumenischen Forum in der Hafencity in Hamburg.
Genau darum scherten sich nämlich die Ankläger und Entscheidungsträger im Gerichtsverfahren gegen Jesus kein bisschen. Anstatt von „Wertschätzung und Respekt“ ließen sie sich von Macht und Gewalt leiten. Das bezeugt die johanneische Schilderung vom Prozess Jesu vor Pilatus. Dieser Ausschnitt aus der Leidensgeschichte Jesu ist im Blick auf die Ungerechtigkeit, zu der Menschen in der Lage sind, zutiefst deprimierend. Was passierte hier?
Jesus wurde am Morgen nach seiner Gefangennahme und dem Verhör vor dem Hohenpriester zu der politischen und gerichtlichen Behörde in Jerusalem gebracht, dem Prätorium. Es war die Residenz des Provinzstatthalters Pilatus, der gleichzeitig der oberste römische Richter in Judäa war. Zum Passahfest war er nach Jerusalem gekommen, weil er dort wegen der großen Menschenmengen Unruhen befürchtete. „Bloß kein Aufruhr!“, das war sein Ziel.
Doch das erreichte er nicht, denn es gab schon ein großes Problem: Einige Oberpriester und Diener, die vom Hohenpriester beauftragt worden waren, hatten Jesus öffentlich angeklagt, und die Menschen in der Stadt waren bereits aufgebracht. Alle verlangten von Pilatus, Jesus zu verurteilen.
Für den römischen Statthalter war das eine innerjüdische Streitigkeit, die er möglichst schnell los werden wollte, eine lästige Angelegenheit. Recht und Gerechtigkeit interessierten ihn in diesem Fall gar nicht, sonst hätte er die Klage führenden Männer abgewiesen. Doch das tat er nicht, er spielte stattdessen seine Macht aus. Dafür gab er sich weltmännisch und suchte zunächst das gepflegte Gespräch mit dem Gefangenen. Es ging um die Frage der Wahrheit. Die Antworten Jesu erschienen ihm zwar rätselhaft, aber nicht gefährlich. Er ging zwischen dem Angeklagten und den Anklägern hin und her, und bekundete dann vor ihnen: „Ich finde keine Schuld an ihm.“ Doch anstatt dabei zu bleiben und Jesus freizulassen, wollte er sich bei denen, die am lautesten schrien, beliebt machen. Er war in dem Drama ein schwacher Regent, ein lächerlicher Statthalter, der nicht den Mut aufbrachte, für Gerechtigkeit zu sorgen.
Und so überließ er Jesus, der ihm augenscheinlich völlig egal war, seinen Soldaten. Sie konnten mit ihm tun, was sie in ihrer Einfalt wollten. Spott und rohe Gewalt fielen ihnen ein. Sie kosteten ihren Freibrief zur Erniedrigung des Wehrlosen aus. Einen Kranz aus Dornen setzten sie ihm, der König sein sollte, auf den Kopf, und legten ihm einen purpurnen Mantel um. Sie verspotteten ihn und mit ihm als Königskarikatur das jüdische Volk, und schlugen ihm ins Gesicht.
Derart misshandelt führte Pilatus ihn dann nach draußen vor das Prätorium. Wieder sagte er: „Ich finde keine Schuld an ihm“, doch erneut blieb das ohne Folgen. Pilatus, der sich stark und weise zeigen wollte, wirkte mit jedem Schritt und jedem Wort schwächer und einfallsloser.
Jesus dagegen sagte am Ende nichts mehr. Er erduldete, was ihm angetan wurde, und darin lag keine Schwäche. Es war bereits die Kraft der Auferstehung, die ihn trug. Er wirkte auf geheimnisvolle Art stark und überlegen. Das musste auch Pilatus zugeben. Der Evangelist legt ihm die Worte in den Mund: „Seht, welch ein Mensch!“ Und Pilatus ahnte nicht, was er damit sagte. Der schwache Statthalter verkündete mit diesem Satz die tiefste Wahrheit. Gegenüber den Anklägern bedeuteten seine Worte: Der, den ihr da anklagt, ist nur ein einfacher Mensch. Was habt ihr? Was fürchtet ihr ihn? Für uns aber, die wir das Evangelium hören und lesen, liegt in dem Ausruf noch viel mehr, denn wir glauben, dass dieser Mensch zugleich Gott ist.
Gottes Wort hat in ihm Gestalt angenommen, ist Fleisch geworden, und er hat sich bewusst erniedrigen lassen. In diesem einfachen, wehrlosen Menschen, der zum Spielball weltlicher Macht wird, ist Gott gegenwärtig. Im zutiefst menschlichen Leid, dem des ausgelieferten und verspotteten Gefangenen, ist Gott ganz in der Welt angekommen. Und er ist für alle sichtbar. Seine Menschlichkeit und die Gewalt, die ihm angetan wird, werden nicht mehr verheimlicht.
Und damit hat Gott allen, die Unrecht leiden, einen neuen Weg eröffnet. Es ist möglicherweise nicht der Weg, auf dem ihnen menschliches und weltliches Recht zu Teil wird, aber sie bekommen eine Hoffnung und eine Zuversicht, die weit über die Welt hinausweist.
Und das ist eine wichtige Botschaft, auch für uns. Denn wir leiden alle darunter, dass dieses Leben nicht perfekt ist. So vieles geschieht, was wir nicht wollen und gutheißen: Es gibt Zerstörung und Unrecht, das Böse ist da. Niemand scheint das Große und Ganze im Blick zu haben, viele suchen nur ihren eigenen Vorteil. Selbstsucht, Gier und Arroganz bestimmen das Verhalten unzähliger Menschen. Man lebt auf Kosten anderer und missachtet ihre Rechte. Und wer übernimmt schon Verantwortung oder nennt Ungerechtigkeit ungeschminkt beim Namen? Das sind nur wenige, und selbst wenn wir dazu gehören, fühlen wir uns oft machtlos. Was können wir schon tun, damit das alles aufhört? Die Resignation lauert um die Ecke und manchmal erfasst sie uns auch. Wir haben dann keine Hoffnung mehr und schauen zu, wie die Welt und die Menschheit ihrem Ende näher kommt.
Doch genau das ist nicht nötig, denn Jesus Christus hat durch seine Stärke in jede Leidensgeschichte eine Hoffnung gebracht. Die Leidenden und Entrechteten sind nicht allein in ihrer Erniedrigung. Gott nimmt sich ihres Leids an und trägt es selbst.
Wir sind deshalb eingeladen, uns mit ihm zu verbinden, seine Nähe zu suchen und seine Kraft in uns aufzunehmen. Wir können ihn um Zuversicht bitten. Denn er zeigt uns auch, dass es so, wie es ist, nicht sein und bleiben soll. In Jesus ist der zu uns gekommen, der Himmel und Erde geschaffen und der das Unrecht und den Tod überwunden hat. Eines Tages wird er seine Gerechtigkeit ganz zum Sieg führen und die Menschheit erlösen.
Das ist unser Glaube, der die Hoffnung in uns am Leben erhält. Aus ihm heraus können wir das Nötige tun. Wir können den Keim des Trostes und der Hoffnung säen, indem wir die „Würde aller anderen Lebewesen achten“, uns zusammensetzen und miteinander reden, Hierarchien in Frage stellen und auf die „Ausgewogenheit in jeder Beziehung“ achten, sei es „zwischen den Menschen oder zwischen der Menschheit und der Schöpfung“. Wir können „aktiv einen Beitrag leisten für ein gutes Leben für alle“, so dass alle „Menschen und Geschöpfe Lebensfülle und Frieden haben.“
Das sind weitere Erklärungen zu der Frage, was Gerechtigkeit bedeutet. Dr. Frederik O. Shoo, der leitende Bischof der Lutherischen Kirchen in Tansania, hat es kurz und knapp gesagt: „Gerechtigkeit ist, wenn die Schöpfung Gottes respektiert wird.“ Und er hat dazu berichtet, was das in seinem Land und in seiner Kirche konkret bedeutet. Es ist ein wunderbares Beispiel dafür, dass wir nie die Hoffnung aufgeben müssen:
„Wir alle wissen: Der weltweit zunehmende Ausstoß von CO2 verursacht einen Klimawandel, dessen Auswirkungen wie Dürre, Hunger, Überschwemmungen und Tod immer dramatischer werden. In meiner Kirche versuchen wir dem entgegenzutreten und das Unsere in der ,verwandelnden Nachfolge‘ etwa dadurch zu tun, dass wir an den Hängen des Kilimandscharo, des höchsten Berges von Afrika, Bäume pflanzen. Jeder Konfirmand und jede Konfirmandin pflanzt zehn Bäume. Denn wir wissen: Bäume binden CO2. Bäume sorgen für gute Luft. Bäume halten Wasser und die fruchtbare Erde. Bäume sind Leben. So haben wir es geschafft, in über zehn Jahren schon mehr als drei Millionen Bäume am Kilimandscharo zu pflanzen.
2. Wir alle wissen: Der weltweit zunehmende Plastikmüll ist eine Gefahr für die Umwelt. Während die EU-Kommission die Reduzierung von Plastiktüten bis 2025 auf immerhin noch 40 Tüten pro Person im Jahr anstrebt, gehen viele afrikanische Länder weiter. So versuchen sich selbst Regierungen in meinem Heimatkontinent in dieser ,verwandelnden Nachfolge‘ – auch wenn sie es selber wohl nicht so bezeichnen würden – und verbieten die Plastiktüte. 13 Länder sind es inzwischen: Äthiopien, Guinea-Bissau, Kamerun, Kenia, Malawi, Mali, Marokko, Mauretanien, Ruanda, Somalia, Südafrika, Tansania und Uganda. Deswegen möchte ich fragen: Afrika macht es vor – wann macht es Europa nach?“
Anregungen für die Predigt und die Zitate sind dem Materialheft zu diesem Sonntag entnommen, das die Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland, Hauptbereich Mission und Ökumene, herausgegeben hat.